Dieses E-Book ist der unveränderte digitale Reprint einer älteren Ausgabe.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg
Copyright für diese Ausgabe © 2018 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
First published 2007 by Macmillan, an imprint of Pan Macmillan,
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Umschlaggestaltung Anzinger | Wüschner | Rasp, München
Impressum der zugrundeliegenden gedruckten Ausgabe:
ISBN Printausgabe 978-3-499-24848-1
ISBN E-Book 978-3-688-11691-1
www.rowohlt.de
ISBN 978-3-688-11691-1
Die Rollen der Krankentrage hören auf zu quietschen. Ich riskiere einen Blick. Da ist jemand, den ich noch nicht kenne, eine Art Andy-Warhol-Verschnitt: helle Augen, die wie Glas schimmern, ein Schopf weißer, abstehender Haare und gelbliche Zähne, den Mund zu einem Lächeln verzogen, das so echt ist wie das eines Vertreters für Kosmetika, der mit billigem Aftershave hausieren geht.
«Hi!», sagt er munter. «Guten Tag, Sir. Schönes Wetter heute. Die Sonne lacht, und draußen singen die Vögel.»
Die Stimme ist zu alt für sein Aussehen. Solche Stimmen kenne ich von früher. Sie haben den zynischen, gelangweilten Tonfall von Lohnsklaven in der Tretmühle.
«Ziemlich laut sogar, würde ich sagen.»
Er hält theatralisch inne und scheint auf etwas zu warten. Ich höre nur das Summen der Klimaanlage und der Elektrogeräte, jene Geräusche, die mich seit genau dreiundzwanzig Jahren, drei Monaten und vier Tagen begleiten.
Ich versuche zu sprechen. Aber bevor ich auf die Trage geschnallt worden bin, hat man mir eine Beruhigungsspritze verpasst, und die Worte kommen unvollständig, genuschelt und schleppend.
«Ja, ja, ja …», sagt er.
Er ist sauer. Es passt ihm nicht, unterbrochen zu werden.
«Ja, es ist schön, wenn sie singen. Wer hätte nicht seinen Spaß daran? Aber bitte, reden Sie jetzt nicht. Irgendjemand muss hier ja arbeiten. Oder es zumindest versuchen.»
Die grellen Strahlen der OP-Lampe blenden mich. Für einen Augenblick sehen die leuchtend weißen Haare aus wie ein Heiligenschein, wie ein glitzernder Mantelaufschlag, der den dünnen, fast mädchenhaft wirkenden Hals umgibt.
«Mein … Name … ist … Martin …», sagt der Mann im grünen Kittel langsam und deutlich wie zu einem Idioten. «Nennen Sie mich Martin den Medikus. Oder nennen Sie mich Gott – wie auch immer. Ich bin auf dieser kurzen, aber wichtigen Reise nur Ihr pflichtschuldiger Diener. So will es mein Job, Kumpel. Und irgendjemand muss ihn ja tun.»
Ich sehe, wie er nach etwas greift, das auf einem Rollwagen liegt, versteckt hinter einer silbernen, nierenförmigen Schale und anderen sorgfältig geordneten Gerätschaften.
Med Martin hebt die rechte Hand. Er hält eine Spritze mit langer, glänzender Nadel in die Höhe. Noch ist sie leer.
«Für’n Trinkgeld. Aber ich arbeite ja auch nur Teilzeit, Sie verstehen», sagt er und stößt die Nadel in meine rechte Armbeuge, sucht und findet die Vene. Gleich darauf wickelt er einen Klebestreifen um Spritze und Arm.
«Nur um mal eben Leute ins Jenseits zu schicken», fügt er hinzu und zerrt probehalber am metallenen Kolben der Spritze, was mir ziemlich wehtut. Plötzlich strahlt sein Gesicht. «Oh!»
Seine gelben Zähne schimmern.
«Wir haben was miteinander gemein.»
Ich versuche erneut, etwas zu sagen, kann mich aber selbst nicht hören. Martin nimmt zwei Ampullen vom Wagen. Er redet mit sich selbst. Ich bin nur jemand, der zufällig mithört.
«Natriumpentothal. Okay! Kochsalzlösung. Okay!»
Er berührt mit zwei dünnen, mädchenhaften Fingern meine Armbeuge und betupft die Einstichstelle mit einem Wattebausch.
«Alte Gewohnheit. Verrückt, ich weiß. Ich stehe hier und tupfe, als ob es was ausmachen würde, wenn nicht alles schön steril ist.»
Er hält jetzt zwei weitere Ampullen in der Hand und schnippt mit dem Fingernagel an die Etiketten.
«Fünfzig Kubikmillimeter Pancuroniumbromid. Fünfzig Kubikmillimeter Kaliumchlorid.»
Er scheint zufrieden zu sein. Die glasigen blauen Augen sind auf mein Gesicht gerichtet.
«Schön zuhören, mein Freund. Es ist wichtig und daneben wahrscheinlich die letzte Information, die Sie erhalten werden. Zuerst pumpe ich Natriumpentothal in Ihr Blut. Davon schlafen Sie ein, ziemlich schnell, wie ein Baby. Nicht, dass die immer gleich einschliefen, die Babys. Aber Sie waren ja selbst einmal Vater, früher, und wissen Bescheid.»
Er hält die Ampulle dicht vors Gesicht und starrt sie mit kurzsichtigem Blick an.
«Dann spül ich die Kanüle aus. Als Nächstes ist Pancuroniumbromid dran.»
Er zeigt mir das Fläschchen und wendet sich dann der Glasscheibe zur Linken zu, hinter der mehrere Leute stehen. Ich kann sie nicht erkennen, weiß aber, was sie tragen: dunkle Anzüge und ernste Mienen. Es gelten nämlich bestimmte Kleider- und Verhaltensvorschriften für solche Anlässe. Dabei würden sie an einem Tag wie diesem natürlich lieber in Hemdsärmeln rumlaufen, die Hüte in die Luft werfen und Freudenrufe ausstoßen.
Med Martin zeigt auch ihnen das Fläschchen. Darum sind sie ja gekommen. Gewissermaßen gehört es ihnen.
Danach richtet er den Blick wieder auf mich und erklärt mir schnell und geschäftsmäßig: «Vielleicht wissen Sie’s schon. Pancuroniumbromid ist ein Teufelszeug. Es lähmt Zwerchfell und Lungen. Ratzfatz. In Anbetracht der Alternativen haben Sie sich für den richtigen Ausgang entschieden, wenn ich das so sagen darf. Im Ernst, so ist es viel besser als auf dem elektrischen Stuhl. Viel sauberer. Ich verrate Ihnen was: Wissen Sie, was passiert, wenn man auf den elektrischen Stuhl kommt? Man bescheißt sich. Das tut wirklich jeder.»
Er seufzt.
«Wo bleibt da die Würde, frage ich Sie. Wenn wir diesen Job nun mal machen müssen – und wenn ich Sie mir so anschaue, weiß ich, dass uns nichts anderes übrigbleibt –, dann sollten wir’s doch zumindest ein bisschen stilvoll tun. Finden Sie nicht auch?»
Mir ist, als würde mir ein Ballen Watte im Hals stecken. Ich kann nicht schreien, selbst wenn ich es wollte.
«Sehen Sie!», ruft er aus.
Er hält wieder eine Spritze in der Hand. Sie hat aber einen anderen Kolben. Ich kann so gerade eben erkennen, was darauf steht: der Name eines Pharmaunternehmens, das mir irgendwie bekannt vorkommt. Wir haben einmal – vor langer Zeit, in einem anderen Leben – Hustensaft für Ricky gekauft; auf der Verpackung war das gleiche Logo. Das Zeug schmeckte süß. Der Junge fand es so lecker, dass er manchmal absichtlich hustete, um mehr davon zu bekommen.
«Also», fährt der Arzt fort, «das Pentothal ist schon im System und wird gleich vom Pancuroniumbromid gejagt. Sie kriegen dann nicht mehr so gut Luft, sind aber immer noch nicht tot. Und das ist doch wichtig für Sie, nicht wahr?»
Noch eine Ampulle. Wieder ein vertrauter Firmenname auf dem Etikett.
«Ich spüle wieder mit ’ner Kochsalzlösung nach. Und dann kommen wir schließlich zum Kaliumchlorid. Damit … hören Sie mir gefälligst zu, wenn ich mit Ihnen rede!»
Etwas ist mir gerade durch den Kopf gegangen. Eine Erinnerung, ein Bild von Ricky, als er das letzte Mal erkältet war. Ich sehe das kleine Zimmer vor mir, in dem er herrschte, kaum dass er sprechen konnte. Die Tapete war über und über mit Strichmännchen beschmiert. Er schlief in einem Kingsize-Bett, das natürlich viel zu groß für ihn, aber genau das war, was er haben wollte. Also haben wir es ihm gekauft, zu seinem fünften Geburtstag. Ich erinnerte mich daran, wie wir es über die alte Holzstiege unseres Hauses am Owl Creek nach oben wuchteten. Während Miriam das Bett bezog – weiße Baumwolllaken, straff gespannt –, stand ich neben meinem Sohn am Fenster, vor dem der Apfelbaum zu blühen begonnen hatte, und hielt ihn an der Hand.
Das Bett. Noch eine Erinnerung steigt in mir hoch, an uns beide, Miriam zwischen zerknitterten Laken, ich davor über den Rand gebeugt, unschlüssig, ob sie es will oder nicht. Dann lächelt Miriam und sagt: «Manchmal ist es langsam schöner, manchmal schnell. Heute …»
«Hören Sie mir zu!», wiederholt Martin unwirsch, stochert mit der Nadel in meinem Arm und tut mir weh, um auf sich aufmerksam zu machen.
Die Erinnerung – ein fünf Jahre alter Junge im Bett, dem ich, immer noch in meiner Polizeiuniform, aus Dr. Seuss vorlese – verblasst; und ich wünsche mir nichts sehnlicher, als dass ich die Kraft hätte, sie aus dem verlorenen, beschädigten Teil meines Gehirns zurückzuholen, wo sie sich jetzt versteckt hält.
Die Ampulle schwebt über meinem Gesicht. Aus der Nähe sehe ich, dass sich das Logo verändert hat. Das auf der Hustensaftflasche war bunter.
«Das hier», betont Martin, «tötet Sie. Es dauert nicht lange, dreißig Sekunden vielleicht, und Ihr Herz setzt aus. Dann sind Sie aber schon nicht mehr bei Bewusstsein, Sie bekommen nichts mehr mit. Schade eigentlich. Insgesamt dauert’s schätzungsweise …»
Er blickt auf seine Armbanduhr, eine falsche Rolex; sie ist viel zu klobig und glänzend, um echt zu sein. Ich sehe den Sekundenzeiger ticken, schneller als er sollte.
«Ehm … zwei Minuten ab jetzt. Maximal drei. Ich gehe dann frühstücken, und Sie werden zurechtgemacht für die Kiste. Ganz ohne Firlefanz. Für irgendwelche Extras würde ja niemand zahlen wollen. Das wissen Sie wohl. Sie sind Brennstoff fürs Krematorium, Bierce. Nicht mehr, nicht weniger.»
Der Mann in Grün legt einen Finger auf die Kerbe in seinem Kinn und scheint über irgendetwas nachzusinnen.
«Orangensaft. Und Obst. Mango und Mandarine. Man muss was für die Gesundheit tun. Irgendwelche Fragen?»
Ich kämpfe wieder, versuche zu sprechen, aber das Beruhigungsmittel hat mich schachmatt gesetzt. Mein Kopf ist voller wirrer Gedanken.
Der Arzt lacht.
«Nein, nein, nein. Strengen Sie sich nicht an, meine Frage war nicht ernst gemeint. Ich weiß auch so, was Sie wissen wollen. Ob es ein Leben nach dem Tod gibt? Meine Meinung? Wer sich darüber einen Kopf macht, sollte lieber fragen: Gibt es ein Leben vor dem Tod? Ganz ehrlich …»
Er nimmt eine zweite Spritze zur Hand, steckt die lange Nadel in eine Ampulle und prüft den Stand der Flüssigkeit darin.
«Und dann wird mir auch immer wieder die Frage gestellt, wie viel ich für meinen kleinen bescheidenen Einsatz hier bezahlt bekomme.»
Martin schüttelt den Kopf, als ob er es selbst nicht glauben könnte.
«Hundertfünfzig die Stunde, abzüglich Steuern. Nicht gerade viel, oder?»
Er stockt. Seine hellen Augen leuchten nicht mehr.
«Aber ich will Ihnen was verraten», fügt er hinzu.
Die Nadel kommt näher, ein glitzernder Speer vor meinem Gesicht – ohne das geringste Zittern.
«Ich würde es auch umsonst tun. Ja, ich würde sogar dafür bezahlen. Das hier …»
Er hat eine makellose Haut. Sie ist blass, nur ganz wenig gebräunt.
Ich spüre, wie er wieder nach der Kanüle in meinem Arm greift, noch fester als zuvor, wie er die Nadel anhebt, bis sie sich an die Innenseite der Vene drückt.
Ich versuche, nach Luft zu schnappen. Will schreien, etwas sagen, aber das Beruhigungsmittel hält mich fest wie in einer Zwangsjacke. Es nimmt mir alle Kraft, nur die Schmerzen nicht.
«… ist für Ihre Frau und Ihr Kind.»
Irgendwo – in meiner Einbildung oder vor meinen flackernden Augen – sehe ich, wie sich jenseits der Glasscheibe ein Mann von seinem Sitz erhebt.
Nicht, dass ich noch Hoffnung hätte. Damit ist es vorbei. Die Rechtsmittel wurden ausgeschöpft. Nur ein Gnadenakt könnte mich ins Leben zurückführen, und der wäre das Letzte, was irgendjemand in dieser Stadt einem Mann namens Bierce gönnen würde.
Am Blickfeldrand sehe ich die Nadel in die Kanüle eintauchen.
Med Martin beugt sich vor, starrt mir in die Augen und sagt: «Es war mir ein Vergnügen, mit Ihnen zusammenzuarbeiten, Sir.»
Etwas Kaltes, Bedrohliches kriecht durch meinen Arm. In meinem Hinterkopf tönt es wie von den Glocken der alten chinesischen Kirche, die ein paar hundert Meter von meinem Haus entfernt ist.
Andy Warhol rückt immer näher. Sein Atem stinkt. Er lächelt wieder. Anders diesmal: gierig und hungrig.
«Sterben, schlafen, vielleicht auch träumen?», flüstert er. Seine gelben Zähne schimmern, die Lippen sind feucht, und die blauen Augen betrachten zufrieden sein Werk. «Aber was in dem Schlaf wohl für Träume kommen mögen?»
Er hält inne. Lächelt. Ich wünschte, ich hätte die Kraft, ihm zu sagen, was ich von jemandem halte, der Shakespeare falsch zitiert. Aber es kümmert mich kaum. Mir ist schon alles egal.
Ein neuer Schmerz stellt sich ein. Durch meine Wirbelsäule geht ein scharfes Brennen, zieht langsam von unten nach oben.
Ich schreie. Ich kann mich hören, zerre an den Gurten, die mich gefangen halten, und bäume mich auf.
Wir sind in der Küche und schauen in den Garten hinaus. Es ist für uns der letzte gemeinsame Sommer. An dem stabilen Maschendrahtzaun, der das Grundstück umgibt, ranken blühende Kletterrosen und Geißblattgewächse. Sie trennen unser Grundstück von den tristen, dunklen Mietskasernen in der Nachbarschaft. Die eine Seite der Abzäunung ist zart und duftend, die andere hart und schmerzlich.
Auf dem Tisch liegt ein Brief.
Es ist die Aufforderung zum alljährlichen Gesundheitscheck.
Ich will nichts davon wissen.
Ihre Finger legen sich auf meinen Handrücken. Sie drückt mir einen allzu flüchtigen Kuss auf die Wange.
«Du hältst dich offenbar für unverwüstlich, stimmt’s?», fragt sie mit der neckenden, sanften Stimme, die mir seit unserer Begegnung in ihrer Schule vertraut ist. «Glaubst wohl, dass nur die anderen krank werden können, mit dir selbst aber nichts schiefgehen kann. Ist es nicht so, Bierce?»
Ich höre kaum zu. Im Garten nehme ich einen Schatten wahr. Ich sehe ihn und frage mich, ob er echt ist oder der Phantasie entsprungen.
Ich blinzele und huste in meine Faust, wie immer, wenn ich über etwas nachzudenken versuche. Dann öffne ich die Augen, und es ist hart diesmal, härter denn je.
Das ist nicht der Garten, jenes kleine Stück Paradies neben dem Haus, das uns einmal gehörte – ein Ort, der für Familie, Wärme und Geborgenheit stand. Das ist vielmehr die Todeszelle in dem düsteren Gefängnis namens Gwinett. Und hier ist Med Martin, der mit triumphierendem Blick auf mich herabsieht, grinst und winkt. Er wirbelt vor dem flachen Tisch auf dem Absatz herum und singt ein Liedchen, das ich nicht hören kann, weil mir das Blut in den Ohren rauscht. Er führt einen Freudentanz auf, fühlt sich als Star einer kleinen privaten Show und verbeugt sich vor seinen Zuschauern.
Ich kann jetzt alles sehen. Vier Reihen von Männern und Frauen, nüchtern gekleidet, mit nüchternen Mienen. Sie warten darauf, dass ich sterbe, um anschließend nach Hause zurückkehren zu können.
Niemand rührt sich, nicht einmal derjenige, den ich vorhin wiedererkannt zu haben glaubte: der dünne schwarze Mann im schwarzen Anzug mit langem, kantigen Gesicht und den finsteren Augen. Ich kenne ihn, aber er sieht um Jahre gealtert aus, so elend wie die leibhaftige Sünde.
«Stapleton», versuche ich zu schreien.
Ich kann meine Stimme nicht hören. Ich kann nicht glauben, dass zu den letzten Worten, die ich auf dieser Erde von mir gebe, der Name jenes Polizeibeamten gehören soll, der durch und durch korrupt war, bis er durch mich geläutert wurde, damals, in einer anderen Welt, zu einer anderen Zeit.
«Ich habe mit eigenen Augen gesehen …»
Was?
Nichts, woran ich mich erinnern könnte. Das war mein Problem, war es immer. Aber jetzt nicht mehr.
Ein Schatten bewegt sich durch den Garten.
Gedanken schießen mir durch den Kopf, eine wilde Horde, die auf mein Bewusstsein Jagd macht und alles auslöscht, was ihr in die Quere kommt.
Der Mann in Schwarz rührt sich nicht, keine Wimper, keinen Finger. Dann verschwimmt mein Blick. Ein schwarzer Schleier steigt aus dem Gift auf, das mir brennend durch die Adern fließt und jeden Gedanken zu tilgen scheint, bis in den letzten Winkel hinein, wo sich noch ein paar vage, schwindende Erinnerungen an Miriam aufhalten.
Ich habe Angst.
Ich fühle mich erleichtert.
Es hatte so kommen müssen.
«Bierce?», sagt ihre tote Stimme.
Mein Herz rast. Ich höre ein Röcheln, höre, wie meine Lungen nach Luft schnappen, ein Geräusch, das für mich jetzt im Moment die schönste Empfindung im Universum ist, aber ich weiß genau, dass sich dahinter eine Leere auftut, die ewig und unendlich ist.
Ich bin wieder in unserem Haus am Owl Creek, und ohne in die Zeitung blicken zu müssen, die zusammengefaltet auf dem Tisch liegt, weiß ich, welches Datum heute ist.
Donnerstag, der 25. Juli 1985: ein Tag in einem Monat voller denkwürdiger Ereignisse, auf ewig in meinem Gedächtnis eingeschlossen wie giftige Insekten im Bernstein.
In diesem Monat ist eine Menge geschehen. Coca-Cola zog seine New Coke vom Markt zurück. Die Rainbow Warrior wurde im Hafen von Auckland von den Franzosen versenkt. George Bush senior stand neben einer strahlenden Lehrerin namens Christa McAuliffe und erklärte, dass sie als erste Frau mit einem Spaceshuttle ins All fliegen würde, und zwar an Bord der Challenger. Sechs Monate später sollte ich im Fernsehraum von Gwinett mit ansehen, wie die Fähre einem flammenden Speer gleich auf die Erde zurückstürzte. Danach interessierte ich mich nicht mehr für Nachrichten. Der Staatsanwalt forderte die Todesstrafe für mich. Sieben Monate später wurde sie ausgesprochen, und das lange Warten im Exekutionstrakt begann – zweiundzwanzig Jahre insgesamt.
Und dennoch ist das Einzige, was zählt, Folgendes: Am besagten Nachmittag sollte mein fünfjähriger Sohn von seiner Mutter abgeholt werden. Sie wollten ins Kino gehen und Pee-wee’s Big Adventure sehen. Warum es dazu nicht gekommen ist, weiß ich nicht. Ich kann mir das plötzliche Schweigen zwischen ihnen nicht erklären.
Wenn geliebte Menschen sterben, suchen einen nicht zuletzt auch völlig unsinnige und banale Gedanken heim. Einer verfolgt mich seit Jahren: Es wurmt mich, dass der Film, den die beiden nicht sehen konnten, einiges zu wünschen übriglässt.
Wir sitzen in der Küche, Miriam und ich. Im Augenblick herrscht Hochdruck über dem Meer, dessen Küste nur knapp zwei Meilen entfernt ist, jenseits der Apartmentblocks, die sich wie schlechte Zähne am Horizont reihen. Seit Tagen plagt uns eine trockene Hitze, die als ein heller Schleier über der Stadt liegt. Im Wohnviertel St. Kilda hat es vor zwei Tagen schwere Krawalle unter Straßengangs gegeben, bei denen ein Mietshaus in Flammen aufging. Ein Teenager wurde getötet; dreizehn weitere lecken ihre Wunden. Unsere Station war wieder einmal hoffnungslos unterbesetzt. Ich habe von alldem nichts mitbekommen. Aus Gründen, die ich nie verstehen werde, musste ich vor sieben Wochen die Uniform ablegen und vor einer leeren Lagerhalle bei den Docks Wache schieben, während der letzten Schicht sage und schreibe siebenundzwanzig Stunden hintereinander, fast ununterbrochen und nur mit kurzen Pausen. In der Zwischenzeit hatten meine Kollegen alle Hände voll zu tun, um die Unruhen nicht eskalieren zu lassen. Dabei waren es die denkbar einfachsten Ursachen, die zu den Gewalttätigkeiten geführt haben: die Hitze, die Armut und die Langeweile.
Entkräftet schließe ich meine Augen; und in diesem Augenblick begreife ich, dass sich die gleiche Erschöpfung überall in der Stadt ausgebreitet hat. Das ist meine Stadt, und sie ist ein Teil meines Wesens. Ich kenne jeden ihrer Winkel – jeden Schandfleck und auch die wenigen kleinen Lichtpunkte – und ihre Menschen, die guten, die schlechten und diejenigen, die irgendwo dazwischen rangieren. Ich sehe diese Menschen jetzt in Greenpoint, draußen am Meer, nur ein paar Meilen weiter südlich, hinter den Fabrikschloten. Vier Strände gibt es dort, zwei Yachthäfen, weiße Apartmenthäuser und Luxusvillen, in denen sich die Reichen jeden Ärger vom Hals halten können. Ich sehe sie in Yonge, unten bei den Docks, wo im Schatten stillstehender Lastkräne Schauermänner und Trucker, Penner und Straßenmädchen abhängen: Sie alle sind viel zu erschöpft, um zu arbeiten oder sich zu amüsieren. Sie können nur noch trinken, fühlen sich dann stärker – und werden von Stunde zu Stunde wütender aufeinander.
Sie bevölkern meinen Kopf schon seit Jahren, seit ich damit angefangen habe, auf einem Motorrad Streife zu fahren, die Polizeiplakette und Pistole nach Möglichkeit immer sichtbar, denn die Uniform ist Teil meiner Persönlichkeit, aus der ich kein Hehl mache. Ich wollte mich nie in Zivilkleidung tarnen oder aus der Deckung heraus andere bespitzeln. Das Gesetz muss sich zeigen, und wenn ich zur Stelle bin, zeigt es sich in meiner Gestalt.
Auf den breiten Geschäftsstraßen von Westmont hasten Männer in schwarzen Anzügen, weißen Oberhemden und Krawatten von einem Büro ins andere; wie Käfer, die vor der Sonne fliehen, den Blick stier nach vorn gerichtet, es sei denn, ein hübsches Mädchen mit kurzem Rock läuft ihnen über den Weg. Doch zum Ansprechen und Flirten sind alle zu müde. Auf den Hügeln von Eden, dem alten Viertel am Rand von Chinatown, verkommen die Häuser. Immer mehr Bewohner ziehen weg, ein Laden nach dem anderen macht dicht. Halbleere Straßenbahnen fahren auf kreischenden Rädern über krumme Schienen von Haltestelle zu Haltestelle, deren Namen längst keine Bedeutung mehr haben: Fair Meadow und Leather Yard, God’s Acre und Silent Street. Ihre Fahrgäste, ausnahmslos Alte und Arme, lassen sich durch die Gegend kutschieren, weil sie nichts Besseres zu tun haben.
Das ist unser Sommer, ein Spiegelbild der frostigen Tage im Dezember und Januar. Jetzt, in diesen wenigen, kurzen Monaten, müssten die Segelyachten draußen übers blaue, blaue Wasser kreuzen. Familien pilgern nun zum Wicker Park, dem einzig noch verbliebenen grünen Fleck in Eden, um den Enten und Gänsen auf dem Teich zuzuschauen, Eis zu essen und sich einzubilden, das Meer riechen zu können, ungeachtet des Gestanks von Verkehr und Fabriken. Doch die Stadt steht still; Reich und Arm, Schwarz und Weiß, Jung und Alt sind ins Stocken geraten. Die unbarmherzig sengende Hitze unterscheidet nicht zwischen Klassen und Hautfarben; sie lastet auf allen gleichermaßen und bleibt unverändert – nicht einen einzigen Windhauch lässt sie zu.
So ist es immer im Juli, und nur Menschen mit einem ausgeprägten Sinn für Selbsttäuschung entgeht die unangenehme Wahrheit: Aus der Stadt kommt so leicht niemand heraus. Nach Norden führt eine lange, eintönige Straße über die ganze Halbinsel und danach für drei weitere Stunden durch einen endlosen dichten Wald, ehe am Horizont die nächste Metropole auftaucht. Wer in Richtung Süden über die De-Soto-Brücke fährt und der kurvenreichen A1A folgt, vorbei an verlassenen Ortschaften und ausgestorbenen Fischereihäfen, braucht ebenso lange, ehe er schließlich auf Zivilisation stößt – auf eine Stadt, die auch nicht anders ist als die, in der man seine Reise begonnen hat.
Landeinwärts, Richtung Westen, erstreckt sich die Einöde der Plains, eine unfruchtbare Gegend, in der sich nur noch ein paar wenige Farmer abrackern. Ihre Zahl nimmt immer weiter ab, denn ihre Kinder zieht es in die Städte, wo sie in Fabriken und Büros, Fastfood-Läden und Supermärkten Arbeit suchen und davon träumen, berühmt und reich zu werden.
Für Reisen fehlte uns immer das Geld, aber das war kein wirkliches Problem für uns. Am Ende landet man sowieso dort, wo man aufgebrochen ist, an einem Ort, wo alle tagtäglich ums Überleben kämpfen oder auch nur um das Recht auf einen Feierabend. Wer Glück hat, bewahrt dabei einen Rest von Würde und hat später etwas vorzuweisen.
Wir haben in den sieben Jahren unserer Ehe kein einziges Mal die Stadt verlassen. Entweder fehlte die Zeit oder das Geld. Das hat Miriam manchmal gestört, aber nicht sehr. Sie war ohnehin lieber in der Stadt als auf dem Land.
«Du, Bierce?», fragt sie am letzten Morgen. Es fällt ihr nicht schwer, meine Gedanken zu lesen.
Der Kaffee schmeckt nicht so gut wie sonst. Ich blicke von meiner Tasse auf, schaue ihr in die Augen und genieße den kleinen Moment von Intimität. Miriam macht sich auch zu Hause schön und trägt ein langes scharlachrotes Baumwollkleid, das am Hals tief ausgeschnitten ist. Ihre Arme sind sonnengebräunt, weil sie mit dem Jungen viel Zeit im Garten verbringt. Ihr Gesicht hat von Natur aus einen dunklen Teint; sie ist wunderschön, und ich finde, sie sieht ein bisschen wie eine stolze Spanierin aus, die sich durch nichts erschüttern lässt. Ihre Augen haben die Farbe dunkler Schokolade. Sie verraten Neugier, blicken oft nachdenklich und im Kreis ihrer Familie liebevoll. Miriam ist eine überaus attraktive Frau. Auf der Straße drehen sich Männer nach ihr um. Sie glaubt mir nicht, wenn ich ihr sage, dass es ihre Augen waren, die mir als Erstes aufgefallen sind, als ich damals wegen einer Lappalie in die Schule gerufen worden bin und sie aus der Klasse geholt habe, um ihr ein paar Fragen zu stellen.
Egal, was sie glaubt, es ist wahr. Ich könnte unablässig in diese Augen schauen.
Jetzt aber ist mein Blick auf den Garten gerichtet, der schöner ist denn je. Als wir hier eingezogen sind, sah es ringsum aus wie auf einer Müllhalde. Ein Großteil des Darlehens, das wir nur mit Mühe abstottern können, ist für Renovierungsarbeiten draufgegangen. Unser Haus zählt zu den wenigen noch verbliebenen alten Gebäuden von Eden aus der Zeit der Siedler, die hierhergekommen sind und sich das Land genommen haben, ohne diejenigen zu fragen, die vor ihnen hier waren. Miriam wurde auf das Haus aufmerksam, intervenierte bei der Stadtverwaltung, um seinen Abriss zu verhindern, und kümmerte sich um das langfristige Darlehen, das uns allmählich ausbluten lässt. Als der Kaufvertrag unterzeichnet war, stellte Miriam die ganze Bruchbude auf den Kopf, restaurierte sämtliche Holz- und Stuckarbeiten, kratzte die hässlichen Latexfarben von den Wänden und versetzte alles in den ursprünglichen Zustand zurück – in ein repräsentatives Wohnhaus der gehobenen Mittelschicht am Rand eines kleinen Baches, der der Sackgasse, in der es steht, ihren Namen gab.
Owl Creek.
Als ich das letzte Mal in dem großen Schlafzimmer, das nach vorn hinaus liegt, geschlafen habe, glaubte ich, eine Eule zu hören, die auf dem Dach umherwanderte und dumpfe Laute hervorstieß, ein unheimliches «Huhu!». Für die Pocapo-Indianer waren Vögel – alle Vögel – Vorboten des Todes, fliegende Grenzgänger zwischen dieser Welt und der nächsten. Bei Eulen kann ich mir das durchaus vorstellen. Später in der Nacht hörte ich den Vogel mit Beute zurückkehren, einem kleinen Tier, das quiekte und schrie, als es bei lebendigem Leib in Stücke zerrissen und gefressen wurde, während wir ganz in der Nähe in dem großen Bett auf weichen Matratzen lagen, bedeckt nur mit einem dünnen Laken, weil es so heiß war in der Nacht.
Manchmal ist es langsam schöner, manchmal schnell Heute …
Miriam hat nichts gehört. Es war wohl nur ein Traum. Hier gibt es keine Eulen mehr. Unser Haus ist das einzige am Owl Creek. Das nächste Gebäude ist etwa zehn Meter entfernt, eine verlassene Lagerhalle, die schon seit dreißig Jahren nicht mehr genutzt wird. Auf der anderen Seite befindet sich eine kleine, zweigeschossige Fabrik, in der tagsüber Einwanderer arbeiten, die meisten illegal. Sie stellen billige Klamotten und Handtaschen her, die auf dem Markt von St. Kilda verkauft werden. Ich tue ihnen nichts. Trotzdem schaut mir keiner von ihnen ins Gesicht. Sie wissen, wer ich bin und welchen Beruf ich habe. Klar, man wird ja schließlich nicht Bulle, um anonym zu bleiben.
In jenen ersten zwei, drei Monaten räumte ich auf unserem Grundstück jede Menge Müll weg, Metallschrott, eine alte Badewanne und morsche Möbel. Ich sah Miriam dabei zu, wie sie vertrocknete Pflanzen und Bäume auf geradezu magische Weise wieder zum Leben erweckte. Während ich auf Streife war, baute sie für den Jungen eine Schaukel und verwandelte diesen kleinen Fleck inmitten der grauen, schäbigen Stadtlandschaft zu einem lebenswerten Ort.
Drei Jahre später wurde ihre mühevolle Pflege des alten Apfelbaums, den sie immer wieder aufs Neue beschnitten hatte, endlich belohnt. Eines Morgens im August stellte sie in einer Schale aus Olivenholz, die sie von den Immigranten nebenan gekauft hatte, die ersten geernteten Früchte auf den Tisch. Ricky war noch zu klein, um sie roh zu essen, darum kochte sie sie und machte einen Brei daraus. Unser Junge, der lachend auf seinem hohen Kinderstuhl vor dem Küchentisch saß, verschlang das Mus mit Wonne. Die Äpfel schmeckten zwar ein wenig nach Smog, obwohl wir sie gründlich wuschen, doch keiner von uns erwähnte dies. Das Haus und der Garten waren unsere Zuflucht inmitten einer Region, die im Laufe der vergangenen hundertfünfzig Jahre vollständig umgekrempelt wurde.
Der Bach fließt inzwischen durch einen unterirdischen Kanal. Sein Wasser ist verschmutzt. Die Felder und Obsthaine, die sich früher jenseits des Owl Creek erstreckten und von denen unser Baum der einzige Überlebende ist, sind dem unkontrolliert auswuchernden Wachstum von St. Kilda zum Opfer gefallen, seinen grauen Wohnsilos und Lagerhallen, den Werkstätten und Baracken, wo in dunklen Eingängen Drogendealer herumlungern und auf Kundschaft warten.
Im Garten hinter dem Apfelbaum bewegt sich etwas, versteckt hinter dem Laub und den noch grünen, bitteren Früchten, die wie unzeitgemäßer Weihnachtsschmuck an den Zweigen hängen.
«Wo ist Ricky?», frage ich.
Schweigen. Die Art von Schweigen, auf die meist Streit folgt. Ich verstehe das nicht.
«Du hörst mir nie zu», sagt Miriam schließlich.
«Bitte», flehe ich. «Wo ist Ricky?»
Ich schaue sie an, weil sie mir nicht antwortet. Miriam scheint verändert. Das Zimmer ebenfalls.
Die Gestalt draußen im Garten bewegt sich. Jetzt sehe ich mehr von ihr. Es scheint ein Mann zu sein, der über den hohen Maschendrahtzaun mit seinen Rosen und Geißblattranken geklettert und in unser kleines Idyll eingedrungen sein muss.
«Bleib hier», sage ich und stehe vom Tisch auf. Aus Versehen stoße ich mit der Hand den Kaffeebecher um. Flüssigkeit rinnt mir über die Finger. Sie ist weder heiß noch kalt.
Ich öffne die Tür, die neu ist und aus massivem Holz. Ich habe darauf bestanden, aus Sicherheitsgründen. Langsam gehe ich nach draußen und schaue mich um.
Der Garten erscheint mir üppiger denn je. Der Apfelbaum ist voller Blüten und kirschgroßer Früchte. Farne, Fenchel und stachelige Artischockenblätter wachsen auf einem Beet, das sich am hinteren Zaun befindet, gleich neben dem alten Brunnen und dem abgedeckten Kanal, der sich wie eine Vene aus Beton vom Boden abhebt.
Ich stelle mich auf die Wulst und spüre das Wasser darunter pulsieren und rauschen, was mich aus unerklärlichen Gründen so sehr irritiert, dass ich umzukippen drohe. Mit weichen Knien steige ich wieder herab und schaue mich suchend um.
Möglich, dass in dem kurzen Augenblick, da ich nicht aufgepasst habe, jemand ins Haus eingedrungen ist. Solche Unachtsamkeiten kosten einem am Ende Kopf und Kragen.
Mich befällt eine schreckliche Ahnung. Ich werfe einen Blick hinter mich. Die Küchentür steht sperrangelweit auf.
Ich ziehe sie immer hinter mir zu.
Ich schaue hinauf zum Fenster von Rickys Zimmer mit dem übergroßen Bett und den weißen Laken. Wir haben ihm dieses Zimmer eingerichtet, weil es auf der Gartenseite liegt und ruhiger ist. Unsere Sackgasse mündet in die verkehrsreiche Durchgangsstraße De Vere ein. Wenn nachts schwere Lastwagen über die Gullydeckel donnern und vor dem Anstieg Richtung Norden einen Gang zurückschalten, geht ein Zittern durch die Mauern.
Das Doppelfenster ist geöffnet. Rickys Lieblingsmobile – Plastikdelphine über blauen Wellen aus Pappe – bewegt sich leicht. Während ich weiter hinaufsehe, fängt es plötzlich heftig zu schaukeln an.
Ich schließe meine Augen und versuche, tief durchzuatmen. Es rührt sich kein Hauch, die Luft steht still. Bei dem Smog, der über der Stadt hängt, wundert man sich, dass es überhaupt noch ausreichend Sauerstoff gibt.
Dann öffne ich wieder die Augen und versuche, einen klaren Gedanken zu fassen. Ich ärgere mich über meine Trägheit. Die Küche ist leer, irgendetwas stimmt nicht. Miriam war doch eben noch da. Ricky liegt im Bett. Sie würde ihn nicht stören. Nicht ohne Grund.
Erst jetzt bekomme ich es mit der Angst zu tun. Sie fährt mir durch sämtliche Glieder, meine Zähne fangen an zu klappern.
Obwohl ich der sengend heißen Sonne ausgesetzt bin, ist mir plötzlich kalt, bitterkalt. Miriam ist anscheinend tatsächlich nach oben gegangen. Ich kann sie hören. Es ist kein Schrei, kein Hilferuf, sondern ein Wutanfall, wie ich ihn in all den Ehejahren von ihr noch nicht erlebt habe.
Sie brüllt und zetert aus vollem Hals, angsterfüllt und hysterisch. Wer, wenn nicht ich, könnte der Anlass dafür sein?
Ich renne los und habe gerade die Küchentür passiert, als etwas auf mich herabfällt – ein Gegenstand, der so schwer ist, dass ich das Gefühl habe, er würde mit Wucht in meinen Schädel eindringen und sich der Länge nach durch meinen ganzen Körper bohren.
Ich falle auf die Knie und schnappe nach Luft, von Schmerzen überwältigt, die so heftig sind, dass ich nur noch an mich selbst denke, nicht mehr an sie.
Doch nur für einen Moment.
Ich hebe den Arm. Meine ganze Hand ist blutverschmiert, bis hin zu den Fingerspitzen.
«Miriam …», sage ich.
Und dann verstumme ich, denn von oben dringen andere Geräusche zu mir: Schreie und das dumpfe Hämmern schwerer Schläge auf Fleisch und Knochen. Rickys Stimme, ihre Stimme, beide schrill und qualvoll. Voller Wut will ich vom Boden aufspringen – aber ich kann mich nicht bewegen. Wenn ich doch nur die Kraft hätte, einzugreifen und sie zu retten!
Miriams Stimme schwillt in einem kreischenden Crescendo an und reißt dann plötzlich ab.
Blut taucht oben in meinem Gesichtsfeld auf und fließt herab, wie ein roter Schleier, der sich vom Himmel auf mich herabsenkt.
Ich kippe nach hinten, liege auf dem Küchenboden, auf den harten Terrakottafliesen, die sie von einer Mülldeponie herbeigeschafft und dann, laut über meine Faulheit schimpfend, selbst verlegt hat, mit viel Geduld und Sorgfalt.
Ich starre zur Decke. Sie starrt zurück in ihrem makellosen Weiß, angestrichen von Miriam und jetzt befleckt von dem Blut, das vor meinen Augen verschwimmt.
Dann sehe ich gar nichts mehr. Ein Fuß tritt mir ins Gesicht, wieder und wieder.
Ich spüre nichts mehr, denke nur noch an die entsetzlichen Geräusche im Obergeschoss.
Daddy, Daddy, Daddy, Daddy!
Ich will sterben. Vielleicht würde ich es auch, wenn mir nicht dieser schreckliche Gedanke durch den Kopf kreiste.
Da sind drei.
Dieser Gedanke ist neu. Denn zuvor – in all den Jahren meiner Gefangenschaft in der Zelle und des unablässigen Bemühens, aus der schwarzen, schmerzlichen Vergangenheit Erinnerungen zu bergen – habe ich nur eine Leere vorgefunden, die sich mehr und mehr mit Selbstzweifeln gefüllt hat.
Das hat sie – den Richter und die Geschworenen, selbst frühere Freunde – am meisten gegen mich aufgebracht.
Es gibt nur eines, dessen ich mir sicher gewesen bin. Und das hat mich über die Maßen empört und nicht mehr schlafen lassen, denn sobald ich die Augen zumachte, sah ich ihre Gesichter, so, wie ich sie vorgefunden hatte, als ich endlich wieder halbwegs zu Kräften gekommen und nach oben gekrochen war, aber noch zu schwach, um nach dem Telefon zu greifen. Ich hockte einfach nur da, wie lange, weiß ich nicht, bis die Streifenwagen mit heulenden Sirenen eintrafen und sich in der Sackgasse zwischen der verlassenen Lagerhalle und der kleinen Fabrik quer stellten, draußen vor der Stelle, wo man früher einmal von einer schlichten Holzveranda aus auf die Felder am Rande einer jungen, von Hoffnung beseelten Stadt hinausblicken konnte.
Ich war nicht in der Lage, etwas zu sagen, weil ich schlichtweg nichts wusste. In den schwärzesten Momenten wusste ich noch nicht einmal, ob ich das Opfer oder tatsächlich der Täter war, für den sie mich hielten.
«Ihr wart zu dritt», murmele ich durch Lippen, die sich so geschwollen anfühlen, als hätte ich die Pest. «Zu dritt …»
«‹Ihr wart zu dritt.› Was zum Teufel soll das heißen?» Ich lag immer noch auf einem harten, flachen Tisch aus Edelstahl und steckte in dem weißen Kittel, den ich auch in der Todeskammer getragen hatte. Doch dieser Raum war anders. Es gab ein Fenster, durch das grelles Sonnenlicht einfiel. Ich sah einen hohen Zaun, überragt von einem Wachturm, auf dem drei Krähen hockten, in der Ferne eine Hochhaussilhouette wie die von Westmont, die aber irgendwie ganz anders war, als ich sie in Erinnerung hatte. Ich saß nun schon so lange in Gwinett ein – zuerst in Untersuchungshaft und dann zweiundzwanzig Jahre im Todestrakt –, dass ich keine Ahnung mehr hatte, wie die Stadt nun aussehen mochte.
Die Reihe aus monolithischen Blöcken, die sich wie Grabsteine vor dem Horizont abzeichneten, trat langsam hinter der Erinnerung an weniger hohe, rußgeschwärzte Büroburgen zurück. Plötzlich kam ein schwarzer Mann in einem engsitzenden dunkelblauen Anzug auf mich zu und löste die Gurte, mit denen ich an den Tisch gefesselt war.
Seine Stimme war mir merkwürdig vertraut.
«Stapleton? Bist du’s wirklich?»
Meine Kehle war rau und schmerzte. In meinem Kopf drehte sich alles. Ich wusste nicht, ob ich träumte oder nicht. Oder wie sich diese Frage klären ließe.
«Wie bitte? Natürlich bin ich es. Auf wen hätten sie wohl sonst diesen Scheißjob abgewälzt? Bist du dir eigentlich bewusst, was du da an Ungereimtheiten vor dich hin brabbelst? Aufwachen, Mann!»
Die Gurte fielen von mir ab. Ich richtete mich auf und hievte die Beine über den Tischrand. Meine Arme schmerzten. Ich schaute hin. Die Kanüle war weg. Ich sah nur noch eine rote Einstichstelle über der Vene und einen gelben Bluterguss drum herum. Anscheinend hatte Martin die Nadel herausgezogen, als ich besinnungslos war. Statt seiner stand nun Stapleton vor mir, der Kollege, der früher einmal neben mir auf seinem Motorrad Streife gefahren war, ein schlaksiger schwarzer Mann aus St. Kilda, der eine schmutzige Vergangenheit hinter sich zurückgelassen, bei der Polizei Karriere gemacht und dann den Dienst quittiert hatte, als sich ihm bessere Möglichkeiten eröffneten.
«Wie lange war ich weg?»
Stapleton warf einen Blick auf seine Uhr.
«Drei Stunden. Sie haben dich noch eine Weile schlafen lassen, um sicherzugehen, dass du keine permanenten Schäden davonträgst.»
«In dem Fall wäre ich wahrscheinlich nicht mehr aufgewacht.»
«Sie wollten kein Risiko eingehen. Diese Leute sind aufs Töten spezialisiert, nicht auf Wiederbelebungsversuche. Sie mussten einen Fachmann zu Hilfe rufen.»
Ich streckte die Hand aus und kniff ihn in den Unterarm, fester als nötig.
«He!», schrie Stapleton. «Was fällt dir ein?»
«Wollte mich nur vergewissern. Hätte ja sein können, dass ich träume.»
«Ja. Das sähe dir ähnlich, Leute wie mich in deine Träume einzuladen.»
«Du hast mich nicht zur Rückkehr beglückwünscht, Stape.»
«Ist dir also aufgefallen.»
Er wirkte unglücklich, wie so oft, aber diesmal war es anscheinend meinetwegen.
«Warum bin ich hier? Was …»
Stapleton unterbrach mich mit strengem Blick.
«Ich rede, du hörst zu. Du kommst in den seltenen Genuss einer zweiten Chance. Mir ist egal, wie du damit umgehst und ob du sie nutzt. Ich sage dir meinen Teil und dann bin ich weg. Du triffst deine Entscheidung ganz allein. Wie, ob mit Verstand oder ohne, interessiert keinen und ist nur für dich von Belang.»
Er nahm einen Stoß bedruckter Seiten aus einem ledernen Aktenkoffer. Der weckte mein Interesse. Jener Stapleton, den ich kannte, als er noch bei der Polizei war, hatte nie einen Aktenkoffer besessen und seine Siebensachen immer in einer Plastiktüte vom Supermarkt getragen. Er sortierte nun ein paar Seiten aus, blätterte sie durch, reichte sie mir und nahm auf einem Metallhocker vor dem Fenster Platz.
«Wenn du die unterschreibst, kommst du noch heute frei. Das ist ein Deal, der nicht besser für dich sein könnte. Und mehr ist nicht drin.»
Er war alt geworden. Das waren wir vermutlich alle, obwohl ich an mir nur wenige Veränderungen entdeckte, wenn ich in der Gemeinschaftsdusche einen Blick in den Kunststoffspiegel warf, was ich allerdings nur selten tat. Im Knast war die Zeit für mich in mehrfacher Hinsicht stehengeblieben. Mit neunundzwanzig Jahren war ich reingekommen, jetzt war ich zweiundfünfzig. Während draußen das Leben weiterging und ich, ohne mich darum zu scheren, immer älter wurde, hatte ich alle vorhersehbaren Gemütszustände durchlaufen: Verwirrung, Wut, Angst und schließlich dumpfe Akzeptanz. Vielleicht hatte mich Letzteres über Wasser gehalten. Stapleton war ein Jahr jünger als ich, aber schon ergraut. Die Wangen seines langen, griesgrämigen Gesichts hingen schlaff herunter, und unter den traurigen Augen hatten sich Tränensäcke gebildet. Früher war er so groß wie ich gewesen, ungefähr eins achtzig, muskulös und gut in Form. Es war nicht selten vorgekommen, dass wir unsere Uniformjacken vertauscht hatten. Seine passte mir so gut wie meine. Nach anfänglichen Schwierigkeiten, die wir miteinander hatten, war er mir als Kollege sehr recht, meistens jedenfalls während der zwei Jahre, die wir zusammen gearbeitet hatten, ehe er befördert worden und schließlich aus dem Polizeidienst ausgeschieden war. Ich glaubte, dass er mir gegenüber ähnlich empfand.
Aber das war damals. Vor meiner Zeit im Gefängnis. Heute könnten wir unsere Sachen nicht mehr tauschen. Er hatte einen Bauch angesetzt, der sich über den Gürtel wälzte. Die Brust war eingefallen, fast so wie bei einem Greis. Sein Blick verriet ein wenig Neid, als er mich betrachtete, ganz unverhohlen, wie mir schien. Dieser neue Stapleton hatte offenbar einen weiteren Grund gefunden, mich zu verachten, und das fand er wahrscheinlich prickelnd.
«Ich dachte, ich wäre schuldig», entgegnete ich.
«Es geht hier um Rechtsfragen, Bierce. Nicht um Gerechtigkeit. Das eine hat mit dem anderen kaum etwas zu tun. Deine Worte. Erinnerst du dich?»
Ich erinnerte mich. Stapleton hatte sich damals von Drogendealern schmieren lassen. Eines Tages erwischte ich ihn dabei, wie ihm auf einem Parkplatz am Rand der Docks von Yonge Geld zugesteckt wurde. Nachdem sein rachitischer Sponsor in einem nagelneuen Sportwagen abgerauscht war, trichterte ich meinem Kollegen, teils mit Worten, teils mit Fäusten, eine Lektion über die Bedeutung von Ehrlichkeit ein, insbesondere bei Cops, auch und gerade wenn sich die meisten einen Dreck darum kümmerten. Ich hatte ihn überzeugen können. Das war gar nicht so schwer. Ja, er ließ mit sich reden, und das schätzte ich an ihm.
Ich nahm die Unterlagen von ihm entgegen. Seite um Seite voller Juristenmist, geschrieben in diesem Kauderwelsch aus obskurem und knochentrockenem Englisch, mit dem wir uns immer hatten abplagen müssen, wenn ein Gerichtstermin anstand.
Es gab drei Stellen, wo ich unterschreiben sollte.
«Worum geht’s?»
«Verzichtserklärungen. Sie lassen dich hier raus, wenn du Abstand nimmst von Rechtsansprüchen gegenüber Dritten, sei’s dem Bürgermeister oder Polizeichef, Richtern oder Anwälten, dem Gefängnispersonal oder, falls es dich denn jucken sollte, gegenüber meiner Wenigkeit, kurz, jedermann.»
Ich starrte auf den Ausdruck und versuchte klarzusehen.
«Wieso?»
Stapleton schluckte und stand auf. Von dem Bauch abgesehen, wirkte er dünner denn je und kränklich. Meine Frage gefiel ihm nicht, obwohl er natürlich damit gerechnet hatte.
«Was bringt dir dein ‹Wieso›? Kannst du nicht mal zur Abwechslung deine Arroganz beiseitelassen, ein Geschenk annehmen und dich damit zufriedengeben?»
«Nein. Geschenke anzunehmen war deine Spezialität, wenn ich mich richtig erinnere. Bis ich dir was anderes beigebracht habe.»
«Herrje! Willst du etwa wieder Nervensäge spielen? Nach dem, was du durchgemacht hast? Bei deinem Strafregister? Verschone mich.» Er stand jetzt neben mir.
Ich packte ihn beim Revers. Er trug einen sehr viel edleren Zwirn als damals während unserer gemeinsamen Patrouillenfahrten.
«Ich will’s wissen», sagte ich vorsichtig.
Seine Antwort war ein Blick, den ich über die letzten zwei Jahrzehnte zu deuten gelernt hatte: Tu nicht so, als wüsstest du nicht längst Bescheid, Arschloch.
«Geht jetzt das alte Lied wieder los?», knurrte Stapleton. «Damit wir uns nicht missverstehen, ich bin nicht hier, um dich zu irgendwas zu überreden, geschweige denn um ‹Bitte, bitte› zu machen. Ich bin von Leuten geschickt worden, die eine großzügige Ader in sich entdeckt haben und dir aus welchen Gründen auch immer wohlgesinnt sind. Kapiert?»
«Ja», antwortete ich. «Und ich hoffe, wenn ich hier raus bin, dein hässliches, krankes Gesicht nie mehr wiedersehen zu müssen.»
Stapleton presste die Lippen aufeinander, und plötzlich fiel mir auf, dass das Menjou-Bärtchen fehlte, das früher seine dünne Oberlippe zierte. Jetzt waren da nur ein paar Stoppeln mit weißen und grauen Farbtupfern.
«Ich gehe davon aus», sagte er, «dass dein angeblich ramponiertes Gedächtnis doch noch so weit intakt ist, dass es Frankie Solera in Erinnerung behalten hat. Seh ich das richtig?»
Namen. Gesichter. Manchmal fand ich schnell zu ihnen zurück, aber häufig waren sie mir gänzlich entfallen. Nicht so dieser Name.
«Den haben wir im Sommer 83 eingelocht. Wir beide. Bewaffneter Überfall in Komplizenschaft mit einem gewissen Tony Molloy. Wir haben die beiden über die De-Soto-Brücke gejagt, bis ihnen auf der Autobahn der Sprit ausgegangen ist. Wenn ich mich richtig erinnere, haben sie sich widerstandslos festnehmen lassen und dann zwölf Monate auf Bewährung bekommen.»
Solera und Tony Molloy waren ein Team, beides skrupellose Gangster, die zu einer der Hafenbanden gehörten, Schmuggelware am Zoll vorbeischleusten und bei Gelegenheit auch andere einträgliche Jobs erledigten.
«Und?»
«Vorgestern hat Solera im Krankenhaus seinen Geist aufgegeben. Darmkrebs, falls es dich interessiert. Er soll lange schwer gelitten haben, es gibt also vielleicht doch einen Gott. Wir haben ihn nochmal eingehend verhört. Zu dem, was am Owl Creek passiert ist, und auch zu anderen Dingen. Wir dachten, dass du und er vielleicht …»
Ich warf ihm einen Blick zu, den er auf Anhieb verstand.
«Du sagtest, sie seien zu dritt gewesen», insistierte er.
«Und du sagtest, ich hätte vor mich hin gebrabbelt. Wie oft muss ich euch das noch verklickern? Ich kann mich an nichts erinnern.»
Jedenfalls nicht mehr so genau, fügte ich im Stillen hinzu.
«Ja, das sagtest du. Wie auch immer, er hat gestanden, allein gewesen zu sein.»
«Und Molloy? War er mit dabei oder im Knast?»
«Weiß ich nicht. Glaubst du, wir hätten nichts Besseres zu tun, als alten Gespenstern nachzujagen?»
«Mir war nicht klar, dass du inzwischen lieber die Flinte ins Korn wirfst.»
«Komm mir nicht auf die Tour, Bierce. Sonst kannst du meinetwegen für den Rest deines erbärmlichen Lebens eingelocht bleiben. Solera behauptete, ganz allein gewesen zu sein. Dann ist er gestorben. Ich persönlich glaube ihm kein Wort. Aber das zählt nicht. Die Staatsanwaltschaft meint, dass dein Fall daraufhin neu aufgerollt werden könnte, wenn sich jemand dafür einsetzt. Wir müssten also irgendwie zusammenarbeiten. Vorausgesetzt natürlich, du bist dazu bereit.»
Stapletons Augen blitzten. Es lag ein gewisses Zögern in seinem Blick, vielleicht auch so etwas wie Hass.
«Warum sollte ich mit dir zusammenarbeiten?», fragte ich. «Warum nicht irgendeinen Anwalt einschalten?»
Er verzog die Lippen zu einer Art Lächeln.
«Falls du’s noch nicht weißt: Ich hab mich damals am Tatort umgesehen, wollte mir selbst ein Bild machen.»
Interessant.
«Du warst zu dem Zeitpunkt doch gar nicht mehr bei der Polizei. Stimmt’s?»
«Dein Gedächtnis scheint ja wenigstens partiell zu funktionieren. Sehr wählerisch, dieses kleine Organ. Wie dem auch sei, ob ich noch bei der Polizei war oder nicht, ist nicht von Belang. Ich war jedenfalls vor Ort und habe gesehen, wie’s in diesem Haus ausgesehen hat. So kann unmöglich nur ein Einziger gewütet haben. Das fand übrigens auch die Kriminaltechnik, und der gesunde Menschenverstand kommt zu demselben Ergebnis. Aber darüber mussten andere befinden. Ich werde nicht dafür bezahlt, Urteile abzugeben.»
«Du wirst auch nicht dafür bezahlt, private Ermittlungen anzustellen. Was ist aus unserem Recht geworden?»
Er zögerte und schien unschlüssig, ob er sagen sollte, was ihm durch den Kopf ging.
«Hör gut zu, Bierce. Ich sag dir was, und das auch nur, um mir später nicht vorwerfen zu müssen, dich nicht gewarnt zu haben. Ich könnte es mir auch sparen, denn du bist und bleibst ein blöder Sturkopf. Trotzdem, sperr die Ohren auf. Draußen ist vieles anders geworden, nicht zuletzt das, was für dich maßgeblich war. Mach dir also keine falschen Vorstellungen. Es wäre dumm, und wenn ich dir eins nie vorgeworfen habe, dann ist es Dummheit.»
Ich massierte meine Arme. Es kam ein bisschen Leben in sie zurück. Vielleicht.
«Gibt es irgendwelche Indizien, die Solera mit dem Tatort in Zusammenhang bringen?», fragte ich.
«Ist das wichtig? Was kümmert’s dich?»
«Es waren meine Frau und mein Sohn.»
Stapleton schob mir wieder die Papiere zu.
«Er hat gesagt, dass das Messer bei ihm in der Wohnung zu finden ist. Der Idiot hat es all die Jahre als Trophäe aufbewahrt. Das Blut daran stammt eindeutig von ihr. Und von Ricky.»