Virginia Woolf
Mrs Dalloway
Roman
Roman
Aus dem Englischen von Walter Boehlich
FISCHER E-Books
Herausgegeben und kommentiert von Klaus Reichert
Mit dem Werkbeitrag aus Kindlers Literatur Lexikon.
Mit dem Autorenporträt aus dem Metzler Lexikon Weltliteratur.
Mit Daten zu Leben und Werk, exklusiv verfasst von der Redaktion der Zeitschrift für Literatur TEXT + KRITIK.
Covergestaltung: bilekjaeger, Stuttgart
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main, 2012
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ISBN 978-3-10-400089-3
Bourton, das Landhaus, in dem Clarissa, geborene Parry, aufwuchs, ist vermutlich in Westengland vorzustellen, in der Nähe des Severn.
Der Erste Weltkrieg war im November 1918 zu Ende gegangen.
George V. (regierte von 1911–1936) und Queen Mary.
Lords, das Cricket-Spielfeld in St John’s Wood; Ascot, die Pferderennbahn, bei der sich die elegante Welt zu treffen pflegte und pflegt; Ranelagh, ein Londoner Polo-Club.
Die Zeit der »Four Georges«, von George I. (1714) bis zum Tode des letzten (1830).
Gemeint ist St James’s Park.
Armenviertel südlich von Westminster.
Clarissa befindet sich in der Nähe von Admiralty Arch am Ende der Mall. Ein darauf installierter Radiomast sorgte für die Verbindung der Admiralität mit der Flotte.
VW hatte Richard Wagners (1813–89) Bayreuth 1909 besucht und dort Lohengrin und Parsifal, möglicherweise auch Die Götterdämmerung gehört. Siehe ihren Essay ›Impressions at Bayreuth‹. – Alexander Pope (1688–1744), der klassizistische Dichter und Übersetzer, tritt im vierten Kapitel des Orlando auf.
Im Original deutsch.
Auf dem Weg durch Piccadilly Street kam Clarissa an den beiden großen Adelshäusern Devonshire House und Bath House vorbei.
Ein großer künstlicher Teich im Hyde Park.
Buchhandlung in Piccadilly seit 1757, die immer noch besteht.
Anfangsvers des Trauerwechselgesangs aus Shakespeares Cymbeline (IV, ii, 258 ff.), der beim vermeintlichen Tod der als ›Fidele‹ verkleideten Imogen gesungen wird. Die Verse tauchen leitmotivisch immer wieder im Roman auf und verbinden Clarissa Dalloway mit Septimus Warren Smith:
Fear no more the heat o’ th’ sun,
Nor the furious winter’s rages,
Thou thy worldly task hast done,
Home art gone und ta’en thy wages.
Golden lads and girls all must,
As chimney-sweepers, come to dust.
Deutsch von Dorothea Tieck:
Fürchte nicht mehr Sonnenglut,
Noch des Winters grimmen Hohn,
Jetzt dein irdisch Treiben ruht,
Heim gehst, nahmst den Tageslohn:
Jüngling und Jungfrau goldgehaart,
Zu Essenkehrers Staub geschart.
Deutsch von Erich Fried:
Fürcht nicht mehr der Sonne Glut
Noch des Wintersturms Gewalten.
Du gingst heim, dein Tagwerk ruht,
Deinen Lohn hast du erhalten.
Goldne Knaben, Mädchen; glaub,
Werden wie Schornsteinfeger Staub.
Robert Smith Surtees (1805–64) schrieb eine Reihe erfolgreicher humoristischer Romane über das englische Jagdleben, insbesondere die Fuchsjagd. Am bekanntesten sind Jorrock’s Jaunts and Jollities (1838) und Mr [Soapy] Sponge’s Sporting Tour (1853). – Margot Asquith war die Frau von Henry Herbert Asquith, Premierminister von 1908–1916. Ihre Memoiren erschienen im Oktober 1920 unter dem Titel Autobiography. Der Titel Big Game Shooting in Nigeria ist vermutlich erfunden.
Der Prince of Wales war Edward, 1936 fast ein Jahr lang König Edward VIII., der aber einen Tag vor der Krönung wegen seiner Verbindung mit der mehrfach geschiedenen Mrs Wallis Simpson abdankte. – Mit dem Premierminister dürfte Stanley Baldwin gemeint sein, der von Mai 1923 bis Januar 1924 regierte.
Hurlingham, Londoner Polo-Club, wie Ranelagh (Anm. 4).
White’s Club in St James’s Street 37.
The Tatler, 1709 von Richard Steele (1672–1729) gegründet, war inzwischen eine Zeitschrift für höheren Gesellschaftsklatsch geworden.
St James’s Palace, der Sitz des Prince of Wales.
Königin Alexandra war die Witwe Edwards VII.; sie starb 1925.
Prinzessin Mary, die einzige Tochter des Königspaares, hatte 1922 ›einen Engländer‹, Henry Lascelles, geheiratet.
Die Himmelsschrift durch Flugzeuge war von dem britischen Major Jack Savage erfunden worden. Sie war im August 1922 erstmals in London zu sehen. Was das Flugzeug hier schreibt, ist unklar, möglicherweise »toffee«.
Später hat sie nur eine Schwester.
Ärmliches Viertel im Norden Londons.
Beliebter Seebadeort in der Grafschaft Kent.
Jean Baptiste Antoine Marcelin, Baron de Marbot (1782–1854) war General in der Armee Napoleons gewesen und hatte den Rußland-Feldzug mitgemacht. Seine Memoiren wurden mehrfach ins Englische übersetzt.
William Morris (1834–96), viktorianischer Sozialkritiker, Reformer, Utopist, Dichter, Maler, Stoff- und Tapetenentwerfer.
Percy Bysshe Shelley (1792–1822), der große Dichter der zweiten Romantikergeneration, dessen Gedichte und programmatische Prosa von revolutionärem Pathos getragen sind. Auch bedeutender Naturlyriker. VWs Beschreibung der Bewegungen des Aeroplans verarbeitet Elemente aus Shelleys ›Ode to a Skylark‹.
Othellos Worte bei seiner Wiedervereinigung mit Desdemona in Zypern: »Gält es jetzt zu sterben, / Jetzt wär mirs höchste Wonne«, II, i., 189–90 (Baudissin).
Hatfield House, der Stammsitz der Cecils, in Hertfordshire.
Einer der Londoner Anwaltsdistrikte.
Höchste Erhebung in Südost-England; beliebtes Ausflugsziel.
Die Pfarreikirche am Unterhaus.
Reiterstandbild vor dem Kriegsministerium in Whitehall.
Das Kriegerdenkmal, der sogenannte Cenotaph, für die Gefallenen des Ersten Weltkrieges in Whitehall.
Die Statuen der Kriegshelden auf Trafalgar Square: Lord Nelson fiel 1805 bei der Seeschlacht von Trafalgar gegen Napoleon; Charles George Gordon fiel 1885 bei einer Revolte in Khartum (Sudan); Henry Havelock machte sich einen Namen bei der Niederschlagung des indischen Aufstands 1857 und starb im selben Jahr nach der Einnahme der wichtigsten Festung der Rebellen in Lucknow.
Der junge Offizier in Jane Austens Pride and Prejudice (1813), George Wickham, der mit Lydia Bennet, einer jungen Schwester der Heldin Elizabeth, durchbrennt, ohne sie heiraten zu wollen.
Prächtiger Palast an der Themse mit großem Park, östlich von London.
Die Verbindung von ›Schönheit‹ und ›Wahrheit‹ entstammt möglicherweise der ›Ode on a Grecian Urn‹ von John Keats (1795–1821). Die Schlußverse lauten: »Beauty is truth, truth beauty, – that is all / Ye know on earth, and all ye need to know.‹
Zeitung der extremen Rechten, stramm antisemitisch. Richard Dalloway las »in Wirklichkeit« die Times.
Der Biologe Thomas Huxley (1825–95) war einer der ersten Anhänger der Evolutionstheorie Darwins. – John Tyndall (1820–93), Naturhistoriker und Popularisator der Naturwissenschaften, beschäftigte sich mit dem Verhältnis von Theologie und Naturwissenschaften; Freund von Darwin und von VWs Vater Leslie Stephen.
»Elizabeth was ›out‹, presumably«, gemeint ist vermutlich das Ritual der Einführung junger Menschen der Gesellschaft bei Hofe im Tanzstundenalter.
Bei dem Lied, das die alte Frau singt, mag es sich um ›Allerseelen‹ von Richard Strauss (Op. 10, Nr. 8) gehandelt haben, wie J. Hillis Miller nachzuweisen versucht hat (in Fiction and Repetition: Seven English Novels, 1982). Das Gedicht ›Allerseelen‹ von Hermann von Gilm war außerordentlich populär, wie gleichfalls dessen Vertonung durch Richard Strauss, die in Bearbeitungen für hohe und tiefe Stimme in vielen Auflagen kursierte. Die von der Wiener Universal-Edition verlegten Ausgaben sind durchweg zweisprachig, deutsch und englisch.
Die deutsche Originalfassung lautet:
Stell’ auf den Tisch die duftenden Reseden,
die letzten roten Astern trag’ herbei,
und laß uns wieder von der Liebe reden,
wie einst im Mai.
Gib mir die Hand, daß ich sie heimlich drücke,
und wenn man’s sieht, mir ist es einerlei,
gib mir nur einen deiner süßen Blicke,
wie einst im Mai.
Es blüht und duftet heut’ auf jedem Grabe,
ein Tag im Jahr ist ja den Toten frei,
komm an mein Herz, daß ich dich wieder habe,
wie einst im Mai.
Die englische Fassung von John Bernhoff (Copyright 1897) lautet:
Place at my side the purpleglowing heather,
the year’s last roses, ere they fade away,
and let us sit and whisper, love together,
as once in May.
Give me thy hand and let me press it fondly,
nor heed lest others see nor what they say.
And gaze on me, love, as thou wert wont to fondly
in life’s sweet May.
While ev’ry grave’s aglow with autumn’s roses,
come to me, sweet, on this appointed day,
and as thy head upon my breast reposes,
we’ll dream of May.
Interessant im Vergleich ist die Veränderung der Pflanzen: aus den »duftenden Reseden« wird »purpleglowing heather« (»purple heather« findet sich bei VW), andererseits werden aus den »letzten roten Astern« »last roses«, und hier mag von VW das Deutsche übernommen worden sein (»red asters«). Bei den dem Gesang vorangestellten Lauten (»mit einem Mangel an jedem menschlichen Sinn«) finden sich keine Anklänge, weder an den deutschen noch an den englischen Text. (Allenfalls das lange »o« in »so« könnte der halben Note von »roses« – dort, wo im Deutschen »Grabe« zu singen ist – korrespondieren.)
Die drei deutschen Zitate folgen Gilm, entsprechen aber nicht – bis auf, fast, das zweite – der englischen Übersetzung von Bernhoff. Welche Übersetzung VW benutzte, ist bisher nicht ermittelt. Vielleicht hat sie selber aus den deutschen und englischen Versionen sich zusammengestellt, was sie brauchte?
Kleine Stadt in Gloucestershire.
An Morley College, einer Art Volkshochschule für Arbeiterinnen und Arbeiter, an der VW selbst von 1905 bis 1907 Abendkurse gab.
Von Shakespeare, eine der späten Römertragödien (1606–07).
Henry Thomas Buckle (1821–62), History of Civilization in England (Bd. I, 1857; Bd. II, 1861). Buckle versuchte, im Gegensatz zur bisherigen Geschichtsschreibung, Geschichte aus der Güterproduktion, der Bevölkerung, dem Klima, den Mentalitäten und Institutionen herzuleiten. – Der Dramatiker George Bernard Shaw (1856–1950) war auch als Sozialkritiker – er war Mitglied der Fabian Society – ein vielgelesener Autor (The Quintessence of Ibsenism, 1891; Common Sense About the War, 1914; The Intelligent Women’s Guide to Socialism and Capitalism, 1928).
Kleinbürgerlicher Stadtteil im Norden Londons.
Der erste Teil von Dantes (1265–1321) dreiteiligem Epos La divina commedia, das von der Hölle (Inferno) über das Fegefeuer (Purgatorio) ins Paradies (Paradiso) führt.
Mitten in London. Östlich von dieser Nord-Süd-Achse liegt Bloomsbury.
Harley Street, südlich von Regent’s Park, in der die Ärzte der Reichen ihre Praxen haben.
Damals das Londoner Nobelviertel.
Richard Lovelace (1618–57/8) und Robert Herrick (1591–1674), »Cavalier Poets« (nach dem italienischen ›cavaliere‹ = Ritter, gebildet), so genannt, weil sie im Bürgerkrieg auf der Seite Charles’ I. standen.
Wenig mehr als ein halbes Jahr später, im Januar 1924, kam unter Ramsay MacDonald die erste Labour-Regierung zustande, allerdings nur bis November 1924.
Hengist und Horsa, die Anführer der Jüten, die mit den Angeln und Sachsen, allesamt germanische Stämme, im 5. Jahrhundert das keltische England eroberten.
Bezieht sich auf die Massenausrottung der (christlichen) Armenier durch die Türken im Jahr 1915. Weitere Massaker fanden Anfang der 20er Jahre und insbesondere während des griechisch-türkischen Krieges 1922 statt; Flüchtl inge strömten in den Irak und versuchten sich britischem Schutz zu unterstellen.
Mrs Hilbery ist eine Hauptfigur in VWs zweitem Roman Night and Day (1919) und taucht später auf Mrs Dalloways Gesellschaft auf.
Eines der ältesten Kaufhäuser Londons, in Victoria Street.
Zu Pope vgl. Anm. 9. – Joseph Addison (1672–1719), von VW hochgeschätzter Kritiker, der z.B. für Steeles Tatler (Anm. 19) Beiträge schrieb. Vgl. VWs Essay ›Addison‹ in Der gewöhnliche Leser, Band 1, Frankfurt am Main: S. Fischer, 1989, 119–131.
In einer Seitenkapelle der (anglikanischen) Westminster Abbey befand sich ein Wachskabinett historischer Personen – Königin Elizabeth I. etwa oder Lord Nelson. – Das im nächsten Abschnitt erwähnte Grab des Unbekannten Soldaten wurde 1920 angelegt.
Lukas 3,5.
Ebenda.
Somerset House, Adelssitz aus dem 18. Jahrhundert an der Strand, jetzt Sitz verschiedener Regierungsbehörden, z.B. des Standesamts.
Wie Lincoln’s Inn (Anm. 32) einer der Londoner Anwaltsdistrikte.
Das Cricket-Team der Grafschaft Surrey.
U. a. Jesaja 43,1.
Eine Art Flohmarkt im Norden Londons.
Der Grenzfluß zwischen England und Wales, in dessen Nähe also Bourton vorzustellen ist.
Die Sommerzeit wurde während des Ersten Weltkrieges, im Mai 1916, nach einer Idee des Baumeisters William Willet in England eingeführt.
Das große Dictionnaire de la Langue Française von Émile Littré erschien in 4 Bänden von 1863 bis 1873; 1877 folgte ein Supplementband.
Kein Platz, sondern eine kleine Straße hinter dem British Museum.
Sir Joshua Reynolds (1723–92), der führende englische Maler seiner Zeit, berühmt für seine Porträts, insbesondere die von Kindern.
Wohnviertel im Nordwesten Londons, in dem sich Maler gern niederließen.
John Milton (1608–74), dessen außerordentlich schwierige Verse manchmal wie eine Kontamination des Englischen mit den alten Sprachen wirken. Sein Hauptwerk ist Paradise Lost (1667).
Siehe Anm. 4.
Aus der großen Rede zum Preis Englands des sterbenden John of Gaunt in Shakespeares Richard II (II, i, 40–57): » … this scept’red isle, / … This happy breed of men, ... / ... / ... this dear dear land, … « (» … dies gekrönte Eiland, … Dies Volk des Segens … Dies teure, teure Land … « [A. W. Schlegel]).
Siehe Anm. 30.
Emily Brontë (1818–48), Verfasserin des leidenschaftlichen Romans Wuthering Heights (1847), war auch eine der bedeutendsten Lyrikerinnen ihrer Zeit.
»Red« steht in der Erstausgabe, in späteren Ausgaben (nicht von VW selbst) zu »pink« (»rosa«) emendiert, weil Elizabeths Kleid bisher »rosa« genannt worden war. Aber das Kleid wird hier mit den Augen Sally Setons gesehen, denen es »rot« erscheinen mag.
Mrs Dalloway sagte, sie wolle die Blumen selber kaufen. Denn Lucy hatte genug zu bestellen. Die Türen würden aus den Angeln gehängt werden; Rumpelmayers Leute kämen. Und dann, dachte Clarissa Dalloway, was für ein Morgen – frisch, wie geschaffen für Kinder am Strand.
Was für ein Vergnügen! Was für ein Sprung! Denn so war es ihr immer vorgekommen, wenn sie, mit einem leichten Quietschen der Angeln, das sie jetzt hören konnte, die Fenstertür zum Garten aufgerissen hatte und in Bourton [1]ins Freie gesprungen war. Wie frisch, wie ruhig, stiller natürlich als jetzt, die Luft am frühen Morgen war; wie der Klaps einer Welle; der Kuß einer Welle; eiskalt und schneidend und doch (für ein Mädchen von achtzehn, das sie damals war) feierlich, mit dem Gefühl, das sie an der offenen Tür stehend hatte, etwas Bestürzendes werde sich gleich ereignen; auf die Blumen blickend, auf die Bäume mit dem entweichenden Dunst und die steigenden und sinkenden Krähen, stehend und blickend, bis Peter Walsh sagte »zum Grübeln ins Gemüse« – war es das? – »Menschen sind mir lieber als Blumenkohl« – war es das? Er mußte es eines Morgens beim Frühstück gesagt haben, als sie auf die Terrasse getreten war – Peter Walsh. Er würde dieser Tage aus Indien zurückkehren, im Juni oder Juli, sie hatte vergessen, wann, denn seine Briefe waren schrecklich fade; seine Bemerkungen waren es, an die man sich erinnerte; seine Augen, sein Taschenmesser, sein Lächeln, seine Verdrossenheit und, wenn abertausend Dinge längst entschwunden waren – wie seltsam war das! –, ein paar Bemerkungen wie die über Kohlköpfe.
Sie stockte ein wenig am Kantstein, bis Durtnalls Lieferwagen vorbeigefahren war. Eine bezaubernde Frau, meinte Scrope Purvis von ihr (er kannte sie, wie man Leute kennt, die neben einem in Westminster wohnen); etwas von einem Vogel an ihr, einem Eichelhäher, blau-grün, leicht, lebhaft, obwohl sie über fünfzig und seit ihrer Krankheit sehr weiß geworden war. Da war sie, aufgebaumt, ganz ohne ihn zu sehen, aufs Hinübergehen wartend, sehr aufrecht.
Denn wenn man in Westminster gelebt hatte – wie viele Jahre jetzt? über zwanzig –, fühlt man selbst mitten im Verkehr oder beim nächtlichen Wachen, Clarissa war ganz sicher, eine besondere Stille oder Erhabenheit; eine unbeschreibliche Pause; eine Beschwernis (aber das konnte ihr Herz sein, das, hieß es, von der Grippe geschwächt war), bevor Big Ben schlägt. Da! Voll dröhnte er. Erst eine Warnung, melodisch; dann die Stunde, unwiderruflich. Die bleiernen Kreise lösten sich auf in der Luft. Was für Narren wir sind, dachte sie, Victoria Street überquerend. Denn der Himmel allein weiß, warum man es so liebt, wieso man es so sieht, es erdenkend, es um sich gründend, es umstürzend, es jeden Augenblick neu erschaffend; aber die reinsten Vogelscheuchen, die am meisten von Elend entmutigten auf den Türstufen Sitzenden (Trunksucht ihr Niedergang) tun das gleiche; nichts dagegen zu machen, sie fühlte das sicher, durch Parlamentsbeschlüsse, aus genau diesem Grund: sie lieben das Leben. In den Augen der Leute, in dem Schwung, Schritt und Gang; in dem Brüllen und dem Tosen; den Kutschen, Automobilen, Omnibussen, Lieferwagen, den schlurfenden und schwankenden Sandwichmännern; den Blaskapellen; den Drehorgeln; in der Glorie und dem Klingeln und dem seltsamen hohen Singen eines Aeroplans da oben war, was sie liebte; Leben; London; dieser Juni-Augenblick.
Denn es war Mitte Juni. Der Krieg war zu Ende, [2]bloß nicht für jemand wie Mrs Foxcroft gestern abend im Embassy, deren Herz sich verzehrte, weil der nette Junge gefallen war und der alte Herrensitz jetzt an einen Vetter fällt; oder Lady Bexborough, die, hieß es, einen Wohltätigkeitsbazar eröffnete, in der Hand das Telegramm, John, ihr Liebling, sei gefallen; aber er war zu Ende; gottseidank – zu Ende. Es war Juni. Der König und die Königin [3]waren im Schloß. Und überall, obgleich es noch so früh war, war ein Stampfen, ein Wirbeln galoppierender Ponies, Schlagen von Krickethölzern; Lords, Ascot, Ranelagh [4]und was es sonst noch gab; gehüllt in das weiche Gespinst der graublauen Morgenluft, die sie, wenn der Tag verstrich, abspulen und auf ihre Rasenplätze und Markierungen stellen würde, die stürmenden Ponies, deren Vorderbeine den Boden kaum berührten, und schon sprangen sie hoch, die herumwirbelnden jungen Männer und lachenden Mädchen in ihren durchscheinenden Musselinkleidern, die, eben jetzt, nach einer durchtanzten Nacht, ihre absurden wolligen Hunde ausführten; und eben jetzt, zu dieser Stunde, kamen diskrete alte Witwen von Stande in ihren Automobilen zu geheimnisvollen Besorgungen herausgeschossen; und die Ladeninhaber pusselten in ihren Schaufenstern mit ihren Kunststeinen und Diamanten, ihren himmlischen alten, seegrünen Broschen in Fassungen aus dem achtzehnten Jahrhundert, um Amerikanerinnen zu verführen (aber man muß sich einschränken, nicht unbesonnen etwas für Elizabeth kaufen), und auch sie, die das mit einer verdrehten und treulichen Leidenschaft liebte, da sie ein Teil davon war, denn ihre Vorfahren waren früher in den georgianischen Zeiten [5]bei Hofe gewesen, auch sie würde heute abend anzünden und erleuchten; ihre Gesellschaft geben. Aber wie seltsam, beim Betreten des Parks, [6]die Stille; der Dunst; das Summen; die träg-schwimmenden glücklichen Enten; die aufgeplusterten watschelnden Vögel; und wer anders konnte da mit dem Rücken zu den Regierungsgebäuden, wie gerufen, daherkommen, eine Depeschentasche mit dem königlichen Wappen in der Hand. Wer anders als Hugh Whitbread; ihr alter Freund Hugh – der wunderbare Hugh!
»Einen guten Morgen wünsche ich Ihnen, Clarissa!«, sagte Hugh, ziemlich übertrieben, denn sie kannten einander von Kindheit an. »Wohin führt Sie der Weg?«
»Ich gehe so gern in London spazieren«, sagte Mrs Dalloway. »Wirklich, das ist besser als auf dem Lande spazierenzugehen.«
Sie seien gerade erst hereingekommen – dummerweise – um den Arzt aufzusuchen. Andere Leute kämen, um sich Museen anzusehen; um in die Oper zu gehen; um ihre Töchter auszuführen; die Whitbreads kämen, »um den Arzt aufzusuchen«. Zahllose Male hatte Clarissa Evelyn Whitbread im Sanatorium besucht. Sei Evelyn wieder krank? Evelyn sei gewissermaßen unpäßlich, sagte Hugh und gab durch eine Art Vorwölben oder Anschwellen seines vortrefflich eingehüllten, männlichen, äußerst ansehnlichen, vollendet aufgepolsterten Körpers (er war immer fast zu gut angezogen, mußte es aber, seines kleinen Postens bei Hofe wegen, vermutlich sein) zu verstehen, daß seine Frau ein inneres Leiden habe, nichts Ernstes, was Clarissa Dalloway, als eine alte Freundin, leicht verstehen würde, auch ohne ihn um Einzelheiten zu ersuchen. O ja, das tat sie selbstverständlich; wie verdrießlich; und empfand schwesterliches Mitgefühl und war sich gleichzeitig ihres Hutes merkwürdig bewußt. Nicht der richtige Hut für den frühen Morgen, war es das? – Denn Hugh gab ihr immer das Gefühl, wie er sich tummelte, seinen Hut ziemlich übertrieben lüftete und ihr versicherte, sie könnte ein Mädchen von achtzehn sein, und natürlich käme er heut abend zu ihrer Gesellschaft, Evelyn bestehe unbedingt darauf, es könnte nur ein bißchen später werden nach dem Empfang im Buckingham Palace, zu dem er einen von Jims Söhnen mitnehmen müsse – sie fühlte sich immer ein bißchen mickrig neben Hugh; schulmädchenhaft; aber anhänglich an ihn, teils weil sie ihn schon immer gekannt hatte, aber sie fand ihn, auf seine Weise, ganz in Ordnung, obgleich er Richard mehr oder minder rasend machte, und was Peter Walsh anging, der hatte ihr bis zum heutigen Tage nie verziehen, daß sie ihn mochte.
Sie konnte sich an eine Auseinandersetzung nach der andern in Bourton erinnern – Peter wütend; Hugh, selbstverständlich, ihm in keiner Weise gewachsen, aber doch nicht der ausgemachte Schwachkopf, als den Peter ihn hinstellte; kein bloßer Stockfisch. Wenn seine alte Mutter ihn bat, das Jagen zu lassen oder sie nach Bath zu bringen, tat er das, wortlos; er war wirklich uneigennützig, und was das Gerede, von Peter, anging, daß er kein Herz, kein Hirn, nichts habe als die Manieren und die Erziehung eines englischen Gentleman, so zeigte das nur ihren lieben Peter von seiner schlechtesten Seite; und er konnte unerträglich sein; er konnte unmöglich sein; aber anbetungswürdig, wenn man an einem Morgen wie diesem mit ihm spazierenging.
(Der Juni hatte jedes einzelne Blatt an den Bäumen hervorgelockt. Die Mütter in Pimlico [7]säugten ihre Kleinen. Botschaften wurden zwischen der Flotte und der Admiralität [8]gewechselt. Arlington Street und Piccadilly schienen selbst die Luft im Park zu erhitzen und seine Blätter heiß und glänzend zu heben, auf Wellen dieser göttlichen Lebenslust, die Clarissa liebte. Tanzen, Reiten, das hatte sie hingerissen.)
Denn sie hätten seit Jahrhunderten getrennt sein können, sie und Peter; sie schrieb nie einen Brief, und seine waren knochentrocken; aber plötzlich konnte es sie überkommen, wenn er jetzt bei mir wäre, was würde er sagen? – manche Tage, manche Anblicke brachten ihn ihr zurück, ruhig, ohne die alte Bitterkeit; was vielleicht der Lohn dafür war, Leute gemocht zu haben; sie kamen mitten im St James’s Park an einem schönen Morgen zurück – wirklich taten sie das. Aber Peter – wie wunderbar der Tag auch sein mochte, und die Bäume und das Gras und das kleine Mädchen in Rosa – Peter sah nichts von all dem. Er würde seine Brille aufsetzen, wenn sie ihn dazu aufforderte; er würde hinsehen. Es war der Zustand der Welt, der ihn interessierte; Wagner, Popes Lyrik, [9]immer und immer die Charaktere der Leute und die Mängel ihrer eigenen Seele. Wie er sie auszankte! Wie sie stritten! Sie werde einen Premierminister heiraten und ganz oben auf der Treppe stehen; die vollkommene Gastgeberin nannte er sie (sie hatte in ihrem Schlafzimmer Tränen darüber vergossen), sie habe das Zeug zur vollkommenen Gastgeberin, sagte er.
Sie fand sich also immer noch mit sich selbst streitend in St James’s Park, immer noch befindend, daß sie recht gehabt hätte – und das hatte sie auch –, ihn nicht zu heiraten. Denn in der Ehe mußte es einen kleinen Freiraum, eine kleine Unabhängigkeit geben zwischen Leuten, die tagein, tagaus im selben Haus lebten; die Richard ihr gab, und sie ihm. (Wo war er an diesem Morgen, zum Beispiel? Ein Komitee, sie fragte nie, was für eins.) Aber mit Peter mußte alles geteilt werden; alles durchgesprochen werden. Und es war unerträglich, und als es zu dieser Szene in dem kleinen Garten bei dem Springbrunnen kam, mußte sie mit ihm brechen, oder sie wären zerstört worden, beide zugrundegerichtet, davon war sie überzeugt; obwohl sie jahrelang den Gram, die Pein, wie einen Pfeil, der in ihrem Herzen steckte, mit sich herumgetragen hatte; und dann das Entsetzen des Augenblicks, als jemand ihr bei einem Konzert erzählte, daß er eine Frau geheiratet habe, die er auf dem Schiff nach Indien kennengelernt habe! Niemals würde sie das alles vergessen. Kalt, herzlos, eine Spröde, nannte er sie. Niemals würde sie verstehen, wie sehr er liebe. Aber diese indischen Frauen taten es offenbar – alberne, hübsche, nichtige Dummerchen. Und sie verschwendete ihr Mitleid. Denn er sei ganz glücklich, versicherte er ihr – vollkommen glücklich, obgleich er nichts von alledem je getan habe, wovon sie gesprochen hätten; sein ganzes Leben war ein einziges Versagen. Es machte sie immer noch wütend.
Sie hatte jetzt das Parktor erreicht. Sie stand einen Augenblick da und schaute auf die Omnibusse in Piccadilly.
Sie würde von niemandem auf der Welt jetzt sagen, er sei dies oder er sei das. Sie fühlte sich sehr jung; gleichzeitig unaussprechlich betagt. Sie schnitt wie ein Messer durch alles; war gleichzeitig außerhalb und sah zu. Sie hatte eine nicht endende Empfindung, während sie die Droschken beobachtete, draußen zu sein, draußen, weit draußen auf See, und allein; sie hatte immer das Gefühl, es sei sehr, sehr gefährlich, auch nur einen Tag zu leben. Nicht daß sie sich selbst für gescheit oder weit jenseits des Normalen hielt. Wie sie sich durchs Leben gebracht hatte mit Hilfe der wenigen Brocken von Wissen, die Fräulein [10]Daniels ihnen gereicht hatte, konnte sie sich nicht vorstellen. Sie kann nichts; keine Sprache, keine Geschichte; sie las jetzt kaum einmal ein Buch, ausgenommen im Bett Memoiren; und doch nahm es sie vollkommen in Anspruch; all das; die vorbeifahrenden Droschken; und sie würde nicht von Peter, sie würde nicht von sich selbst sagen, ich bin dies, ich bin das.
Ihre einzige Begabung war es, dachte sie, beim Weitergehen, die Leute mehr oder minder instinktiv einzuschätzen. Wenn man sie mit jemand anderem in ein Zimmer steckte, würde sie einen Buckel machen wie eine Katze; oder schnurren. Devonshire House, Bath House, [11]das Haus mit dem chinesischen Kakadu, sie hatte sie alle irgendwann einmal erleuchtet gesehen; und erinnerte sich an Sylvia, Fred, Sally Seton – Leute haufenweis; und Tanzen die Nacht durch; und die Karren, die sich zum Markt hindurchmühten; und die Heimfahrt durch den Park. Sie erinnerte sich, wie sie einmal einen Shilling in den Serpentine [12]geworfen hatte. Aber jedermann erinnerte sich; was sie liebte, war dies, hier, jetzt, vor ihr; die dicke Dame in der Droschke. Spielte es dann eine Rolle, fragte sie sich, Richtung Bond Street gehend, spielte es eine Rolle, daß sie unvermeidlich ganz und gar aufhören würde zu sein; all das mußte ohne sie weitergehen; bedauerte sie das; oder war es nicht tröstlich zu glauben, daß der Tod allem das absolute Ende setzte? aber daß sie irgendwie in den Straßen Londons, in der Ebbe und Flut der Dinge, hier, da, weiterlebte, Peter weiterlebte, einer im andern weiterlebte, da sie doch, und da war sie sicher, ein Teil der Bäume zu Hause war; des Hauses dort, häßlich, weitläufig sich windend in allen Ecken und Enden, wie es war; Teil der Leute, denen sie nie begegnet war; wie ein Nebel ausgestreckt zwischen den Leuten, die sie am besten kannte, die sie auf ihre Äste hoben, wie sie die Bäume den Nebel hatte heben sehen, aber es breitete sich ja so weit aus, ihr Leben, sie selbst. Aber wovon träumte sie, als sie in Hatchards [13]Schaufenster blickte? Was versuchte sie wiederzufinden? Welches Bild von weißer Morgendämmerung auf dem Lande, als sie in dem aufgeschlagenen Buch las:
Fear no more the heat o’ the sun
Nor the furious winter’s rages. [14]
Dieses jüngste Zeitalter des Weltgeschehens hatte in ihnen allen, allen Männern und Frauen, einen Brunnen von Tränen gezeugt. Tränen und Kümmernissen; Mut und Ausdauer; eine vollkommen aufrechte und stoische Haltung. Denk, zum Beispiel, an die Frau, die sie am meisten bewunderte, Lady Bexborough, wie sie den Bazar eröffnete.
Da waren Jorrocks’ Jaunts and Jollities; da war Soapy Sponge und Mrs Asquith’s Memoirs und Big Game Shooting in Nigeria, alle aufgeschlagen. [15]Noch so viele andere Bücher waren da; aber keins, das genau das richtige schien, um es Evelyn Whitbread in ihr Sanatorium mitzubringen. Nichts, das dazu dienen könnte, sie aufzuheitern und diese unbeschreiblich eingetrocknete kleine Frau, wenn Clarissa hereinkäme, für einen einzigen Augenblick herzlich aussehen zu machen; bevor sie sich dem üblichen endlosen Gespräch über Frauenleiden hingaben. Wie sehr sie danach verlangte – daß die Leute angetan aussähen, wenn sie hereinkam, dachte Clarissa und machte kehrt und ging zurück Richtung Bond Street, verdrossen, weil es albern war, fremde Gründe für das eigene Tun zu haben. Viel lieber wäre sie einer von denen wie Richard gewesen, die die Dinge um ihretwillen taten, wogegen sie, dachte sie, während sie an der Kreuzung wartete, meistens die Dinge nicht einfach so, nicht um ihretwillen tat; sondern um die Leute dies oder das glauben zu machen; vollkommener Schwachsinn, wußte sie (und jetzt hob der Schutzmann seine Hand), denn nie hatte sich jemand auch nur eine Sekunde lang täuschen lassen. Oh, wenn sie ihr Leben nur noch einmal von vorn beginnen könnte! dachte sie, als sie die Straße betrat, wenigstens anders aussehen könnte!
Vor allem wäre sie dann dunkelhaarig wie Lady Bexborough gewesen, mit einer Haut von genarbtem Leder und schönen Augen. Sie wäre, wie Lady Bexborough, bedächtig und stattlich gewesen; eher üppig; an Politik interessiert wie ein Mann; mit einem Landhaus; sehr würdig, sehr gradheraus. Stattdessen hatte sie eine schmächtige Bohnenstangen-Figur; ein lächerliches kleines Gesicht, schnabelförmig wie das eines Vogels. Daß sie auf sich achtete, stimmte; und hübsche Hände und Füße hatte; und gut angezogen war, in Anbetracht der Tatsache, daß sie wenig ausgab. Aber oft erschien ihr jetzt dieser Körper, den sie herumtrug (sie blieb stehen, um sich ein niederländisches Bild anzusehen), als nichts – überhaupt nichts. Sie hatte die absonderlichste Empfindung, unsichtbar zu sein; ungesehen; ungekannt; kein Heiraten mehr, kein Kinderkriegen mehr jetzt, sondern nur noch dieses erstaunliche und beinahe feierliche Fortschreiten mit all den andern, Bond Street hinauf, dieses Mrs Dalloway-Sein; nicht einmal mehr Clarissa; dieses Mrs Richard Dalloway-Sein.
Bond Street faszinierte sie; Bond Street früh am Morgen in der Hochsaison; ihre wehenden Flaggen; ihre Läden; kein Aufsehen; kein Glitzer; ein Tweedballen in dem Laden, in dem ihr Vater fünfzig Jahre lang seine Anzüge gekauft hatte; ein paar Perlen; Lachs auf einem Eisblock.
»Das ist alles«, sagte sie, ins Fischgeschäft blickend. »Das ist alles«, wiederholte sie, für einen Augenblick vor dem Schaufenster eines Handschuhladens verweilend, in dem man, vor dem Krieg, beinahe vollkommene Handschuhe kaufen konnte. Und ihr alter Onkel Willi am pflegte zu sagen, eine Dame erkenne man an ihren Schuhen und ihren Handschuhen. Eines Morgens, mitten im Kriege, hatte er sich in seinem Bett umgedreht. Er hatte gesagt, »mir reichts«. Handschuhe und Schuhe; sie hatte eine Leidenschaft für Handschuhe; aber ihre eigene Tochter, ihre Elizabeth, gab keinen Pfifferling für beides.
Keinen Pfifferling, dachte sie und ging die Bond Street weiter zu einem Laden, in dem man ihr Blumen fertig machte, wenn sie eine Gesellschaft gab. Elizabeth machte sich am meisten aus ihrem Hund. Das ganze Haus roch an diesem Morgen nach Teer. Immer noch lieber der arme Grizzle als Miss Kilman; lieber Staupe und Teer und alles sonst, als mit einem Gebetbuch eingesperrt in einem muffigen Zimmer sitzend! Lieber alles andere, lag ihr auf der Zunge. Aber es konnte ja auch bloß ein Stadium sein, wie Richard sagte, durch das alle Mädchen hindurchmüssen. Es könnte Verliebtheit sein. Aber warum in Miss Kilman? die allerdings ein schlechtes Leben gehabt hatte; darauf mußte man Rücksicht nehmen, und Richard sagte, sie sei sehr tüchtig, hätte wirklich Sinn für Geschichte. Auf jeden Fall waren sie unzertrennlich, und Elizabeth, ihre eigene Tochter, ging zum Abendmahl; und wie sie sich anzog, wie sie mit Leuten umging, die zum Lunch kamen, daran lag ihr nicht das geringste, da ihre Erfahrung ihr sagte, daß religiöse Überspanntheit die Leute dickfellig machte (ebenso wie eine gute Sache); ihr Fühlen abstumpfte, denn Miss Kilman würde alles für die Russen tun, hungerte für die Österreicher, aber unter vier Augen unterwarf sie einen regelrechten Martern, so fühllos war sie, gehüllt in ihren grünen Regenmantel. Jahrein, jahraus trug sie diesen Mantel; sie schwitzte; sie war keine fünf Minuten in einem Zimmer, ohne einen ihre Überlegenheit, deine Unterlegenheit fühlen zu lassen; wie arm sie sei; wie reich du seist; wie sie in einem Slum lebe ohne ein Kissen oder ein Bett oder einen Teppich oder was es auch sein mochte, ihre ganze Seele zerfressen von dem Gram, der in ihr steckte, ihre Entlassung aus dem Schuldienst während des Krieges – arme, verbitterte, unglückliche Kreatur! Denn es war nicht sie, die man haßte, sondern die Vorstellung von ihr, die zweifellos allerhand in sich aufgenommen hatte, was nicht Miss Kilman war; zu einem dieser Gespenster geworden war, mit denen man in der Nacht kämpft; einem dieser Gespenster, die rittlings über uns hocken und einem das halbe Lebensblut aussaugen, Despoten und Tyrannen; denn zweifellos, bei einem anderen Wurf des Würfels wäre das Schwarze oben gewesen und nicht das Weiße, sie hätte Miss Kilman geliebt! Aber nicht in dieser Welt. Nein.
Es verwundete sie, gleichwohl, wie dieses rohe Ungeheuer sich in ihr regte! Zweige knacken zu hören und Hufe sich in die Tiefen dieses laublastigen Waldes, der Seele, eindrücken zu fühlen; nie ganz zufrieden zu sein, oder ganz sicher, denn das Scheusal könnte sich jeden Augenblick regen, dieser Haß, der, besonders seit ihrer Krankheit, die Macht besaß, daß sie sich geschunden fühlte, am Rückgrat versehrt; ihr physischen Schmerz bereitete und alle Lust an Schönheit, an Freundschaft, an Wohlbefinden, am Geliebtwerden und am Schmücken ihres Heims schwanken, beben und zusammenfallen machte, als wühlte da wirklich ein Ungeheuer an den Wurzeln, als wäre die volle Rüstung der Zufriedenheit nichts als Eigenliebe! dieser Haß!
Unsinn! Unsinn! rief sie sich zu, durch die Schwingtür von Mulberrys Blumenladen drängend.
Sie trat ein, leicht, groß, sehr aufrecht, um sogleich von der knopfgesichtigen Miss Pym begrüßt zu werden, deren Hände immer tiefrot waren, als hätten sie mit den Blumen in kaltem Wasser gestanden.
Da waren Blumen: Rittersporn, spanische Wicken, Fliedersträuße; und Nelken, Berge von Nelken. Da waren Rosen; da waren Schwertlilien. O ja – so atmete sie den gartenerdig süßen Duft ein, während sie da stand und mit Miss Pym sprach, die ihr Hilfe schuldig war und sie für gutherzig hielt, denn gutherzig war sie vor Jahren gewesen; sehr gutherzig, aber sie sah älter aus, dieses Jahr, wie sie ihren Kopf zwischen den Schwertlilien und Rosen und den nickenden Fliederdolden von einer Seite zur andern wandte, ihre Augen halb geschlossen, nach dem Straßengedröhn den köstlichen Duft, die auserlesene Kühle einschnüffelnd. Und dann, als sie ihre Augen öffnete, wie frisch, gleich gerüschtem Stoff, sauber aus der Wäscherei, auf Weidentabletts ausgebreitet, die Rosen aussahen; und dunkel und steif die roten Nelken, erhobenen Hauptes; und all die spanischen Wicken, weit gestreut in ihren Schalen, violett, schneeweiß, bleich getönt – als wäre es Abend und Mädchen in Musselinkleidern kämen heraus, um spanische Wicken und Rosen zu pflücken, nachdem der wunderbare Sommertag mit seinem nahezu blauschwarzen Himmel, seinem Rittersporn, seinen Nelken, seinen Callas zu Ende war; und es wäre der Augenblick zwischen sechs und sieben, wenn jede Blume – Rosen, Nelken, Schwertlilien, Flieder – aufglüht; weiß, violett, rot, tieforange; jede Blume scheint von allein zu brennen, sacht, rein, in den dunstigen Beeten; und wie sie die grauweißen Falter liebte, hin und her schwärmend über den Weidenröschen, über den Nachtkerzen!
Und als sie mit Miss Pym von Vase zu Vase zu gehen begann, aussuchend, sagte sie Unsinn, Unsinn, zu sich, mehr und mehr besänftigt, als ob diese Schönheit, dieser Duft, diese Farbe und Miss Pyms Zuneigung, ihr Zutrauen, eine Welle wäre, von der sie sich überspülen und diesen Haß, dieses Ungeheuer, all das überwältigen ließ; und es hob sie höher und höher, als – oh! ein Pistolenschuß draußen auf der Straße!
»Herrje, diese Automobile«, sagte Miss Pym und ging zum Fenster, um nachzusehen, und kam zurück, entschuldigend lächelnd, die Hände voller spanischer Wicken, als ob diese Automobile, diese Reifen der Automobile, alle ihre Schuld seien.
Die heftige Explosion, die Mrs Dalloway aufschrecken und Miss Pym zum Fenster gehen und sich entschuldigen ließ, kam von einem Automobil, das genau gegenüber von Mulberrys Schaufenster neben dem Bürgersteig gehalten hatte. Vorbeigehende, die, natürlich, stehenblieben und glotzten, konnten gerade eben ein Gesicht von allergrößter Bedeutung vor den taubengrauen Polstern wahrnehmen, bevor eine männliche Hand den Vorhang vorzog und nichts mehr zu sehen war als ein Viereck in Taubengrau.
Doch waren sofort Gerüchte in Umlauf, von der Mitte der Bond Street bis zur Oxford Street auf der einen Seite, zu Atkinsons Parfümerie auf der andern, verbreiteten sich unsichtbar, unhörbar, wie eine Wolke, flüchtig, schleierartig über Hügeln, fielen tatsächlich mit so etwas wie der plötzlichen Gelassenheit und Ruhe einer Wolke auf Gesichter, die eine Sekunde vorher völlig verwirrt gewesen waren. Aber jetzt hatte das Geheimnis sie mit seiner Schwinge gestreift; sie hatten die Stimme der Autorität gehört; der Geist der Religion war unterwegs, mit fest verbundenen Augen und weit aufgesperrtem Mund. Aber niemand wußte, wessen Gesicht man gesehen hatte. War es das des Prinzen von Wales, das der Königin, das des Premierministers? [16]Wessen Gesicht war es? Niemand wußte es.
Edgar J. Watkiss, mit seiner Bleirohrrolle um den Arm, sagte hörbar und, natürlich, witzig: »Dem Premierminister sein Wagen.«
Septimus Warren Smith, der keine Möglichkeit sah, vorbeizukommen, hörte ihn.
Septimus Warren Smith, etwa dreißigjährig, bleichgesichtig, hakennasig, in braunen Schuhen und einem schäbigen Überzieher, mit nußbraunen Augen, die diesen argwöhnischen Blick hatten, der vollkommen Fremde ebenso argwöhnisch macht. Die Welt hat ihre Peitsche erhoben; wo wird sie niedergehen?
Alles war zum Stillstand gekommen. Das Klopfen der Motoren klang wie der unregelmäßig durch einen ganzen Körper schlagende Puls. Die Sonne wärmte außerordentlich, weil das Automobil vor Mulberrys Schaufenster stehengeblieben war; alte Damen auf den Omnibusdecks spannten ihre schwarzen Sonnenschirme auf; hier öffnete sich mit einem leichten Plopp ein grüner, da ein roter Sonnenschirm. Mrs Dalloway, mit ihrem Arm voller spanischer Wicken ans Fenster tretend, schaute mit ihrem kleinen rosafarbenen, forschend zusammengekniffenen Gesicht hinaus. Alle Welt schaute auf das Automobil. Septimus schaute. Jungen auf Fahrrädern sprangen ab. Der Verkehr staute sich. Und da stand das Automobil, mit vorgezogenen Vorhängen, und auf ihnen ein merkwürdiges baumähnliches Muster, dachte Septimus, und dieses stufenweise Sichzusammenziehen von allem auf einen Mittelpunkt vor seinen Augen, als ob etwas Grauenhaftes annähernd an die Oberfläche gekommen und drauf und dran wäre, in Flammen aufzugehen, entsetzte ihn. Die Welt schwankte und bebte und drohte, in Flammen aufzugehen. Ich bin es, der den Weg versperrt, dachte er. War es nicht er, auf den sie blickten und auf den sie zeigten; war es nicht er, der aus einem bestimmten Grunde zentnerschwer in dem Bürgersteig verwurzelt war? Aber aus welchem Grunde?
»Laß uns weitergehen, Septimus«, sagte seine Frau, eine kleine Person mit großen Augen in einem gelblich spitzigen Gesicht; eine junge Italienerin.
Aber Lucrezia selbst konnte ihren Blick nicht von dem Automobil und dem Baummuster auf den Vorhängen wenden. War es die Königin da drinnen – die Königin, die Einkäufe machte?
Der Chauffeur, der etwas geöffnet, an etwas gedreht, etwas geschlossen hatte, stieg wieder auf seinen Sitz.
»Vorwärts«, sagte Lucrezia.
Aber ihr Mann, denn sie waren jetzt seit vier oder fünf Jahren verheiratet, fuhr zusammen, setzte zum Gehen an und sagte, »Klar!«, ärgerlich, als hätte sie ihn unterbrochen.
Die Leute mußten es merken: die Leute mußten es sehen. Die Leute, dachte sie, während sie auf die Menge schaute, die auf das Automobil starrte; die Engländer, mit ihren Kindern und ihren Pferden und ihrer Kleidung, die sie eigentlich bewunderte; aber jetzt waren sie »Leute«, weil Septimus gesagt hatte, »ich werde mich umbringen«; entsetzlich, so etwas zu sagen. Angenommen, sie hätten ihn gehört? Sie schaute auf die Menge. Hilfe, Hilfe! hätte sie gern den Schlachterjungen und den Frauen zugerufen. Hilfe! Erst im vorigen Herbst hatten sie und Septimus am Embankment gestanden, in den selben Mantel gehüllt, und da Septimus eine Zeitung las, statt zu reden, hatte sie sie ihm weggerissen und dem alten Mann, der ihnen zusah, ins Gesicht gelacht! Aber Mißerfolge verbirgt man. Sie mußte ihn wegführen in einen Park.
»Jetzt gehn wir rüber«, sagte sie.
Sie hatte einen Anspruch auf seinen Arm, obgleich er fühllos war. Er würde ihr, die so einfach, so impulsiv, erst vierundzwanzig, ohne Freunde in England war, die Italien um seinetwillen verlassen hatte, nur ein Stück Knochen reichen.
Das Automobil mit seinen vorgezogenen Vorhängen und einer Aura unergründlicher Zurückhaltung bewegte sich weiter auf Piccadilly zu, immer noch begafft, immer noch die Gesichter auf beiden Seiten der Straße mit dem selben dunklen Hauch der Ehrerbietung kräuselnd, ob für die Königin, den Prinzen oder den Premierminister, das wußte niemand. Das Gesicht selbst war nur von drei Leuten für ein paar Augenblicke gesehen worden. Sogar über sein Geschlecht wurde jetzt gestritten. Aber es gab keinen Zweifel, daß Größe im Wagen saß; Größe fuhr, verborgen, die Bond Street hinunter, nur eine Handbreite entfernt von gewöhnlichen Leuten, die sich jetzt wohl, zum ersten und letzten Mal, in Sprechweite der Majestät von England befanden, des dauerhaften Symbols des Staates, das zur Kenntnis neugieriger Altertumsforscher gelangen wird, die die Trümmer der Zeit sichten werden, wenn London ein grasbewachsener Pfad ist und all die, die an diesem Mittwoch morgen den Bürgersteig entlangeilen, nur noch Knochen sind mit ein paar Eheringen, mit ihrem Staub vermischt, und den Goldplomben unzählbarer verfaulter Zähne. Dann wird das Gesicht im Automobil bekannt sein.
Es ist höchstwahrscheinlich die Königin, dachte Mrs Dalloway, als sie mit ihren Blumen aus Mulberrys Laden trat: die Königin. Und für einen Augenblick zeigte sie einen Ausdruck von außerordentlicher Würde, wie sie im Sonnenlicht vor dem Blumenladen stand, während der Wagen im Schrittempo vorbeifuhr, mit vorgezogenen Vorhängen. Die Königin, die ein Krankenhaus besuchen will; die Königin, die einen Bazar eröffnen will, dachte Clarissa.
Das Gedränge war fürchterlich für diese Tageszeit. Lords, Ascot, Hurlingham, [17]was war es? überlegte sie, denn die Straße war verstopft. Die britischen Mittelklassen, die quer auf den Omnibusdecks saßen, mit Päckchen und Schirmen, ja, sogar Pelzen an einem Tag wie diesem, waren, dachte sie, lächerlicher, allem, was es je gegeben hatte, unähnlicher, als man sich vorstellen konnte; und sogar die Königin aufgehalten; sogar die Königin außerstande vorwärtszukommen. Clarissa wurde auf der einen Seite der Brook Street aufgehalten; Sir John Buckhurst, der alte Richter, auf der andern, der Wagen zwischen ihnen (Sir John hatte jahrelang das Recht ausgelegt und schätzte eine gutgekleidete Frau), als der Chauffeur sich ein ganz klein wenig hinauslehnte und dem Schutzmann etwas sagte oder zeigte, der grüßte und seinen Arm hob und seinen Kopf hochriß und den Omnibus zur Seite brachte, und der Wagen fuhr durch. Langsam und sehr geräuschlos nahm er seinen Weg.
Clarissa riet; Clarissa wußte natürlich Bescheid; sie hatte etwas Weißes, Magisches, Rundes in der Hand des Bediensteten gesehen, eine Plakette mit einem Namen – dem der Königin, dem des Prinzen von Wales, dem des Premierministers? –, die sich, kraft ihres eigenen Glanzes, ihren Weg hindurchbrannte (Clarissa sah den Wagen kleiner werden, verschwinden), um zwischen Kandelabern, glänzenden Ordenssternen, Brüsten steif von Eichenlaub, Hugh Whitbread und allen seinen Kollegen, Englands Gentlemen, heute nacht im Buckingham Palace zu erstrahlen. Und Clarissa, auch sie, gab eine Gesellschaft. Sie versteifte sich ein wenig; so würde sie am Kopf ihrer Treppe stehen.