Inhaltsverzeichnis

zum Himmel auf. Da war nichts.

Er lag glatt, blau und halbhell.

Da war nichts.«

Kurt Tucholsky

»Mit Urlaub«, meinte Trudi, »mit Verreisen, mein ich«, mümmelnd am abendlichen Käsebrot, »wird’s ja wohl nichts dies Jahr.«

»Wieso denn? Ich denk, wir wollten endlich mal wieder nach Südfrankreich.«

»Südfrankreich? Ha! Du bist gut, mon cher. Und wer soll das bezahlen? Und außerdem: wenn schon Reise, dann will ich nach Nordafrika. Marokko oder so. Aber egal. Wer soll’s bezahlen?«

Die Frage war nicht leicht zu beantworten. Wahrscheinlich war sie überhaupt nicht zu beantworten. Höchstwahrscheinlich hatte Trudi sogar uneingeschränkt recht. Ihr Referendarsgehalt deckte kaum die laufenden Kosten, Miete, Auto, Pipapo.

»Und meine sechshundertzweiundfünfzig Mark dreiundneunzig Arbeitslosenhilfe?« warf ich zaghaft zwischen Radieschen und hartgekochtem Ei ein.

»Besonders qualifizierte Fach- und Führungskraft«, definierte Trudi getragenen Beamtentonfalls. »Doktor bist du, ja. Doktor der Soziologie. Stellungsloser, heiß! Au«, sie blies auf dem Pfefferminztee herum. »Hoffnungslos überqualifizierter Akademiker bist du. Akademiker ohne außeruniversitäre Berufserfahrung. Jawohl. Deine Arbeitslosenhilfe«, pustete sie, »reicht ja kaum für die Haushaltskasse.«

»Sie würde reichlich reichen, wenn du dir nicht dauernd die neuesten Klamotten kaufen müßtest.«

Ich grinste auf meinen Teller hinunter und konnte sie sogar verstehen. Mit ihrem Spitznamen war sie wahrlich schon genug bestraft, denn weil sie mit Nachnamen Merkel hieß, hatten die Schüler der 8 b sie gleich in der allerersten Hospitationsstunde Fräulein Ferkel getauft.

»Grins nicht so blöd! Und die Urlaubsreise kannst du dir abschminken. Hamburg im Sommer ist ja auch ganz schön.«

»Wunderbar …«

»Warum denn nicht? Ab und zu Ostsee. Hin und wieder Lüneburger Heide …«

»… und Balkon und Alsterpark und Elbe …«

»… und Schwimmbad am Kaiser-Friedrich-Ufer.«

»Ach, Scheiße ist das doch. Abends wird’s dann erst richtig langweilig. Todlangweilig.«

»Wieso?«

»Wieso? Weil wir dann allein sind, Mensch. Alle fahren in Urlaub. Restlos alle. Außer uns. Hilde und Jan fahren nach Ceylon.«

»Sri Lanka heißt das«, sagte Trudi. »Sri Lanka.«

»Meinetwegen auch Sri Dingsda. Und Bärbel und Michael nach Florenz.«

»Öde«, sagte Trudi. »Öde. Die fahren da jetzt das fünfte Jahr hintereinander hin.«

»Sind eben Kunsthistoriker.«

»Aber öde ist es doch.«

»Immer noch besser als KaiFU-Bad und Elbewanderweg.«

»Vergiß es, Mann«, sagte Trudi mit Pfefferminztee im

»Wie aufregend.«

»Ja. Und du …«

»Und ich?«

»Du schreibst weiter hübsch Bewerbungen«, sagte sie und sah mich nicht an. Sie hatte nun mal diese geniale Art, mich zu verletzen, ohne es zu wollen. Manchmal in den letzten Wochen schien sie allerdings sehr wohl zu wollen. Dieser Urlaub im trauten Heim würde grauenhaft werden. Wenn Trudi mir jetzt schon so auf den Keks ging …

»Was guckst du denn so beleidigt?«

»Nix.«

»Nix nix! Sag ruhig, sprich dich aus.«

»Du gehst mir auf den Sender.«

»Ach ja? Meine Kontoauszüge gehen dir aber gar nicht auf den Sender, oder?«

Wir schwiegen und versuchten zu verdauen.

»Na ja«, sagte ich, »sind auch noch gut sechs Wochen bis Ferienanfang.«

»Eben. Also, vergessen wir’s.«

»Was?«

»Das Verreisen.«

»Hm. Und Klaus und Jamie fahren nach Sardinien.«

»Warum sagst du eigentlich immer Klaus und Jamie? Immer nennst du die Männer zuerst …«

»Gott, Trudi. Was soll’s? Und Edith fährt erst nach New York, und von da weiter nach Jamaica. Rastas aufreißen. Das möchtest du wohl auch mal gerne, was?«

»Eben Jamaica. Rastas und so. Ich Bob Marley – du weiße Frau. Erst Ganja, dann Reggae, dann Fickificki.«

»Kurt, du bist eine alte Sau. Lieber mit Ganja als deine schlaffen Langeweileficks.«

»Sag das noch mal.«

»Ach, laß mich in Frieden. Ich muß in ’ner halben Stunde in der Schule sein.«

»Abends? Wieso das denn? Konferenz?«

»Spar dir die Untertöne. Ironie schaffst du doch nicht. Wenn du’s genau wissen willst: Elternabend.«

»Soso.«

»Ja, so. Und jetzt geh ich. Du bist mit Abwaschen dran.«

»Laß mich in Frieden.«

»Nichts lieber als das!«

Sie machte sich fein. Piekfein sozusagen. Verdächtig fein. Elternabend? Sie knallte die Wohnungstür hinter sich zu.

»Du sollst die Türen nicht so knallen!«

Sie hörte das nicht mehr.

Elternabend, hört hört. Ob der Herr Kollege Neugebauer, dieser Englisch und Sport unterrichtende Schönling, auch anwesend sein würde? Laß sie. Es war egal. Der Abwasch war mir auch egal. Ich ging in die »Alte Mühle«.

Fred Steinmann, genannt Feuerstein, abgebrochener Germanistikstudent und verhinderter Dichter, war längst da. Eigentlich war er immer da. Insofern war er zuverlässig.

»Na?«

»Na?«

»Alles klar?«

»Geht so.«

»Ist das alles?«

»Hm. Ja …«

»Wenig los heute.«

»Ja. Urlaubszeit fängt an.«

»Richtig. Und Trudi und du? Wohin soll’s diesmal gehen?«

»Eigentlich Südfrankreich …«

»Südfrankreich«, seufzte Feuerstein. »Ah, Südfrankreich«, und stieß den Rauch seiner Gauloise in mein Gesicht. »La provence! Le pain blanc! Vin de pays! Maïs filtre! La Camargue! Les filles! Les femmes! Et manger, et dormir …«

»Moment mal, Feuerstein …«

»Un petit moment«, sagte er und fing zu singen an: »Plaisir d’amour ne dure que un moment, chagrins d’amour durent toute la vie.«

»Oh, là, là, Südfrankreich. Très bien, mon ami. Formidable. Sprichst du überhaupt Französisch?«

»Schon, ja. Ziemlich gut sogar, aber …«

»Schule?«

»Ja, Schule. Später auch noch Studium. Aber auf der Schule fing es an. Deutsch-französisches Jugendwerk. Damals, Oberstufe Gymnasium. Heißt heute irgendwie Sek Zwo oder so. Austauschprogramm. Perpignan. Spanische Grenze da unten. Da hab ich übrigens Trudi kennengelernt.«

»Ach was? Sebi! Bring mal zwei Côte du Rhone, ja. Auf meinen Deckel. Erzähl doch mal, Mensch.«

»Feuerstein, hör mal. Ich wollte eigentlich …«

»Ich hör doch. Ich bin doch ganz Ohr. So lange kennst du Trudi schon?«

»Ja. So lange kenn ich die schon. Unglaublich. War folgendermaßen: In diesem Programm waren halt Leute aus verschiedenen deutschen Schulen und Städten, die dann ein paarmal zu so Freundschaftstreffen mit den französischen Schülern und Gasteltern eingeladen wurden. Wir natürlich immer gerne hin, Französinnen aufreißen und …«

»Ahhh, Französinnen!«

»Ja, Französinnen. Was sonst? Also, auf einem dieser Treffen, Lagerfeuer und Gitarrengeklampfe, Dylan, Françoise Hardy, Peter, Paul und Mary, Michel Polnareff, der ganze Sechziger-Jahre-Scheiß, Rotwein, Baguettes …«

»Camembert auch?«

»Was? Ja sicher, klar. Camembert auch. Und Rotwein.«

»Logisch.«

»Also, ich seh plötzlich diese Frau, na ja, Frau. Sie war

»Is wer?«

»Die Französin!«

»Die Französin«, ließ Feuerstein über die Zunge rollen und bot mir eine Zigarette an.

»Ja. Ich also ran wie Nachbars Lumpi. Unheimlich den Liebeskasper rausgehängt, charmant, charmant. Auch der Deutsche weiß zu flirten. Und alles auf französisch, versteht sich.«

»Versteht sich.«

»Und sie immer auf französisch zurück.«

»Versteht sich.«

»Nein, versteht sich eben nicht mehr.«

»Wieso?«

»Na, weil es Trudi war.«

»Hä?«

»Trudi, ja. Die hat gedacht, ich wär Franzose, weil ich doch die ganze Zeit parliert hab wie Voltaire persönlich. Und sie wollte natürlich auch ’nen Franzosen.«

»Du und Franzose … Na ja. Und dann?«

»Dann haben wir auf einmal gemerkt, daß wir beide Deutsche sind.«

»Wie auf einmal?«

»Ich hab sie gefragt, ob es irgendwie eine Möglichkeit gibt, sich zu verdrücken. Du weißt schon, faire l’amour …«

»Oh, là, là, l’amour!«

»L’amour, ja doch. Gab aber keine Möglichkeit, weil Trudi mit ihren Gasteltern nach Hause mußte. Gasteltern, sag ich ganz blöd auf deutsch. Ja, Gasteltern, sagt sie, auch auf deutsch. Wir gucken uns an, ich sag noch: Scheiße, und da

»Ja, glaub schon. Kenn ich. Dolle Sache aber. Doch doch.«

»Ach Scheiße. Warum hab ich Idiot mir damals nicht wirklich ’ne Französin gegriffen. Ausgerechnet Trudi. Obwohl …«

»Obwohl was?«

»Soll ja auch viel Legende sein, das mit den Französinnen.«

»Legende? Spinnst du, Kurt? Ah, Französinnen.«

»Was ah?«

»Französinnen«, sagte Feuerstein wie gedruckt, und »Sebi! Noch zwei Rote, auf Kurts aber jetzt. Französinnen sind eigentlich sehr vernünftige Wesen, mit einer leichten Neigung zu Capricen, die sind aber vorher einkalkuliert. Und sie haben pro Stück meist nur einen Mann, den Mann, ihren Mann, der auch ihr Freund sein kann, natürlich – und dazu vielleicht auch anstandshalber einen Geliebten, und wenn sie untreu sind, dann sind sie es mit leichtem Bedacht. Und …«

»Sag mal, Feuerstein, ist das von dir?«

»Natürlich nicht.«

»Natürlich. Sondern von wem?«

»Lies doch selber mehr. Dann wüßtest du’s. Ja, Französinnen, ah. Ah, der Wein. Santé alors, à la tienne.«

»Prost. Warst du überhaupt schon mal in Frankreich?«

»Ich? Nie. Das heißt, im Grunde doch. Lesend, du verstehst …? Na, Kurt. Bald kannst du, ah, der Wein ist echt spitze, bald hast du das alles leibhaftig und ganz naturalistisch vor dir. Irgendwie beneide ich dich.«

»Was? Du redest doch schon den ganzen Abend davon, daß du und Trudi nach Frankreich …«

»Eben nicht. Laß mich doch mal zu Wort kommen. Du redest davon. Wir, doch, der Rote ist nicht übel. Gib mal noch ’ne Gauloise.«

»’ne Blaue, was? Voilà.«

»Wir haben überhaupt keine Kohle für ’ne Urlaubsreise.«

»Ach so. Klar. Na denn. Sowieso.«

»Genau. So ist es.«

Wir grübelten uns schweigend an. Feuerstein blies sauber gedrechselte Rauchringe gegen die Decke. Ich dachte schon, daß nunmehr die Luft bei ihm raus wäre, als er plötzlich wie von weit, sehr weit her, mit geheimnisvoll-wissendem Unterton sagte:

»Kurt, jetzt beneide ich dich aber wirklich.«

»Spinnst du?«

»Spinnen«, sinnierte er, »ja, das ist es doch. Ein Garn spinnen, eine Geschichte weben. Sieh mal, ich selbst fahr nie in Urlaub …«

»Siehst auch entsprechend blaß aus. Gerade du hättest Luftveränderung dringend nötig. Tagsüber liest du und abends sitzt du in der ›Alten Mühle‹ und zockst und säufst und rauchst und …«

»Und ich sage dir, Kurt, ich habe sie nicht nötig, diese törichten Reisen durchs Äußere. Meinen Sie, Zürich zum Beispiel«, und er hob seine Stimme in glaubwürdiger Melancholie, »sei eine tiefere Stadt, wo man Wunder und Weihen immer als Inhalt hat?«

»Seit wann siezt du mich? Außerdem will ich gar nicht nach Zürich. Wunder und Weihen … Sonst noch was?«

»Meinen Sie, aus Habana, weiß und hibiskusrot …«

»Sebi, mal noch zwei Rote!«

»… bräche ein ewiges Manna für Ihre Wüstennot?«

»Wüstenrot? Ich wollte, Trudi ließe sich endlich ihren bescheuerten Bausparvertrag auszahlen. Dann könnten wir doch noch nach Südfrankreich.«

Doch da schüttelte Feuerstein feierlich den Kopf, schwer von Zitaten:

»Nein Kurt. Horch! Bahnhofstraßen und Ruen, Boulevards, Lidos, Laan – selbst auf den Fifth Avenuen fällt Sie die Leere an.«

Mich fiel besonders die Leere meines Weinglases an, und ich winkte mittels dieser Leere in Richtung Tresen.

»Ach, vergeblich das Fahren! Spät erst erfahren Sie sich: bleiben und stille bewahren das sich umgrenzende Ich. Das ist es, Kurt. Ich beneide dich. Echt. Du verstehst?«

»Kein Wort.«

»Junge, es ist doch so einfach. Die Welt hat doch sowieso eine Einheitsuniform angezogen, mit amerikanischen Abzeichen dran. Man kann sie nicht mehr besichtigen, die Welt. Man muß in ihr leben, oder gegen sie, oder wie oder was. Reisen, ich meine die wirklichen Reisen, finden hier statt.«

Er tippte sich gegen die Stirn.

»Hier. Der Mensch hat doch den Kosmos in sich. Mentale Exkursionen. Kosten nichts und führen dich hin, wo du willst.«

»Ja, ja. Hier!« Ich konnte nicht umhin, seine fingerzeigende Geste meiner miesen Stimmung gemäß zu

»Übertreiben? Pah.«

Feuersteins hymnische Entrückung wurde von einem Hauch Verachtung durchweht.

»Kennst du Des Esseintes?«

»Wen?«

»Des Esseintes?«

»Wie schreibste denn den?«

»D, e, es, Groß E, Doppel-es, e, i, en, te, e, es. Ich denk, du kannst Französisch.«

»Ja und?«

»Eigentlich unvorstellbar, wenn du Des Esseintes nicht kennst. Das ist ein Protagonist, nein, was sag ich denn, das ist das Genie der Dekadenz. Décadence, ah! Extrem, sag ich dir, irre. Aber total, Romanfigur eigentlich und deshalb natürlich so wahnsinnig lebendig.«

»Natürlich … Und was soll der mit mir zu tun haben?«

»Wenn ich mir dich so ansehe, weniger als gar nichts. Sei’s drum. Eins kannst du nämlich von ihm lernen. Wie man richtig verreist. Paß auf. Eines Tages will er, um seiner Langeweile, seinem Ennui, zu entkommen, eine Reise von seinem Schloß in Frankreich nach England machen, bereitet auch alles vor und sitzt schließlich im Bahnhofsrestaurant, wo er auf den Zug wartet. Aber dank seiner ungeheuren Einbildungskraft hat er die ganze Reise schon während dieser lästigen Vorbereitungen gemacht. Er merkt plötzlich, daß die ganze Fahrt, träte er sie wirklich an, ihn notwendigerweise enttäuschen müßte, weil die Wirklichkeit nie und nimmer gegen die Kraft seiner sensiblen Phantasie ankommt. Das wird ihm alles schlagartig klar in diesem

»Na, ich weiß nicht … Nützt mir ja auch nichts.«

»Doch«, sagte Feuerstein, überraschend energisch. »Kurt, du hast doch wirklich ein Sauglück. Du willst eine Reise machen, kannst aber nicht, der Kohle wegen. Ist doch optimal, Mensch. Mach doch die Reise einfach in deinem Kopf. Und zwar so, wie du sie willst. Unvergängliche Eindrücke kommen auf dich zu. Ich beneide dich.«

Da wir alldieweil einigermaßen blau waren, verließen mich zusehends die soziologisch geschliffenen Einwände gegen den nebligen Quark der Feuersteinschen Poetologien.

»Kann schon sein, Feuerstein. Warum nicht? Aber ich fürchte, meine Einbildungskraft ist nicht so fügsam wie die von diesem Des Esseintes«, den ich allerdings deutlich unscharf aussprach.

Feuerstein dachte nach.

»Wahrscheinlich nicht. Nein. Du bist schließlich kein Décadent. Hm … Vielleicht brauchst du Hilfsmittel.«

»Was für Hilfsmittel?«

»Sebi, noch mal zwei!«

»Wenn du dir«, sagte er endlich, »deine Urlaubsreise nicht vorstellen kannst, mußt du sie dir eben schreiben.«

»Schreiben?«

»Zugegeben, eine recht grobe Methode. Aber immerhin. Ja, schreib dir doch deine Urlaubsgeschichte.«

»Ich? Du hast wohl ’nen Hackenschuß. Du bist doch hier der Dichter. Schreib du mir doch eine, Mensch.«

»Mich den Dichter lassen wir jetzt mal außen vor. Du weißt ja, ich weiß einfach zuviel von Literatur. Wenn ich einen Satz hinschreibe, guckt mir immer gleich die gesamte Literaturgeschichte über die Schulter und schreit: alles schon mal dagewesen. Außerdem hab ich zu viele Ideen. Da kann ich gar nicht gegen anstenographieren. Nein Kurt, ich verweigere. Radikal. Ich schreibe nichts. An mir«, er seufzte und tat mir beinahe leid, »ist eine Romanfigur verlorengegangen. Aber du, Kurt, du kannst schreiben. Magisterarbeit, Doktorarbeit, hast du doch alles locker gebracht.«

»Feuerstein, das waren doch keine Urlaubsgeschichten, das war Wissenschaft.«

»Erstens ist das ein künstlicher Unterschied. Wer denkt, dichtet. Und umgekehrt. Und zweitens hast du geschrieben. Du kannst das. Du hast auch Spaß dran. Ich hab keinen Spaß dran. Wer schreibt schon gern?«

»Eben.«

»Eben nicht, Kurt, das wird ganz große Klasse. Echt. Du bringst das. Ich seh das schon alles vor mir. Aber genau. Ich helf dir auch mit Ratschlägen. Das geht schon in Ordnung.«

Wir hatten das Stadium erreicht, wo der Worte Sinn

»Ja, Gott. Warum eigentlich nicht? Versuch macht klug.«

»Genau. Warum nicht? Also, du fährst nach Südfrankreich. Ist jetzt gebongt. Trudi kommt mit.«

»Nein. Das nicht. Ich will Französinnen aufreißen da unten!«

»Laß mal, warte mal. Könnte reizvoll sein, auch gerade mit Trudi. Doch, seh ich so. Du löst dann auch gleich die Probleme, die ihr habt. Quasi belletristisch.«

»Meinst du? Na, wenn du meinst. Gut, also mit Trudi. Ça ira. Aber womit geht’s los? Wo fängt’s an?«

»Stimmt. Das ist ein Problem. Der Anfang muß stimmen. Das ist so, wie wenn du den ersten Knopf deiner Jacke falsch zuknöpfst. Dann kriegst du die ganze Jacke nicht mehr richtig zu.«

»Was schlägst du also vor?«

»Ich?« fragte Feuerstein überrascht. »Wieso ich? Du schreibst doch die Urlaubsgeschichte.«

»Ach so. Ja. Genau …«

»Du kriegst das hin. Der Anfang, das kommt schon irgendwie auf dich zu. Und wenn du erst mal angefangen hast, geht alles wie von selbst. Die Ideen kommen beim Schreiben.«

»Letzte Bestellung!« rief Sebi hinterm Zapfhahn.

»Was, schon so spät? Gott ja. Gehn wir.«

»Gehn wir.«

Feuerstein nahm sein Damenfahrrad, das er Harry Hurtig getauft hatte. Ich schwankte schweren Tritts in die andere Richtung.

Nicht übel, nicht verkehrt. Trudi würde ihre zweite Examensarbeit schreiben, und ich, ich würde nach Südfrankreich fahren. Und das Beste an dem ganzen Unternehmen: sie wußte von nichts und würde auch nichts merken. Dolle Sache, doch. Ideen hatte der Feuerstein manchmal. Formulierte auch brillant diese ganzen Zitate. Alles, was recht ist.

Was denn? Kein Licht? War Trudi etwa immer noch mit diesem Neugebauer oder wie der hieß auf der Piste? Na warte. Morgen fahr ich los. Mein Gott, ist mir schlecht …

Mitten in der Nacht klingelte das Telefon. Unverschämtheit. Laß klingeln. Mein Kopf! Was hab ich bloß gestern abend getrunken?

»Trudi! Telefon. Geh doch mal ran.«

Trudi war gar nicht mehr da. Es war hell draußen. Es war sogar neun Uhr dreißig. Scheißtelefon.

»Ja. Hallo. Ich bin nicht da.«

»Kurt, laß den Quatsch. Liegst du etwa immer noch im Bett?«

Es war Trudi.

»Hast dir wohl gestern abend schwer einen gebrannt. Also, paß mal auf …«

»Momentchen mal. Wo warst du eigentlich heute nacht?«

»Kurt, also wirklich. Als ich nach Haus kam, hast du schon deinen Vollrausch ausgeschlafen. Und heute morgen mußte ich ja wohl in die Schule.«

»Hast wohl wieder mit Neugebauer rumgemacht, was?«

»Hör auf, du Idiot. Reiß dich jetzt bitte mal zusammen. Es ist wichtig. Auf meinem Schreibtisch liegt ein Stapel Papier, Matrizenabzüge. Das ist Unterrichtsmaterial für die Sek Zwo heute. Hab ich liegenlassen. Bitte, bring’s mir gleich vorbei, ja? Ich brauche es in der übernächsten Stunde. Dringend!«

»Gut. Ausnahmsweise. Was steht denn drauf auf den Blättern?«

»Ach, so ’n Textauszug. Fängt an mit: Reiten reiten reiten.«

»Womit?«

Tschüs dann. Jaja. Wenn sie mich nicht hätte … Ich stellte mich erst mal unter die kalte Dusche. Während das Wasser auf meinen Kopf prasselte, wurde ich langsam klarer. Feuerstein, dieser Spinner … Reiten reiten reiten. Was das wohl wieder für ein Käse ist. Als der Kaffee durch die Maschine lief, holte ich den Papierstapel von Trudis Schreibtisch. Tatsächlich. Reiten reiten reiten. Ah, Trudi hatte Brötchen gekauft. Nett von ihr. Mein Gott, wer schrieb denn so was? Reiten reiten reiten, durch den Tag, durch die Nacht, durch den Tag. Und das interpretierte Trudi nun ihren Schülern vor, oder wie? Wie war es bloß möglich? Reiten reiten reiten. Und der Mut ist so müde geworden und die Sehnsucht so groß. Und nun war es plötzlich sehr spät geworden und die Zeit sehr knapp. Also runter zum Auto und ab zum Gymnasium. Trudi, wo hast du bloß manchmal deinen Kopf? Beim Kollegen Neugebauer wahrscheinlich …

Auf dem Schulhof herrschte Pausengewimmel. Am Basketball-Feld rannten mich zwei jugendliche Sportsfreunde beinah über den Haufen. Und natürlich keine Spur von Trudi. Da stand ich mit diesem dämlichen Papierstapel, reiten reiten reiten, wie eine vergessene Aktentasche. Sauerei.

»Pardon. Sie sind sicher Herr Steenken?«

Ein Bursche in meinem Alter, in weißem Naturwollpullover, verwaschenen Jeans, Tennisschuhen, mit einem Drei-Tage-Bart und schwarzer Lockenpracht, tippte mir kumpelhaft auf die Schulter.

»Ach. Sieh mal an.«

»Ja. Ihre Frau ist leider verhindert. Sie hat eine Unterredung mit Herrn Buldas, dem Seminarleiter.«»Ach was?«

»Wie bitte?«

»Nichts weiter …«

»Und da hat sie mich gebeten, ich möchte doch für sie das Unterrichtsmaterial bei Ihnen abholen.«

»So, hat sie das? Na dann. Hier. Reiten reiten reiten.«

»Wie bitte?«

»So geht’s los. Das Unterrichtsmaterial, mein ich.«

»Ach so.«

Er lächelte. Kein Wunder, daß Trudi auf so einen reingefallen war, bei den Strahlemännern von Zähnen und wasserblauen Augen im Smartiegesicht.

»Das wär’s dann wohl. Ich muß mich beeilen, damit Ihre Frau das Material noch bekommt. Die Stunde fängt gleich an. Besten Dank noch mal.«

»Bitte bitte. Und grüßen Sie … Nein, grüßen Sie nicht.«

Es klingelte. Herr Neugebauer setzte sich in einen ekelhaft dynamischen Trab und verschwand in quellenden Schülermassen vor dem Eingang. Trudi kannte offenbar keine Hemmungen mehr. Schickte mir ihren Pädagogik-Papagallo auch noch persönlich auf die Pelle. Reiten reiten reiten … Mädchen, paß auf, daß du nicht vom Pferd fällst.

Zu Hause lag die Post im Kasten. Edith verkündete per schriller New-Wave-Postkarte, daß sie in New York angekommen und alles »irre gut« liefe. Entzückend. Die Telefonrechnung. Über dreihundert Einheiten. Trudis Telefonomanie. Wahrscheinlich plauderte sie täglich mit Herrn

Ich machte mir ein zweites Frühstück, diesmal in aller Ruhe mit Eiern, Zigarette und Zeitungen. Ein Pressefoto zeigte den US