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Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, November 2019

Copyright © 2019 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

Redaktion Johanna Schwering

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Covergestaltung any.way, Barbara Hanke/Cordula Schmidt

Coverabbildung Andrea Offermann 2019

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved.

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ISBN 978-3-644-30025-5

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

ISBN 978-3-644-30025-5

Dann überquerte er den Innenhof und schritt durch ein gewölbtes Tor in die Produktion. Zunächst betrat er die Werkstatt der Graveure, wo die Platten gestochen, geschliffen und poliert wurden. Dann ging er weiter in den Maschinenraum mit den großen, wie Lokomotiven stampfenden Dampfmotoren, die die Kraftübertragungsräder und Transmissionsriemen antrieben. Anschließend in die Fertigung, wo die eigentliche Handarbeit geschah: Säuberlich

Seiner Routine folgend, ging er von hier aus weiter in die feuchtschwülen Trockenräume und schließlich, ein weiteres Mal den Hof überquerend, ins Lager. Sobald auch dort die letzte Lampe gelöscht war, seufzte er tief. Die vollkommene Stille, die ihn in diesem Moment umfing, empfand Vincent Storch als tröstlich.

Wenn er dann auf den schon nächtlichen Hof trat, wieherten die Kaltblüter, die Tag für Tag vor einen Pritschenwagen gespannt die Ware auslieferten, aus ihrem Stall heraus. Es war der letzte Gruß auf diesem Innenhof in der Dresdner Neustadt, den dann, wenn der Fabrikant Vincent Storch gegangen war, niemand mehr betrat – bis zum nächsten Morgen.

So war es jeden Tag, und so sollte es auch heute sein, am Heiligen Abend. Kein besonderer Tag für Vincent Storch, nur das Ende der Saison.

Anders war nur, dass heute, als Storch seine Abschiedsrunde machte, die Sonne von einem blauen Winterhimmel schien. Es war so hell, dass die vorderen Räumlichkeiten noch lichtdurchflutet waren. Doch je weiter der Direktor in die rückwärtigen Gefilde der Manufaktur kam, desto spärlicher drang das Tageslicht herein. In der Expedition brannten ein paar Lampen. Storch löschte sie, schloss die Augen und sog den rußigen Geruch ein. Die Arbeit des

«Herr Storch?», erklang eine Stimme hinter ihm.

Langsam drehte er sich um. Vor ihm stand Heinrich, der alte Vorarbeiter, sein voller Bart so grau wie Storchs eigener. Heinrich, das wusste Storch, hatte Söhne, Töchter, Nichten und Enkel. Ein halbes Stadtviertel bewohnte seine Familie! Deshalb arbeitete er immer noch, grau und gebückt, wie er war, in einem Alter, wo andere sich längst zur Ruhe setzten und ihre Kinder arbeiten ließen. Heinrichs Söhne waren in Storchs Augen Taugenichtse. Er schimpfte bei jeder Gelegenheit über sie, während Heinrich selbst voller Liebe von ihnen sprach. Die Duldsamkeit seines Vorarbeiters machte Storch zu schaffen.

«Herr Storch?», sprach Heinrich ihn erneut an.

«Was gibt’s noch, Heinrich? Geh nach Haus!»

Heinrich zögerte. «Und Sie?»

«Was ist mit mir?»

«Wo feiern Sie?»

«Was geht’s dich an?»

Unschlüssig stand Heinrich im Hof. «Es tut nicht gut, am Heiligen Abend allein zu sein, Herr.»

Storch gab sich eine gleichgültige Miene. «So halte ich es seit Jahren. Das hat mir nicht geschadet.»

Heinrich nickte langsam. Doch sein Gesicht drückte das

«Auf gar keinen Fall», schnitt Storch ihm das Wort ab. «Mach, dass du heimkommst!»

Wieder nickte Heinrich – mehr ein Ausdruck der Resignation als der Zustimmung. Nach langem Innehalten wandte er sich ab und ging hinaus.

Benommen taumelte Lisbeth auf die Straße. Eben noch hatte sie in den schützenden Armen ihrer Mutter gelegen, nun war sie ganz auf sich gestellt.

«Such ein Fuhrwerk, das ins Gebirge fährt. Kümmere dich um deinen Vater und deine Geschwister. Es ist nicht gut, dass sie allein sind am Heiligen Abend …» Indem ihr die beschwörenden Worte der Mutter im Geiste nachhallten, erinnerte sich Lisbeth an den Moment des Abschieds: die großen, vor Schmerz geweiteten Pupillen der Mutter, den Schweiß auf ihrer Stirn, die Ringe unter den Augen, die sie nach bald vierundzwanzig Stunden Entbindungskampf trug. Sie war ausgemergelt und entkräftet, doch zwischen

Lisbeth umarmte sie, spürte den Schweiß, der an der Mutter hinabran und sie schrumpeln ließ wie Dörrobst. Alles an ihr war klein und verzagt, bis auf den Bauch, der sich wie ein Ballon über ihren Leib wölbte. Ein Mann in Weiß hatte Lisbeth von der metallenen Pritsche fortgezogen und ihr gut zugesprochen: Dass sie die Mutter getrost im Hospital zurücklassen könne, sie solle sich keine Sorgen machen, ein paar Tage nur, und sie werde gesund und mitsamt dem Geschwisterchen nach Hause zurückkehren. Dies alles sagte der Doktor, während Lisbeths Mutter schwer atmete und ihr schließlich, als der Arzt das Mädchen schon zur Tür geführt hatte, noch einmal zurief: «Lauf, Lisbeth, lauf zum Vater!»

Der Mann im weißen Kittel hatte sich mit seinen blauen, hinter dem Brillenglas blitzenden Augen noch einmal zu Lisbeth hinuntergebeugt und es ihr versprochen: dass es schon gut ausgehen werde mit der Mutter! Und dazu hatte er so nett geschaut, dass Lisbeth ihm einfach glauben musste.

Da entdeckte er eine einzelne Holzkiste, die sich deutlich unter einer löchrigen Stoffdecke abzeichnete.

Er schoss darauf zu, zog die Decke herunter und sah seine schlimmste Erwartung bestätigt: eine mit allem Notwendigen versehene Sendung, die noch nicht abgefertigt war! Und «noch nicht» hieß: in diesem Jahr nicht mehr. Also: nicht mehr vor Weihnachten. Und das wiederum bedeutete: zu spät!

Storch eilte zum Expeditionsbuch, das zugeschlagen auf dem Schreibpult lag. Jedes weihnachtliche Paket, jede Sendung, die das Haus verließ, wurde hier verzeichnet: Auftragsdatum, Besteller, Ziel, Abgangsdatum.

Erneut entzündete er die Gaslampe. In all den Jahren hatte er das noch nie getan: ein bereits gelöschtes Licht wieder entzünden! Mit zitternden Händen schlug er die aktuelle Seite des Buches auf, fuhr über das Papier und fand die Zeile. In der Tat war der Empfänger

Storch stürmte hinüber ans Aktenregal und zog das Orderbuch heraus. Er befeuchtete den Zeigefinger, um besser blättern zu können. Dann fuhr er über die Tabellen. Knisternd wellte sich das Papier unter seiner Fingerkuppe. Und je länger er blätterte, desto zorniger wurde er, desto stärker sein Druck auf die Seiten. Tag um Tag, Woche um Woche musste er zurückblättern. Da, endlich, zum Ende des Monats Oktober: der Brief der Kirchgemeinde, die Bitte, das Weihnachtsfest der Gemeinde Zinnwald mit Produkten aus der Fabrikation Storch & Storch & Compagnie auszustatten. Beglaubigt war die Order durch zwei Unterschriften: die schwungvolle des Kirchgemeindevorstands sowie die krakelige des Pfarrers. Die Hitze schoss Storch ins Gesicht. Deutlich stand ihm vor Augen, was passiert war: Die Kiste war schlichtweg vergessen worden. Längst gepackt, geprüft, abgefertigt – und dann: vergessen! Aus irgendeinem unerfindlichen Grund nicht aufgeladen. Ein Unding in seiner, Storchs Firma, die sich durch Akkuratesse und Pünktlichkeit auszeichnete. Er, Vincent Storch, Fabrikant und Gründer, bürgte dafür mit seinem Namen.

Er stürmte nach vorn, ins helle Licht des Mittags, verglich den Zeiger seiner Taschenuhr mit dem Stand der Sonne, überlegte, wie lange man wohl mit dem Fuhrwerk bis nach Zinnwald im Erzgebirge brauchte – und musste sich eingestehen: Er wusste es nicht. Jahrelang war er nicht aus der Stadt herausgekommen – wozu auch?

Doch Storch wollte diese Bestellung – die letzte der Saison – ans Ziel bringen, und zwar pünktlich zum Fest, koste es, was es wolle.

Auf der ihr gegenüberliegenden Straßenseite hatte Lisbeth etwas entdeckt, das ihre Aufmerksamkeit fesselte: einen Laden, wie es ihn daheim, in ihrer kleinen Stadt im Gebirge, nicht gab. Durch die Glasscheiben spiegelte Gold und Porzellanweiß, und aus der Tür, die sich unter dem Andrang der Kunden fortwährend öffnete und schloss und wieder öffnete, schwebte ein eigenartiger Geruch. Und noch etwas fesselte sie: Quer über die Auslagen war eine Kette goldener Engel gespannt. Sie hielten sich Flügel an Flügel und schienen alles zu beschützen, was sich unter ihre Fittiche begab.

Als das Mädchen sich anschickte, die Straße zu überqueren, tönte ein hohes, quakendes Hupen an ihr Ohr: ein Automobil! Dem Mann, der sich aus der Fensterluke lehnte, klemmte der Hut fest auf dem Kopf. Sein Gesicht war hochrot. Er schimpfte Worte, die Lisbeth nicht hören konnte, so laut ratterte das Fahrzeug vorüber. Und danach noch eines. Und noch eines, wie an einer Perlenschnur aufgereiht. Daheim kam es höchstens zwei- bis dreimal in der

Länger als einen Tag und eine Nacht hatte sie bereits in den Wehen gelegen, immer schwächer war sie geworden, und der Vater hatte schon ein Segenslicht für sie angezündet, als von draußen dieses seltsame, seltene Geräusch ertönte. Aufspringen und Hinauslaufen war für den Vater eines. Die Treppen hinunter und dann – das konnte Lisbeth vom Fenster aus beobachten – dem Automobil des Bergwerksbesitzers hinterher. Bald war der Vater schneller und an dem Fahrzeug vorüber. Mit nackten Füßen lief er über die gepflasterte Hauptstraße und sprang entschlossen mitten auf den Fahrweg.

Lisbeth schrie auf. Schon wähnte sie ihn überrollt! Doch der Chauffeur stieg auf die Bremsen, und das Automobil kam schlingernd zum Stehen. Dann sprang der Mann heraus und schrie den Vater an: Was ihm denn einfalle, sich vor die Räder zu werfen!

Der Vater aber kümmerte sich nicht um Vorwürfe, sondern war gleich vor dem Chauffeur auf die Knie gefallen und hatte ihn angefleht, seine Frau einzuladen und nach Dresden zu bringen. Nur dort sei noch Rettung zu erwarten.

Lisbeth hatte vom Fenster aus jedes Wort mitgehört. Sie erstarrte. So schlimm stand es? Fassungslos sah sie zu, wie man die Mutter auf ein Brett band. Etwas Besseres hatte man in der Eile nicht finden können. Dann brachte man sie zum Auto und verlud sie auf die Rückbank. Der Bergwerksbesitzer, ein rundlicher Mann mit