Hamed Abdel-Samad
Der Koran
Botschaft der Liebe
Botschaft des Hasses
Knaur e-books
Hamed Abdel-Samad, geboren 1972 bei Kairo, studierte Englisch, Französisch, Japanisch und Politik. Er arbeitete für die UNESCO, am Lehrstuhl für Islamwissenschaft der Universität Erfurt und am Institut für Jüdische Geschichte und Kultur der Universität München. Abdel-Samad ist Mitglied der Deutschen Islam Konferenz und zählt zu den profiliertesten islamischen Intellektuellen im deutschsprachigen Raum.
Seine Autobiographie »Mein Abschied vom Himmel« sorgte für Aufsehen (Knaur Taschenbuch 2010): »Was er von seinen Landsleuten erwartet, hat er selbst vorgemacht: Aufklärung durch Tabubruch.« ZDF-Aspekte
Überarbeitete eBook-Ausgabe Oktober 2018
© 2018 Droemer Verlag
Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur
GmbH & Co.KG, München
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ISBN 978-3-426-44061-2
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Sahīh al-Bukhāri: Hadith Nr. 3
Sahīh Muslim, Hadith Nr. 1464
al-Tabari: tafsīr, Sure 111
Übersetzung Rudi Paret, bei Henning fehlt diese Stelle
al-Tabari: tafsīr, Sure 49:13
al-Qurtubi: tafsīr, Sure 49:13
al-Bukhari: sahih, Hadith Nr. 3383
al-Tabari: tafsīr, Sure 9:73
al-Tabari: tafsīr, Sure 16:125
al-Tabari: tafsīr, Sure 7:199
sunan al-nisaai’i, Hadith Nr. 4067
al-Tabari: tafsīr, Sure 2:256
al-Qurtubi: tafsīr, Sure 60:8-9
Ibn Kathīr: tafsīr, Sure 60:8-9
Sahīh al-Bukhāri: Hadith Nr. 6420
Ibn Rajab al-Hanbali: jamii’ al.u’luum wal-hikam, 1:147; Kairo 2001
al-Tabari: tafsīr, Sure 15:85
al-Tabari: tafsīr, Sure 8:60
al-Tabari: tafsīr, Sure 10:25
Ibn Kathīr: tafsīr, Sure 2:122
al-Tabari: tafsīr, Sure 26:57
Hans Küng: Der Islam, S. 152 f.
al-Nawawī: Sahīh Muslim, Hadith Nr. 2922
Ibn Kathīr: tafsīr, Sure 1
al-Tabari: tafsīr, Sure 1
al-Tabari: tafsīr, Sure 4:34; Ibn Kathīr: tafsīr, Sure 4:34
Sahīh Muslim: Hadith Nr. 3201
Sahīh Muslim, Hadith Nr. 73
Sunan abi dawuud, Hadith Nr. 4462; Sunan al-turmuthi, Hadith Nr. 1456 und Sunan ibn maja, Hadith Nr. 2561
Al-Tabarani: al-awast, Hadith Nr. 8567
Für meinen Vater, der mir als Kind den Koran beibrachte. Meine ersten kritischen Teenager-Fragen zum heiligen Buch der Muslime wies er verärgert zurück. Doch später, als Erwachsener, führte ich heftige, aber respektvolle Debatten mit ihm darüber, ob der Koran tatsächlich das direkte Wort Gottes sei. Als die Fundamentalisten in Ägypten ihn dazu drängen wollten, mich und meine Thesen im Fernsehen offen zu kritisieren, lehnte er ab, obwohl er als Imam massiv unter Druck stand. Leider kann ich mit ihm die Inhalte dieses Buches nicht mehr diskutieren. Mein Vater ist vor einigen Monaten verstorben.
Ist Ihnen das auch schon einmal passiert? Sie verfolgen im Fernsehen eine Diskussion zwischen einem Islamkritiker und einem gläubigen Muslim über das Gewaltpotenzial im Koran und können am Ende nicht beurteilen, wer von beiden recht hat? Der eine zitiert Passagen, die Gewalt gegen Andersgläubige, Ungläubige und Frauen befürworten; und der andere zitiert Passagen, die für Vielfalt, Nächstenliebe und Vergebung werben.
Dass Sie keine klare Position einnehmen können, liegt nicht an Ihnen, auch nicht am Moderator/an der Moderatorin oder den geladenen Gästen. Oft verlaufen solche Diskussionen einfach im Sande, hebt eine Aussage die andere auf. Das liegt zum einen daran, dass der Koran tatsächlich beide Botschaften beinhaltet: Die Botschaft der Liebe ebenso wie die Botschaft des Hasses. Und zum anderen kennen häufig weder der Moderator/die Moderatorin noch die Zuhörer der Diskussion die Passagen, auf die sich die widerstreitenden Parteien berufen, geschweige denn ihren Kontext. Und so bleibt man schließlich verwirrt und etwas ratlos auf dem Sofa zurück, sofern man nicht über ein solides Grundwissen zum Thema Islam, Koran und dessen verschiedene Auslegungsrichtungen verfügt.
Wer sich schon einmal mit der Entstehungsgeschichte des Korans beschäftigt hat, wird wissen, dass der Koran in eine mekkanische und eine medinensische Phase unterteilt wird und dass erstere die friedlichen Verse und letztere die Gewaltpassagen hervorgebracht hat. Doch diese Unterteilung in Schwarz und Weiß stimmt so nicht ganz. Zwar finden sich in der mekkanischen Zeit keine Verse, die zum bewaffneten Kampf gegen die Ungläubigen aufrufen, doch sind viele Verse aus dieser Phase durchaus hasserfüllt und ausgrenzend. Gleichermaßen finden sich in den medinensischen Suren, die vor allem für ihre Dschihad-Passagen bekannt sind, auch Verse, die für Glaubensfreiheit und ein friedliches Zusammenleben unterschiedlicher Völker werben.
Welche Passagen aber haben nun Geltung? Und wie kam es überhaupt zu dieser Ambivalenz? Ein Problem, mit dem sich schon die ersten Koranexegeten und Theologen herumschlugen. Sie behalfen sich kurzerhand mit dem Verweis auf das Prinzip der »Abrogation« und sprachen davon, dass später entstandene Passagen des Korans frühere Verse ungültig machten.
Die gesamte islamische Eroberungsgeschichte, die mit Mohameds Kontrolle über Arabien begann und erst mit dem Niedergang des Osmanischen Reiches im 20. Jahrhundert zu Ende ging, bezieht ihre Legitimation denn auch aus den Medina-Phasen des Korans. Expansionsstreben, Unterdrückung und Verfolgung von Ungläubigen im Namen Allahs – all das lässt sich in bestimmten Versen des Korans finden. Nach dem Prinzip der Abrogation würden die medinensischen Suren das aufheben, was etwa in Mekka an Nächstenliebe und Toleranz offenbart wurde.
Eine problematische Sichtweise. Der Koran gilt eigentlich als Wort Gottes, allen Suren käme demnach eine überzeitliche, ethische Bedeutung zu. Wenn Allah gewollt hätte, dass frühere Offenbarungen ad acta gelegt werden sollen, warum hat er das nicht klar formuliert? Eine ketzerische Frage – Reformer wie der Sudanese Mahmoud Mohamed Taha (*1909 oder 1911) wurden für eine abweichende Sichtweise genauso bestraft wie Ketzer im Mittelalter der christlichen Welt. Taha betrachtete die Suren der Medina-Phase lediglich als eine Reaktion auf politische und militärische Entwicklungen der damaligen Zeit, die keineswegs vorher Offenbartes aushebelten. Deshalb hielt er auch die Scharia-Gesetze, die sich auf die Medina-Passagen berufen, für nicht mehr zeitgemäß. Taha wollte eine Renaissance des »Geistes von Mekka« herbeiführen, einer Phase, in der der Koran eher allgemeine Prinzipien mitteilte und keine konkreten Handlungsanweisungen anbot. Er wurde Mitte der Achtzigerjahre in Khartum wegen seiner umstrittenen Islam-Thesen hingerichtet.
Meiner Meinung nach liefern weder die Mekka- noch die Medina-Passagen ein moralisch legitimiertes Handlungssystem für moderne Muslime. Nicht etwa, weil ich dem Koran ethische Prinzipien absprechen würde – ganz im Gegenteil. Sondern aus folgendem Grund: Wenn die einst als unumstößlich offenbarten Prinzipien teils schon innerhalb der 23 Jahre andauernden Phase von Mohameds Wirken als Prophet obsolet waren, wie können sich Muslime dann 14 Jahrhunderte später noch darauf berufen? Zumal wenn man in Betracht zieht, dass sich die Lebensumstände des Propheten, der die Offenbarungen empfangen hat, in dieser Phase fundamental geändert haben.
Daher kann Koranexegese erst Früchte tragen, wenn man sich von der Macht des Textes als ewiges und allgemeingültiges Wort Gottes emanzipiert hat. Gott kann weder an eine Zeit noch an einen Kontext gebunden werden. Menschen, ihre Worte und Taten aber sehr wohl. Exegese ohne Textkritik und ohne eine zeitliche Einordnung macht deshalb keinen Sinn.
Eine solche Kontextualisierung ist allerdings nur möglich, wenn wir den Koran als ein menschliches Buch betrachten, das die Entwicklung einer Glaubensgemeinschaft über 23 Jahre protokolliert. In Mekka war diese Gemeinschaft noch schwach und unterdrückt, sie hatte keine Möglichkeit zu bewaffnetem Widerstand, musste sich eher arrangieren. Anders war die Situation in Medina, wo die muslimischen Einwanderer unter Mohameds Führung eine starke Armee aufbauten und mehrere erfolgreiche Kriege führten. Dort kam es zu jenem Paradigmenwechsel in Bezug auf Gewaltanwendung – nicht zuletzt deshalb, weil diese Gemeinschaft fast ausschließlich von Kriegsbeute und dem Freikauf von Gefangenen lebte.
Diese Entwicklung spiegelt sich im Koran wieder: Vor allem Suren aus der späteren Zeit in Medina sind sehr gewaltverherrlichend.
Das Wort qur’an auf Arabisch bedeutet »Rezitation« und geht zurück auf das syrische Wort qiryan; damit wurde ein Liturgiebuch bezeichnet, das die syrischen Christen zu Mohameds Zeit in der Kirche für ihre Gebete benutzt hatten. Das heilige Buch der Muslime besteht aus 114 Suren, die unterschiedlich lang sind. Die längste Sure des Korans ist Sure 2 mit 286 Versen. Die kürzeste (Sure 108) umfasst nur drei Verse. Die Suren-Nummerierung folgt keiner linearen Chronologie, sie hat nichts mit dem Zeitpunkt ihrer Offenbarung zu tun, sondern mit einer Einordnung, die der dritte Kalif ’Uthmān (Regentschaft von 644 bis 656) veranlasst hatte. Er hatte verfügt, dass die Suren mit einigen Ausnahmen der Länge nach aneinandergereiht werden sollten. Daher trägt die erste Sure, die offenbart wurde, in der offiziellen Koran-Version die Nummer 96. Und die als letzte offenbarte Sure findet sich an neunter Stelle.
Die Suren wurden Mohamed mündlich offenbart, der Prophet verbreitete das Wort, das genau wie die biographischen Erzählungen aus seinem Leben verbal unter seinen Anhängern weitergegeben wurde. Schriftliche Aufzeichnungen gab es nicht. Fast zwei Jahrzehnte nach dem Tod Mohameds waren viele, die den Koran und die außerkoranischen Äußerungen des Propheten (die Hadithe) noch aus erster Hand und auswendig kannten, gestorben. Schon im Laufe der Zeit waren die mündlichen Überlieferungen ergänzt und ausgeschmückt worden, sodass es schwierig war, den »Kerntext« freizuschälen, zwischen Legenden und wahrhaftiger Erzählung zu unterscheiden.
Hinzu kam, dass Mohamed keine Nachfolgeregelung getroffen hatte, sodass nach seinem Tod verschiedene Gruppen um die Vormachtstellung kämpften. Der Machtkampf zwischen den Fraktionen entbrannte bereits am 8. Juni 632, also an jenem Tag, an dem Mohamed laut muslimischen Historiographen überraschend verstarb. Jede Partei beanspruchte für sich nicht nur das Recht auf die Führung der Muslime, sondern auch die Deutungshoheit über Mohameds Vermächtnis, was letztlich zu einem Schisma, zur Spaltung der Muslime in Sunniten und Schiiten, führte. Die Schiiten beharren bis heute darauf, dass der Herrscher in direkter Linie aus dem Hause des Propheten stammen muss. Die Sunniten – sie stellen die Mehrheit der Gläubigen – erkennen dagegen drei Varianten für dessen Ernennung an: die Wahl durch Konsens der Gläubigen, die Übernahme der Macht durch Krieg oder die Erbfolgeregelung innerhalb einer Dynastie.
Man kann sich vorstellen, dass in dieser aufgeladenen Stimmung jede Partei danach trachtete, ihren Machtanspruch zu untermauern und sich als legitimer Nachfolger des Propheten zu inszenieren. Wenn dabei Überzeugungsarbeit – notfalls mit Gewalt – nicht ausreichte, musste man zu anderen Mitteln greifen. Was wäre da naheliegender, als das Wort des Propheten zu nutzen?
’Uthmān erteilte den Auftrag, die fragmentarischen Erzählungen des Korans zu sammeln, auf Schafshäuten schriftlich festzuhalten und zu einem Ganzen zusammenzufügen. Bis heute gilt es als das größte Verdienst des politisch eher schwachen Führers, jene Sammlung der Koran-Suren zum Abschluss gebracht zu haben, die die Basis lieferte für den offiziellen Koran, der uns heute zur Verfügung steht. Es ist nicht auszuschließen, dass Teile des Korans in dieser Phase verloren gegangen sind oder absichtlich nicht erfasst wurden. Der Kalif selbst ordnete an, sämtliche bis dahin kursierende und abweichende Versionen zu verbrennen. Wie die von ihm abgesegnete Originalfassung aussah, auch das lässt sich heute nicht mehr sagen. Nur spätere Versionen sind in unterschiedlichen Museen der Welt in Vitrinen zu sehen. Diese späteren Versionen wiederum waren letztlich auch Menschenwerk – redaktionelle Eingriffe, um die eigene Macht abzusichern, sind nicht auszuschließen.
Jeder gläubige Muslim geht indes davon aus, dass der Koran Mohamed direkt von Gott durch den Erzengel Gabriel offenbart wurde. Im Koran selbst steht kaum etwas über das Zustandekommen oder den Ort dieser Offenbarung. Nur in Sure 27 spricht Allah zum Propheten:
»Und siehe, wahrlich, du empfingst den Koran von einem Weisen, einem Wissenden.« (Sure 27:6)
Genaueres erfahren wir aus der Biographie Mohameds, die erst 130 Jahre nach seinem Tod verfasst wurde, sowie aus der anerkannten Hadith-Sammlung von Sahīh al-Bukhāri.[1] Dort lesen wir, dass sich Mohamed im Alter von vierzig Jahren in eine Höhle außerhalb der Stadt Mekka zurückgezogen habe, um zu meditieren. Darüber sei er eingeschlafen und hochgeschreckt, als ihn jemand packte, würgte und ihm befahl: »Trag vor!« Mohamed antwortete: »Ich kann nicht lesen.« Der Mann griff Mohamed erneut am Kragen und wiederholte noch zweimal: »Trag vor!« Als Mohamed erneut bekundete, dazu sei er nicht in der Lage, gab sich der Mann als Erzengel Gabriel zu erkennen und trug die erste Sure des Korans vor:
»Trag vor (rezitiere) im Namen deines Herrn, der erschuf, erschuf den Menschen aus geronnenem Blut.«
Diese drei Verse bilden den Anfang von Sure 96. Über den Zeitraum dieser Offenbarung steht nichts im Koran. In Sure 2 findet sich lediglich ein vager Hinweis:
»Der Monat Ramadan, in welchem der Koran herabgesandt wurde als eine Leitung für die Menschen und als Zeugnis der Leitung und Unterscheidung.« (Sure 2:185)
Wieder sind es die außerkoranischen Quellen, die Genaueres berichten. Nämlich, dass der Koran nicht in einem Monat, sondern über einen Zeitraum von 23 Jahren offenbart wurde, und zwar zwischen 610 und 632 in den beiden Städten Mekka und Medina. Genau in jenen beiden Orten, in denen Mohamed wirkte, und genau in jener Zeit, als er seine Gemeinde zu formen suchte. Dazu gleich mehr.
Der Koran erzählt weder die Geschichte Mohameds noch die Geschichte der Welt. Seine Suren folgen keinen thematischen oder narrativen Strukturen. Sogar die Prophetengeschichten werden im Koran nicht wie etwa in der Bibel als Erzählungen mit Anfang, Höhepunkt und Ende geschildert, sondern nur als Momentaufnahmen. Thematisch lässt sich der Koran allerdings unterteilen, wobei die einzelnen Aspekte nicht zusammenhängen, sondern auf unterschiedliche Suren verteilt sind: Aufruf zum Monotheismus, Gebote und Verbote, Warnung vor der Hölle, Beschreibung des Paradieses, Debatten mit Juden und Christen, Kriegsprotokolle, Prophetengeschichten, Gleichnisse.
Neben dieser thematischen Unterteilung wird häufig eine zeitlich-räumliche vorgenommen: Hier die in Mekka offenbarten Suren, als die Gemeinde Mohameds noch schwach und im Aufbau befindlich war, dort die in Medina offenbarten, die von einem deutlich schärferen Ton geprägt sind und sich an eine Gemeinde richteten, die ihre Macht sichern und ausbauen wollte. Insofern lässt sich der Koran nicht von der Person Mohameds und den Anforderungen trennen, denen er in den Jahren seines Wirkens gegenüberstand.
Sehen wir uns die zeitliche (Mekka/Medina) und die thematische Einteilung etwas genauer an:
Die ersten kurzen Suren entstehen, der Koran präsentiert sich poetisch, meditativ und eher neutral. Die Idee des Monotheismus und die Konzepte von Himmel und Hölle werden zurückhaltend eingeführt. Hier hatte Mohamed nur den Anspruch, als Prophet gehört und anerkannt zu werden.
Der Koran gibt sich mild und einladend. Die Idee des Monotheismus steht zwar im Mittelpunkt der Passagen, doch er wird nicht über den Polytheismus oder den Paganismus gestellt, dem die anderen Bewohner Mekkas anhängen. Im Koran finden sich in dieser Phase keine dahin gehenden, abfälligen Äußerungen. Es ist auch die Zeit der Selbstverteidigung, in der Mohamed damit beschäftigt ist, den Vorwurf zu entkräften, er würde lügen oder habe den Koran abgeschrieben und aus alten Mythen zusammengesetzt.
Nachdem Mohamed feststellen musste, dass die Mekkaner seine Botschaft nicht ernst nehmen, wechselt er den Ton und geht mit ihnen und ihren Göttern hart ins Gericht. Diese Phase ist von einer starken Polemik gegen die Ungläubigen geprägt, wenngleich hier noch keine expliziten Aufrufe zum bewaffneten Kampf ergehen. Gleichwohl beginnt die Saat des Hasses und der Gewalt zu keimen und langsam im muslimischen Bewusstsein aufzugehen. Denn wer die anderen als Ungläubige bezeichnet, die ewig in der Hölle schmoren werden, reißt letztlich alle Brücken zum Dialog ein. Bei der Ausgrenzung und Abwertung kann man sich auf Allah selbst berufen: Wenn Gott die Ungläubigen hasste und vorhatte, sie zu bestrafen, warum sollte ein gläubiger Muslim sie dann als Mitmenschen anerkennen?
Da auch die Änderung des Tonfalls der Gemeinde wenig neue Anhänger beschert, zieht Mohamed enttäuscht von Mekka nach Medina. Dort sucht er zunächst die Nähe zu den in der Stadt ansässigen Juden, von denen er sich Anerkennung und Unterstützung erhofft. In dieser früheren Medina-Phase fließen viele jüdische Erzählungen und Rituale in den Koran ein, es entstehen Passagen, die das Zusammenleben der Religionen preisen und die Juden als »Leute des Buches« ehren. Auch den Christen gegenüber ist der Koran in dieser Phase relativ tolerant gesinnt.
Mohamed wendet sich von den Juden ab, weil diese weder seine Botschaft anerkennen noch ihn und seine erstarkte Gemeinde bei militärischen Aktionen gegen die Mekkaner unterstützen wollen. Zunehmend betrachtet er die Juden als politische und theologische Konkurrenten, der Ton des Korans wird schärfer: Aus den einst geachteten Nachfolgern der Botschaft Gottes werden Lügner, »Verfälscher des Buches« und sogar Nachfahren von Affen und Schweinen. Parallel zur Abwertung der Juden erfolgt für eine kurze Zeit sogar eine Aufwertung der Christen und ihres Glaubens. Doch diese währt nicht lange. Hatte der Koran in früheren Phasen noch klar zwischen Ungläubigen einerseits und Juden und Christen andererseits unterschieden, werden nun alle Andersgläubigen als Ungläubige bezeichnet.
Das Konzept eines multireligiösen Medina scheitert an Mohameds politischen und wirtschaftlichen Ambitionen. Seine Abgrenzung vor allem von den Juden bleibt nicht bei der Polemik. Er geht militärisch gegen sie vor und zwingt sie, einen Stamm nach dem anderen, Medina zu verlassen. Er verübt ein Massaker am Stamm der Banū Quraiza, ein Pogrom, das auch Signalwirkung für die Araber in der Region haben sollte. Der Koran dokumentiert und legitimiert die Vertreibung von und die Gewalt gegen die Juden.
Die letzten Suren des Korans rufen zum »totalen Krieg« gegen alle Ungläubigen auf. Legitimierte der Koran in der frühen Medina-Phase nur einen Selbstverteidigungskrieg, der an eine bestimmte Kriegsethik gebunden war, fordern die letzten Suren des Korans (vor allem Sure 9) die Gläubigen explizit dazu auf, alle Ungläubigen zu töten. Mekka wird zurückerobert, alle Gottheiten der Araber vor der Kaaba werden zerstört. Alte Friedensverträge werden per Koran-Suren gekündigt. Die noch verbliebenen Stämme auf der arabischen Halbinsel – darunter auch die christlichen – sollen in Angst und Schrecken versetzt werden.
Betrachtet man diese Einteilung in verschiedene Phasen, erkennt man, dass der Koran direkt auf die politischen Verhältnisse der Zeit reagiert und untrennbar mit Mohameds Situation als geistiger und politischer Führer verbunden ist. Zu Lebzeiten des Propheten war der mündlich überlieferte Koran ein »offenes Buch«, ein kommunikativer Text, der auf die Ereignisse und Erfordernisse seiner Zeit antwortete. Das erkennt man auch daran, dass mehrfach Positionen korrigiert bzw. modifiziert werden, je nach Situation.
Erst Jahrzehnte nach dem Tod des Propheten wurde der Koran als kanonischer Text geheiligt und zur Grundlage auch politischen und juristischen Handelns. Je länger sich die Muslime von der Zeit des Propheten entfernten, desto unantastbarer wurde der Koran. Die Vorstellung, dass es sich um das »letzte Buch Gottes« handelte, um sein Manifest an die Menschheit, verlieh dem Text eine absolutistische Note und verschaffte ihm Immunität gegen Kritik oder Anpassung an die sich wandelnden Zeiten.
Die Herrscher, die nach Mohamed regierten, suchten nach Legitimation für ihre Macht und für ihre Eroberungszüge und fanden im Koran die perfekte Vorlage dafür. Die Gläubigen brauchten moralische und spirituelle Unterstützung und fanden im Korantext Orientierung. Doch weil der Koran in sich häufig vage und widersprüchlich ist, bedurfte es über die Jahrzehnte immer wieder Gelehrter, die den Text interpretierten und ihn in den entsprechenden Kontext setzten. Diese Kontextualisierung endete allerdings vor rund tausend Jahren. Es war die Zeit, als die vier islamischen Rechtsschulen bereits begründet waren, aber dennoch zahlreiche Interpretationen des Korans kursierten. Diesen beliebigen Auslegungen wollte man einen Riegel vorschieben: Die Gelehrten der vier Rechtsschulen einigten sich darauf, dass allein ihre Auslegungen des Korans und der Hadithe sowie ihre Werke zur Koranexegese gelten sollten. Die Tür zu anderen Interpretationen war damit geschlossen. Von da an betrachteten die Gelehrten den Text als ein perfektes, in sich geschlossenes Manifest, das jenseits von Zeit und Raum allgemeingültig ist. Dies führte zu einer geistigen Erstarrung, die bis heute fatale Konsequenzen für das islamische Denken und die muslimischen Gesellschaften hat. Umso dringlicher wäre eine Re-Kontextualisierung des Korans notwendig.
Eine kritische Auseinandersetzung mit dem Koran kann indes nur gelingen, wenn man die Schrift nicht als allumfassendes, letztgültiges Wort Allahs betrachtet, sondern »vermenschlicht«. Denn nicht der Text als solcher ist das Problem, sondern sein Stellenwert als das direkte unveränderbare Wort Gottes. Anders als die jüdischen und christlichen heiligen Texte, die zwar als Offenbarungen gelten, die aber von Menschen niedergeschrieben wurden und durch die Sprache und Deutung dieser Menschen auch beeinflusst wurden, gilt der Koran allen gläubigen Muslimen als ein »ewiges Buch«, das schon seit Beginn der Schöpfung in der gleichen Sprache und mit dem gleichen Inhalt bei Gott aufbewahrt war. Schon im Korantext selbst verspricht Gott, dieses Buch vor Veränderung zu schützen. Damit wäre dann aber auch das Prinzip der Abrogation ein fragwürdiges Mittel. Gleichzeitig macht diese Unveränderbarkeit die Anpassung des Korans an das moderne Leben bzw. eine zeitgemäße Auslegung so schwierig, denn wer wollte es wagen, nach 1400 Jahren zu behaupten, er wisse, was Gott in seinem Text wirklich sagen wollte?
Der Koran ist ein sehr vielschichtiges, komplexes und in sich widersprüchliches Buch. Es ist ein bisschen wie in einem großen Supermarkt, man findet dort fast alles: Mitgefühl und Hass; Frieden und Gewalt; Toleranz und Intoleranz; Vergebung und Rache; Zusammenleben und Vertreibung von Andersgläubigen. Jeder, der den Koran genauer liest, wird die klaren Widersprüche erkennen zwischen den Versen, die zu Vergebung und Mitgefühl aufrufen, und jenen, die die Gläubigen zu Greueltaten und Kriegszügen gegen die Ungläubigen aufrufen.
Wenn moderate Muslime heute – auch in Abgrenzung zu Islamisten – das Toleranzpotenzial des Korans betonen und den Islam als Religion des Friedens skizzieren wollen, stützen sie sich eher auf die frühen Suren aus der mekkanischen Phase. Radikale Fundamentalisten, die Gewalt und Aggression gegen Andersgläubige zu rechtfertigen suchen, werden eher Verse aus der Zeit von Medina zitieren. Liberale wie Radikale halten dabei der Gegenseite vor, sich jeweils nur die Textzeilen herauszupicken, die ihre jeweilige Position unterstützen.
Und wie bei der eingangs erwähnten Fernsehsendung kann so etwas nicht in einem fruchtbaren, wirklichen Dialog enden, sondern lediglich in einem Schachmatt.
Viele Kritiker und Befürworter des Islam verstehen diese divergierenden Passagen nicht als Spiegel ihrer Entstehungszeit. Nicht als Reaktion auf bestimmte Situationen im 7. Jahrhundert, sondern als eine Richtlinie und Handlungsaufforderung für alle Zeiten. Denn der Sprecher ist Gott höchstpersönlich, und der Koran ist sein endgültiges Manifest an die Menschheit. Deshalb fällt es ihnen schwer, den Koran in seinem historischen Kontext zu verstehen; zumal viele konservative Muslime meinen, Allah brauche keinen Kontext, um zu sprechen, denn er ist zeitlos und seine Worte sind nicht an einen Ort oder an eine Situation gebunden. Das ist Legitimation und Verpflichtung zugleich, den Worten des Korans zu folgen.
Ich möchte in diesem Buch versuchen, die widersprüchlichen Passagen des Korans zum Menschen- und Gottesbild, zu Strafe und Belohnung, zu Krieg und Frieden, zu Juden- und Christentum sowie zum Bild der Frau in den Kontext ihrer Entstehung zu setzen. Ich möchte zeigen, dass der Koran die Entwicklung einer Gemeinde über 23 Jahre beschreibt, die friedlich war, als sie keine Macht und keine Waffen besaß, und gewalttätig wurde, als sie über militärisches Potenzial verfügte. Allein wenn man sich das vor Augen hält, wird klar, dass der Koran um Themen und Probleme kreist, die für die Menschen im 7. Jahrhundert relevant waren. Als moralische Orientierungshilfe für Menschen im 21. Jahrhundert kann er nur sehr bedingt dienen. Nicht eine zeitgemäße Interpretation des Korans kann daher die Lösung sein, sondern eine Emanzipation von der unantastbaren Göttlichkeit des Textes.
Im Koran gibt es – wie wir später noch genauer sehen werden – nicht nur widersprüchliche Passagen zu Frieden und Gewalt, es existieren auch unterschiedliche Gottes- und unterschiedliche Menschenbilder: Es gibt einen barmherzigen Gott, der den Menschen schätzt und an ihn glaubt, seine Schöpfung hochhält und für gut erachtet. Und es gibt einen enttäuschten, zürnenden Gott, der den Menschen als gescheitertes Projekt ansieht und ihn ständig verflucht.
Sehen wir uns zunächst an, wie es laut Koran überhaupt dazu kam, dass Gott dem Menschen als Teil seiner Schöpfung Leben einhauchte: Die Geschichte der Erschaffung Adams, des ersten Menschen, ähnelt in großen Teilen der des Alten Testaments. Nur in einem entscheidenden Detail weicht der Text von der Bibel ab. Im Koran ruft Gott die Engel zu sich und verkündet ihnen, dass er ein neues Geschöpf erschaffen wolle:
»Und als dein Herr zu den Engeln sprach: ›Siehe, ich will auf der Erde einen Nachfolger (chalif) einsetzen‹, da sprachen sie: ›Willst du auf ihr einen einsetzen, der auf ihr Verderben anstiftet und Blut vergießt? Und wir verkünden dein Lob und heiligen dich.‹ Er sprach: ›Siehe, ich weiß, was ihr nicht wisset.‹« (Sure 2:30)
Adam wird also schon vor seiner Erschaffung als Nachfolger Gottes beschrieben, als eine Art Stellvertreter auf Erden. Das zeigt, dass Gott diesen Menschen ehrt und Großes mit ihm vorhat. Den Protest der Engel wischt er beiseite, deren Befürchtung, der Mensch werde womöglich Unheil und Blutvergießen bringen, hält ihn nicht von seiner Entscheidung ab. Gott glaubt an seine neue Schöpfung und lässt die Engel später sogar vor Adam niederknien, als Zeichen der Ehrerbietung, das normalerweise nur Gott selbst zusteht:
»Und wahrlich, wir gaben euch auf der Erde eine Stätte und gaben euch auf ihr den Lebensunterhalt. – Wie wenig seid ihr dankbar! Und wahrlich, wir erschufen euch; alsdann bildeten wir euch; alsdann sprachen wir zu den Engeln: ›Werfet euch nieder vor Adam!‹ Und nieder warfen sie sich außer Iblis (Satan); nicht gehörte er zu denen, die sich niederwarfen.« (Sure 7:10-11)
In einem weiteren Vers verkündet Allah, dass er nicht nur Adam als ersten Menschen über den Rest der Schöpfung hervorzuheben gedenkt, sondern dass dies auch für Adams Nachfahren gelte:
»Und wahrlich, wir zeichneten die Kinder Adams aus und trugen sie zu Land und Meer und versorgten sie mit guten Dingen und bevorzugten sie hoch vor vielen unsrer Geschöpfe.« (Sure 17:70)
Mit welchen guten Dingen Allah die Menschen bedachte, was er alles für seine neue Schöpfung getan hat, ist etwas weiter vorne in der gleichen Sure aufgelistet: