Für David, Penny, Camilla und Christo

Übersetzung aus dem Englischen von Marcel Aubron-Bülles

ISBN 978-3-492-97475-2

November 2016

© Angus Watson 2015

Titel der englischen Originalausgabe: »Reign of Iron«, Orbit, Little Brown Group, London 2015

Deutschsprachige Ausgabe:

© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2016

Covergestaltung: www.buerosued.de

Coverabbildung: www.buerosued.de und Arcangel/Collaboration IS

Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell

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Prolog: Ägäisches Meer, 85 v. Chr.

Im Laufe der Geschichte hatte es schon viele Schiffbrüche gegeben, und dieser war wenig spektakulär. Die beiden Kerle im Ausguck stritten sich darüber, ob der Riesenhai hundert Schritt steuerbord größer war als der Riesenhai, den sie vor einigen Stunden gesehen hatten. Leider übersahen sie deswegen den granitenen Felsbrocken, der nur wenige Handbreit unter der schäumenden Wasseroberfläche verborgen lag, das Überbleibsel einer vom Meer schon vor langer Zeit verschlungenen Stadt. Das Frachtschiff nahm auf einer sanften Welle Anlauf, landete krachend auf dem Fels, kratzte einige schreckliche Herzschläge an ihm entlang und segelte dann weiter. Hundert Schritt später neigte sich das Deck unnatürlich zur Seite und der Kapitän gab den Befehl, die Segel zu reffen. Wasser schlug steuerbord über die Seite, die Fracht unter Deck fluchte und flehte und das Schiff neigte sich weiter. In der Nähe befand sich eine Insel, doch unter den am Ufer anbrandenden Wellen tauchten immer wieder Klippen auf.

Trotzdem begriff der junge Titus Pontius Felix nicht, dass es diesmal ein größeres Problem als sonst geben sollte. Die Fracht brüllte immer und die verschiedensten Kindermädchen hatten ihm erzählt, dass Schiffe in Stürmen untergingen. Heute aber war ein sonniger Tag und daher war er sicher, dass alles in Ordnung sei und die Erwachsenen das Problem lösen würden. Erst als eine Stimme unter Deck in gebrochenem Latein zu brüllen begann, wurde dem Sechsjährigen, der später König Zadars und Julius Caesars Druide werden sollte, klar, dass etwas im Argen lag: »Ketten! Nehm Ketten ab! Belenosverdammte Arschkrampen! Sinken wir! Sinken! Sinken wir jetzt!«

»Besatzung und Passagiere in die Beiboote!«, rief der iberische Kapitän, die Fäuste in die Seiten gestemmt. Ein breites Grinsen, das einige schwarze Zähne entblößte, lag auf seinem Gesicht. »Das Ding leckt so sicher wie ein römischer Schüler seinen Privatlehrer!«

Felix wusste nicht, was er damit meinte, aber ihm gefiel der Tonfall des Mannes nicht. Bei einem Schiffsuntergang sollte man doch ernster sein. Sein Vater schien seine Auffassung zu teilen. »Das Ding leckt nicht!«, rief er mit kurzen, wedelnden Armen, als er versuchte, sich auf dem schiefen Deck gerade zu halten. »Wir können nicht absaufen. Hast du überhaupt eine Ahnung vom Wert der Fracht?«

»Habe ich. Ich kann dir den exakten Preis für deine Ware nennen«, sagte der Iberer. Er war fast doppelt so groß wie Felix’ Vater. »Wenn man den aktuellen Marktpreis einrechnet, unsere momentane Lage und den Zustand der Ware, wird die gesamte Fracht einen fürstlichen Betrag einbringen … nämlich rein gar nichts. Niemand kauft ertrunkene Sklaven.«

»Wir sinken nicht. Wir können nicht sinken. Mein gesamtes Geld steckt in diesem Frachtraum. Mein gesamtes Leben! Bring uns doch bitte an einen Strand oder in einen Hafen oder … bitte!«

Der Kapitän lachte. »Das Meer gehört Poseidon und seine Launen bestimmen unser Schicksal. Heute hat er offensichtlich eine Scheißlaune. Passiert halt. Das Schiff wird untergehen. Wir könnten deine Fracht rauslassen, aber es sind verdammt viele, sie sind verdammt verzweifelt und wir haben keinen Platz für sie in den Beibooten. Es ist für alle das Beste, wenn sie angekettet bleiben.« Der Kapitän brüllte noch lauter, um die Schreie unter Deck zu übertönen. »Reiß dich zusammen, Mann, du wirst einfach neues Geld verdienen! Das Leben ist immer wertvoller als die Fracht.«

Felix’ Vater tobte, bis er blau anlief, und ging dann den anderen nach. Felix folgte ihm an die Schiffsseite und sah zu, wie er in ein Beiboot stieg. Da das Schiff sich gefährlich zur Seite neigte, war der Weg hinab zum Wasser noch weiter als sonst und das kleine, schwankende Boot krachte im Rhythmus der Wellen gegen die rutschig wirkende, entblößte Unterseite des Schiffs. Felix wusste nicht, wie er da hinunterkommen sollte, und hatte Angst. Der Kapitän bemerkte seine Notlage, kletterte zurück an Bord und half ihm hinab.

Als sie sich mit schnellen Ruderschlägen vom Schiff entfernten, sah sein Vater aus, als ob ihm übel werden würde. »Mein ganzes Geld«, sagte er, während das Schiff vor seinen Augen unterging und ihm Tränen vom Kinn tropften. Die anderen fanden das ziemlich witzig und Felix hasste sie dafür.

Kurze Zeit später entdeckten sie eine Lücke zwischen den Klippen. Als sie ihre Boote an einer Stelle an Land gezogen hatten, die mit zertrümmerten weißen Felsen und knorrigen, verkümmerten Bäumen gesäumt war, tauchten ein paar Dutzend furchterregende Männer und Frauen aus ihrem Versteck auf und schlachteten die Neuankömmlinge mit Klingen und Keulen ab, abgesehen von Felix, seinem Vater, zwei Frauen und dem Kapitän. Die drei Letztgenannten schienen mit den Angreifern befreundet zu sein. Sie alle richteten ihre Aufmerksamkeit auf die Römer.

»Tötet mich nicht! Nehmt den Jungen!«, jammerte Felix’ Vater und versuchte sich hinter seinem Sohn zu verstecken. Ein Mann, dessen Gesicht hauptsächlich aus Schnurrbart zu bestehen schien, zerrte Felix von ihm fort und hielt ihn fest, während andere seinem Vater die Toga und seine Sandalen herunterrissen. Sie alle amüsierten sich köstlich dabei und stießen den frisch entkleideten Römer in Richtung einer Frau mit eiskaltem Blick, langem dunklem Haar und bronzefarbener Haut. Sie schälte sich aus ihrem Kleid und griff dann an. Felix’ Vater versuchte ihr wegzulaufen, doch sie stellte ihm ein Bein und sprang auf ihn, während um sie herum die Piraten johlten. Sein Papa griff nach ihren Beinen, mit denen sie ihn am Boden festhielt, und schlug mit seinen kleinen Fäusten auf ihren Körper ein. Seine Angriffe beeindruckten sie wenig und sie schlug ihm so lange ins Gesicht, bis sich seine Nase in einen formlosen Hautlappen verwandelt hatte und er wehrlos stöhnend da lag. Dann würgte sie ihn, bis er kurz wie ein gefangener Fisch zappelte und sich dann nicht mehr bewegte.

Felix folgte den Piraten in ihren Hafen. Er wusste nicht, was er sonst tun sollte. Sie ignorierten ihn, ließen ihn aber von ihrem Essen abhaben. Er suchte sich in einem Zelt einen Platz zum Schlafen, in dem schon vier andere Kinder untergebracht waren, die es anscheinend nicht störte, dass er nun bei ihnen wohnte, doch sie redeten nicht mit ihm.

Er verbrachte seine Zeit damit, auf der Insel umherzustreifen, Insekten, Echsen und andere Tiere zu töten, die er fangen konnte. Das Töten ließ ihn sich wohlfühlen.

Eines Tages kletterte er an einem niedrigen Kliff auf einen Strand hinab, der im Osten der Insel lag, und entdeckte dort mehrere große Felstümpel. Er zerbrach einige Nacktschnecken, um die Krabben aus ihren sicheren kleinen Höhlen hervorzulocken, und versuchte dann herauszufinden, wie viele Beine sie verlieren mussten, bevor sie nicht mehr gehen konnten. Er war so in sein Experiment vertieft, dass er das kleine Holzboot mit dem weißen Segel erst bemerkte, als es die Küste fast schon erreicht hatte. Er sah zu, wie sich sein Bug in den Sand schob und kleine Wellen an das Heck schlugen.

Der kleine Felix konnte niemanden an Bord sehen. Also ließ er seine Krabben in Ruhe und schlenderte zum Boot hinüber, um herauszufinden, was das geheimnisvolle Gefährt beinhaltete. Es beinhaltete eine tote Frau. Er schrie.

Er erholte sich rasch und fragte sich, ob seinen beinlosen Krabben wohl menschliches Fleisch zusagte. Er legt eine auf ihre Brust, die andere auf ihr Gesicht. Ihr Kopf bewegte sich. Sie war gar nicht tot! Sie schnappte sich die Krabbe mit dem Mund und durchbiss ihre Schale. Ein Wuuusch!, das Felix mehr spürte als hörte, floss aus der Frau heraus und über ihn hinweg wie Wasser, nur war es kein Wasser. Es prickelte auf seiner Haut, war aber weder heiß noch kalt. Er hatte noch nie dergleichen gespürt, aber das Gefühl war ihm dennoch vertraut.

Die Frau stöhnte, setzte sich hin, nahm die Krabbe von ihrer Brust und schlug sie gegen die Bootsseite. Das schien ihr neue Kraft zu verleihen. Sie stand auf, schlug sich getrockneten Möwenkot von ihrem salzverkrusteten schwarzen Gewand, sprang aus dem Boot und sah ihn an. Sie war sehr alt – so alt wie sein Vater gewesen war –, hatte lockige schwarzsilbrige Haare, volle, aber vom Salz rissige Lippen und eine Nase wie eine unförmige Birne.

»Vielen Dank, kleiner Mann«, sagte sie dann, obwohl sie nicht viel größer war als er. »Sind deine Eltern in der Nähe?«

Er wusste nicht, was er antworten sollte.

Sie starrte ihn an und er fühlte sich unbehaglich. Dann sagte sie: »Keine Eltern? Ist auch egal, Mütter und Väter haben noch nie jemandem groß geholfen. Erzähl mir einfach alles, was du über diesen Ort weißt, und sag mir bitte, dass wir nicht auf einer Insel sind.«

»Wir sind auf einer Insel.«

»Ach, Katzenpisse«, sagte sie und Felix kicherte. »Erzähl mir dann, was du über diese Insel weißt. Wie groß ist sie? Wer ist sonst noch hier? Warum bist du hier?«

Felix erzählte ihr alles. Er fragte sie, woher sie stamme, doch sie sagte ihm nur, dass sie Thaya heiße, und fragte ihn, ob er einen Platz kennen würde, an dem sie vor den Piraten sicher wäre und wo sie sich erholen könnte. Er sagte, dass er unter einem Wasserfall im Süden der Insel eine verborgene Höhle entdeckt habe, in der Nähe des zerstörten Zyklopentempels. Sie bat ihn, sie dorthin zu führen, und er tat es.

Sie warf ihm kurz einen seltsamen Blick zu, als sie den kleinen Haufen Tierkadaver auf einem Felsen am Eingang zur Höhle sah, sagte aber nichts.

Er erzählte niemandem von Thaya, aber nicht, weil es ein Geheimnis war, sondern weil er nie mit jemandem sprach. Am nächsten Tag brachte er ihr Essen und am übernächsten und am Tag danach, bis er merkte, dass sie nichts davon angerührt hatte. Er ging sie aber auch weiterhin besuchen. Er hatte sonst nichts zu tun und er war froh, wenn er von den anderen wegkam.

Eines Tages brachte sie ihm bei, mit Magie umzugehen.

Sie zeigte ihm, wie er einen Frosch zerquetschen und mit der Kraft seines Verstands die schwindende Lebenskraft dazu benutzen konnte, einen Vogel zu töten. Einige Tage später zeigte sie ihm, wie er in ein wildes Schwein greifen, sein Herz zerquetschen und seine Lebenskraft dazu benutzen konnte, ein anderes Schwein zu einer mordlüsternen Raserei anzustacheln.

Etwa einen Monat später bat Thaya Felix, ihr zwei der Kinder zu bringen. Das tat er, indem er ihnen Kuchen in der Höhle versprach.

Zu viert kehrten sie zum Hafen der Piraten zurück. Die Piraten scharten sich um sie. Thaya griff in die Brust eines der Kinder und drückte zu. Die Piraten begannen einander anzugreifen. Bald waren sie alle tot, abgesehen vom rotbärtigen iberischen Kapitän. Er stolperte auf sie zu, aus mehreren Wunden blutend, eine Keule in der Hand, und er grinste wie damals, als sein Schiff untergegangen war. Felix musste nicht zweimal gebeten werden, als Thaya ihm das verbliebene Kind anbot. Er stieß seine Hand in die Brust des Mädchens und drückte zu, nachdem seine kleinen Finger die zarte Außenhülle ihres Herzens durchstoßen hatten. Er spürte, wie ihre Lebensenergie durch seinen Arm floss, verdrehte sie in seinem Kopf, schob sie zum anderen Arm hinaus und jagte sie dem Kapitän entgegen. Das Grinsen schwand von seinem rotbärtigen Gesicht. Er krachte zu Boden, tot, und nun war es an Felix zu grinsen.

Thaya sagte, dass sie sehr müde sei, und trug ihm auf, Vorräte für eine längere Bootsreise zusammenzusuchen. Felix wartete, bis sie laut schnarchte, suchte nach einem großen Stein, hob ihn so hoch, wie er konnte, und ließ ihn auf ihren Schädel krachen. Er nutzte ihre freigesetzte Lebenskraft, um ein gutes Dutzend kreisender Seemöwen zum Platzen zu bringen, lud sich dann ein Boot mit Vorräten voll und stach in See.

Als die Insel hinter ihm verschwand, kaute er an Thayas Herz, das er mit dem Entermesser des iberischen Kapitäns aus ihrer Brust geschnitten hatte. Es war widerlich – knorplig, sehnig –, aber eine leise Stimme in seinem Kopf sagte ihm, dass es genau richtig war, es zu essen.