Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Dezember 2014
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Quellennachweise für Zitate im Text:
Auszug aus Phil Collins: «In the Air Tonight», Face Value, WEA (Warner) 1981
Auszug aus Phil Collins: «I Don't Care Anymore», Hello, I Must Be Going, WEA (Warner) 1982.
Auszug aus Cindy Lauper: «True Colors» (Billy Steinberg/Tom Kelly), True Colors, PRT (Sony Music) 1986.
Auszug aus Xavier Naidoo: «Dieser Weg», Telegramm für X, Naidoo Records 2005.
Auszug aus Red Hot Chili Peppers: «Blood Sugar Sex Magik», Blood Sugar Sex Magic, Warner Bros. Records 1991.
Auszug aus Urge Overkill, «Girl, You'll Be A Woman Woon» (Neil Diamond), Pulp Fiction (Soundtrack), MCA Record (Universal Music) 1994.
Zitat aus dem DVD-Umschlagtext zu Orson Welles: «Citizen Kane» (Restaurierte Fassung), STUDIOCANAL 2009 (1941).
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Umschlaggestaltung yellowfarm gmbh, Stefanie Freischem
Umschlagabbildung Illustration Volker Bahmer, yellowfarm gmbh
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ISBN Printausgabe 978-3-499-26907-3 (1. Auflage 2014)
ISBN E-Book 978-3-644-53161-1
www.rowohlt.de
ISBN 978-3-644-53161-1
Zitat: Kiefer Sutherland, Stand by Me (1986).
Zitat: Tom Cruise im David-Letterman-Interview.
für Mütter
Wenn man sich einen Zettel mit der Aufschrift Dildo häufiger abspülen! an den Badezimmerspiegel klebt, hat man mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu wenig Sex. An dem Punkt war ich vor knapp zwei Jahren. Nach etlichen gescheiterten Beziehungsversuchen war ich eine Weile (Achtung: Gynäkologendeutsch) sexuell recht aktiv. Allerdings bin ich kein einziges Mal flachgelegt worden. Ich habe flachgelegt. Es dauerte aber nicht lange, bis mich das Ganze langweilte. Bei einem meiner letzten One-Night-Stands dachte ich nur: Pfff … noch ’n Penis!, als der Kerl seine Boxershorts herunterstrampelte. (Ja, ich mag das Wort Penis ebenso wenig wie Sie. Wenn man lieber das Objekt selbst in den Mund nimmt als den Begriff, der es beschreibt, ist irgendwas im Busche. PS: Die Sache mit den Klammerbemerkungen wird sich durch den kompletten Roman ziehen. Wenn es Sie nervt, sollten Sie jetzt sofort mit dem Lesen aufhören. Wenn nicht: Willkommen in meiner Welt! PPS: Manchmal habe ich das Gefühl, mein ganzes Leben ist eine einzige Klammerbemerkung.)
Eines Morgens erwachte ich neben einem Kerl in Bayern-München-Bettwäsche und hatte die bahnbrechende Erkenntnis, dass man seinen Traummann nicht sturztrunken an irgendeiner Theke abschleppt. Daher legte ich mir einen imaginären Keuschheitsgürtel um und griff verstärkt auf meine Spielzeuge sowie diverse Internetseiten zurück. Natürlich handelte es sich dabei eher um vaginale Astronautennahrung: Es erfüllte seinen Zweck, aber lecker ging anders. Der Vorteil war jedoch, dass es unkomplizierter war, den Computer auszuschalten, als einen Kerl loszuwerden. Außerdem bombardierte mich das Internet nicht mit Anrufen und SMS, wenn ich meine Ruhe haben wollte. Viren konnte man sich unglücklicherweise bei beiden Varianten einfangen.
Darüber hinaus hatte ich die Schnauze gestrichen voll davon, mich ständig in meinen Tagträumen zu verlieren. (Meine dreimonatige Affäre mit George Clooney war die Hölle!) Im Laufe der Zeit hatte ich weibliche wie männliche Hauptrollen in allen erdenklichen Filmen gespielt. Schon seit meiner Kindheit war ich süchtig nach Filmen – durch meine älteren Brüder war ich mit Arnold Schwarzenegger, Bruce Willis und Sylvester Stallone groß geworden. Mit dem jungen Adriano Celentano wäre ich sofort nach Feuerland-Mitte durchgebrannt, und manche Bud-Spencer-Filme konnte ich heute noch auswendig mitsprechen. («Hör mal zu, du Schlauberger, wenn du nicht deine Kauleiste dichtmachst, zieh ich dir ’nen Scheitel, dass deine Ohren bis Timbuktu schlackern!») Obwohl ich mich für die unterschiedlichsten Filme interessierte, hatte sich mein Geschmack mit dem Älterwerden deutlich gewandelt. Beispielsweise lieh ich mir keine DVDs mehr aus, auf deren Hüllen Blödsinn stand wie: Erleben Sie, wie nur eine Nacht das Leben von fünf Twentysomethings grundlegend verändern kann! Lieber sah ich mir zum unzähligsten Male die 1974er Version vom Kettensägenmassaker an. Da wusste ich von vornherein, wie nur eine Nacht das Leben von fünf Twentysomethings grundlegend verändern konnte. Stichwort: Kannibalismus. Twentysomethings können mich mal. Und zwar kreuzweise. (Nehmen Sie es nicht persönlich, sollten Sie selbst zu dieser Altersgruppe zählen. Sie werden mir in absehbarer Zeit zustimmen. Versprochen!)
Der eingangs erwähnte Zettel war dann so etwas wie ein Weckruf, dass ich vielleicht doch nach einem brauchbaren Kerl Ausschau halten sollte. Die Hoffnung auf den vielbeschworenen Mr. Right hatte ich zwar aufgegeben, aber wenigstens Mr. Not Completely Fucking Wrong wäre eine feine Sache gewesen.
Jetzt bloß nicht an Afrika oder so was denken!, ging es mir durch den Kopf, als ich die zweite Banane des Abends in die Schokolade tauchte. Morgen, beschloss ich, morgen wird gespendet. Und gefastet! Innerlich ballte ich eine Faust. Solidarität mit Afrika! Wahre Ehrfurcht vor meiner Selbstlosigkeit leuchtete in den Augen der mich anhimmelnden Masse. Fasten für Afrika! Es brandete Jubel für meinen Enthusiasmus auf. Ich war drauf und dran, zur Revolution aufzurufen, als ich einen Kellner, offenbar den Schokobrunnen-Supervisor, bemerkte. Obwohl schon ein Viertel der Banane zwischen meinen Lippen verschwunden war, schaute er nicht dezent beiseite, sondern machte einen Schritt auf mich zu. Dabei zwinkerte er süffisant, als wollte er sagen: «Verstehe schon, Schätzken. Sag, wann und wo!» Sofort kam mir diese Dokumentation über Schnappschildkröten in den Sinn, die ich einige Wochen zuvor gesehen hatte. Die Biester lauerten in Ufernähe und konnten ausgewachsene Gnus zu sich ins schlammige Wasser zerren und verspeisen. Sei die Schildkröte!, sagte ich mir. Unmissverständlich starrte ich dem Kellner erst auf den Schritt und dann in die Augen, bleckte meine Zähne und biss ruckartig in die Banane. Anschließend fixierte ich ihn und schaukelte in Zeitlupentempo meinen Kopf hin und her. Ich hörte mich fauchen.
«Wollte nur fragen, ob Sie die vielleicht gebrauchen können», sagte der Kellner. Erst jetzt bemerkte ich die Serviette in seiner Hand. «Sie haben da einen Schokofleck auf Ihrer … Ihrer Trainingsjacke.»
Ey, du hast den gerade angefaucht!, durchzuckte es mich. Es war einer dieser Momente, in denen ich mich fühlte wie Vögelchen Tweety, wenn es in einem Zeichentrickfilm abgefackelt wurde. (Soundeffekt: Fump. Chrrz. Knirsch. Brösel.) Wortlos schnappte ich mir die Serviette und huschte gen Klo.
Für unsere Weihnachtsfeier hatte die Firmenleitung sämtliche Festsäle des protzigsten Hotels der Stadt angemietet. Im Konzertsaal bespaßte eine Soul-Cover-Band das Publikum, im Atrium klimperte ein Jazztrio, und in anderen Räumen lief Lounge-Musik. Überall schwänzelten Kellner mit Tabletts voller Sekt oder Wein herum. Es gab etliche Buffettische mit warmen Speisen und Snacks, und ich entdeckte wenigstens fünf Schokobrunnen. Dekadenz pur. Obwohl ich den Großteil meines geschichtlichen Wissens aus Filmen hatte, war ich sicher, dass auf diese Weise das Römische Reich vor die Hunde gegangen war. (Warum sehe ich gerade einen schokoverschmierten Russell Crowe vor mir?)
Meine Trainingsjacke hatte schon den ganzen Abend Blicke auf sich gezogen. Während bekannte Kollegen wohl nur dachten: «Ach, die Ina wieder!», glotzten mich andere an, als hielten sie mich für eine Reinigungskraft, die sich dreist durchfutterte. Aus irgendeinem Grund hatte ich die Mail übersehen, in der darauf hingewiesen wurde, dass man sich in Abendgarderobe kleiden, sich also herausputzen sollte. Problem Nummer eins: Ich kleidete mich nicht, ich zog mich an. Problem Nummer zwei: Ich besaß dementsprechende Klamotten sowieso nicht. Auf der Arbeit selbst gab es keinen Dresscode, sodass ich dort konsequent Jeans und T-Shirt, Stoffturnschuhe und eben eine Trainingsjacke trug. Es war einer der wenigen Vorteile meines Jobs.
Seit ich mein Studium mit einigen Trödelsemestern abgeschlossen hatte, arbeitete ich in einem Callcenter. Ursprünglich wollte ich nur einige Monate überbrücken, bis ich etwas Anständiges gefunden hatte, aber mittlerweile waren daraus sieben Jahre geworden. Zu allem Überfluss handelte es sich um das Callcenter einer Bank. Mein zwanzigjähriges Ich, diese dumme Sau, konnte mir deswegen stundenlange Vorträge über das Spießertum an sich und die Ausbeutung des Proletariats im Speziellen halten. Aber ich war, wie man im Callcenter-Jargon sagte, kundenorientiert: Weder schwatzte ich neunzigjährigen Witwen Sparbriefe mit zehnjähriger Laufzeit auf, noch verpasste ich Hartz-IV-Empfängern zusätzliche Kredite. Außerdem rief nicht ich wildfremde Leute an, sondern wildfremde Leute riefen mich an. Weil ich selbst es wie die Pest hasste, mit Callcentern zu telefonieren, hatte ich ganz zu Anfang ein Experiment durchgeführt. Einen Nachmittag lang rief ich bei verschiedenen Hotlines an, um herauszufinden, was mich selbst bei Callcenter-Agents (sprich: Äidschends) zur Weißglut trieb. Die Ergebnisse waren eindeutig: Wenn sie mir das Gefühl gaben, ich wäre geistig minderbemittelt, nur weil ich keine Ahnung von Sachen hatte, mit denen sie sich selbst tagtäglich befassten. Wenn sie mich unterbrachen, bevor ich meine Frage gestellt hatte, um dann etwas zu erklären, auf das ich überhaupt nicht hinauswollte. Wenn sie sagten, sie hielten kurz Rücksprache mit ihrem Vorgesetzten, um mich dann stundenlang in der Warteschleife verrotten zu lassen. Wenn sie jeden einzelnen Satz mit der Nennung meines Namens begannen oder beendeten. Wenn sie mich mit einer erbärmlich geschauspielerten Dauerfreundlichkeit abfertigten, die sogar Florian Silbereisen zum Kotzen bringen würde, ich aber nie das Gefühl hatte, mit einem echten Menschen zu sprechen. Und genau darum ging es: Man musste mit den Kunden reden, wie man erwartete, dass mit einem selbst geredet wurde. Ganz einfach. Es war der alte «Ich blas dir einen, dafür leckst du mich»-Trick.
Ich stieß die Klotür auf. Über eines der Waschbecken gebeugt begutachtete sich meine Teamkollegin Jeannette im Spiegel.
«Na?», fragte ich, worauf sie schützend eine Hand vor ihr rechtes Auge riss. «Alles tutti mit deinem Auge?»
«Ja, ja, das ist halt nur gerade nicht geschminkt.»
«Verstehe», sagte ich, ließ es aber wie eine Frage klingen.
Unverändert die Hand vor ihrem Gesicht, starrte Jeannette mich einäugig an, als wäre sie der Douglas-Zyklop.
«Musst du auf Toilette?», fragte sie.
Ich hielt ihr den Klecks auf meiner Trainingsjacke hin und begab mich an das Becken neben ihrem. «Nee. Will nur die Schokolade ein bisschen einreiben.»
Jeannette nickte.
Wir schwiegen.
Ich legte die Stirn in Falten.
«Willst du nicht mal deine Hand runternehmen?», fragte ich, aber Jeannette verzog nur den Mund. «Was denn?»
«Geh doch ruhig mal auf Toilette und lass mich erst fertig schminken, ja?»
Langsam ließ ich das Kinn auf meine Brust sinken und schaute sie von unten herauf an.
«Verstehe ich das gerade richtig», setzte ich an, «du willst nicht, dass ich dein ungeschminktes Auge sehe?»
Jeannette zuckte mit den Schultern. Du Mädchen!, dachte ich. (Anmerkung am Rande: Das Wort Mädchen, bezogen auf erwachsene Frauen, ist in meinem Vokabular eines der gnadenlosesten Schimpfworte überhaupt. Mädchen sind diese Art Frauen, bei denen man das Gefühl hat, sie leben in einem rosa Plastikpuppenhaus, das Mario Barth für sie gebastelt hat. Mädchen erzählen in Gesprächen mit Kerlen beispielsweise, dass sie neulich nur eine Jacke kaufen wollten, dann aber mit drei Paar Schuhen nach Hause gekommen sind und anschließend ihren Wagen nicht anständig eingeparkt bekommen haben. Im nächsten Moment sagen sie Dinge wie «Typisch Frau halt», um zu signalisieren, dass sie sich des Klischees bewusst sind, setzen dann aber ihr niedlichstes Lächeln auf und wollen genau dafür geliebt werden. Ich könnt so derbe reinschlagen!)
«Jeannette», sagte ich schließlich. «Zeig mal dein Auge her. Du schaffst das!»
Zögerlich senkte sie ihre Hand. Auf der Stelle verzog ich mit gespieltem Ekel mein Gesicht und gab einen angewiderten Laut von mir.
«Ina!»
«Das ist echt mal mit Abstand das hässlichste Augenlid, das ich je gesehen habe!», sagte ich. «Schmier da mal schnell was drüber, das ist ja widerlich.»
«Du bist so doof.» Während Jeannette ihr Antlitz reparierte, zupfte ich Papiertücher aus dem Spender und drehte den Wasserhahn auf. «Tolle Party, oder?», fragte sie.
«Schon ein bisschen übertrieben alles.»
«Findest du?»
«Kein Mensch braucht fünf Schokobrunnen. Habe ich alle erst mal gefilmt, um da eine Collage von zu machen.»
«Machst du das immer noch? So komische Sachen aufnehmen?»
«Mach ich ganz automatisch. Handy rauskramen, Videofunktion anschalten und laufen lassen. Habe inzwischen über sechzig Clips auf meinem Blog.» Grinsend ergänzte ich: «Hollywood extra-light.»
Ohne darauf einzugehen, fragte Jeannette: «Hast du dich auch für die Spätschichten an den Feiertagen gemeldet?»
«Soll das ein Scherz sein?»
«Ich mache alle drei Weihnachtstage, Silvester und Neujahr. Gibt Zuschläge. Und ist sowieso nie was los.»
«Ich hatte erst überlegt», antwortete ich am Fleck rubbelnd, «aber dann ist mir eingefallen, dass ich ein Leben habe.»
«Und hat Annika dir wegen dem Dreiundzwanzigsten Bescheid gesagt? Da machen wir Frauenabend, und ich dachte, vielleicht hättest ja auch mal wieder Lust. Wir brauchen noch eine achte Person zum Parfumwichteln.»
Parfumwichteln, ging es mir durch den Kopf. Augenblicklich wurde mir wieder bewusst, weshalb aus Jeannette und mir keine besten Freundinnen geworden waren, als sie vor drei Jahren im Callcenter angefangen hatte. Damals war sie neu in der Stadt und auf der verzweifelten Suche nach einem Freundeskreis gewesen. Meiner Samariter-Natur entsprechend war ich einige Male mit ihr ins Kino gegangen, wobei sich schnell herausgestellt hatte, dass wir keinerlei Gemeinsamkeiten hatten. («Sterben da Menschen in dem Film, Ina?» – Wir haben uns Rambo IV dann nicht zusammen angesehen.) Nichtsdestotrotz meldete Jeannette sich daraufhin regelmäßig, lernte schließlich Annika kennen, die Freundin meines besten Kumpels Henning, und wurde Teil ihrer Proseccoclique. Das war ein Kreis von Mädchen, bei denen ich nicht wusste, was sie außer kichern und übereinander lästern sonst noch veranstalteten. Ganze zwei Male hatte ich mich mit ihnen getroffen, weshalb ich Jeannettes Einladung nun mit einem skeptischen Blick quittierte.
«Kannst du dir ja noch mal überlegen», sagte sie und stopfte ihre Schminkutensilien zurück ins Glitzertäschen. Abschließend zog sie ihr knallenges Kleid zurecht und schaukelte ihre Titten in Position wie Wasserbomben.
«Wie sehe ich aus?», fragte sie.
«Wenn du nachher einen Schuh auf den Stufen verlierst, passt das schon.»
«Gut, ich muss los, ich habe gerade den Kronenbergh am Wickel.»
«Wen?»
«Karsten Kronenbergh, kennst du den etwa nicht?», fragte sie. «Der ist Teamleiter in der Vierten. Eigentlich dachte ich, dass der was mit der Buttgereit am Laufen hat, aber der hat eben die ganze Zeit zu mir rübergeguckt.»
«Ein Teamleiter? Das spricht sich doch mit Lichtgeschwindigkeit herum.»
«Na, das will ich doch hoffen», sagte Jeannette, bevor sie davonstöckelte.
Eine Klospülung rauschte. Kurz darauf kam Claudia Sengbusch aus einer der Kabinen. Claudia war vier Jahre jünger als ich, sah aber aus wie ihre eigene Mutter. Außerdem war sie Trägerin eines schwarzen Gürtels im Scheißelabern. Eilig warf ich das Papiertuch in den Müll.
«Iiiina!», tirilierte Claudia. «Na, du bist aber flott gekleidet für so einen Abend.» Flott, wiederholte ich in Gedanken. Wahrscheinlich hatte Claudia die Hälfte ihres Vokabulars aus Schlagersendungen und würde mich als Nächstes fragen, ob ich schon beschwipst war.
«Ich bin ja eben die ganze Zeit im großen Saal gewesen, bei der Band», legte sie los, «die sind richtig gut, mit echtem Neger, musst du dir gleich mal angucken, aber ich kann nicht mehr tanzen, oh, mir tun so die Füße weh. Huhuhu!» Ächzend stützte sie sich am Waschbecken ab und zog sich mit der freien Hand ihre Schuhe aus. «Öach!», machte sie und knetete ihre Fußsohle, als wäre sie Hefeteig. «Das tut gut, ohaa, und was ich schwitze.» Damit zupfte sie die Bluse von ihrer Brust und pustete unter den Stoff. Mein Blick blieb an ihrem altbackenen Blümchenkleid hängen, das sie wahrscheinlich in einer Nacht-und-Nebel-Aktion aus dem Sarg ihrer Oma geklaut hatte. «Ich bin das ja gar nicht mehr gewohnt, ich bin ja am Wochenende so selten weg, die Kinder, weißt du ja, und wenn man dann keinen Mann hat, der auch mal aufpassen kann, na ja, da kommt man halt nicht so oft raus, der kümmert sich ja so gut wie gar nicht um die Jungs, aber dafür ist so ein Abend wie der hier echt toll, da hat meine Mutter die mal wieder genommen, macht sie ja ab und zu, wobei, jetzt, wo die älter werden, wird ihr das auch manchmal zu anstrengend und, ooooch!» Mit Gewalt presste Claudia ihre Zehen in alle verfügbaren Richtungen und verdrehte die Augen. Ich gaffte den elektrischen Handtrockner an und grübelte, was wohl geschah, wenn man tief genug mit nassen Fingern hineinlangte.
«Was das guttut, so ’ne Fußmassage», schnaufte Claudia. «Ist natürlich immer besser, wenn das wer anders macht, schon klar, aber so ist auch gut, ja, ach, das wäre überhaupt mal ’ne Idee gewesen für die Feier hier, so’n Ruheraum mit Massagen. Das wäre doch jetzt mal super, oder, Ina?» Ein Stromschlag wäre jetzt mal super, dachte ich. «Oder, Ina?», wiederholte Claudia. «Das wäre doch ’ne gute Idee jetzt.» Wie in Trance nickte ich vor mich hin. Gerade wollte ich mich abwenden, da setzte sie nach: «Ach, hier! Was hat die Jeannette erzählt, sie will was von dem Kronenbergh? Ich wollte ja nicht lauschen, aber ich war halt auf dem Klo, konnte ich ja nichts machen, ne? Klar, oder? Das ist ja auch wirklich ein hübscher Mann, mit dem hab ich mich mal in der Kantine unterhalten, über Nachtisch und so, er hat dann aber keinen genommen, ich so ’nen kleinen Vanillepudding, trotzdem toller Typ, aber der ist doch mit der Franziska Buttgereit zusammen, oder? Oder nicht mehr? Ich dachte. Und jetzt will die Jeannette was von ihm?» Mit einem neugierigen Grinsen, frisch vom Gartenzaun, legte Claudia den Kopf schräg.
«Ohne Artikel», hörte ich mich nuscheln.
«Was?»
«Keine Artikel vor Namen setzen. Einfach nur Jeannette, ohne das Die davor.»
«Hmhm», machte Claudia.
Ich wusste nicht, was ich bescheuerter fand: Leute, die Artikel vor Namen setzten, oder solche, die andere deswegen korrigierten. Es war eine der Sachen, die ich einfach nicht unkommentiert stehen lassen konnte. Artikel vor Namen ließ ich nur durchgehen, wenn über Kleinkinder oder Idioten gesprochen wurde.
«Ich gehe mal eine rauchen», sagte ich.
«Viel Spaß!», rief die Claudia mir hinterher.
In der Raucherlounge waberten Qualmschwaden. Ein DJ spielte Schlager der Siebzigerjahre, und von einer Sitzecke schallte Altherrengelächter herüber. Es waren Männer aus dem Vorstand, denen die Schmerbäuche hemmungslos über den Hosenbund quollen, als wäre noch immer Wirtschaftswunderzeit. Die Krawatten hingen ihnen locker um den Hals, und alle schmauchten Zigarren. Es war wie auf den Geburtstagen meines Opas früher, weshalb ich mich sofort zu Hause fühlte. Selbst in diesem Raum gab es ein Buffet, das allerdings weitestgehend leergeplündert war. Obwohl es in meinem Bauch rumorte, begutachtete ich die Reste und steckte den Tabaksbeutel zurück in meine Hosentasche. Was war ein All You Can Eat schon wert, wenn man nicht mit anständigen Magenschmerzen nach Hause ging? Einige Tage zuvor hatte ich außerdem einen Zettel mit der Aufschrift Lieber Kalorien als Krebs! an meinen Badezimmerspiegel gepappt. Weil kein sauberes Besteck mehr zu finden war, pulte ich ein Plastikspießchen mit Grinsedelphin am Stielende von der Tischdecke und tunkte einen Mettkloß ins Aioli. Wie es sich gehörte, blieb er in der klebrigen Masse stecken. Über das Buffet gekrümmt stocherte ich dem Kloß hinterher. Gerade als ich ihn erwischt hatte, zerbröselte er und klatschte zurück ins Schälchen. Bloß gut, dass du keine Gehirnchirurgin geworden bist!, dachte ich.
Just in diesem Moment bemerkte ich den Kerl neben mir. Er war in meinem Alter und lächelte mich mit perfekten Zähnen an, hatte eine dezente Solariumsbräune und einen Dreitagebart. George Michael in der Callcenter-Variante. Augenblicklich hatte ich Last Christmas im Ohr, und mir verging der Appetit. Wortlos stippte der Kerl einen Mettkloß mit seinen Fingern ins Aioli. Bevor er ihn in den Mund steckte, ließ er seinen Blick demonstrativ zwischen seiner Hand und meinem Spießchen hin und her wandern.
«Praktisch denken», sagte er.
Wie auf Knopfdruck antwortete ich: «Särge schenken.»
Der Kerl stockte. In seiner Backentasche klemmte der Mettkloß, und George Michael bekam einen Touch von Hamster. Anstatt sich ins Laufrad zu flüchten, fragte er: «Sie arbeiten in der Fünften, oder?»
Wären wir uns nicht auf einer Firmenfeier, sondern in freier Wildbahn über den Weg gelaufen, hätten wir uns keinesfalls gesiezt. Rightyright!, ging es mir durch den Kopf. Testphase eins!
«Wollen wir uns nicht duzen?», fragte ich und streckte ihm meine Hand entgegen.
Im Laufe der Jahre hatte ich eine ganze Reihe Persönlichkeitstests entwickelt, um die grundlegenden Charakterzüge eines Kerls im Schnellverfahren auszuloten. Neben Fahrstil- und Filmwissen-Check hatte sich der Handschlag-Quickie als eine der zuverlässigsten Methoden herauskristallisiert. Vernichtend war es, wenn ich einen schlaffen Lappen zu spüren bekam, zupackte und der Kerl erst daraufhin fester zugriff. Sofort wusste ich: Aha! Einer, den ich kontrollieren könnte! Weil ich das aber gar nicht wollte, wurde er umgehend disqualifiziert. In diesem Fall bestand mein Gegenüber jedoch mit Bravour. Sein Handschlag war weder übertrieben hart, noch war er zu schluffig. Ohne meine Finger zu zerquetschen, ließ er mich spüren, dass er auch fester zugreifen konnte. Er demonstrierte also gleichermaßen Selbstbewusstsein – ohne es aber überzubetonen – wie auch die Fähigkeit, sich anzupassen. Ich vergab bemerkenswerte 8 von 10 Punkten.
«Kronenbergh», sagte der Kerl. «Karsten Kronenbergh.»
«Maibach», antwortete ich. «Gerührt. Nicht geschüttelt.»
«Ehhhm … was?»
«Wegen James Bond?», versuchte ich zu erklären. «Wie du dich gerade vorgestellt hast?»
Obwohl Karsten nickte, hatte ich nicht das Gefühl, dass er es verstanden hatte. «Ja, ich bin aus der Fünften», beantwortete ich seine ursprüngliche Frage. «Angefangen habe ich mal in der Dritten. Schön hochgearbeitet.»
«Dann geht’s bei mir wohl seit Jahren bergab. Ich war mal in der Siebten in der Baufinanzierung. Da war ich aber noch kein Teamleiter.»
«Und bringt das was?», fragte ich.
«Was? Was bringt was?»
«Teamleiter sein.»
Statt zu antworten, knibbelte Karsten am Etikett seiner Bierflasche herum. Höchstwahrscheinlich hatte er damit gerechnet, mich mit seinem Posten zu beeindrucken. Jeannette war nicht die einzige Kollegin, die sich an Teamleiter heranschmiss, um im Falle einer Beziehung in der gefühlten Mitarbeiterhierarchie aufzusteigen.
Erst nach einem Augenblick des Zögerns sagte Karsten: «Bringt nicht so wirklich was.»
«Muss man ständig kurzfristige Urlaubsanträge absegnen und eigentlich nur Informationen von oben nach unten weiterreichen, ne? Und dann verdient man nicht mal wirklich viel mehr als das Fußvolk.»
Karsten nahm einen Schluck Bier. Kurz schaute er sich um, aber schließlich sagte er schmunzelnd: «Genauso isses. Mitarbeiter nerven, die Kohle stimmt nicht, und meinen Wagen und die Wohnung habe ich mit Firmenkrediten bezahlt. Lebenslänglich haben mich die Säcke. Lebenslänglich! Zum Glück habe ich übernächste Woche erst mal Urlaub.»
So überraschend nett war der Moment, dass ich umgehend Testphase zwei einläutete: Versteht er meinen Humor? Ich hob den Grinsedelphin-Spieß auf Karstens Augenhöhe.
«Wäre es eigentlich moralisch in Ordnung, mit dem Ding Thunfischhäppchen zu essen, oder kommt man für so was in die Hölle?», fragte ich.
Ziellos trudelte Karstens Blick umher.
«Delphin!», sagte er dann, als habe er ein Rätsel gelöst. «Wegen den toten Delphinen in den Thunfischnetzen!» Verstohlen schob er hinterher: «Ganz schön böse.»
Erst jetzt fiel mir auf, dass er ein wenig lallte. Ich schaute mich nach Jeannette um, konnte sie aber nirgends entdecken. Stattdessen bemerkte ich Franziska Buttgereit, die am DJ-Pult lehnend zu uns herüberschielte. Ein leeres Cocktailglas umklammernd, nagte sie an einer Ananasspalte, die sie der Länge nach in ihren Mund gestopft hatte.
«Dich habe ich schon ganz oft in der Kantine gesehen», sagte Karsten.
«Ja?»
«Nö», antwortete er feixend. «Das behaupte ich nur, um aufmerksam zu wirken.»
Na, der hat doch mal was! Der Gedanke hinterließ ein unerwartetes Knistern hinter meinen Schläfen.
«Ich teste dich gerade», hörte ich mich sagen.
«Hm. Und? Wie halte ich mich?»
«Ganz anständig so weit. Ich glaube ja, dass …»
«Karsten?»
Vor uns stand Franziska Buttgereit und musterte Karsten, als wären sie beim Wiegen vor einem Boxkampf. Deutlich einschüchternder wäre sie gewesen, hätte die Ananas ihr kein sonnig gelbes Grinsen auf die Wangen gemalt.
«Soll ich dir deine Zahnbürste und die anderen Sachen mit zur Arbeit bringen oder kann ich das alles einfach wegschmeißen?», fragte sie.
Für einen Sekundenbruchteil konnte ich Karsten in sich zusammensacken sehen, aber er richtete sich sofort wieder auf.
«Franziska, mir tut das wirklich leid», sagte er. «Haben wir doch vorgestern drüber geredet. Uns ist doch beiden klar, dass das nicht funktioniert hat, oder?»
Tolle Antwort!, dachte ich. Irgendwie verständnisvoll, aber dennoch geradeaus. No Bullshit!
Mit spitzen Fingern zupfte Franziska am Kragen ihres Blazers herum.
«Lass dir nicht einreden, dass dreißig Grad die perfekte Temperatur ist», wandte sie sich an mich, bevor sie mit gerecktem Kinn aus dem Raum stolzierte.
«Was war das denn?», fragte ich.
«Ein Fehler», sagte Karsten kaum hörbar. «Ein richtiger Fehler.» Kopfschüttelnd starrte er die mit Flecken und Krümeln übersäte Tischdecke an. «Bei dir kann man direkt sein, oder?»
Allein für die Frage hätte ich ihn knutschen können.
«Direkt sein ist wichtig», sagte ich.
«Ich würde dich wirklich gerne kennenlernen. Ich bin echt kein Arschloch. Auch wenn der Flurfunk vielleicht was anderes behauptet. Ich hatte was mit vier Frauen hier aus der Firma. In zwei Jahren. Ich arbeite vierzig Stunden die Woche, dann noch die ganzen Überstunden und ständig irgendwelche Seminare. Ich komme kaum noch raus aus dem Laden. Klar guckt man da auch mal, was sich hier so … so ergibt.»
Sein Gesichtsausdruck war derartig hilflos, dass es mir die Sprache verschlug.
«Hast du mich wirklich schon mal in der Kantine gesehen?», fragte ich schließlich.
«Hast als Zeitarbeitskraft angefangen und bist dann übernommen worden», sagte er. Dabei kratzte er den Fetzen eines Salatblatts von der Tischplatte und dröselte ihn mit den Fingerspitzen zu einem Kügelchen, bis es aussah wie ein Popel. Iss das jetzt bitte nicht!
«Ich wusste schon die ganze Zeit, wie du heißt. Wo du wohnst, weiß ich auch.» Er schnipste das Blättchen beiseite und ergänzte grinsend: «Wäre ich du, würde ich jetzt sofort eine Unterlassungserklärung oder so was gegen mich erwirken.»
Scheiße, jetzt ist der auch noch ehrlich! Ich schaute mich um. Etliche Kolleginnen gafften zu uns herüber.
«Auf dich stehen hier eine ganze Menge Weiber, oder?», wollte ich wissen.
Verschmitzt zuckte Karsten mit dem Mundwinkel.
«Das ist das andere Problem. Die richtige Abwimmeltaktik finden. Freundlich, aber klar. Musste ich eben gerade wieder bei einer anwenden, die ein bisschen zu aufdringlich war.»
Obwohl ich mir keinen Ärger mit Jeannette einhandeln wollte, war ich neugierig geworden, was sich hinter Karstens geleckter Oberfläche verbarg.
«Gehen wir nächste Woche mal einen Kaffee trinken?», fragte ich. «Oder abends ein Bier?»
«Ja, sehr gerne.» Karstens Mettatem zog mir in die Nase. «Möchtest du jetzt vielleicht noch ein Bier? Wollte mir gerade noch eins holen.»
Unentschlossen fummelte ich am Reißverschluss meiner Trainingsjacke herum. Es war bereits kurz nach eins. Außerdem hatte ich keine Lust, dabei beobachtet zu werden, wie ich mit einem Teamleiter anbandelte.
«Nee, lass mal, Keule», sagte ich. «Für mich reicht’s heute.»
«Keule habe ich ja ewig nicht mehr gehört», kicherte Karsten. Gerade wollte ich mich rechtfertigen, da fragte er: «Oder soll ich uns zwei Espressi holen?»
Ich kniff meine Augen zu Schlitzen zusammen.
«Wenn Espressi klargeht», sagte ich mit Betonung auf dem i, «dann geht Keule aber auch klar.»
Begleitet von einem leichten Schwanken fuchtelte Karsten mit dem Zeigefinger herum.
«Hören Sie mal, Signora, ich war die letzten fünf Sommer in Italien. Wenn ich eins kann, ist das Cappuccini und Espressi bestellen. Außerdem ist …»
«Wir sind hier aber immer noch in Deutschland!», unterbrach ich ihn. Dabei rollte ich jedes R, als würde ich mich als Backgroundsängerin bei Rammstein bewerben. «Bei eingedeutschten Wörtern hängt man bei der Mehrzahl einfach ein s ans Ende. Alles andere klingt total affektiert.»
«Hört, hört!», sagte Karsten mit verschränkten Armen. «Hängt man also immer ein s dran bei eingedeutschten Wörtern, was?»
«Genau, Keule!»
«Weil alles andere total affektiert klingt, ne?»
«Jupp.»
«Immer?»
«Auf jeden!»
«Im März kriegen wir ja auf allen Etagen neue Computers», sagte er. «Schon gewusst?»
«Das …», ich schnappte nach Luft. «Das ist was ganz anderes!»
«Hängt man immer ein s dran.»
Unsere Blicke kreiselten umeinander. Ein wohliges Kitzeln glühte zwischen meinen Beinen. Es gibt hier nichts zu beschönigen: Seit ich den erwähnten Keuschheitsgürtel angelegt hatte, lief ich mehr oder minder dauergeil durch die Weltgeschichte. Sexuell war ich komplett unterfüttert. Stichwort: Sahelzone. (Ganz ehrlich, ich habe keine Ahnung, wo genau die blöde Sahelzone liegt, aber ich habe gehört, dass es dort verdammt trocken und trostlos ist.)
«Lass mal nächste Woche treffen», sagte ich und steckte den letzten Mettkloß in meinen Mund. Nachdem ich Karsten angehaucht hatte, ergänzte ich: «Mit Zähneputzen vorher!»
Ohne mich nach ihm umzuschauen, machte ich mich vom Acker. In meiner Vorstellung schmachtete er mir hinterher wie Pierre Cosso damals Sophie Marceau. (Sollte Ihnen diese Referenz nichts sagen, empfehle ich dringend das Kettensägenmassaker.)
Während der Bahnfahrt breitete sich das Knistern hinter meinen Schläfen über den Rest meines Körpers aus, bis ich es nicht mehr vom Kitzeln zwischen den Beinen unterscheiden konnte. In den Spiegelungen im Fenster bemerkte ich mein seliges Lächeln.
«Du Mädchen», sagte ich hörbar zu mir selbst.
Um mich abzulenken, schaltete ich mein Handy von Offlinemodus auf empfangsbereit. Eine SMS poppte auf. Hallo Ini! Brauche vor Weihnachten ganz, ganz dringend meine Tupperschalen! Komm doch vorher noch mal vorbei. Liebe Grüße, Mama!
Sonderlich geschickt war meine Mutter noch nie darin gewesen, Vorwände zu finden, um mich zu einem Rückruf zu bewegen. Diese Nachricht stellte aber selbst für ihre Verhältnisse einen neuen Tiefpunkt dar. Ob ich die Tupperschalen vor Weihnachten oder an Heiligabend zurückbrachte, war natürlich komplett egal. Anstatt mich aber zu ärgern, dass ich ihr SMS-Schreiben beigebracht hatte, und mir lediglich vorzunehmen, mich demnächst zu melden, antwortete ich: Rufe morgen mal durch.
Anschließend klickte ich die Videofunktion meines Handys an und filmte die vorbeirauschenden Häuserfassaden. In Gedanken spielte ich vorsorglich schon mal verschiedene Möglichkeiten durch, wie man Karsten! am überzeugendsten stöhnen konnte.
Regungslos gaffte ich auf die Mattscheibe meines Fernsehers. Schon vor über einer halben Stunde hatte ich den Ton ausgeschaltet. Eine Hand in Al-Bundy-Manier in die Trainingshose geschoben, hing ich o-beinig auf meinem Sofa, mit dem Hintern auf halb acht am äußersten Rand der Polsterkante, die Füße auf dem Wohnzimmertisch abgelegt. Jede Sekunde drohte ich abzurutschen. Es war ein Balanceakt der Sonderklasse und die größte Herausforderung, die ich an einem Sonntagabend anzunehmen bereit war. Sonntag war Schlabberklamottentag mit Dauerberieselung. Unter dem ausgefransten Bademantel meines Papas, der sich in solchen Momenten wie ein Superheldenumhang anfühlte, trug ich ein T-Shirt mit dem Schriftzug Sumsen ist buper! Vor einigen Jahren hatte Henning es mir, samt Einladung zu einer Singleparty, zum Geburtstag geschenkt. Überreicht hatte er es mir mit den Worten «Das Shirt auf so einer Party ist der ultimative Kerle-Test!».
Nachdem ich mich stets geweigert hatte, solche Bunten Abende der Torschlusspanik zu besuchen, war es Henning damit gelungen, mich neugierig zu machen. Zwei Samstage später lehnte ich an der Theke eines in Schweißgeruch und Billichpafümm erstickenden Schlagerladens. Niemals zuvor war ich von derartig vielen Opel-Spacken in Ed-Hardy-Kluft angebaggert worden, die es für charming hielten, mich zu DJ Ötzi anzutanzen. Einen Großteil konnte ich abwimmeln, indem ich die unvermeidliche Frage, ob ich Kurze trank, mit «Auf jeden, Keule. Gibt Haare auf der Brust!», gefolgt von einem Rülpser, beantwortete. Wenn ich sie damit nicht loswurde, griff ich zur Wunderwaffe aller Abwimmeltaktiken. Ich stürzte den Schnaps herunter und lallte: «Ich bin übrigens schwanger. Haste mal ’ne Kippe?» Es war ein Trauerspiel. Seitdem trug ich das T-Shirt nur zu Hause.
Grübelnd strich ich jetzt mit den Fingern über den ausgewaschenen Aufdruck.
«Ina! Wake up!», hörte ich eine Stimme.
«Was ’n los?»
«Ob du ein bisschen verliebt bist, habe ich gefragt.»
«Ich habe keinen Schimmer, Babe.»
Gedankenverloren kraulte ich Johnny Depps Haare. In Embryostellung eingerollt hatte er seinen Kopf in meinen Schoß gelegt und streichelte meinen Oberschenkel.
«Karsten hat schon was», fuhr ich fort, «aber der ist halt Teamleiter, da geht sofort das Getratsche los. Außerdem ist Jeannette scharf auf den.»
«Ich würde mich sehr freuen, wenn du endlich einen anständigen Kerl findest», sagte Johnny mit anbetungswürdigem Akzent. «Das mit uns kann nicht so weitergehen, Ina. Sure, ich habe wegen dir mit Vanessa Schluss gemacht, aber …»
«Deinetwegen», korrigierte ich ihn. «Richtig heißt es: deinetwegen.»
«Sorry. Danke, dass du mir immer so … so behilflich bist. Anyway, du musst jetzt an dich denken. Nimm bitte keine Rücksicht auf mich. I don’t think, dass der Hollywood-Lifestyle dir gefallen würde. Rote Teppiche, überall Paparazzi und die ganze Oberflächlichkeit. Du solltest Karsten wirklich eine Chance geben.»
«Ich weiß. Aber ich habe halt Schiss, dass das wieder so einer ist, der sich auf den zweiten Blick als totales Muttersöhnchen entpuppt. Muttersöhnchen gehen mir so dermaßen auf den Sack, weil …»
«Sack?»
«Ja, ja», lenkte ich ein, «eigentlich dürfte ich nicht Sack sagen, weil ich keinen habe, weißt du ja, aber manchmal habe ich echt das Gefühl, dass ich mehr Eier in der Hose habe als diese ganzen Bengel, denen ich über den Weg laufe. Diese ganzen Kerle, die glauben, Frauen zu widersprechen wäre an sich schon chauvinistisch. Ausgerechnet die werden dann auch noch Frauenversteher genannt, obwohl sie echt rein gar nichts gecheckt haben.»
«May I say something?»
«Oh, but of course, beautiful!»
Johnny richtete sich auf. Wie üblich umwehte ihn der Duft von Vanille und Tabasco.
«Ich glaube, dass du viele Kerle durch deine …», er schaute mein T-Shirt an, «well, you know, deine große Klappe abschreckst.»
Ich ließ meinen Kopf in den Nacken fallen.
«Ey, wenn jedes Mal meine Körbchengröße eine Nummer gestiegen wäre, wenn mich jemand burschikos genannt hat, hätte ich inzwischen Titten wie Lollo Ferrari zu ihren besten Zeiten.»
«God bless her», sagte Johnny und bekreuzigte sich.
«Ich konnte mit diesem ganzen Mädchenkram halt noch nie was anfangen. Habe ich schon mal erzählt, dass ich mir zum siebten Geburtstag einen zweiten Ken gewünscht habe, weil ich keine Ahnung hatte, was ich mit Ken und Barbie spielen sollte? Und dann habe ich meinen Eltern voll die Szene gemacht, weil sie mir keinen zweiten rosa Rennwagen kaufen wollten. Ich schmeiße mich auf den Boden und brülle: Dann halt schwarz! Mein Papa lacht sich scheckig, und meine Mutter fummelt wie immer besorgt an ihren Haaren herum. Aber hat voll was gebracht. Ken und Kenny haben dann statt ihrer Haare Autos frisiert und sind illegale Rennen gefahren.»
Sanft küsste Johnny meine Schläfe. «Weißt du noch, wie wir damals auf dem Weg nach Las Vegas in der Wüste liegen geblieben sind und du meinen Cadillac wieder flottgemacht hast?»
Natürlich erinnerte ich mich. Zu verdanken hatten wir es meinem Papa. Wenn ich als Kind Langeweile hatte, habe ich meine Nachmittage oft mit ihm in unserer Autowerkstatt verbracht. Deswegen konnte ich Zündkerzen ebenso wechseln wie Leuchten, Reifen und Öl (nicht nachfüllen: wechseln!). Außerdem wusste ich, wenn mein Auto verreckte, zumindest, an welchen Teilen ich herumruckeln musste, um festzustellen, ob sie in Ordnung waren.
«Das ist doch aber auch so eine Sache, die ich vor Kerlen immer erst mal geheim halte», sagte ich. «Wenn einer zum ersten Mal vorbeikommt, mache ich ja vorher sogar einen Kontrollgang durch die Wohnung, um zu gucken, dass der Werkzeugkasten oder die Bohrmaschine nicht irgendwo rumliegen, damit es ihn nicht zu sehr einschüchtert, falls er selbst zwei linke Hände hat.»
«I like patente Frauen!»
«Ja, klar. Weil ich bei dir auf der Insel die ganzen Möbel zusammengeschraubt habe, als Vanessa mit den Blagen in Paris war. Irgendwie kann ich nicht das typische Bilderbuchblondchen sein, auch wenn die Männerwelt das vielleicht gerne so hätte.»
«Well, what can I say? Du bist blond, und du …»
«Dafür kann ich aber auch vierzig Minuten am Stück Blondinenwitze erzählen», fiel ich ihm ins Wort. «Die dreckigen!»
Johnny nickte nur. In den vergangenen knapp zwanzig Jahren hatten wir dieses und ähnliche Gespräche unzählige Male miteinander geführt. Nie ließ Johnny es sich anmerken, sondern lauschte jedes Mal mit der gleichen Aufmerksamkeit und stellte immer genau die richtigen Fragen.
«Was wünschst du dir denn, Ina?»
Ich machte dicke Backen.