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Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg bei Reinbek, April 2019

Copyright © 2002 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

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Die Originalausgabe erschien 2001 im Verlag Alfred A. Knopf, New York/Toronto, unter dem Titel «Uncle Tungsten. Memories of a Chemical Boyhood»

Copyright © 2001 by Oliver Sacks

Redaktion Barbara Hoffmeister

Fachberatung Dieter Neubauer

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Umschlaggestaltung any.way, Hamburg

Umschlagabbildung Stuart Haygarth

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ISBN Printausgabe 978-3-499-61534-4 (3. Auflage 2015)

ISBN E-Book 978-3-644-00085-8

www.rowohlt.de

ISBN 978-3-644-00085-8

Fußnoten

1 Von all unseren Angestellten blieb nur Miss Levy, die Sekretärin meines Vaters. Sie war seit 1930 bei ihm, und obwohl sie etwas steif und stets sehr beschäftigt war (unvorstellbar, sie beim Vornamen zu nennen, sie blieb immer Miss Levy), erlaubte sie mir manchmal, an ihrer Gasheizung zu sitzen und zu spielen, während sie die Briefe meines Vaters tippte. (Ich liebte das Klappern der Tasten und das kurze Schellen, das am Ende jeder Zeile erklang). Miss Levy wohnte fünf Minuten entfernt (in Shoot-Up Hill, ein Name, der, wie ich fand, besser zu Tombstone als zu Kilburn gepasst hätte), und sie traf jeden Werktagmorgen um Punkt neun Uhr ein. In all den Jahren, die ich sie kannte, kam sie nie zu spät, nie mit schlechter Laune, nie bekümmert oder krank. Ihre Regelmäßigkeit, ihr bloßes Vorhandensein blieb den ganzen Krieg hindurch eine feste Größe, während alles andere im Haus sich änderte. Sie schien gegen alle Wechselfälle des Lebens gefeit zu sein.

Miss Levy, die einige Jahre älter war als mein Vater, arbeitete noch mit neunzig unvermindert fünfzig Stunden die Woche, ohne erkennbare Zugeständnissse an ihr Alter zu machen. In den Ruhestand zu gehen, erschien ihr – wie meinen Eltern – als völlig undenkbar.

2 Während des Burenkrieges machte sich die Familie um alle afrikanischen Verwandten Sorgen, was sich meiner Mutter tief eingeprägt haben muss, denn mehr als vierzig Jahre später sang oder beschwor sie noch immer ein kleines Liedchen aus dieser Zeit:

One, two, three – relief of Kimberley

Four, five, six – relief of Ladysmith

Seven, eight, nine – relief of Bloemfontein.

3 Im 19. Jahrhundert hat es viele Versuche gegeben, Diamanten künstlich zu gewinnen. Am berühmtesten waren die Experimente des französischen Chemikers Henri Moissan, der als Erster Fluor hergestellt und den elektrischen Ofen erfunden hat. Ob Moissan tatsächlich Diamanten isoliert hat, ist zweifelhaft – die winzigen, harten Kristalle, die er für Diamanten hielt, bestanden wahrscheinlich aus Siliziumkarbid (das man heute Moissanit nennt). Die Atmosphäre dieser frühen Diamantenherstellung mit ihren Aufregungen, ihren Gefahren und ihren übersteigerten Erwartungen findet sich sehr lebendig in H.G. Wells’ Geschichte «Der Diamantenmacher» wieder.

4 Die Brüder Juan José und Fausto d’Elhuyar waren Mitglieder der Baskischen Gesellschaft der Freunde ihres Landes, einer Gesellschaft zur Pflege von Kunst und Wissenschaft, deren Mitglieder sich jeden Abend trafen, um an den Montagabenden mathematische Probleme zu erörtern, an den Dienstagabenden mit elektrischen Maschinen und Luftpumpen zu experimentieren und so fort. 1777 wurden die Brüder ins Ausland geschickt, der eine, um Mineralogie, der andere, um Metallurgie zu studieren. Ihre Reise führte sie durch ganz Europa, und einer von ihnen, Juan José d’Elhuyar, besuchte Scheele im Jahr 1782.

Nach Spanien zurückgekehrt, untersuchten die Brüder das schwere schwarze Mineral Wolframit und gewannen daraus ein dichtes gelbes Pulver («Wolframsäure»), das, wie sie erkannten, mit der «Tungstensäure» identisch war, die Scheele in Schweden aus dem Mineral «Tung-Sten» gewonnen hatte und das nach Scheeles Überzeugung ein neues Element enthielt. 1783 erhitzten sie diesen Stoff mit Holzkohle – was Scheele nicht getan hatte – und erhielten in reiner Form das neue metallische Element (das sie Wolframium nannten).

5 Der Kryolith war das Hauptmineral in einem pegmatitischen Gestein in Ivigtut, Grönland, wo er mehr als hundert Jahre kontinuierlich abgebaut wurde. Die Bergleute, die mit ihren Segelschiffen von Dänemark kamen, benutzten manchmal große Brocken des durchsichtigen Kryoliths als Anker für ihre Schiffe und konnten sich nie ganz daran gewöhnen, wie diese Klumpen verschwanden und unsichtbar wurden, sobald sie unter die Wasseroberfläche sanken.

6 Neben den rund hundert Namen für vorhandene Elemente gab es mindestens doppelt so viele für Elemente, die dann doch keine waren, Elemente, deren Existenz man vermutete oder behauptete, weil man von bestimmten chemischen oder spektroskopischen Eigenschaften ausging, später aber einsehen musste, dass es sich um bereits bekannte Elemente oder Verbindungen handelte. Viele Namen wurden von – oft exotischen – Ortsbezeichnungen abgeleitet und wieder fallen gelassen, als sich die Elemente als Irrtum erwiesen: «Florentium», «Moldavium», «Norwegium» und «Helvetium», «Austrium» und «Russium», «Illinium», «Virginium» und «Alabamin», schließlich der Stoff mit dem herrlichen Namen «Bohemium».

Ich war merkwürdig berührt von diesen fiktiven Elementen und ihren Namen, vor allem denen aus der Sternenwelt. Am schönsten klangen in meinen Ohren «Aldebaranium» und «Cassiopeium» (Auers Namen für die bereits existierenden Elemente Ytterbium und Lutetium), ferner «Denebium» für eine vermeintliche seltene Erde. Es gab ein «Cosmium» und «Neutronium» («Element 0»), ganz zu schweigen von «Archonium», «Asterium», «Aetherium» und dem Urelement «Anodium», aus dem die anderen Elemente angeblich alle aufgebaut waren.

Manchmal gab es konkurrierende Bezeichnungen für neue Entdeckungen. Andres del Rio fand im Jahr 1800 Vanadium in Mexiko und nannte es «Panchromium» wegen der Vielfalt seiner bunten Salze. Doch andere Chemiker bezweifelten seine Entdeckung, sodass er schließlich auf seinen Anspruch verzichtete. Das Element wurde erst dreißig Jahre später von einem schwedischen Chemiker wieder entdeckt und neu benannt, dieses Mal nach Vanadis, einem Beinamen der germanischen Göttin der Schönheit und Liebe Freya. Andere obsolete oder diskreditierte Namen bezeichneten tatsächlich existierende Elemente: das prachtvolle «Jargonium», ein Element, das angeblich in Zirkonen und Zirkoniumerzen vorhanden war, wobei es sich aber höchstwahrscheinlich um das Element Hafnium handelte.

7 Eine wunderbare Beschreibung dieser Silikat-Vegetation liefert Thomas Mann im Doktor Faustus (Kap. III):

Ich werde den Anblick niemals vergessen. Das Kristallisationsgefäß … war zu Dreivierteln mit leicht schleimigem Wasser, nämlich verdünntem Wasserglas gefüllt, und aus sandigem Grunde strebte darin eine groteske kleine Landschaft verschieden gefärbter Gewächse empor, eine konfuse Vegetation blauer, grüner und brauner Sprießereien, die an Algen, Pilze, festsitzende Polypen, auch an Moose, dann an Muscheln, Fruchtkolben, Bäumchen oder Äste von Bäumchen, da und dort geradezu an Gliedmaßen erinnerten – das Merkwürdigste,wasmir je vor Augen gekommen: merkwürdig, nicht so sehr um seines allerdings sehr wunderlichen und verwirrenden Ansehens willen, als wegen seiner tief melancholischen Natur. Denn wenn Vater Leverkühn uns fragte, was wir davon hielten, und wir ihm zaghaft antworteten, es möchten Pflanzen sein, – ‹nein›, erwiderte er, ‹es sind keine, sie tun nur so. Aber achtet sie darum nicht geringer! Eben daß sie so tun und sich aufs beste darum bemühen, ist jeglicher Achtung würdig.›

8 Griffin schrieb nicht nur verschiedenste Lehrbücher – so The Radical Theory in Chemistry und A System of Crystallography, beide erheblich wissenschaftlicher als die Recreations –, sondern stellte auch chemische Geräte her und vertrieb sie. Seine «chemischen und naturkundlichen Apparate» fanden in ganz Europa Verbreitung. Seine Firma – später hieß sie Griffin & Tatlock – war noch nach hundert Jahren, in meiner Kindheit, ein bekanntes Unternehmen.

9 Vor ein paar Jahren las ich deshalb in John Herseys Hiroshima, 6. August 1945, 8 Uhr 15 den folgenden Abschnitt mit besonderem Entsetzen:

Als er ins Gesträuch eingedrungen war, sah er, dass es an die zwanzig Mann waren, alle in dem gleichen grauenvollen Zustand: ihre Gesichter waren vollkommen verbrannt, die Augenhöhlen leer, die geschmolzenen Augäpfel waren über die Wangen hinabgeronnen. (Sie mußten, als die Bombe fiel, das Gesicht aufwärts gewandt haben… )

10 Derartige Überlegungen zum «Stimmen» wurden erstmals, wie ich später las, im 18. Jahrhundert von dem Mathematiker Leonhard Euler angestellt, der die Farbe der Dinge auf «kleine Teilchen» an ihrer Oberfläche – Atome – zurückführte, die so gestimmt seien, dass sie auf Licht verschiedener Frequenzen reagierten. Nach dieser Theorie sieht ein Objekt rot aus, weil seine «Teilchen» entsprechend gestimmt sind, in Resonanz mit den roten Strahlen in dem Licht zu schwingen, das auf sie fällt:

Die Natur der Strahlung, dank deren wir ein undurchsichtiges Objekt sehen, hängt nicht von der Lichtquelle ab, sondern von der Schwingungsbewegung der sehr kleinen Teilchen [Atome] auf der Oberfläche des Gegenstands. Diese kleinen Teilchen sind wie gespannte Saiten auf eine bestimmte Frequenz eingestimmt und schwingen in Reaktion auf eine gleiche Schwingung der Luft, selbst wenn niemand sie zupft. So wie die Saite von eben dem Ton, den sie erzeugt, in Schwingung versetzt wird, beginnen die Teilchen an der Oberfläche in Einklang mit der einfallenden Strahlung zu schwingen und ihre eigenen Wellen in alle Richtungen auszusenden.

In The Fire within the Eye: A Historical Essay on the Nature and Meaning of Light schreibt David Park über Eulers Theorie:

Ich glaube, es war das allererste Mal, dass jemand, der an Atome glaubte, die Meinung äußerte, sie hätten eine schwingende innere Struktur. Die Atome von Newton und Boyle waren Schwärme harter kleiner Kugeln, Eulers Atome sind wie Musikinstrumente. Seine hellseherische Erkenntnis wurde erst viel später wiederbelebt, und da erinnerte sich niemand mehr, wer sie zuerst hatte.

11 Heute kann man natürlich keine dieser Chemikalien mehr kaufen. Sogar Schul- und Museumslaboratorien müssen sich zunehmend mit Reagenzien zufrieden geben, die weniger gefährlich sind – und weniger aufregend.

Linus Pauling hat in einer autobiographischen Skizze beschrieben, wie auch er sich Kaliumzyanid (für Insekten) von einem Apotheker besorgte:

Man bedenke nur, wie anders es heute ist. Ein junger Mensch interessiert sich für die Chemie und bekommt einen Chemiebaukasten geschenkt. Aber er enthält kein Kaliumzyanid. Noch nicht einmal Kupfersulfat oder irgendeine andere interessante Substanz ist vorhanden, weil alle interessanten Chemikalien als gefährlich eingestuft werden. Daher haben diese angehenden jungen Chemiker keine Chance, etwas Spannendes mit ihren Chemiebaukästen anzustellen. In der Rückschau will mir ziemlich bemerkenswert erscheinen, dass Herr Ziegler, dieser Freund der Familie, mir, einem elfjährigen Jungen, so unbedenklich zehn Gramm Kaliumzyanid überlassen hat.

Als ich vor kurzem wieder das alte Gebäude in Finchley aufsuchte, das ein halbes Jahrhundert lang Griffin & Tatlock’s beherbergt hat, gab es das Geschäft nicht mehr. Solche Läden, beziehungsweise solche Händler, die Chemikalien und einfache Geräte verkauften und damit ganzen Generationen unermessliches Vergnügen bereiteten, sind heute so gut wie ausgestorben.

12 Viele Jahre später, als ich Keynes’ wunderbare Beschreibung von Lloyd George las (in dem Buch Die wirtschaftlichen Folgen des Friedensvertrages), fühlte ich mich ganz eigenartig an Tante Lina erinnert. Keynes attestiert dem englischen Premierminister

unfehlbare, fast mediumartige Empfindlichkeit für jedermann in seiner unmittelbaren Umgebung [ … ]

Man brauchte den britischen Premierminister nur zu sehen, wie er mit sechs oder sieben Sinnen, die der gewöhnliche Mensch nicht besitzt, die Gesellschaft beobachtete, Charaktere, Beweggründe und unterbewußte Antriebe beurteilte, merkte, was ein jeder dachte, und sogar, was ein jeder gerade sagen wollte, wie er mit telepathischem Instinkt das Argument und denjenigen Ton fand, die zu der Eitelkeit, der Schwäche oder der Selbstsucht seines unmittelbaren Hörers am besten passten, um zu wissen, dass der arme Präsident in dieser Gesellschaft nur Blindekuh spielen konnte.

13 Später entfaltete Hooke selbst eine wunderbare wissenschaftliche Energie und Phantasie, gestützt auf seine ungewöhnlichen mechanischen und mathematischen Fähigkeiten. Er führte umfangreiche und sehr detaillierte Tagebücher und Notizhefte, die ein unvergleichliches Bild nicht nur von seinem rastlosen wissenschaftlichen Tätigkeitsdrang vermitteln, sondern von der gesamten geistigen Atmosphäre, in der die Naturwissenschaften im 17. Jahrhundert betrieben wurden. In seinen Micrographia lieferte Hooke Abbildungen seines zusammengesetzten Mikroskops und Zeichnungen des komplizierten, nie gesehenen Baus von Insekten und anderen Geschöpfen (unter anderem das berümte Bild einer riesenhaften Laus, die an einem menschlichen Haar von der Dicke eines Zaunpfahls hängt). Er beurteilte die Frequenz der Flügelschläge von Fliegen nach ihrer Tonhöhe. Er deutete Fossilien erstmals als die Überreste und Abdrücke ausgestorbener Tiere. Er zeichnete Entwürfe für einen Windmesser, für ein Thermometer, ein Hygrometer, ein Barometer. Und gelegentlich bewies er noch größeren intellektuellen Mut als Boyle, etwa wenn er erklärte, die Verbrennung bestehe «aus einem Stoff, der der Luft inhärent und mit ihr vermischt ist». Dies sei «diejenige Eigenschaft in der Luft, die sie in der Lunge einbüßt». Diese Vorstellung von einem Stoff, der in begrenzten Mengen in der Luft vorhanden, für die Verbrennung und Atmung erforderlich sei und von diesen Prozessen verbraucht werde, kommt dem Konzept eines chemisch aktiven Gases viel näher als Boyles Theorie der Feuerteilchen.

Viele von Hookes Ideen wurden fast vollständig ignoriert und vergessen, sodass ein Gelehrter 1803 feststellen konnte: «Mir ist in der Geschichte der Wissenschaft nichts unerklärlicher als die vollkommene Vergessenheit, in die diese Theorie des Dr. Hooke geriet, obwohl sie doch außerordentlich klar dargelegt und durchaus geeignet ist, die Aufmerksamkeit eines Lesers zu fesseln.» Ein Grund für diese Vergessenheit war Newtons erbitterte Feindschaft. Der entwickelte einen solchen Hass gegen Hooke, dass er nicht bereit war, den Vorsitz der Royal Society zu übernehmen, solange Hooke noch lebte, und er unternahm jede Anstrengung, Hookes Ruf zu untergraben. Ein tieferer Grund ist aber vielleicht auch das, was Gunther Stent die «Frühreife» in der Wissenschaft nennt – viele Ideen von Hooke (besonders diejenigen zur Verbrennung) waren so radikal, dass sie mit den herrschenden Vorstellungen der Zeit unvereinbar und teilweise wohl auch unverständlich blieben.

14 In seiner Lavoisier-Biographie stellt Douglas McKie eine umfangreiche Liste zu Lavoisiers wissenschaftlichen Betätigungen zusammen, die uns ein anschauliches Bild sowohl seiner Zeit als auch seines beeindruckenden Interessenhorizontes vermittelt. McKie schreibt:

Lavoisier befasste sich mit Berichten über die Wasserversorgung von Paris, Gefängnissen, Mesmerismus, dem Panschen von Cidre, dem Standort der öffentlichen Schlachthäuser, den unlängst erfundenen aerostatischen ‹Montgolfier-Maschinen› (Ballons), dem Bleichen,Tabellen der spezifischen Gewichte, Hydrometern, der Farbtheorie, Lampen, Meteoriten, rauchlosen Kaminen, der Tapetenherstellung, dem Gravieren von Wappen, Papier, Fossilien, einem Rollstuhl, einem wassergetriebenen Blasebalg, Zahnstein, Schwefelquellen, dem Anbau von Kohl und Raps und der anschließenden Ölgewinnung, einem Tabakröster, dem Betrieb von Kohlebergwerken, weißer Seife, der Zersetzung von Salpeter, der Herstellung von Stärke, der Lagerung von Frischwasser auf Schiffen, fixierter Luft, einem Bericht über Öl in Quellwasser… , der Entfernung von Öl und Fett aus Seiden- und Wollstoffen, der Gewinnung von Nitroseäther durch Destillation, Äther, einem Flammofen, einer neuartigen Tinte mit dazugehörigem Tintenglas, in das man nur Wasser zu füllen brauchte, um neue Tinte zu erhalten… , der Bestimmung des Alkalis in Mineralwasser, einem Pulvermagazin für das Pariser Arsenal, der Mineralogie der Pyrenäen,Weizen und Mehl, Senkgruben und der Luft, die aus ihnen aufstieg, dem angeblichen Vorkommen von Gold in Pflanzenasche, Arsensäure, der Trennung von Gold und Silber, der Base von Bittersalz, der Aufwicklung von Seide, der Verwendung einer Zinnlösung zum Färben,Vulkanen, der Verwesung, Feuer löschenden Flüssigkeiten, Legierungen, dem Rosten von Eisen, einem Vorschlag zur Verwendung ‹leicht entzündlicher Luft› bei einem öffentlichen Feuerwerk (dies auf Bitte der Polizei), Kohlemaßen, Lampendochten, der Naturgeschichte Korsikas, der Verpestung der Pariser Brunnen, der angeblichen Auflösung von Gold in Salpetersäure, den hygrometrischen Eigenschaften von Natriumkarbonat, den Eisen- und Salzwerken in den Pyrenäen, silberhaltigen Bleiminen, einer neuen Fassart, der Herstellung von Spiegelglas, Brennstoffen, der Umwandlung von Torf in Holzkohle, dem Bau von Getreidemühlen, der Herstellung von Zucker, der enormen Wirkung eines Blitzstrahls, dem Rösten von Flachs, den Mineralvorkommen in Frankreich, plattierten Kochgefäßen, der Entstehung von Wasser, der Münzprägung, Barometern, der Insektenatmung, der Ernährung von Pflanzen, dem anteiligen Verhältnis von Bestandteilen in chemischen Verbindungen, der Vegetation und vielen anderen Dingen, die viel zu zahlreich sind, um sie hier auch nur in Kurzform beschreiben zu können.

15 Boyle hatte schon hundert Jahre zuvor mit der Verbrennung von Metallen experimentiert und sehr wohl bemerkt, dass sie dabei an Gewicht zunahmen. Der «Kalk» oder die Asche, die sie bildeten, wog schwerer als das ursprüngliche Metall. Doch seine Erklärungen für die Gewichtszunahme waren mechanischen, nicht chemischen Begriffes: Er sah darin die Absorption von «Feuerteilchen». In ähnlicher Weise erklärte er die Luft nicht aus chemischer Sicht, sondern sah in ihr ein elastisches Fluidum von besonderer Art, das – einem mechanischen Belüftungssystem zunutze – Unreinheiten aus der Lunge beseitigen sollte. Im darauf folgenden Jahrhundert deckten sich neue Ergebnisse nicht mit Boyles Thesen, was zum Teil daran lag, dass die riesigen «Brenngläser», die man verwendete, so gewaltige Hitze entwickelten, dass sie Metalloxide zum Verdampfen oder Sublimieren brachten und dadurch Gewichtsverluste und keine -zunahmen bewirkten. Noch häufiger aber wog man erst gar nicht, weil die analytische Chemie zu diesem Zeitpunkt noch weitgehend qualitativ ausgebildet war.

16 Im selben Monat erhielt Lavoisier einen Brief von Scheele, in dem dieser ihm die Gewinnung dessen beschrieb, was er Feuerluft nannte (Sauerstoff), vermischt mit fixierter Luft (Kohlendioxid), und zwar durch die Erwärmung von Silberkarbonat. Noch vor Priestley hatte Scheele reine Feuerluft aus Quecksilberoxid gewonnen. Am Ende aber reklamierte Lavoisier die Entdeckung des Sauerstoffs für sich. Er ließ die Leistung seiner Vorgänger kaum gelten, mit der Begündung, sie hätten nicht erkannt, was sie beobachtet hatten.

All dem und der Frage, was denn eine «Entdeckung» ausmache, wird in dem Theaterstück Oxygen von Roald Hoffmann und Carl Djerassi nachgegangen.

17 Die Ersetzung des Phlogiston-Konzepts durch das der Oxidation brachte unmittelbare praktische Vorteile mit sich. Beispielsweise wusste man nun, dass für die Verbrennung eines Stoffs so viel Luft wie möglich erforderlich war. Lavoisiers Zeitgenosse François-Pierre Argand fand rasch eine praktische Nutzanwendung der neuen Verbrennungstheorie, indem er eine Lampe mit einem röhrenförmigen Banddocht entwickelte, der innen und außen mit Luft versorgt wurde. Der Docht steckte in einem Glaszylinder, dessen Kaminwirkung der Flamme mehr Sauerstoff zuführte. 1783 hatte sich die Argandlampe allgemein durchgesetzt. Nie zuvor gab eine Lampe ein so ergiebiges und strahlendes Licht ab.

18 Zu Lavoisiers Katalog der Elemente gehörten die drei Gase, die er benannt hatte (Sauerstoff, Azote (Stickstoff) und Wasserstoff), drei Nichtmetalle (Schwefel, Phosphor und Kohlenstoff) und siebzehn Metalle. Weiterhin gab es das Murium-, Fluor- und Borax-Radikal und fünf «Erden»: Kalk, Bittererde (Magnesia), Schwererde (Bariumoxid),Tonerde und Kieselerde (Silica). Diese Radikale und Erden, so glaubte er, enthielten neue Elemente, die rasch gewonnen würden (tatsächlich wurden sie alle bis zum Jahr 1825 entdeckt, bis auf Fluor, das sich seiner Isolierung noch weitere sechzig Jahre entzog). Seine letzten beiden «Elemente» waren Lichtstoff und Wärmestoff – als habe auch er sich nicht ganz vom Gespenst des Phlogiston befreien können.

19 Mehr als fünfzig Jahre später (zu meinem fünfundsechzigsten Geburtstag) konnte ich mir diesen Knabentraum erfüllen und gönnte mir neben den üblichen Heliumballons einige Xenonballons von erstaunlicher Dichte – die größte denkbare Annäherung an «Bleiballons» (Wolframhexafluorid wäre zwar dichter, aber auch zu gefährlich gewesen – es wird von feuchter Luft zu Flusssäure hydrolysiert). Wenn man diese Xenonballons in der Hand drehte und in der Bewegung dann plötzlich innehielt, wurde das schwere Gas durch die eigene Trägheit veranlasst, eine Minute weiter zu rotieren, fast als wäre es flüssig.

20 Zwar hatte Cavendish als Erster beobachtet, dass sich Wasserstoff und Sauerstoff, wenn sie gemeinsam zur Explosion gebracht wurden, in Wasser verwandelten, hatte diese Reaktion aber im Rahmen der Phlogistontheorie erklärt. Als Lavoisier von Cavendishs Arbeit hörte, wiederholte er das Experiment, fand die richtige Erklärung für die Ergebnisse und beanspruchte die Entdeckung für sich, ohne Cavendish zu erwähnen. Doch Cavendish ließ das völlig kalt, da er sich für solche Prioritätsfragen überhaupt nicht interessierte, so wenig wie für alle rein menschlichen oder emotionalen Aspekte des Lebens.

Während Boyle, Priestley und Davy neben ihren wissenschaftlichen Fähigkeiten auch ausgesprochen menschliche und liebenswürdige Züge besaßen, war Cavendish von ganz anderem Charakter. Seine wissenschaftlichen Leistungen weisen eine erstaunliche Vielfalt auf, von der Entdeckung des Wasserstoffs und den eleganten Experimenten auf dem Gebiet der Wärme und Elektrizität bis zur berühmten (und bemerkenswert genauen) Gewichtsbestimmung der Erde. Nicht weniger erstaunlich und schon zu seinen Lebzeiten Legendenstoff war die fast vollkommene Isolation, in der er lebte (er sprach selten mit einer Menschenseele und verkehrte mit seiner Dienerschaft nur schriftlich), seine Gleichgültigkeit gegenüber Ruhm und Reichtum (obwohl er der Enkel eines Herzogs und lange Zeit seines Lebens der reichste Mann Englands war) sowie seine Naivität und Verständnislosigkeit gegenüber allen menschlichen Beziehungen. Ich war sehr bestürzt, vor allem aber wohl verwirrt, als ich mehr über sein Leben las:

Er liebte nicht, hasste nicht, hoffte nicht, fürchtete nichts und betete nichts an wie andere Menschen, schrieb sein Biograph George Wilson 1851. Er hielt Distanz zu seinen Mitmenschen – und offenbar auch zu Gott. Sein Wesen war nicht ernst, begeistert, heroisch oder ritterlich, so wenig wie niedrig, unterwürfig oder gemein. Er war fast leidenschaftslos. Alles, was zu seinem Verständnis auf mehr als reine Vernunft angewiesen war, was Phantasie, Vorstellungskraft, Gefühl oder Glauben verlangte, war Cavendish zuwider. Einen scharfsinnigen Kopf, der denkt, ein Paar wundervoll scharfe Augen, die beobachten, und ein Paar sehr geschickte Hände, die experimentieren oder messen – mehr habe ich bei der Lektüre seiner Memoiren nicht entdeckt. Sein Kopf scheint eine Rechenmaschine gewesen zu sein, seine Augen Einlasstore für Bilder, keine Tränenquellen, seine Hände Präzisionsinstrumente, die kein Gefühl je zum Zittern, keine Bewunderung, kein Dank, keine Verzweiflung je zum Zusammenschlagen gebracht hat; sein Herz lediglich ein anatomisches Organ, nur für den Blutkreislauf erforderlich… 

Allerdings, so fuhr Wilson fort,

hat sich Cavendish nicht stolz und hochmütig von anderen Menschen fern gehalten, weil er sie nicht als seinesgleichen ansah. Vielmehr fühlte er sich durch einen tiefen Graben von ihnen getrennt, den weder er noch sie überbrücken konnten und der jeden Versuch vereitelte, ihnen die Hand zu reichen oder sie zu grüßen. Das Gefühl, von seinen Artgenossen isoliert zu sein, ließ ihn ihre Gesellschaft fliehen und ihre Gegenwart meiden, doch er tat dies in einem Gefühl der Schwäche, nicht in einem der Überlegenheit. Er war wie ein Taubstummer, der abseits einer Gruppe von Menschen sitzt, deren Gesichter und Gesten verraten, dass sie sich lebhaft äußern, auf Musik und Worte lauschen und ein Vergnügen daran haben, das er nicht teilen kann. Klugerweise sondert er sich deshalb von ihnen ab, sagt der Welt Lebewohl, legt das Gelübde ab, als wissenschaftlicher Einsiedler zu leben, und schließt sich wie ein mittelalterlicher Mönch in einer Zelle ein. Es war ein Königreich, das ihm genügte, und von seinem schmalen Fenster aus sah er so viel von der Welt, wie er sehen wollte. Es hatte auch einen Thron, von dem aus er seine Gaben verteilte. Er war einer der Wohltäter der Menschheit, die keinen Dank bekommen; geduldig und kenntnisreich unterwies er die Menschen, während sie vor seiner Kälte zurückwichen oder sich über seine Sonderlichkeit lustig machten…  Er war kein Poet, Priester oder Prophet, sondern nur ein kalter, klarer Verstand, der reines, weißes Licht ausstrahlte, fähig, alles zu erhellen, worauf es fiel, aber nichts zu erwärmen – ein Stern mindestens zweiter, wenn nicht erster Größenordnung am Firmament des Intellekts.

Viele Jahre später las ich Wilsons beeindruckende Biographie noch einmal und fragte mich, was Cavendish wohl (klinisch betrachtet) «gehabt» haben könnte. Newtons emotionale Besonderheiten – Eifersucht und Misstrauen, heftige Feindschaften und Konkurrenzgefühle – ließen auf eine schwere Neurose schließen. Doch Cavendishs Zurückgezogenheit und Genialität legten viel eher Autismus oder das Asperger-Syndrom nahe. Ich denke heute, Wilsons Cavendish-Biographie dürfte der vollständigste Bericht über das Denken und Leben eines autistischen Genies sein, den wir haben.

21 Die Leichtigkeit, mit der sich Wasserstoff und Sauerstoff in ideal entflammbarer Proportion mittels der Elektrolyse gewinnen ließen, führte unverzüglich zur Erfindung des Knallgasgebläses, das Temperaturen von einer bis dahin nie erreichten Höhe erzeugte. Mit seiner Hilfe war es beispielsweise möglich, Platin zu schmelzen und Kalk auf Temperaturen zu erhitzen, bei denen er das strahlendste je erzielte Dauerlicht abgab.

22 Sechzig Jahre später bezeichnete Mendelejew die Isolierung von Natrium und Kalium durch Davy als «eine der größten wissenschaftlichen Entdeckungen» – weil sie ein neues und leistungsfähiges Verfahren in die Chemie eingeführt, weil sie die entscheidenden Eigenschaften eines Metalls definiert und weil sie den zwillingshaften und analogen Charakter der beiden Elemente bewiesen hatte und deshalb auf das verborgene Vorhandensein einer chemischen Elementgruppe schließen ließ.

23 Die außerordentliche chemische Reaktionsfreudigkeit des Kaliums machte es zu einem leistungsfähigen neuen Hilfsmittel zur Isolierung anderer Elemente. Davy verwendete es selbst, nur ein Jahr, nachdem er es entdeckt hatte, um das Element Bor aus Borsäure zu gewinnen. Auf die gleiche Art versuchte er auch, Silizium zu isolieren (hier hatte Berzelius 1824 Erfolg). Auch Aluminium und Beryllium wurden einige Jahre später mit Hilfe von Kalium gewonnen.

24 Mary Shelley war als Kind von Davys Antrittsvorlesung an der Royal Institution so beeindruckt, dass sie Jahre später in ihrem Schauerroman Frankenstein den Vortrag von Professor Waldmann über die Chemie passagenweise von Davy übernahm, so zum Beispiel, wenn ihre Romanfigur von galvanischer Elektrizität spricht und sagt, ein neuer Einfluss sei entdeckt worden, der es dem Menschen ermögliche, durch die Verbindung von toter Materie Wirkungen hervorzurufen, die bislang nur tierische Organe zu erzeugen wussten.

25 In seiner glänzenden Davy-Biographie spricht David Knight von dem fast mystischen Gefühl der Seelenverwandtschaft, das Coleridge und Davy verband. Die beiden hätten sogar vorgehabt, zusammen ein chemisches Labor einzurichten. In seinem Buch The Friend schrieb Coleridge:

Wasser und Flamme, der Diamant, die Holzkohle…  werden durch die Theorie des Chemikers herbeizitiert und verbrüdert…  Es ist der Sinn für ein Prinzip des Zusammenhangs, das der Verstand liefert und das die Natur durch Entsprechung gutheißt…  wenn wir in einem Shakespeare die Natur zur Poesie idealisiert finden, durch die schöpferische Kraft einer tiefen und doch beobachtenden Meditation, so finden wir durch die meditative Beobachtung eines Davy…  die Poesie in der Natur gewissermaßen verkörpert und verwirklicht; ja, die Natur selbst offenbart sich uns…  als Dichter und Gedicht zugleich!

Coleridge war nicht der einzige Autor, der seinen «Metaphernvorrat» mit Bildern aus der Chemie auffüllte. Der chemische Fachbegriff Wahlverwandtschaften wurde von Goethe mit erotischer Bedeutung aufgeladen; Keats, der Medizin studiert hatte, schwelgte in chemischen Metaphern. Eliot verwendete in «Tradition and the Individual Talent» von Anfang bis Ende chemische Sprachbilder, die in einer grandiosen, Davy würdigen Metapher gipfelten: «Er gleicht dem Katalysator…  der Geist des Dichters ist das Stück Platindraht.»

26 Sehr anschaulich hat der große Chemiker Justus von Liebig dieses Gefühl beschrieben:

[Die Chemie] hat in mir eine Fähigkeit entwickelt, die Chemikern in höherem Maße eigen ist als anderen Naturforschern – die Fähigkeit, in Phänomenen zu denken; es ist nicht sehr leicht, jemandem eine klare Idee von Phänomenen zu vermitteln, der in seiner Vorstellung nicht ein Bild dessen heraufzubeschwören vermag, was er sieht und hört, so wie es etwa Dichter und Maler können…  am nächsten vielleicht läßt sich das chemische oder physikalische Denken mit dem eigenthümlichen Vermögen des Tondichters vergleichen, der in Tönen denkt… 

Die Fähigkeit, in Phänomenen zu denken, lässt sich nur pflegen, wenn der Verstand ständig geübt wird, und dafür sogte in meinem Falle das Bestreben, alle Experimente, deren Beschreibungen ich in Büchern las, auszuführen, soweit es meine Mittel erlaubten…  Ich wiederholte solche Experimente…  zahllose Male,…  bis ich jeden Aspekt des Phänomens, das sich hier darbot, gründlich erfasst hatte…  eine sinnliche, will sagen, eine visuelle Erinnerung, eine klare Wahrnehmung der Ähnlichkeiten oder Unterschiede von Dingen oder Phänomenen, was mir später gut zustatten kam.

27 Davy setzte seine Untersuchungen der Flamme fort und veröffentlichte ein Jahr nach der Erfindung der Sicherheitslampe die Schrift Some Philosophical Researches on Flame. Mehr als vierzig Jahre später kehrte Faraday in seinen berühmten Royal-Institution-Vorträgen The Chemical History of a Candle zu diesem Thema zurück.

28 Ausgehend von Davys Beobachtungen zur Katalyse stellte Döbereiner 1822 fest, dass fein verteiltes Platin in einem Wasserstoffstrom nicht nur weißglühend wurde, sondern diesen auch entzündete. Auf der Grundlage dieser Erkenntnis entwickelte er eine Lampe. Im Prinzip bestand sie aus einer fest verschlossenen Flasche, die ein Stück Zink enthielt. Das konnte in Schwefelsäure getaucht werden, wodurch Wasserstoff erzeugt wurde. Wurde das Absperrventil der Flasche geöffnet, strömte Wasserstoff in einen kleinen Behälter, in dem sich etwas Platinschwamm befand, woraufhin das Gas augenblicklich entflammte (eine etwas gefährliche Flamme, weil sie praktisch unsichtbar war und man sich vor Verbrennungen in Acht nehmen musste). Innerhalb von fünf Jahren wurden zwanzigtausend Döbereinersche Feuerzeuge in Deutschland und England verkauft, sodass Davy die Genugtuung hatte, die Katalyse in praktischer Anwendung zu sehen, ein unentbehrliches Werkzeug in Tausenden von Haushalten.

29 Fasziniert war ich auch vom Filmen (obwohl ich es selbst nie praktizierte). Wieder war es Walter, der mir klar machte, dass es im Film keine wirkliche Bewegung gibt, sondern nur eine Folge von Standbildern, die das Gehirn zu einem Bewegungseindruck verarbeitet. Das führte er mir mit seinem Filmprojektor vor, indem er ihn so verlangsamte, dass er nur noch Standbilder zeigte, und ihn dann immer rascher ablaufen ließ, bis plötzlich die Illusion einer Bewegung entstand. Er besaß auch ein Zoetrop, bei dem auf die Innenseite eines Zylinders Bilder gemalt waren, und ein Thaumatrop, bei dem Karten Zeichnungen trugen, die bei rascher Drehung die gleiche Illusion erzeugten. So gewann ich den Eindruck, dass auch Bewegung vom Gehirn konstruiert werde, und zwar ganz ähnlich wie Farbe und Tiefe.

30 Wells’ Hinweis auf das unbekannte Marselement erregte später noch einmal mein Interesse, als ich mehr über den Begriff des Spektrums wusste, denn an früher Stelle seines Buches heißt es, «es hatte eine Gruppe von vier Linien im Blau des Spektrums», und ein Stück weiter schreibt er – hatte er es nicht noch einmal durchgelesen? – «eine strahlende Gruppe von drei Linien im Grün».

31 Prousts Auffassung wurde jedoch von Claude-Louis Berthollet bezweifelt. Er war älter als Proust, ein Chemiker von großem Ansehen und ein leidenschaftlicher Parteigänger von Lavoisier (mit dem er bei der Entwicklung der Nomenklatur zusammengearbeitet hatte). Berthollet hatte das chemische Bleichen entwickelt und Napoleon 1799 als Wissenschaftler auf seiner Expedition nach Ägypten begleitet. Seine Beobachtungen hatten ihm gezeigt, dass verschiedene Legierungen und Gläser augenscheinlich ganz verschiedene chemische Zusammensetzungen aufwiesen, daher, so meinte er, könnten auch Verbindungen durchgehend veränderliche Zusammensetzungen besitzen. Außerdem beobachtete er, dass Blei, wenn er es in seinem Labor röstete, eine auffällig kontinuierliche Farbveränderung zeigte; ließ das nicht auf eine kontinuierliche Sauerstoffaufnahme mit einer unendlichen Zahl von Stadien schließen? Blei absorbiere zwar bei Erwärmung kontinuierlich Sauerstoff, meinte Proust, und verändere dabei die Farbe, doch dies sei auf die Bildung von drei verschieden gefärbten Oxiden zurückzuführen: ein gelbes Monoxid, dann die rote Bleimennige und schließlich ein schokoladenfarbenes Dioxid – gemischt wie Farbstoffe, in verschiedenen Anteilen, je nach dem Zustand der Oxidation. Die Oxide selbst könnten in beliebigen Anteilen gemischt sein, doch jedes für sich habe eine unveränderliche Zusammensetzung.

Berthollet fragte auch, was mit Verbindungen wie dem Eisen(II)-Sulfid sei, das nie genau die gleichen Anteile von Eisen und Schwefel enthalte. Darauf konnte Proust ihm keine befriedigende Antwort geben (das war erst möglich, als man später die Kristallgitter, ihre Fehlerhaftigkeiten und Austauschprozesse verstand – so kann Schwefel im Eisensulfidgitter das Eisen in unterschiedlichem Maße ersetzen, daher schwankt die Formel zwischen Fe7S8 und Fe8S9. Derartige nichtstöchiometrische Verbindungen werden manchmal Berthollide genannt.

32 Wenn Newton auch mit seiner letzten Frage schon fast ein Dalton’-sches Konzept vorwegzunehmen scheint:

Gott ist fähig, Materieteilchen unterschiedlicher Größe und Gestalt zu erschaffen, in unterschiedlichen räumlichen Verhältnissen und vielleicht mit unterschiedlichen Dichten und Kräften. (Zitiert nach J. Fauvel u.a., Newtons Werk.

33 Dalton stellte die Atome der Elemente als Kreise dar, die in ihrem Inneren Zeichnungen trugen und daher manchmal an die Symbole der Alchimie oder Planeten erinnerten. Verbindungen von Atomen (die er jetzt «Moleküle» nannte) wiesen immer kompliziertere geometrische Konfigurationen auf – eine erste Vorahnung der strukturellen Chemie, die noch weitere fünfzig Jahre auf sich warten lassen sollte.

Obwohl Dalton immer von seiner «Atomhypothese» sprach, glaubte er fest an die reale Existenz von Atomen – daher sein heftiger Widerstand gegen die Terminologie, die Berzelius einführte: die Bezeichnung eines Elementes durch einen oder zwei Buchstaben des Namens statt durch seine bedeutungsträchtigen Bildsymbole. Daltons heftiger Widerstand gegen Berzelius’ Symbolismus (der seiner Meinung nach die Realexistenz der Atome unterschlug) blieb bis an sein Lebensende bestehen. Bezeichnenderweise starb er 1844 an einem plötzlichen Schlaganfall nach einem heftigen Streit, in dem er den Wirklichkeitscharakter seiner Atome verteidigte.

34 Diese Namen für Metallbäume leiteten sich von der alchimistischen Vorstellung her, dass es eine Entsprechung zwischen der Sonne, dem Mond und den fünf (bekannten) Planeten auf der einen Seite und den sieben Metallen der Antike auf der anderen gebe. So stand Gold für die Sonne, Silber für den Mond (und die Mondgottheit Diana), Quecksilber für Merkur, Kupfer für Venus, Eisen für Mars, Zinn für Jupiter (Jovis) und Blei für Saturn.

35 Aus irgendeinem Grund interessierte ich mich besonders für Faradays Entdeckung des Diamagnetismus im Jahr 1845. Er hatte mit einem sehr leistungsfähigen Elektromagneten experimentiert, indem er verschiedene durchsichtige Stoffe zwischen die Pole legte, um zu sehen, ob polarisiertes Licht durch den Magneten beeinflusst würde. Das war der Fall, und Faraday stellte fest, dass sich das sehr schwere Bleiglas, das er bei einigen Experimenten benutzte, tatsächlich bewegte, wenn der Magnet eingeschaltet wurde. Es richtete sich rechtwinklig zum Magnetfeld aus (dabei benutzte er zum ersten Mal den Begriff Feld). Bis dahin hatten sich alle bekannten magnetischen Stoffe – Eisen, Nickel, Magnetit etc. – entlang dem magnetischen Feld und nicht rechtwinklig zu ihm ausgerichtet. Fasziniert begann Faraday daraufhin, die magnetische Suszeptibilität aller Dinge zu überprüfen, deren er habhaft werden konnte – nicht nur von Metallen und Mineralien, sondern auch von Glas, Flammen, Fleisch und Obst.

Als ich meinen Onkel Abe darauf ansprach, erlaubte er mir, mit dem sehr starken Elektromagneten zu experimentieren, den er auf seinem Dachboden aufbewahrte. Ich war in der Lage, viele Resultate von Faraday zu wiederholen, und wie er stellte ich fest, dass der diamagnetische Effekt bei Wismut besonders ausgeprägt war;Wismut wurde von beiden Polen des Magneten heftig abgestoßen. Atemlos beobachtete ich, wie ein dünnes Stück Wismut (einer Nadel so ähnlich, wie es bei diesem spröden Material möglich war) sich fast überstürzt im rechten Winkel zum Magnetfeld ausrichtete. Ich fragte mich, ob man bei exakter Eichung einen Wismutkompass herstellen könnte, der von Ost nach West zeigte. Auch mit Fleisch- und Fischstücken experimentierte ich und hätte es gern auch mit lebenden Organismen getan. Faraday selbst hatte geschrieben: «Wenn ein Mensch in das Magnetfeld geraten könnte, würde er sich wie Mohammeds Sarg drehen, bis er sich quer zum Magnetfeld befände.» Ich überlegte, ob ich einen kleinen Frosch oder ein Insekt in das Feld von Onkel Abes Magneten legen könnte, fürchtete aber, das könnte das Blut der Tiere zum Erstarren bringen oder ihr Nervensystem angreifen, sodass ich schließlich als eine Art von Mörder dastünde. (Dabei hätte ich mir gar keine Sorgen machen müssen: Frösche hat man inzwischen minutenlang in Magnetfeldern schweben lassen, offenbar ohne ihnen im Geringsten zu schaden. Mit den ungeheuren Magneten, die man heute hat, könnte man ein ganzes Regiment zum Schweben bringen.)

36 Allerdings war sein rastloser Geist in dieser Zeit auch durch ein Dutzend konkurrierende Interessen und Projekte abgelenkt: die Erforschung von verschiedenen Stahlarten, die Entwicklung von Gläsern mit hohem Lichtbrechungsvermögen, die Verflüssigung von Gasen (die ihm als Erstem gelang), die Entdeckung des Benzols, seine vielen Vorträge über chemische und andere Zusammenhänge an der Royal Institution und 1827 die Veröffentlichung seines Buchs Chemical Manipulations.

37 Da mir im Gegensatz zu Onkel Abe die höhere Mathematik verschlossen war, blieben große Teile von Maxwells Schriften für mich unverständlich. Dafür konnte ich Faraday lesen und, wie ich fand, die Grundgedanken verstehen, obwohl er keine mathematischen Formeln verwendete. Als Maxwell später darlegte, wie sehr er Faraday verpflichtet sei, erläuterte er auch, warum dessen Ideen trotz ihrer grundsätzlichen Bedeutung auf nichtmathematische Weise zum Ausdruck gebracht werden konnten:

Es hat der Wissenschaft vielleicht zum Vorteil gereicht, dass Faraday, obwohl er sich der grundlegenden Formen des Raums bewusst war, kein gelernter Mathematiker war…  und sich nicht bemüßigt fühlte…  seine Ergebnisse in eine Form zu zwingen, die dem mathematischen Geschmack der Zeit entsprach…  So hatte er die Möglichkeit, die ihm gemäße Arbeit zu leisten, seine Ideen in Einklang mit den Fakten zu bringen und sie in einer natürlichen, nicht formalen Sprache darzulegen…  Allerdings, so fuhr Maxwell fort, bemerkte ich, als ich tiefer in Faradays Werk eindrang, dass seine Methode, die Erscheinungen zu erfassen, durchaus mathematisch war, wenn auch nicht in die konventionelle Form der mathematischen Symbole gekleidet.

38 Sir Ronald Storrs, der damalige britische Gouverneur in Jerusalem, hat seine erste Begegnung mit Annie 1937 in seinem Erinnerungsbuch Orientations beschrieben:

Als Anfang 1918 eine Dame, die eigentlich nichts gemein hatte mit der Erscheinung der Woman of Destiny, war sie doch weder groß noch dunkel noch dünn, mit einem Ausdruck, der sich zu gleichen Teilen aus guter Laune und Entschlossenheit zusammensetzte, in mein Büro geführt wurde, wurde mir sogleich klar, dass ein neuer Planet in meinem Gesichtskreis aufgetaucht war. Miss Annie Landau war während des Krieges…  aus ihrer geliebten…  Mädchenschule vertrieben worden und verlangte nun, augenblicklich in sie zurückzukehren. Meinem zaghaften Einwand, dass ihre Schule als Militärlazarett verwendet werde, begegnete sie mit stählerner Entschlossenheit: Schon nach wenigen Minuten hatte ich ihr das riesige leere Bauwerk überlassen, das als Abessinischer Palast bezeichnet wurde. Rasch wurde Miss Landau weit mehr als die Direktorin der besten jüdischen Schule in Palästina. Sie war britischer als die Engländer…  jüdischer als die Zionisten – am Sabbat ging bei ihr niemand ans Telefon, noch nicht einmal die Dienstboten. Vor dem Krieg hatte sie freundliche Beziehungen zu den Türken und Arabern unterhalten, daher war ihre großzügige Gastfreundlichkeit viele Jahre hindurch der einzige neutrale Boden, auf dem sich britische Offizielle, glühende Zionisten, moslemische Beis und christliche Effendis in unbeschwerter Atmosphäre treffen konnten.

39 Die «Verbindung, die den Weihrauch bildet», schrieb der Talmud in fast stöchiometrischen Formulierungen vor:

Die Zusammensetzung des Räucherwerkes:Mastix,Teufelsklaue, Galban und Weihrauch im Gewichte von je siebzig Minen; Myrrhe, Kassia, Spikenarde und Safran im Gewichte von je sechzehn Minen; Kostwurz zwölf, Gewürzrinde, drei, Zimmt neun. Ferner neun Kab Lauchlauge, drei Seá Kapernwein, drei Kab. Ist kein Kapernwein zu haben, so hole man alten Weißwein. Ein Viertelkab Feinsalz und etwas Rauchkraut. R. Nathan sagt, auch etwas Jardenkraut. Tut man Honig hinein, so macht man es untauglich; läßt man eines von diesen Ingredienzen fort, so macht man sich des Todes schuldig.

40 Jahre später, als ich C.P. Snow las, entdeckte ich, dass er ganz ähnlich auf den ersten Anblick des periodischen Systems reagiert hatte:

Zum ersten Mal sah ich, wie sich ein buntes Durcheinander von zufälligen Fakten zu einer klaren, übersichtlichen Ordnung fügte. Das ganze Wirrwar der Rezepte und Improvisationen, die ich aus der anorganischen Chemie meiner Kindheit kannte, ordnete sich in das Schema vor meinen Augen ein – als stände man vor einem Dschungel, der sich plötzlich in einen holländischen Garten verwandelte.

41 In der allerersten Fußnote seines Vorworts sprach Mendelejew davon, «wie zufrieden, frei und freudvoll das Leben im Reich der Wissenschaft» sei – und man konnte jedem Satz anmerken, wie sehr dies für seinen Autor zutraf. Die Principles wuchsen und gediehen zu Mendelejews Lebzeiten wie ein Lebewesen, jede Ausgabe war umfangreicher, vielfältiger, reifer als ihre Vorgänger, jede mit ausufernden, wuchernden Fußnoten gespickt (Fußnoten, die einen so ungeheuren Umfang annahmen, dass sie in den letzten Ausgaben mehr Seiten füllten als der Text; einige erstreckten sich über neun Zehntel der Seite, und ich glaube, meine eigene Vorliebe für Fußnoten, für die Abschweifungen, die sie erlauben, geht teilweise auf die Lektüre der Principles zurück).

Die Reaktionen auf Döbereiners «Triaden» und auf den Zusammenhang zwischen Atomgewicht und chemischem Charakter, den sie voraussetzten, waren gemischt. Berzelius und Davy bezweifelten den Wert der «Numerologie», wie sie es nannten. Andere hingegen waren fasziniert und fragten sich, ob in Döbereiners Zahlen nicht eine verborgene, aber fundamentale Beziehung lag.