Für Matheo
Im Waschbecken lag der Igel, in der Badewanne lag meine Mutter. Sie hatte die Augen geschlossen und den Kopf in den Nacken gelegt. Ihre Ohren waren unter Wasser, sie hörte nicht, wie ich ins Bad kam und mich auf den Klodeckel setzte. Auch der Igel nahm keine Notiz von mir, er trieb im halb gefüllten Waschbecken und hatte alle viere von sich gestreckt. Er war sicher der kleinste, der je bei uns überwintert hatte. Um ihn herum schwammen unzählige schwarze Punkte, einige der Flöhe zappelten noch an der Wasseroberfläche. Ich betrachtete die beiden Badenden und musste lächeln.
Meine Mutter hatte dem Igel seit Wochen dabei zugeschaut, wie er nicht wuchs. Wenn er beim ersten Frost noch so dünn ist, hole ich ihn rein, hatte sie bei jedem Telefonat angekündigt und vermutlich insgeheim darauf gehofft. Ich hielt es durchaus für möglich, dass sie hin und wieder absichtlich vergessen hatte, ihm ein Schälchen Katzenfutter neben den Komposthaufen zu stellen.
Auch ich hatte jeden Morgen auf das Thermometer vor dem Fenster meiner Berliner Wohnung geschaut und die Striche über dem Gefrierpunkt gezählt. Normalerweise machte ich mir nichts aus Wetter, doch in diesem Winter war ich neugierig auf die längeren Bremswege der Straßenbahnen und die Zuverlässigkeit der Weichenheizungen. Also hatten wir um die Wette auf den ersten Frost gewartet, ich in Berlin, meine Mutter in Löcknitz. Nun lag draußen der erste Schnee und drinnen der Igel im Waschbecken, sie hatte gewonnen.
Meine Mutter öffnete die Augen und hob den Kopf aus dem Wasser. Mein Blick fiel auf die längliche Narbe oberhalb des Schamhaaransatzes, die von meiner Geburt geblieben war. Die weiße Linie war deutlich zu sehen.
Der wiegt keine dreihundert Gramm, sagte ich und deutete mit dem Kinn auf den Igel.
Bodo bringt zweihundertsiebzig auf die Waage, sagte meine Mutter.
Bodo also, sagte ich und meine Mutter nickte. Sie nahm die Shampooflasche, drückte einen Klecks in ihre Handfläche und schäumte sich den Kopf ein, das Badewasser schlug kleine Wellen.
Ich dachte an all die Tiere, die meine Mutter schon aus der Landschaft gesammelt hatte. Ich versuchte das Prinzip zu erkennen, nach dem sie einen Namen bekamen oder nicht. Als ich klein war, hatten wir uns oft zusammen Namen für die Fundtiere ausgedacht. Später hatte ich nur noch die Augen verdreht, wenn meine Mutter einen neuen Schützling auf den Küchentisch setzte. Es hatte die hinkende Ratte Bertha und den verwurmten Feldhasen James gegeben, es hatte aber auch den flugunfähigen Eichelhäher und die schneckenkornvergiftete Blindschleiche gegeben, die nur der Eichelhäher und die Blindschleiche geheißen hatten. Igel hatten wir auch oft gehabt, bisher hatten die aber nur Igel geheißen.
Könntest du Bodo abtrocknen und in seine Kiste setzen?, fragte meine Mutter.
Die Selbstverständlichkeit, die in ihrer Frage lag, ärgerte mich. Als Kind hatte ich es geliebt, ganze Sonntage mit dem Reinigen von Käfigen und dem Bürsten von Fell zu verbringen. Aber mit dem ersten Kuss und der ersten heimlichen Zigarette im Maisfeld hinter der Tankstelle war mir die Lust darauf vergangen, und dann hatte ich meine halbe Jugend darauf verwenden müssen, meiner Mutter beizubringen, dass ich mich nicht länger um ihre Fundtiere kümmern würde. Sie hatte das Viehzeug angeschleppt, also hatte sie es auch zu versorgen. Ich jedenfalls wollte keine Wurmkuren mehr unters Futter mischen und nie wieder Kamillentee in Fläschchen füllen, und es war mindestens sieben Jahre her, dass ich das zuletzt getan hatte. Ich verschränkte die Arme vor der Brust.
Ich würde gerne noch ein bisschen in der Wanne bleiben, sagte sie, bitte kümmere dich um Bodo, nur dieses eine Mal.
Die Vorstellung, wie meine Mutter allein in der Küche saß, den Igel vor sich auf dem Tisch, und Namen an ihm ausprobierte, machte mich traurig. Seit meinem Auszug gab es niemanden mehr, der die Augen verdrehte, wenn sie bei der Namenswahl danebengriff. Ich ging zum Waschbecken und tauchte die Hände in das lauwarme Wasser, das mit einem Spritzer Spülmittel gegen die Flöhe versetzt war. Ich nahm den Igel vorsichtig hoch und setzte ihn zum Abtropfen auf ein Handtuch, dann zog ich den Stöpsel. Während ich den schwarzen Punkten dabei zusah, wie sie Richtung Abfluss kreisten, rechnete ich aus, dass es nur noch siebzehn Stunden dauern würde, bis ich wieder in meiner Berliner Wohnung wäre, in der es nicht mal eine Fruchtfliege gab. Ich seufzte. Es war noch keine zwei Stunden her, dass ich aus dem Regionalzug gestiegen war.
Es war mein erster Besuch in Löcknitz, seit ich vor vier Monaten von zu Hause ausgezogen war. Im Hausflur neben den acht Briefkästen hatte mich ein Zettel empfangen, auf dem meine Mutter die Nachbarn um Unterschriften gegen die von der Hausverwaltung geplante Einmauerung des Komposthaufens bat. Ja zum Igel! Nein zum Ziegel!, stand in Großbuchstaben darauf. Im Wohnungsflur war mir ein Geruch entgegengeschlagen, der mir sehr vertraut war, den ich aber zum ersten Mal bewusst wahrnahm. An der Wand, an die meine Mutter alle Postkarten anzupinnen pflegte, die sie bekam, hatte ich keine Neuzugänge entdeckt. Ich hatte die Tür zu meinem alten Kinderzimmer aufgestoßen und einen Blick hineingeworfen, nicht einmal das Bett war abgezogen. Bis auf den Zettel im Hausflur hatte sich hier nichts verändert.
Das Wasser war abgelaufen, ich spülte die restlichen Flohpunkte in den Abfluss und wandte mich dem Igel zu. Ich strich ihm über den Rücken, bis er sich ausrollte, drehte ihn um und untersuchte seinen Bauch.
Dein Bodo ist ein Weibchen, sagte ich.
Soso, sagte meine Mutter, dann muss er wohl Boda heißen.
Ich trocknete Boda vorsichtig ab und setzte sie in die große Holzkiste, die unter dem Waschbecken bereitstand. Die Kiste war mit Zeitungspapier ausgelegt, in einer Ecke stand ein kleiner Pappkarton und davor ein Schälchen Katzenfutter, über das sich Boda sofort hermachte. Meine Mutter sah zufrieden aus und ich fragte mich, ob diese Zufriedenheit Bodas Appetit galt oder der Tatsache, dass sie mich nach all den Jahren dazu gebracht hatte, doch noch einmal eines ihrer Fundtiere zu versorgen. Ich setzte mich wieder auf den Klodeckel.
Ich habe sieben von acht Unterschriften gegen die Kompostmauer, sagte meine Mutter.
Es fehlen die Pietreks, sagte ich und meine Mutter nickte. Die Pietreks gehörten zu den Menschen, die sich nur auf ihr Sofa setzten, wenn eine Schutzhülle aus Plaste darübergezogen war. Herr Pietrek war in all den Jahren Nachbarschaft nur einmal bei uns gewesen, um sich Werkzeug auszuleihen. Befremdet hatte er die vier ungleichen, vom Sperrmüll zusammengesammelten Holzstühle betrachtet, die um unseren Küchentisch standen. Seither warf Frau Pietrek an jedem Ersten des Monats ein Zettelchen in unseren Briefkasten, auf dem sie uns daran erinnerte, wann wir mit dem Treppenputz an der Reihe waren.
Kannst du nicht mal mit ihnen reden?, fragte meine Mutter.
Sieben Unterschriften werden reichen, sagte ich.
Acht wären aber besser, sagte sie.
Wenn nur sieben Mietparteien gegen die Kompostmauer sind, sagte ich, dann musst du das akzeptieren.
Nein, sagte sie, dann muss ich die achte noch überzeugen.
Vergiss es, die Pietreks können dich nicht ausstehen.
Deswegen frage ich ja dich.
Mich können die Pietreks auch nicht ausstehen.
Ich würde eher sagen, mit dir haben sie Mitleid. Weil du meine Tochter bist.
Einen Moment lang schauten wir uns an. Meine Mutter hatte die Hände auf den Wannenrand gelegt, um keine Schrumpelfinger zu bekommen. Ihre Hände sahen trotzdem schrumpelig aus. Ich wehrte mich gegen den Impuls, ihr zu versichern, dass ich mein Tochtersein nicht für bemitleidenswert hielt.
Ich will nicht mit den Pietreks reden, sagte ich stattdessen. Und wie wäre es, wenn du endlich anfängst, nach Praxisräumen zu suchen, anstatt deine Zeit mit dem Kampf gegen ein paar Ziegelsteine zu vergeuden.
Meine Mutter wandte den Blick von mir ab, dann legte sie den Kopf in den Nacken und spülte sich den Schaum ab. Er rann über ihren Hals und die Brüste ins Wasser und verteilte sich. Ich suchte nach der Narbe, doch der Schaum verdeckte sie.
Wenn es dir egal ist, dass ein paar Ziegelsteine einen ganzen Lebensraum zerstören, kümmere ich mich eben allein darum, sagte sie und stellte die Brause aus. Mir fielen zum ersten Mal die Furchen auf, die sich um ihre Mundwinkel bogen, als wollten sie alles, was meine Mutter sagte, in Klammern setzen.
Da ist übrigens eine Nachricht für dich auf dem Anrufbeantworter, fügte sie hinzu.
Von wem?
Hör’s dir an, sagte sie und zog den Stöpsel.
Ich ging zum Schuhschrank im Flur, auf dem das Telefon stand, und drückte die Abhörtaste.
Hier ist der Anschluss von Astrid und Johanna Haller, hörte ich die Stimme meiner Mutter, wir sind leider gerade nicht da.
Sie hatte die Ansage nicht geändert, als würde ich noch immer hier wohnen. Die Nachricht war von vorgestern, empfangen um sechzehn Uhr dreiundzwanzig.
Hallo, hier ist Jens, sagte eine Männerstimme und räusperte sich. Es dauerte einige Sekunden, bis ich den Namen meinem Vater zuordnen konnte. Seine Stimme klang brüchiger, als ich sie mir vorgestellt hatte.
Ich rufe an, sagte die Stimme, vielleicht wegen dem Blick aus meinem Fenster. Ich schaue auf die Mauer, was ja nichts Besonderes wäre, aber ich schaue von der anderen Seite auf die Mauer. Das ist doch absurd, dass ich ausgerechnet jetzt von der anderen Seite auf die Mauer schaue. Geht keiner ran bei euch. Von der anderen Seite sieht sie ganz anders aus. Wie eine richtige Mauer sieht sie aus. In letzter Zeit kommen Wörter abhanden, habt ihr das auch gemerkt? Dafür sitzen Vögel vor dem Fenster.
Er schwieg einen Moment.
Das Kind kann mich ja mal zurückrufen, sagte er.
Der Anrufbeantworter bot mir das Löschen der Nachricht, die Wiederholung der Nachricht oder eine Verbindung mit dem Anrufer an, wozu ich die 1, die 2 oder die 3 zu drücken hatte. Hätte es eine 4 gegeben, unter der Erklärungen zur Nachricht geliefert worden wären, hätte ich die 4 gedrückt. Aber das Gerät bot mir keine vierte Möglichkeit an, also drückte ich gar nichts und es entschied, die Nachricht zu speichern.
Ich starrte auf das Telefon. Kurz bezweifelte ich, dass die Stimme wirklich zu Jens gehörte. Denn es kam mir äußerst unwahrscheinlich vor, dass er neunzehn Jahre lang nicht anrief, es vorgestern um sechzehn Uhr dreiundzwanzig aber doch getan hatte, um dann wirres Zeug von Mauern und Vögeln zu erzählen. Doch offensichtlich machte sich Jens wenig aus Wahrscheinlichkeiten. Und noch offensichtlicher hatte meine Mutter recht, wenn sie ihn einen Spinner nannte.
Dein Vater ist im Westen, hatte sie gesagt, wenn ich als Kind fragte, ob ich eigentlich auch einen Vater hatte, so wie andere Kinder. Im Westen, das klang unendlich weit weg, und meine Indianerbücher, die allesamt im Wilden Westen spielten, bestätigten diesen Verdacht, denn dort gab es Kakteen. Ich war sehr enttäuscht, als ich irgendwann begriff, dass es sich bei dem Westen, in dem mein Vater war, um einen anderen Westen handelte, in dem es keine Kakteen gab und der nicht mal auf einem anderen Kontinent lag. Und ich war ein zweites Mal enttäuscht, als ich lernte, dass dieser kakteenlose Westen schon lange problemlos zu erreichen war. Meine Mutter hatte mir erzählt, dass mein Vater am 4. Oktober 1989 gegangen war, um drüben ein berühmter Rockmusiker zu werden. Wieso er nach dem Mauerfall nicht mal vorbeigekommen sei, hatte ich sie später gefragt, schließlich war die Grenze bereits fünf Wochen nach seiner Flucht offen gewesen. So eine Entscheidung sei nicht rückgängig zu machen, hatte meine Mutter gesagt, und es hatte mir eingeleuchtet.
Ich riss meinen Blick vom Telefon los und sah auf die Postkarten, die darüber an der Wand hingen. Ich suchte nach der mit dem Kamel in der Wüstenlandschaft drauf, die dort zwischen vielen anderen hing. Jens hatte sie meiner Mutter ein halbes Jahr nach seinem Verschwinden geschickt, laut Poststempel am 3. oder 8. April 1990, das war schwer zu erkennen. Ich wusste auswendig, was auf der Rückseite stand, trotzdem pulte ich die Reißzwecke heraus und nahm die Postkarte von der Wand. An der Stelle, wo sie gehangen hatte, war die Raufasertapete etwas heller. Ich las die krakeligen Zeilen: Liebe Astrid, stand da, in Berlin gibt es mehr streunende Hunde als Menschen, das solltest du dir mal anschauen. Grüße, Jens. Er hatte weder eine Adresse noch eine Telefonnummer dazugeschrieben, so wie er jetzt auch keine Rückrufnummer auf dem Band hinterlassen hatte. Ich hielt die Karte gegen das Licht, als könnten so weitere Zeilen sichtbar werden, die ich bislang übersehen hatte. Ich überlegte, ob es nicht überfällig war, die Karte als das zu behandeln, was sie war, nämlich eine große Frechheit, die man zerreißen oder wegwerfen, aber nicht in den Flur hängen sollte. Doch dann fand ich, dass ihr das nicht zustand. Solange sie hier an der Wand hing, war sie eine Postkarte wie jede andere, und so sollte es bleiben. Außerdem mochte ich das Kamel, so wie ich alle Tiere mochte, die meine Mutter nicht aus der Uckermark sammeln konnte; als Jugendliche hatte ich eine Zeit lang ein Faible für Fische gehabt. Ich befestigte die Postkarte wieder mit der Reißzwecke und rückte sie so zurecht, dass das helle Viereck auf der Tapete nicht mehr zu sehen war.
Ich ging zurück ins Bad und setzte mich wieder auf den Klodeckel. Meine Mutter saß noch immer in der Wanne, das Wasser war schon fast abgelaufen.
Und?, fragte sie.
Was und, sagte ich.
Wirst du zurückrufen?
Ich hörte das letzte bisschen Wasser im Abfluss gurgeln, dann war es still. Am Körper meiner Mutter klebten Schaumreste und ich konnte zusehen, wie sich die Härchen an ihren Beinen aufstellten. Ich war immer ohne Vater zurechtgekommen und mir fiel nicht ein, wieso ich plötzlich einen brauchen sollte.
Ich bin auch ohne Vater ganz passabel geworden, sagte ich.
Meine Mutter lachte und die Schaumbläschen über der Narbe zerplatzten. Dann drehte sie das Wasser auf und spülte den Schaum von ihrem Körper.
Ich bin die einzige Narbe am Körper meiner Mutter, dachte ich und wünschte mir, ich hätte meinem Vater als Kind auch eine zugefügt. Ich wusste, dass ich als Zweijährige Masern gehabt hatte, und stellte mir vor, wie er sich beeilt hätte, zur Apotheke zu kommen, wie er gestürzt und mit dem Knie so auf den Bordstein geschlagen wäre, dass die Jeans gerissen wäre und sein Knie mit mindestens fünf Stichen hätte genäht werden müssen. Die Luft im Bad war jetzt heiß und feucht. Meine Mutter lächelte mich an, als sie aus der Wanne stieg; die Narbe verschwand unter ihrem Bademantel.
Ich stand auf, ging wieder in den Flur zum Telefon und sah mir das Anrufprotokoll an. Ich klickte mich durch einige Namen und Nummern, darunter eine mit Berliner Vorwahl, die sicher meine neue Festnetznummer war, die ich noch immer nicht auswendig kannte. Meine Mutter hatte sie nicht eingespeichert, als wäre es nur eine vorübergehende Angelegenheit, dass ich in Berlin wohnte. Ich kam bei der Handynummer an, die vorgestern um sechzehn Uhr dreiundzwanzig angerufen hatte, nahm mein Handy hervor und tippte sie ein. Ich drückte auf Nummer speichern, schrieb Papa, löschte es wieder. Dann schrieb ich Vater, schaute die fünf Buchstaben eine Weile an, sprach das Wort ein paar Mal laut aus, bis es seinen Sinn verlor, und löschte es wieder. Dann schrieb ich Jens und drückte auf Ok.
Das Kreisgericht
Rostock, den 3.10.1989
Der Schmiedemeister und Musiker BORG, Jens, geb. am 5.3.1954 in Rostock, wohnh. in Kavelstorf, ist in Untersuchungshaft zu nehmen.
Er wird beschuldigt, als Sänger, Schlagzeuger und Kopf der Musikgruppe »Die geringelten Strümpfe« die politischen Grundlagen der DDR durch staatsfeindliche Hetze angegriffen zu haben. Der Beschuldigte singt bei Auftritten keine Liedtexte, sondern reiht nur bedeutungslose Silben aneinander, womit er öffentlich seine Auffassung zum Ausdruck bringt, in der DDR bestehe keine Meinungsfreiheit. Er will auf diese Weise anderen Menschen die eigene Position darbringen und sie »zum Nachdenken anregen«.
Verbrechen gemäß § 106 StGB.
Er ist dieser Straftat dringend verdächtig, und da Wiederholungsgefahr besteht, ist der Haftbefehl gesetzlich begründet.
gez. Selene
Kreisgerichtsdirektor
Ich musterte die Straßenbahn, die ich gleich durch die Stadt steuern würde. Es war eine GT6N, ein Zweirichtungsfahrzeug, das auf der Linie M10 alternativlos war, denn am Nordbahnhof gab es keine Wendeschleife. Mit ihrer gelben Verkleidung und den verdunkelten Scheiben erinnerte mich die Bahn an die Tigerente, dank der ich als Kind begriffen hatte, dass ein Rad eine großartige Erfindung war.
Meine erste Straßenbahnfahrt musste ich zu Grundschulzeiten erlebt haben. In der Uckermark gab es weit und breit keine Straßenbahn, die nächste fuhr hinter der polnischen Grenze in Stettin. Dort durfte ich mir immer den Seehafen anschauen, wenn meine Mutter Zigaretten für meine Großeltern kaufte. Bei einem unserer Zwischenstopps wurde gerade eine stillgelegte Straßenbahnlinie wiedereröffnet. Die Bahn war mit Girlanden geschmückt und man konnte umsonst mitfahren; ich bekam einen Luftballon in die Hand gedrückt und dachte, Straßenbahnfahren sei so etwas wie Geburtstag haben.
Heute fühlte ich mich hingegen wenig nach Geburtstag; ich war nervös, wie immer kurz bevor es losging. Zwar fuhr ich nun schon seit mehreren Wochen regelmäßig, die Strecke aber war jedes Mal eine andere.
Mit klammen Fingern tastete ich in der Innentasche meiner Uniform nach dem Feuerzeug, doch da war nur das Handy, und ich musste kurz an die neue Nummer denken, die seit über einer Woche ungewählt darin war. Es war ein ferner Gedanke irgendwo weit hinten im Kopf, ich dachte an die Nummer, wie man daran denkt, mit dem Rauchen aufzuhören: vielleicht irgendwann einmal.
Im Grunde war Jens das schon immer gewesen: ein ferner Gedanke irgendwo weit hinten im Kopf. Andere Kinder hatten imaginäre Freunde oder imaginäre Superhelden; ich hatte einen imaginären Vater. Wann immer mir in der Schule jemand dumm kam, stellte ich mir vor, dass ich ihn jederzeit anrufen könne, er kommen und jemanden für mich verprügeln würde. Doch als meine Lieblingslatzhose, eine aus schwarzem Cord, zu eng wurde, verschwanden allmählich auch die Gedanken an den Vater.
Ich fand das Feuerzeug in der Hosentasche und zündete mir eine Zigarette an. Im Gleisbett lagen etliche Zigarettenstummel, deren Länge von der zunehmenden winterlichen Kälte zeugte. Je kürzer und kälter die Tage wurden, umso länger wurden die Stummel an den Haltestellen; zig vermiedene Brandlöcher in Handschuhen. Auch ich zog nur ein paar Mal, schnippte meine Zigarette zu den anderen ins Gleisbett und zog mir die Handschuhe erst im Führerhäuschen aus.
Auf dem Beifahrersitz saß mein Fahrlehrer Reiner, sein Kinn hing auf der Brust, er schnarchte leise. Drei Mal täglich pflegte er einen fünfminütigen Schlaf zu halten, Endhaltestellenschlaf nannte er das. Reiner hatte die Bahn eine Runde gefahren und mir dabei die Besonderheiten der Strecke erklärt, jetzt war ich an der Reihe. Ich stellte den Sitz ein und machte dabei so viel Lärm wie möglich. Reiner wachte auf und wir führten den Dialog, mit dem wir jede meiner Fahrstunden begannen:
Dann wollen wir mal, sagte er.
Dann wollen wir mal, sagte ich und löste die Handbremse.
Auf der Linie 10 hatte die Bahn kein eigenes Gleisbett, man musste sehr auf den Autoverkehr achtgeben. Am Vorabend war ich die Strecke auf meinem Berlinplan mit dem Finger so lange abgefahren, bis ich alle Haltestellen und kreuzenden Straßen auswendig kannte. Zu Beginn ging es leicht bergauf, die Bernauer Straße hoch.
Wie alt warst du?, fragte Reiner und deutete mit dem Kinn aus dem Fenster. In Fahrtrichtung rechts standen Überreste der Grenzanlagen, die einst eine überdimensionale Schneise in die Stadtpläne von Berlin geschlagen hatten und nun als Gedenkstätte dienten.
Ich war zwei, sagte ich. Ich habe nie staunend vor einem Telefon gesessen, nie eine Sonnenblume für Angela Davis gemalt und nie mit Wessis auf Maueraussichtsplattformen geplaudert.
Reiner lachte.
Du hast zu viele Filme geschaut, sagte er.
Ich lachte auch, obwohl ich nicht sicher war, was Reiner so amüsierte. Vielleicht hatte ich eher zu wenig Filme geschaut, dachte ich, oder die falschen. An der Scheibe zog der graue Beton vorbei, der so verfallen war, dass die rostigen Streben im Innern zu sehen waren. Aus den Filmen wusste ich immerhin, dass die innerdeutsche Grenze nur in Berlin aus Betonplatten gebaut worden war und ansonsten aus Stacheldraht und Pfeilern. Wenn Jens auf eine Mauer schaute, die wie eine richtige Mauer aussah, dachte ich, dann musste er nach wie vor in Berlin leben.
So kommst du auch nicht schneller nach Hause, sagte Reiner, und erst jetzt merkte ich, dass ich an der letzten Haltestelle vorbeigefahren war. Ich bremste und kam kurz hinter der Kreuzung Brunnenstraße zum Stehen.
Hier brauchst du jetzt auch nicht mehr halten, sagte er.
Tut mir leid, sagte ich, tut mir wirklich leid.
In zwei Wochen fährst du Passagiere, sagte Reiner und jetzt klang er strenger, das muss besser klappen.
Ich fuhr wieder an, versuchte, mich auf die Schienen zu konzentrieren. Es waren diese Straßen und Kreuzungen, die Jens den uckermärkischen Landstraßen und Feldwegen vorgezogen hatte, und er war offenbar noch immer hier, in dieser Stadt. Ich schaute auf die Fassaden der Wohnhäuser, die sich kilometerlang an uns vorbeischoben. Häuser hatten schon immer eine beruhigende Wirkung auf mich gehabt. Die Gemäuer waren das Versprechen, sich darin verbergen zu dürfen, mit allen Geheimnissen, Geschichten und Unzulänglichkeiten. Ich mochte ihre Unbeweglichkeit, ihr zuverlässiges Dasein.
Ich hatte die erste Runde fast geschafft, als am Bersarinplatz ein Mann gegen die Scheibe hämmerte. Gedämpft war seine Stimme zu hören, er wollte einsteigen. Ich blickte zur Seite, in den rechten Außenspiegel, und dachte kurz, auf dem Bahnsteig stünde Jens.
Das ist eine Fahrschulbahn, brüllte Reiner.
Ich sah den Schatten zurückweichen, der Mann war viel zu alt, um mein Vater zu sein.
Vielleicht ist ja die zweite Grünphase lang genug zum Weiterfahren, sagte Reiner.
Ich sah die Ampel zurück auf Rot schalten.
Entschuldigung, sagte ich.
Der Sollwertgeber lag rutschig in meiner rechten Hand, die Ampel schaltete um, ich fuhr los. Ich überlegte, woran ich Jens erkennen könnte, wenn er tatsächlich auf dem Bahnsteig stünde, wenn er den Gehweg entlangspazierte oder vor mir über den Zebrastreifen liefe. Auf dem Schwarz-Weiß-Foto, das meine Mutter mir manchmal gezeigt hatte, lag er mit geschlossenen Augen im Gras. Er hatte die Hände hinter dem halbglatzigen Kopf verschränkt, sodass man sein dichtes Achselhaar sehen konnte. Mein Babymund sabberte auf seinen Bauch, hinter uns stand eine Zinkwanne. Es war das einzige Foto von mir und meinem Vater, das meine Mutter besaß. Ich fragte mich, ob ich ihn mit geöffneten Augen und im Stehen überhaupt erkennen würde. Ich versuchte, ihn um neunzehn Jahre altern zu lassen, sein Kinn zu verdoppeln und Falten um Augen und Mundwinkel zu zeichnen. Doch es blieb das Bild mit der Zinkwanne im Hintergrund, nur dass Jens’ Gesicht nun mit einigen dilettantischen Strichen versehen war, als hätte jemand unter Zeitdruck ein Wahlplakat verunstaltet.
Ich drängte die Gedanken weg, ich wollte Jens keinen Platz machen in dem Führerhäuschen, in dem es mit Reiner schon eng genug war. Ich schaute wieder auf die vorbeiziehenden Fassaden, aber jetzt hatten sie nichts Beruhigendes mehr an sich. Auf einmal schien es mir, als könnte hinter jedem Fenster, hinter jeder Tür Jens wohnen. Jede Klinke könnte diejenige sein, die er täglich mit festem Griff umfasste, wenn er das Haus betrat oder verließ.
Nach der Wende hat meine Mutter den Katzen die Schnurrhaare abgeschnitten, sagte ich, nur um etwas zu sagen.
Reiner sah mich verständnislos an.
Damit sie nicht nach Hause finden, sagte ich. Es war ihr letzter Tag als Leiterin des Tierheims, danach wurde es geschlossen, da war sie achtundzwanzig. Sie hat die vierzehn Katzen zusammen mit drei Hunden und einunddreißig Kaninchen auf einen Hänger gepackt und dann ein Tier nach dem anderen in der Uckermark ausgesetzt. Meine Mutter sagt, sie hat lange von den vierzehn Katzen, drei Hunden und einunddreißig Kaninchen geträumt. Jetzt hat sie eine halbe Stelle als Tierpflegerin in einem Streichelzoo.
Reiner rieb sich einige Male über das Kinn.
Kennste den schon, sagte er schließlich, also, der beste Direktor im größten Kaufhaus der DDR soll Sigmund Jähn gewesen sein, wieso?
Reiner legte eine spannungsvolle Pause ein, ich zuckte pflichtbewusst mit den Schultern.
Weil er sich als Kosmonaut am besten in leeren Räumen auskennt!
Reiner lachte laut über seinen Witz. Ich lachte nicht mit und Reiner hörte schnell wieder auf.
Was die Wende angeht, hatten die Straßenbahner ja Glück, sagte er.
Weil die BVG der einzige Betrieb in ganz Berlin war, wo die Wessis von den Ossis lernen mussten, erwiderte ich. Reiner hatte es mir in einer der ersten Fahrstunden schon erzählt.
Genau, sagte er zufrieden. Weil die Straßenbahn in Westberlin ’67 abgeschafft wurde. Was arbeitet eigentlich dein Vater?
Bevor er verschwunden ist, war er Schmied, sagte ich. Aber in neunzehn Jahren hat schon so mancher den Beruf gewechselt.
Reiner nickte.
So mancher, sagte er und sah einen Moment lang aus dem Fenster.
Der Anfang vom Ende beginnt in sechs Monaten, sagte er dann, am 15. Juni 2008. Der Tag wird in die Geschichtsbücher eingehen.
Nun war es an mir, ihn verständnislos anzuschauen.
Da wird in Nürnberg die erste vollautomatische U-Bahn in Betrieb genommen, sagte er. Die kommt ganz ohne Fahrer aus. Wahrscheinlich werden wir irgendwann gar nicht mehr gebraucht.
Reiner sah nachdenklich auf seine Knie, an denen die Uniformhose spannte. Ich hätte gerne etwas Beschwichtigendes gesagt.
Aber zurück zu deiner Familie, sagte Reiner, deine Mutter hat doch sicher einen Freund?
Wenn sie einen Freund hat, sagte ich, dann hält sie ihn sehr gekonnt vor mir versteckt.
Reiner lachte.
Und was machst du so in deiner Freizeit, fragte er, hast du Hobbys?
Seine Fragerei begann mir auf die Nerven zu gehen, vielleicht aber auch nur, weil mir darauf spontan keine Antwort einfiel. Gleichzeitig freute ich mich darüber, dass Reiner nicht nur angespannt meine Handgriffe beobachtete, sondern in Plauderlaune kam.
Ich sammle Karten, sagte ich.
Spielkarten?
Landkarten.
Das war nur eine halbrichtige Antwort, denn zwar pflegte ich schon lange eine besondere Vorliebe für Karten, in letzter Zeit hatte ich sie aber vernachlässigt und es war meiner Sammlung nur eine einzige hinzugekommen. Der Karton mit den Karten stand noch immer unausgepackt im Flur meiner Wohnung. Ein richtiges Hobby konnte man das jedenfalls nicht nennen, und mir fiel auf, dass mein Berliner Leben, abgesehen von der Ausbildung und einer kleinen Schwärmerei für einen Kollegen, noch recht leer war. Von meinen Schulfreunden hatte es niemanden hierher verschlagen. Sie hatten sich für Praktikum, Zivildienst oder Studium auf der ganzen Welt verteilt. Sarah war die Einzige, zu der ich noch regelmäßig Kontakt hatte. Sie hatte meine Entscheidung nicht verstanden. Willst du nichts studieren?, hatte sie gefragt. Ich hatte aber keine Lust gehabt, den harten Holzstuhl im Klassenzimmer nur gegen einen ebenso harten im Hörsaal einzutauschen. Ich wollte etwas Praktisches tun und dabei unterwegs sein, und zwar in einer Großstadt. Dann werd doch Busfahrer oder Müllmann, spottete meine Mutter. Dass sie mich nicht ernst nahm, machte mich so wütend, dass ich mich kurzerhand von München bis Hamburg bei allen städtischen Verkehrsbetrieben bewarb. Doch je länger ich auf Antworten wartete und je länger meine Mutter und Sarah versuchten, mir das wieder auszureden, umso besser gefiel mir die Vorstellung, in einem Führerhäuschen zu sitzen und Menschen zu bewegen wie ein Marionettenspieler seine Puppen. Also war ich zunächst in der Uckermark geblieben, um zu kellnern und den Führerschein zu machen. Als dann die Zusage der BVG kam, hatte ich mich sehr auf Berlin gefreut. Aber während Sarah jetzt in Istanbul studierte, auf Türkisch träumte und sich im dortigen Nachtleben herumtrieb, saß ich neben einem älteren Mann in der Bahn und dachte über meinen Erzeuger nach. Ich schob die aufkommende Traurigkeit beiseite und konzentrierte mich auf die Schienen. Reiner musterte mich von der Seite.
Du bist nervös heute, sagte er.
Es ist nur wegen übernächster Woche, sagte ich.
Das stimmte auch, denn mir stand bald die erste Schicht bevor, bei der ich nicht nur eine doppelt traktierte Tatra-Bahn steuern, sondern auch Fahrgäste mit ihr transportieren musste. Reiner würde danach noch einige Wochen neben mir sitzen, dann würde ich allein auf Strecke gehen. Ich wusste nicht, was mich mehr beunruhigte: ab übernächster Woche für Menschenleben verantwortlich zu sein, oder die Möglichkeit, dass Jens als einer meiner Fahrgäste Fingerabdrücke auf dem Haltewunschknopf hinterlassen könnte. Mit jeder Haltestelle, mit jeder Runde und mit jeder Schicht würde die Wahrscheinlichkeit steigen, dass der Kaugummi an meinem Schuh vorher in seinem Mund gewesen war. Mir schwirrten Zahlen aus dem Theorieunterricht durch den Kopf: 3,5 Millionen Einwohner, 22 Linien mit 377 Haltestellen auf 189,4 Kilometer Streckennetz, 250000 Abonnenten, 170 Millionen Fahrgäste im Jahr, bei Doppeltraktion und maximaler Auslastung 300 Fahrgäste pro Bahn, davon 150 Männer: Ich schätzte, dass die Wahrscheinlichkeit, Jens unter meinen Fahrgästen zu haben, am Ende der sechs Wochen Schichtdienst mit Reiner bereits bei über 50 Prozent liegen würde.
Du machst das schon, sagte Reiner, da mach ich mir bei dir gar keine Sorgen, du machst das schon.
Er verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich im Sitz zurück.