Eric-Emmanuel Schmitt
Milarepa
Erzählung
Aus dem Französischen von Inés Koebel
FISCHER E-Books
Eric-Emmanuel Schmitt, 1960 in St.-Foy-les Lyons geboren, ließ sich als Pianist in Lyon ausbilden und studierte Philosophie in Paris. Als Romancier, Dramatiker und Autor für Film und Fernsehen lebt er heute in Brüssel. In Frankreich gehört er zu den bedeutendsten Theaterautoren seiner Generation und hat auch international Erfolg. Für »Monsieur Ibrahim und die Blumen des Koran« ( Fischer Taschenbuch Bd. 16117) wurde er mit dem Deutschen Bücherpreis 2004 in der Kategorie »Publikumsliebling des Jahres« ausgezeichnet. Und ebenfalls im Jahr 2004 mit dem Quadriga-Preis.
Covergestaltung: bürosüd°, München
Coverabbildung: Marcelino Truong
Die französische Originalausgabe erschien 1997 unter dem Titel
›Milarepa‹ bei Editions Albin Michel, Paris
© 1997 Albin Michel, S.A., Paris
Deutsche Ausgabe
© Ammann Verlag & Co., Zürich 2006
Alle Rechte:
S. Fischer Verlag GmbH Frankfurt am Main
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ISBN 978-3-10-401599-6
Alles begann mit einem Traum.
Hohe Berge … ein Gebäude oben auf dem Fels, ein roter Bau, von einem gedämpften Rot, einem Sonnenuntergangsrot; weiter unten Hundekadaver, die in einem Schwarm Fliegen verwesten … Der Wind beugte mich nieder. Im Traum stand ich auf meinen beiden Füßen, aber ich kam mir sehr groß vor, größer als ich tatsächlich bin, ich ragte über mich hinaus – ein schmaler Körper –, papieren wie ein Schmetterlingsflügel. Mein Körper und doch nicht mein Körper. Unbändiger Haß pulsierte in meinem Blut und trieb mich dazu, auf allen Wegen nach einem Mann zu suchen, ich wollte ihn mit meinem Stock erschlagen; der Haß war so stark, daß er schließlich wie eine schwarze brodelnde Milch überkochte und ich davon erwachte.
Ich fand mich allein wieder, nur mit mir, zwischen meinen Laken, in meinem Zimmer in Montmartre, unter dem Himmel von Paris.
Der Traum belustigte mich.
Doch er ließ mir keine Ruhe, kam wieder.
Woher kommen die Träume?
Und warum verfolgte mich gerade dieser?
Nacht für Nacht wurde ich auf langen, steinigen Wegen von diesen Rachegelüsten verfolgt. Und immer diese Hundekadaver, und dieser Stock in meiner Hand, der nach dem Mann gierte, den er niederstrecken sollte.
Irgendwann wurde mir die Sache unheimlich. Im allgemeinen kommen die Träume und gehen wieder. Dieser Traum aber setzte sich in mir fest! Ich begann in zwei Welten zu leben, beide so konkret wie beständig: hier, in Paris, die Tagwelt, in der ich mich an den gleichen Möbeln stieß, an den gleichen Menschen, in der gleichen Stadt; und dort – aber wo dort? – die steinerne Welt hoher Berge, in der ich einen Mann töten wollte. Wenn die Träume im Wachen wiederkommen, wie soll man da nicht glauben, daß man zwei Leben lebt? Was für eine Tür hatte sich mir im Schlaf aufgetan?
Es dauerte zwei Jahre, bis sich mir die Antwort im Antlitz einer Frau offenbarte. Einer Frau, ungreifbar wie der Rauch ihrer Zigarette; sie saß hinten in dem Café, in dem ich frühstückte, allein an einem Tisch, den Blick verloren in den Rauchspiralen, die sie einhüllten. Ich biß in mein Croissant und sah sie unverwandt an, ohne Hintergedanken, einfach so, sie gehörte zu diesen Wesen, die man betrachtet, ohne recht zu wissen, was sie für einen so anziehend macht.
Die Frau stand auf und setzte sich mir gegenüber. Sie nahm mir das Croissant aus der Hand und aß es zu Ende. Und zwar mit einer solchen Selbstverständlichkeit, daß ich es geschehen ließ. Dann sah sie mir in die Augen:
»Du bist Swastika«, sagte sie. »Du bist der Onkel, du bist der Mann, durch den alles geschah, der Stein, über den man am Anfang des Weges stolpert.«
»Das glaube ich nicht«, sagte ich schlicht. »Ich bin Simon.«
»Nein«, sagte sie.
»Doch, ich bin Simon, und das seit achtunddreißig Jahren.«
»Nichts weißt du«, sagte sie entschieden. »Du heißt Swastika. Du irrst seit Jahrhunderten durch das Gebirge deiner Träume und versuchst deine Seele zu reinigen. Du möchtest dich vom Haß befreien. Doch das wird dir nur gelingen, wenn du die Geschichte des Mannes erzählst, den du bekämpft hast, die Geschichte von Milarepa, dem größten aller Einsiedler. Wenn du sie hunderttausend Mal erzählt hast, wirst du endlich dem Samsara-Sein entkommen, dem ewigen Kreislauf der Wiedergeburt.«