ZERBROCHEN

Michaels Tsokos

mit Andreas Gößling


ZERBROCHEN

True-Crime-Thriller

Knaur eBooks

Inhaltsübersicht

Die Handlung in »Zerbrochen«
spielt zwölf Monate nach den Ereignissen
in »Zerschunden«

1

Berlin, Bezirk Treptow-Köpenick, in Dr. Fred Abels Auto, Freitag, 9. Juli, 07:17 Uhr

 

 

Das Sonnenhoch »Boris« hatte Berlin seit Wochen im Griff. Die S-Bahnen fuhren im permanenten Saunamodus, an etlichen Abschnitten der Stadtautobahn wölbte sich der Asphaltbelag wie Käsesoufflé, die Medien überboten sich gegenseitig mit Warnungen vor Hitzschlag, Ozonschock und Dehydrierung. Scharenweise kollabierten Senioren in ihren Hochhauswohnungen, auch die Zahl der Kneipenschlägereien und häuslichen Handgreiflichkeiten strebte ihrem Jahreshoch entgegen. Berliner, die es irgendwie einrichten konnten, flohen an den Ostseestrand oder in ihre Datschas an einem der Badeseen im Umland. Nur die Touristen in mutiger Outdoor-Bekleidung, mit Rucksäcken, Sonnenhüten und Selfiestangen bewaffnet, schienen die vor Hitze flimmernden Straßenschluchten zu genießen. Sie verwandelten öffentliche Parks in Müllhalden und das Regierungsviertel in ein riesiges Festivalgelände. Dollar, Yen und Euro quollen aus ihren Taschen, und so hatten Gastronomen genauso wie Taschendiebe alle Hände voll zu tun.

Das ganz normale Berliner Sommerchaos, dachte Dr. Fred Abel. Es fühlte sich gut an, wieder mittendrin zu sein.

Er stoppte seinen schwarzen A5 vor der Ampel am Treptower Park und warf einen Blick in den Rückspiegel. Der zerschrammte Van klebte ihm noch immer an der Stoßstange. Am Steuer saß ein junger Familienvater, der mit seinen Kindern herumalberte. Er trug eine trendige Nerd-Brille, einen akkurat gestutzten Vollbart und hatte ganz bestimmt keine finsteren Absichten. Geschweige denn einen blutbefleckten Baseballschläger an Bord.

Abel atmete gleichmäßig aus und ein. Seit er vor einem Jahr bei einem Mordanschlag lebensgefährlich verletzt worden war, war seine innere Alarmanlage mehr oder weniger im Dauerbetrieb. Dabei hatte er eigentlich keinen Grund mehr, besonders auf der Hut zu sein. Von den beiden Schlägern, die ihn damals überfallen hatten, und ihrem Hintermann konnte keine Gefahr mehr ausgehen.

Der Tag hatte gerade erst begonnen, doch die Außentemperatur lag schon wieder bei fünfundzwanzig Grad. Die Klimaanlage des Audi röchelte. Der Wagen kam allmählich in die Jahre, auch wenn er die zurückliegenden zwölf Monate mehr oder weniger ungenutzt im Carport gestanden hatte.

Geduldig wartete Abel, bis der Pulk jugendlicher Partygänger die Kreuzung überquert hatte. Die Fußgängerampel hatte längst wieder auf Rot geschaltet, doch immer noch trotteten gutgelaunte Nachzügler über die Straße. Offenbar hatten sie die Nacht zum Tag gemacht und würden in ihrem Hotel gleich die Rollläden herunterlassen, um ihren Rausch auszuschlafen.

Die sind höchstens drei, vier Jahre älter als Noah und Manon, dachte Abel. Seine Zwillinge hatten vor kurzem ihren sechzehnten Geburtstag gefeiert, doch bis vor einem Jahr hatte er nicht einmal geahnt, dass er zwei Kinder in die Welt gesetzt hatte. Geschweige denn, wie glücklich es ihn machen würde, Vater zu sein.

Das hinter ihm liegende Jahr hatte ihn noch sehr vieles mehr gelehrt. Als Rechtsmediziner bei der BKA-Einheit »Extremdelikte« war Abel von Berufs wegen mit der Zerbrechlichkeit menschlichen Lebens konfrontiert, doch im vergangenen Sommer hatte er am eigenen Leib erfahren müssen, wie dünn die Trennwand zwischen Leben und Tod war.

Abel war vor seinem Elternhaus in der Nähe von Hannover überfallen und schwer verletzt worden. Nach mehreren Operationen in einer neurochirurgischen Klinik und neun quälend langen Monaten in der Reha, in denen er Rückschlägen getrotzt und sich zäh ins Leben zurückgekämpft hatte, war heute sein erster Arbeitstag. Gestern Abend hatte er mit Professor Paul Herzfeld telefoniert, dem Leiter der rechtsmedizinischen Abteilung der »Extremdelikte«. Dieser hatte ihm versichert, wie sehr er sich freue, dass sein Stellvertreter Abel wieder gesund sei und den Dienst wiederaufnehmen könne. Abel hatte keinen Grund, an seinen Worten zu zweifeln. Seit vielen Jahren arbeiteten sie vertrauensvoll zusammen und schätzten und respektierten einander fachlich wie auch menschlich.

»Bitte keine warmen Worte zu meiner Rückkehr«, hatte Abel zum Abschluss ihres Telefonats gesagt, und Herzfeld hatte es ihm versprochen. »Nur schade um die Rede, die ich seit Tagen einstudiere«, hatte sein Chef allerdings hinzugefügt und sein fanfarenartiges Lachen ertönen lassen. Daher war sich Abel nicht ganz sicher, was ihn gleich bei der routinemäßigen Frühbesprechung erwarten würde. Abgesehen von den Opfern des Terroranschlags, der vor zwei Tagen auf dem Sultan-Ahmed-Platz in der Nähe der Blauen Moschee in Istanbul verübt worden war. Ein Selbstmordattentäter hatte sich inmitten einer deutschen Reisegruppe in die Luft gejagt.

Herzfeld hatte ihn am Telefon schon in groben Zügen informiert: zwölf Tote, die türkische Fremdenführerin und der aus Syrien stammende Attentäter sowie zehn deutsche Staatsangehörige, Senioren auf Fünf-Sterne-Rundreise durch die Türkei. Eine Bundeswehrmaschine hatte die Überreste der zehn Deutschen nach Berlin-Tegel gebracht. Seit gestern früh war die gesamte rechtsmedizinische Abteilung der »Extremdelikte« damit beschäftigt, die Opfer zu obduzieren, um ihre Identität zu klären und den Ermittlern Erkenntnisse zum Ablauf des Anschlags zu liefern.

Abel fuhr auf den Parkplatz der Treptowers, ein Ensemble imposanter Bürobauten im Berliner Osten, und stellte seinen Audi neben Herzfelds nagelneuem Range Rover ab. Der glasummantelte Wolkenkratzer, dem das Areal seinen Namen verdankte, war hundertfünfundzwanzig Meter hoch, der Ausblick von der Dachterrasse atemberaubend. Ihre Abteilung befand sich jedoch im zweiten Untergeschoss, was für den An- und Abtransport von Leichen praktisch war, die Aussicht allerdings stark limitierte.

Abel betrat das Foyer und nickte dem Pförtner zu, während er zu den Aufzügen ging. Alles wie immer, dachte er. Emotionaler Überschwang war ihm seit jeher zuwider, auch und gerade, wenn es um ihn selbst ging. Bei der Vorstellung, dass Herzfeld während der Frühbesprechung womöglich doch eine gefühlige Rede auf ihn halten und die Kollegen ihn mit feuchten Augen zu seiner Rückkehr beglückwünschen würden, verlangsamte er unwillkürlich seinen Schritt.

Er war dem Tod von der Schippe gesprungen, buchstäblich im letzten Moment und nur deshalb, weil er die Disziplin und die Geistesgegenwart besessen hatte, seiner Schwester Marlene die lebensrettenden Instruktionen zu geben, bevor er bewusstlos geworden war. Und natürlich auch, weil Marlene den Überblick bewahrt und dem Notarzt die entscheidenden Stichworte gegeben hatte: Schädelbasisbruch, Hirnödemprophylaxe, Rettungshubschrauber, neurochirurgische Spezialklinik. Marlene hatte ihm das Leben gerettet, und Abel war ihr unendlich dankbar dafür. Doch er hatte nicht die geringste Lust, diese privaten Details mit seinen Kollegen zu teilen.

Er respektierte sie alle und kam im beruflichen Alltag meistens gut mit ihnen zurecht, aber er war mit keinem von ihnen befreundet. Weder mit Dr. Martin Scherz, dem fachlich erstklassigen, menschlich allerdings schwierigen Oberarzt, noch mit Dr. Alfons Murau, dem feinsinnigen Assistenzarzt mit dem Hang zu messerscharfem Wiener Schmäh. Auch nicht mit der Deutschchinesin Dr. Sabine Yao, die ihre Gedanken und Gefühle hinter einer höflichen Maske versteckte, und nicht einmal mit Professor Herzfeld, auch wenn Abel immer geglaubt hatte, dass Herzfeld und er aus dem gleichen Holz geschnitzt waren. Überzeugt davon, aus jeder Klemme einen Ausweg zu finden.

Auch das hat sich geändert, dachte Abel, während er im Lift nach unten fuhr. Nachdem ihn die beiden Schläger fast ins Grab geprügelt hatten, würde er nie wieder der alte Fred Abel sein, der einen Serienkiller durch halb Europa verfolgt hatte und im Jahr davor von Menschenjägern durch einen sumpfigen Grenzwald in Osteuropa gehetzt worden war. Er war gesundheitlich wieder auf dem Damm, aber er hatte ein für alle Mal begriffen, wie rasch man von diesem Damm abrutschen und von der Flut davongerissen werden konnte. Auch durch den Umstand, dass er nun Vater zweier Kinder war, die er erst vor kurzem kennengelernt hatte, war sein inneres Koordinatensystem neu justiert worden. Abel war nach wie vor Rechtsmediziner mit Leib und Seele, doch er wusste, dass er nie wieder vollständig in seinem Beruf aufgehen würde.

Die Lifttür glitt auf, und er trat in den hell erleuchteten Gang hinaus. Alles hier war vertraut, der abgetretene, graue Linoleumbelag, das leise Quietschen seiner Sohlen, während er auf die Tür zum Besprechungsraum zuging. Es erfüllte ihn mit tiefer Befriedigung, dass er dem fast schon sicheren Tod entronnen war und sich hierher zurückgekämpft hatte, an den Ort, an dem er seine beruflichen Fähigkeiten und Neigungen bestmöglich beweisen und einbringen konnte.

Morgen Vormittag würde er die Zwillinge am Flughafen Tegel abholen. Sie würden drei Wochen lang bei ihm und seiner Lebensgefährtin Lisa wohnen. Eigentlich hatten sie schon vor zehn Tagen kommen sollen, aber aufgrund einer Panne bei der Ticketbuchung hatte sich ihre Abreise verzögert. Abel konnte es kaum erwarten, seine Kinder in die Arme zu schließen und sich von ihrer unbändigen Energie anstecken zu lassen.

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2

Berlin, Treptowers, BKA-Einheit »Extremdelikte«, Besprechungsraum, Freitag, 9. Juli, 07:30 Uhr

 

 

Der Raum, in dem sich die Rechtsmediziner und die Wissenschaftler der Kriminaltechnik jeden Morgen um halb acht versammelten, besaß den Charme eines Aktenkellers. Die zu einem Rechteck zusammengeschobenen Tische waren genauso grau und abgestoßen wie die Regale und Blechschränke an den Wänden. Statt aus dem Fenster sah man auf leere Flipcharts und eine halb heruntergezogene Beamer-Leinwand. Im bleichen Licht der Neonlampen war die Außenwelt, in der die Sonne vom blauen Himmel schien, schon nach wenigen Augenblicken nur noch eine blasse Erinnerung. Und doch hatte Abel während der langen Monate in der Reha gerade das Ritual der Frühbesprechung in diesem nüchtern möblierten Raum mehr als ein Mal vermisst.

Er hatte es so eingerichtet, dass er um Punkt sieben Uhr dreißig im Besprechungsraum eintraf. Nicht verspätet, aber als Letzter der Runde, um den Begrüßungsfloskeln seiner Kollegen vor Beginn der Sitzung zu entgehen.

Den weißen Kittel offen über seinem stahlblauen Maßanzug, saß Paul Herzfeld bereits am Kopfende des Konferenztischs und begrüßte die Anwesenden mit routinierter Freundlichkeit. Abel wollte sich neben ihm auf seinen Platz fallen lassen, aber Herzfeld kam ihm zuvor. Er erhob sich und schüttelte seinem Vize ausdauernd die Hand. Obwohl Abel mit knapp einem Meter neunzig Scheitelhöhe nicht gerade klein gewachsen war, überragte ihn Herzfeld noch um mehrere Zentimeter.

Abel befürchtete schon das Schlimmste, als Herzfeld ihn bedeutungsschwer ansah. »Schön, dass du wieder an Bord bist, Fred«, sagte sein Chef aber nur und ließ Abels Hand wieder los.

»Zurück auf dem Totenfloß«, kommentierte Murau und rieb sich mit spöttischem Lächeln über den Spitzbauch.

Der Oberarzt Dr. Scherz schnaubte verachtungsvoll in Richtung des wesentlich jüngeren Assistenzarztes. Scherz sah noch unförmiger aus als in Abels Erinnerung. Der gewaltige Bauch sprengte ihm fast den Hosenbund und das kleinkarierte Hemd. Der graue Fusselbart konnte weniger denn je sein Doppelkinn verbergen. Als Rechtsmediziner war Scherz ein Ass, in jeder anderen Hinsicht aber nur schwer erträglich.

»Vielen Dank. Die Freude ist ganz meinerseits«, versicherte Abel und nickte seinen Kollegen nacheinander zu.

Herzfeld hatte sich wieder hingesetzt, und Abel folgte seinem Beispiel.

Zu seiner Erleichterung kam sein Chef gleich zur Sache. »Die Opfer aus Istanbul, die wir gestern noch nicht untersucht haben, fordern ihr Recht«, sagte er und nahm den obersten Schnellhefter von dem vor ihm liegenden Stapel. »Wir haben jetzt auch eine offizielle Einschätzung von türkischer Seite, wonach der sogenannte Islamische Staat für den Anschlag verantwortlich sein soll. Allerdings gibt es ein neues Videodokument, das nur wenige Sekunden vor der Detonation auf dem Sultan-Ahmed-Platz aufgenommen wurde und zeigt, wie ein Objekt in die Gruppe fliegt. Die vom Staatsschutz meinen, es könnte sich dabei um eine Boden-Luft-Rakete handeln. Wie auch immer, Herrschaften. Augen auf bei den Obduktionen!«

Mit leisem Neid registrierte Abel, dass Herzfeld um keinen Tag gealtert schien. Mit den markanten Gesichtszügen, die an einen berühmten Hollywoodschauspieler erinnerten, und dem dichten, schwarzen Haar, in dem nicht eine silbrige Strähne schimmerte, war er eine imposante Erscheinung. Dagegen waren Abels Haare im zurückliegenden Jahr grau geworden. Und obwohl er körperlich wiederhergestellt war, fühlte er sich deutlich weniger robust als vor dem Überfall.

Vier der zehn deutschen Terroropfer, zwei Männer und zwei Frauen, warteten noch auf ihre Identifizierung. Herzfeld teilte jedem der anwesenden Rechtsmediziner einen Fall zu. Abel sollte die Überreste einer Seniorin obduzieren, der durch die Wucht der Explosion beide Unterschenkel zerfetzt worden waren. Eine Aufgabe, die einen erfahrenen Rechtsmediziner vor keine besonderen Herausforderungen stellte, selbst wenn er ein wenig aus der Übung gekommen sein sollte.

Vor acht Tagen, bei ihrem vorletzten Telefonat, hatte Herzfeld vorgeschlagen, dass Abel im Schongang wiedereinsteigen sollte. »Fang nächsten Freitag an und übernimm erst einmal eine Routine-Obduktion«, hatte er gesagt. »Dann kommst du langsam rein und hast anschließend schon wieder Wochenende. Danach wird dir alles wie früher von der Hand gehen.«

Abel wusste Herzfelds Fürsorglichkeit zu schätzen, auch wenn er sie etwas übertrieben fand. Er brannte darauf, endlich wieder loszulegen. Am liebsten wäre er gleich wieder mit einem komplizierteren Fall eingestiegen, der seine rechtsmedizinische Erfahrung und sein kriminalistisches Gespür gleichermaßen herausforderte. Doch durch den Terroranschlag hatte sich diese Diskussion ohnehin erledigt.

Bei den vier Toten des Tages handelte es sich durchweg um wohlhabende Senioren, die über eine private Krankenversicherung oder Zusatzpolice verfügten. Folglich konnten sie sich auch die aufwendigen Zahn- und Gelenkimplantate leisten, die das Leben im fortgeschrittenen Alter angenehmer machten. Und die anhand ihrer Seriennummern mit ein paar Mausklicks in entsprechenden Datenbanken den Besitzern zugeordnet werden konnten.

»Vergessen Sie bitte nicht«, sagte Herzfeld, »die Öffentlichkeit nimmt lebhaften Anteil an den Folgen dieses brutalen Terrorakts. Und die Hinterbliebenen müssen zusätzliche Qualen durchstehen, solange sie nicht sicher wissen, ob ihr Angehöriger zu den Opfern gehört. Deshalb muss auch heute wieder alles andere warten.«

Er schüttelte den Kopf und sah mit einem Mal ungewohnt bekümmert aus. »Hier haben wir es – in Anführungszeichen – nur mit zehn Terroropfern zu tun. Aber das reicht schon, um alle unsere Kräfte für zwei Tage zu binden. Jetzt stellen Sie sich einmal vor, was hier los wäre, wenn in Berlin ein Anschlag in einer Größenordnung wie zuletzt in Paris oder Brüssel passieren würde. So ziemlich alle westeuropäischen Hauptstädte waren in den letzten Jahren schon von Terrorakten in der einen oder anderen Form betroffen. Die Wahrscheinlichkeit wird also immer größer, dass irgendwelche durchgeknallten Dschihadisten oder andere Irre uns ins Visier nehmen und zum Beispiel im Hauptbahnhof oder auf einem der Berliner Flughäfen ein Massaker anrichten – mit Hunderten Toten, wenn nicht noch mehr. Alle rechtsmedizinischen Einrichtungen in Berlin zusammen hätten nicht annähernd die nötige Kapazität, um mit einem solchen Szenario zurechtzukommen.«

Herzfeld fuhr sich mit der flachen Hand über das Gesicht. Als leitender BKA-Beamter ging er im Innenministerium und im Auswärtigen Amt ein und aus und verfügte stets über aktuelle Insider-Informationen. Für seine Andeutungen musste es also handfeste Gründe geben. Zumal Herzfeld nicht zu den Menschen gehörte, die ihr Herz auf der Zunge trugen.

Er lächelte in die Runde. »Auf mich müssen Sie heute im Sektionssaal leider verzichten. Man erwartet mich im Auswärtigen Amt. Aber glücklicherweise ist mein Stellvertreter ja wieder im Dienst. Jetzt muss ich es doch noch sagen«, fuhr er fort und drehte sich zu Abel. »Auch wenn du mir verboten hast, gefühlvolle Reden zu schwingen, Fred: Ich bin wirklich froh, dass du wieder bei uns bist.«

Er klopfte Abel auf die Schulter. Alle starrten Abel an, doch niemand bekam feuchte Augen. Nur er selbst hatte kurzzeitig einen Kloß in der Kehle, den er jedoch mit einem energischen Räuspern hinunterschluckte.

»An die Arbeit«, sagte er. »Ich kann es kaum erwarten, endlich wieder am Sektionstisch zu stehen.«

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3

Berlin, Treptowers, BKA-Einheit »Extremdelikte«, Sektionssaal, Freitag, 9. Juli, 08:13 Uhr

 

 

Abel setzte das Skalpell an der Kinnspitze an und zog es mit einem einzigen schnellen Schnitt bis zum Schambereich der Toten. Die beiden großen Hautlappen klappten auseinander, so dass der Blick auf Brustkorb und Bauchorgane frei lag.

Zuvor hatte die Sektionsassistentin Britta Gerlach den schwersttraumatisierten Leichnam der älteren Dame in den Computertomographen geschoben, um festzustellen, ob sich in ihrem Körper metallische Objekte befanden, Implantate oder auch Metallsplitter von dem Sprengsatz. Dabei hatte sich herausgestellt, dass die Seniorin rechtsseitig eine künstliche Hüfte und im linken Bein ein Knieimplantat besaß, außerdem einen Herzschrittmacher.

Bei der äußeren Leichenschau hatten sich Zeichen eines massiven Explosionstraumas in Kombination mit Hitzeeinwirkung gezeigt: massenhaft kraterförmige Hautdefekte im Gesicht und an der gesamten Körpervorderseite sowie Ansengungen des Kopfhaars, das teilweise bis auf die schwärzlich verkohlte Kopfhaut heruntergebrannt war.

Der gänzlich zahnlose Kieferbereich ließ darauf schließen, dass die betagte Dame eine Zahnvollprothese getragen hatte, die durch die Explosion wohl zerstört und in alle Himmelsrichtungen verstreut worden war. Die altbewährte Methode, einen Toten anhand seines Zahnstatus zu identifizieren, fiel damit schon einmal aus.

Teile des Unterkörpers und die Unterschenkel der Toten waren durch die Wucht der Explosion zerfetzt worden. Der Oberkörper war dagegen in deutlich besserem Zustand. Auch der Herzschrittmacher sah auf dem CT-Bild unversehrt aus. Aller Erfahrung nach würde dieses Implantat ausreichen, um die Identität der Toten zu klären.

Die Assistentin Britta Gerlach schien sich über Abels Rückkehr aufrichtig zu freuen, auch wenn die stämmige Frau mit der dunkelblonden Kurzhaarfrisur wie gewohnt keine großen Worte machte. Abel hatte immer schon gern mit ihr zusammengearbeitet. Sie war stets bei der Sache und verlor auch in Ausnahmesituationen weder die Nerven noch den Überblick. Anfang April hatte sie ihren einundvierzigsten Geburtstag gefeiert, worauf Abel von seinem Blackberry mit dezentem Vibrieren hingewiesen worden war. Zu dieser Zeit hatte er sich noch auf Guadeloupe aufgehalten, der französischen Karibikinsel, auf der seine Zwillinge mit ihrer Mutter Claire Borel lebten. Einer spontanen Eingebung folgend, hatte er Britta Gerlach mit einer SMS kurz und knapp gratuliert, und sie hatte sich ebenso bündig bei ihm bedankt.

»Die Rippenschere bitte, Frau Gerlach.«

Befriedigt registrierte Abel, dass er nichts verlernt hatte. Seine Hände arbeiteten wie von selbst, als er den Herzschrittmacher in der Muskeltasche der vorderen Brustwand freipräparierte. Wie er es aufgrund der CT-Bilder erwartet hatte, hatte der Herzschrittmacher die Explosion ohne sichtbare Schäden überstanden.

Mit traumwandlerischer Sicherheit setzte Abel die Rippenschere an und öffnete mit ein paar raschen Klicks den Brustkorb der Toten. Nachdem er die großen Gefäße, die das Herz im Brustbeutel fixierten, freigelegt hatte, durchtrennte er die Elektroden des Schrittmachers. Er legte das Implantat in ein Plastikschälchen, das die Assistentin bereitgestellt und mit der aktuellen Sektionsnummer beschriftet hatte. Als Nächstes entnahm er mit geübten Griffen erst das Herz und dann beide Lungenflügel, ehe er die Halsweichteile schichtweise freilegte, um Kehlkopf und Schilddrüsen aus der Tiefe des Halses zu schälen.

Britta Gerlach nahm den Herzschrittmacher aus der Schale und säuberte ihn unter dem Wasserstrahl. Währenddessen schnitt Abel die Bronchien der Länge nach auf und registrierte eine massive Blutaspiration, die belegte, dass die Seniorin die Explosion noch kurze Zeit überlebt haben musste. Zeit, genug für ein paar wenige Atemzüge, die ihre Lungen mit Blut gefüllt hatten.

Dann wollen wir doch mal sehen, wie es um die Hüft- und Knieprothesen der alten Dame bestellt ist, dachte Abel.

Schritt für Schritt arbeitete er das Skelettsystem der Toten ab. Dabei verglich er seine Befunde mit den Resultaten der CT-Untersuchung auf dem Monitor neben dem Obduktionstisch. »Rippenserienfrakturen rechts«, sprach er in sein Diktiergerät, »erste bis siebte Rippe in der Medioclavicularlinie. Linksseitig Rippenserienfrakturen erste bis sechste Rippe in der vorderen Axillarlinie. Trümmerfraktur des oberen Drittels des rechten Oberarms sowie Sprengung des Oberarmkopfs und Fraktur des Rabenschnabelfortsatzes mit frisch eingebluteten Zerreißungen der umgebenden Muskulatur des Schultergürtels.«

Nachdem er Hüft- und Knieprothese freipräpariert hatte, war klar, dass die Identität der alten Dame schon bald enträtselt sein würde. Modellart und Seriennummer waren gut lesbar.

Am Sektionstisch neben Abel obduzierte Sabine Yao die zweite Seniorin. Auch die klein gewachsene Deutschchinesin hatte bereits eine künstliche Hüfte mit lesbarer Seriennummer asserviert.

Abel entnahm ein jeweils etwa pflaumengroßes Stück Leber und Oberschenkelmuskel und legte sie in die dafür vorgesehenen Plastikbehälter. Nach der Obduktion würde Britta Gerlach die Proben in das hauseigene kriminaltechnische Labor von Dr. Fuchs bringen, der dort eine routinemäßige toxikologische Screening-Untersuchung durchführen würde.

Während Abel seine Sektionsschürze auszog und im Mülleimer entsorgte, ging ihm durch den Kopf, dass sich die alte Dame ähnlich wie er selbst aus einem tiefen Abgrund herausgearbeitet hatte.

Sie musste erhebliche Schmerzen und Strapazen auf sich genommen haben, um ihrem körperlichen Verfall zu trotzen und auch im fortgeschrittenen Alter noch am Leben teilzuhaben. Ohne all die Wunderwerke des medizinischen Fortschritts, Herzschrittmacher, Knie- und Hüftprothese, hätte sie sich nie mehr auf diese Reise begeben können. Zweifellos hatte auch sie Wochen in einer Reha-Einrichtung verbracht, um zu lernen, sich mit den implantierten Gehhilfen fortzubewegen.

Nachdem sich Abel Hände und Unterarme eingeseift und unter warmem Wasser gründlich gereinigt hatte, griff er sich sein Diktiergerät, nickte der Assistentin zu und ging in den Vorraum des Sektionssaals, um sein Protokoll zu Ende zu diktieren.

Was war wohl der letzte Gedanke der alten Frau, bevor die Bombe explodiert ist?, sinnierte Abel. Dass all die Qualen und Mühen bei OP und Reha umsonst gewesen waren? Dass es sich trotzdem gelohnt hat? Oder hat sie bedauert, dass sie ihre wiedergewonnene Gesundheit durch die Reise aufs Spiel gesetzt hat?

Noch vor einem Jahr hätte er keine Minute auf solche Spekulationen verschwendet. Schon aus schierem Selbstschutz mussten sich Rechtsmediziner, genauso wie Unfallchirurgen oder Psychotherapeuten, davor hüten, allzu viel Anteil an den Schicksalen zu nehmen, mit denen sie es Tag für Tag zu tun bekamen. Doch auch in dieser Hinsicht hatte sich Abel verändert.

Während er den Sektionstrakt verließ, kehrten seine Gedanken zu dem Abend zurück, als er mit seinem ganz persönlichen blinden Fleck konfrontiert worden war. Und fast daran zerbrochen wäre.

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4

Ein Jahr zuvor: Lenthe bei Hannover, vor Dr. Abels Elternhaus, Montag, 13. Juli, 22:43 Uhr

 

 

Nie mehr würde Abel den Augenblick vergessen, als ihm klargeworden war, dass ihn die beiden Schläger nicht nur verletzen und einschüchtern wollten. Sie wollen dich töten, hörte er seine eigene Stimme aus dem Off, während er ein weiteres Mal die alptraumhaften Szenen vor seinem inneren Auge abrollen sah.

Er ist zurück in Lenthe, dem Dorf bei Hannover, in dem er aufgewachsen ist. Gerade eben hat er seinen Audi auf dem Gehweg gegenüber von seinem Elternhaus abgestellt, einen Strauß Rosen in der Hand und eine Flasche Brunello unter dem Arm. Er ist mit seiner Schwester Marlene verabredet, und wieder einmal hat er sich aus beruflichen Gründen verspätet.

Hoffentlich ist sie nicht sauer, weil sie warten musste, denkt er. Schließlich will er sich heute mit ihr versöhnen. Ihren Streit begraben und Marlene von Herzen dafür danken, dass sie ihre bettlägerige Mutter so viele Jahre aufopfernd gepflegt hat. Ich habe einen Sohn und eine Tochter, und du hast plötzlich einen Neffen und eine Nichte, will er zu ihr sagen. Der Tod hat unsere Mutter geholt, aber das Leben hat uns diese Kinder geschenkt. Ist das nicht wundervoll, Tante Marlene?

Es ist spätabends und so dunkel, wie es in der Stadt nicht einmal in tiefster Nacht werden kann. Als neben ihm ein Kleinbus stoppt, nimmt Abel nur schattenhafte Umrisse wahr. Zwei bullige Silhouetten mit Baseballschlägern. Abel wirft sich herum, doch sie drängen ihn gegen den Kleinbus, und dann trifft ihn ein heftiger Schlag am Kopf. Er schreit auf und fällt zu Boden, das Gesicht im Staub des unbefestigten Weges. Sie wollen dich töten.

Der nächste Schlag trifft ihn mit voller Wucht von oben auf den Hinterkopf. Es kracht in seinem Schädel, sein Herzschlag setzt kurz aus und dann stolpernd wieder ein.

Die Haustür auf der anderen Straßenseite fliegt auf, Licht flutet drüben in den Vorgarten. Mein Herz schlägt viel zu schnell, denkt Abel benommen. Dann Marlenes Stimme, sich überschlagend vor Panik: »Um Himmels willen, Fred?« Schritte auf der Straße, gleichzeitig hört er, wie die beiden Schläger miteinander reden. In einer osteuropäischen Sprache, ruhig und selbstbewusst. Während sie in ihren Kleinbus steigen und wegfahren, wird Abel klar, wer die beiden geschickt haben muss.

Er kommt mühsam auf die Knie, doch mehr geht nicht. Seine Beine gehorchen ihm nicht. Er setzt sich hin und betastet seinen Kopf. Im Lichtschein aus dem Haus gegenüber sieht er, dass seine Handflächen blutverschmiert sind. Er wendet den Kopf hin und her und sieht die Blutstropfen, die sich im Schulterbereich dick und dunkel von seinem hellgrauen Sakko abheben.

Er weiß genau, was das bedeutet. Blut läuft mir aus den Gehörgängen. Meine Schädelbasis ist gebrochen. Ab jetzt zählt jede Sekunde. Er braucht sofort einen Notarzt, der mit den entsprechenden Medikamenten gegen die rapide Gehirnschwellung vorgeht. Und danach unverzüglich eine neurochirurgische Notoperation, um das Blut in seinem Schädelinneren zu entfernen. Anderenfalls wird sein Hirnstamm in seinem Schädel gewaltsam in Richtung Rückenmarkskanal verschoben und dort eingeklemmt werden, was zum Tod durch Atemlähmung führt. Zentrale Kreislaufdysregulation, geht es Abel durch den Kopf. Bisher waren das nur zwei Wörter in seinen Sektionsprotokollen, jetzt ist es der Name seines schlimmsten Feindes.

»Marlene«, stößt er hervor. Er nimmt einen Schatten wahr, der sich über ihn beugt. »Hör mir genau zu.« Er kämpft gegen die Bewusstlosigkeit an. Und gegen seine Todesangst. Mit letzter Kraft schärft er ihr ein, dass sie einen Notarzt rufen und am Telefon sagen soll, dass seine Schädelbasis gebrochen ist. »Er muss hier vor Ort eine Hirnödemprophylaxe machen. Und ein Helikopter muss mich in eine neurochirurgische Spezialklinik bringen. Hast du alles verstanden?«

Marlene weint. »Ja, Fred, ja«, hört er, während ihm die Sinne schwinden. Mehrfach wiederholt er noch Hirnödemprophylaxe und neurochirurgische Spezialklinik, aber er ist sich nicht sicher, ob er diese Worte nur noch denkt oder hörbar hervorbringt. Und dann stürzt er in einen Abgrund voll Finsternis.

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5

Ein Jahr zuvor: Berlin-Mitte, neurochirurgische Spezialklinik der Charité, Intensivstation, Dienstag, 21. Juli, 11:13 Uhr

 

 

Als Abel zu sich kommt, liegt er auf der Intensivstation. Sein Schädel ist bandagiert. Aufgetürmte Apparate blinken und piepen. Infusionsschläuche sind über kleine Plastikkanülen mit seinen Armbeugen und seinem Hals verbunden.

Bruchstückhaft kehrt seine Erinnerung zurück. Die beiden Totschläger. Wie er vor ihnen im Dreck lag und sie mit Baseballschlägern auf ihn einknüppelten.

Sie wollten dich töten. Aber du lebst …

Er ist zu benommen und viel zu geschwächt, um Erleichterung zu empfinden. Um irgendetwas anderes zu fühlen als die Nachwirkung des Schocks. Vorsichtig bewegt er die Fußzehen, danach Füße und Beine, um zu testen, ob er bleibende Schäden davongetragen hat.

Was haben sie mit meinem Kopf gemacht? Erneut glaubt er das Krachen in seinem Schädel zu spüren. Sieht wieder die dicken, dunkelroten Blutstropfen auf seinen Schultern. Wie Pfotenabdrücke von ganz kleinen Katzen.

Schädelbasisbruch … Jetzt erst wird ihm die ganze Dramatik des Geschehenen wieder klar.

Liebe, gute Lene, denkt er. Offenbar hat seine Schwester alles so weitergegeben, wie er es ihr aufgetragen hat. Sonst wäre ich jetzt nicht hier. Sondern bei einem Kollegen auf dem Tisch.

Erneut dämmert er weg. Als er das nächste Mal zu sich kommt, sitzt Lisa an seinem Bett. Seine Lebensgefährtin Lisa Suttner, im eleganten grünen Kleid, die kupferroten Haare hängen ihr offen auf die Schultern. Ihre Schönheit, ihr liebevolles Lächeln überwältigen ihn. Neben ihr sitzt Marlene. Hager, verhärmt, ihr Gesicht eine Maske gefrorenen Schreckens.

»Danke, Lene«, bringt Abel hervor. »Tausend Dank.« Seine Stimme klingt kraftlos, fast tonlos.

»Du hast es geschafft, Freddy«, flüstert Lisa und lächelt ihm zu. Ihre grünen Augen glitzern. Sie beugt sich über ihn. Verwundert spürt er die warmen Tropfen auf seinem Gesicht.

Wann hat er Lisa jemals weinen sehen? Die smarte Lisa Suttner, erfolgreiche Spitzenbeamtin bei der Bundesanwaltschaft? Und weshalb weint sie? Aus Freude, weil er wirklich über den Berg ist? Oder aus Kummer, weil er doch irgendeinen schwerwiegenden Schaden zurückbehalten hat? Panisch versucht er, seine Hände zu bewegen, um auch hier seine Nervenverbindungen zu prüfen, und über diesem Versuch schläft er neuerlich ein.

Beim nächsten Erwachen fühlt er sich etwas kräftiger. Wieder sind Lisa und Marlene bei ihm. Seine Schwester erzählt stockend, wie sie am Telefon darum kämpfte, dass der Notarzt mit einem Helikopter kommt. Und dann noch einmal in den Clinch ging, damit er sofort die Hirnödemprophylaxe einleitete. »Er wollte sich erst nichts von mir sagen lassen«, berichtet sie und wird bei der Erinnerung noch bleicher. »Aber irgendwie habe ich es dann doch geschafft, ihn zu überzeugen.«

Sonst wäre ich jetzt tot. Abel greift nach Marlenes Hand. Er spürt, wie ihre Finger sich zwischen seinen bewegen. Was für ein Glück.

»Zum Glück bist du ein Kämpfer, Freddy«, sagt Lisa. Als hätte sie seine Gedanken gelesen.

Diesmal sind es Marlenes Augen, die sich mit Tränen füllen. Und Abel wird klar, dass er noch längst nicht über den Berg ist.

Nach und nach erfährt er weitere Einzelheiten. Nach der Erstversorgung ist er direkt hierhergebracht worden, in die neurochirurgische Klinik der Charité in Berlin-Mitte. Noch in der Nacht des Überfalls war er, zu diesem Zeitpunkt mehr tot als lebendig, einer notfallmäßigen Kraniotomie unterzogen worden, einer operativen Eröffnung des knöchernen Schädeldachs. In einer zweistündigen Operation waren mehrere Hämatome in seinem Hirngewebe entfernt worden. Trotz der sofortigen Hirnödemprophylaxe war die Gehirnschwellung bereits bedrohlich fortgeschritten. Die Ärzte kämpften um sein Leben. Und sie gewannen den Kampf.

Als schließlich feststand, dass er durchkommen würde, begann für Lisa und Marlene das nächste Hoffen und Bangen. Vorsichtshalber wurde Abel in ein künstliches Koma versetzt. Schonend bereiteten die Ärzte sie darauf vor, dass er höchstwahrscheinlich irreparable Schäden davontragen würde. Lähmungen, motorische Ausfallerscheinungen, epileptische Krampfanfälle, Sehstörungen, chronische Kopfschmerzen, Verlust seines Kurzzeitgedächtnisses, Einschränkungen seiner Denk- und Sprechfähigkeit. Die Wahrscheinlichkeit betrug achtzig Prozent.

Acht Tage sind seit dem Überfall, seit der OP vergangen. Erst in den letzten Stunden, während er langsam aus dem Koma geholt wurde, haben die Ärzte Entwarnung gegeben.

»Du musst noch acht bis zehn Tage hier in der Klinik bleiben«, erklärt ihm Lisa. »Sie wollen weitere Untersuchungen durchführen, noch zwei oder drei CTs …«

Abel protestiert. »Blödsinn«, murmelt er. »Ich bin okay.« Im Nachhinein kommt es ihm absurd vor, aber er macht tatsächlich einen Versuch, von seinem Bett aufzustehen. Mit Müh und Not schafft er es, seinen Oberkörper aufzurichten. Dann überkommt ihn ein heftiger Schwächeanfall, der Schweiß bricht ihm aus allen Poren, und er sinkt auf die Matratze zurück.

»Wir haben noch einen langen Weg vor uns«, hört er Lisa nahe an seinem Ohr. »Aber wir schaffen das, so viel ist sicher, Freddy.«

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Auf den dringenden Rat seiner Ärzte hin hat Lisa vorerst darauf verzichtet, Abel von dem Telefonanruf aus der Karibik zu erzählen. Aufregungen aller Art sind Gift für sein Gehirn und Nervensystem. Auch positive Überraschungen können bei Rekonvaleszenten gefährliche Rückschläge auslösen. In seinem fragilen Zustand könnte Abel buchstäblich der Schlag treffen, wenn er erfahren würde, dass eine gewisse Madame Borel aus Guadeloupe bei ihnen zu Hause angerufen hat.

Claire Borel, mit der Abel vor siebzehn Jahren eine so kurze wie heftige Affäre hatte. In seiner Erinnerung ist sie immer die hübsche junge Schwarze geblieben, in die er sich damals, als angehender Rechtsmediziner, leidenschaftlich verliebt hatte. Ihre Liaison dauerte nur drei Tage, ein verlängertes Wochenende in einem Hotel in Paris, wo er seinen Kongress weitgehend versäumte, weil er praktisch ununterbrochen mit Claire im Bett war.

Für Abel war es weit mehr als eine Amour fou, als ein Anfall von erotischer Besessenheit, jedenfalls war er damals fest davon überzeugt. Und Claire ging es wohl genauso, zumindest flüsterte sie ihm immer wieder ins Ohr, dass er die Liebe ihres Lebens sei, l’amour de ma vie, und dass er sie niemals verlassen dürfe, jamais, écoute, chéri, jamais. Dabei wusste sie so gut wie nichts von ihm und er noch weniger von ihr. Nur, dass sie verrückt aufeinander waren und sich blind verstanden. Jung, wie sie beide waren, setzten sie voraus, dass sich dieses gegenseitige Verständnis beliebig erweitern ließ. Von ihrem Hotelzimmer in Paris zu einer Wohnung, einem Haus voller Kinder, einem gemeinsamen Leben.

Tatsächlich schmiedeten sie schon bei ihrem dritten Frühstück Zukunftspläne. Claire wollte mit ihm am nächsten Tag nach Hannover kommen. Sie hatte nur einen Koffer voller Kleider in Paris, eine Staffelei und ein paar Aquarelle; sie war Künstlerin, und Lebenskünstlerin sowieso. Und dann war sie fort.

Ohne Abschied, ohne Vorwarnung, ohne eine Spur zu hinterlassen. Als Abel von seinem Kongress zurückkam, wo er zumindest noch an der Schlussveranstaltung teilgenommen hatte, war Claire Borel verschwunden. Aus dem Hotel, aus der Stadt, aus seinem Leben.

Es fühlte sich an, als hätte sich die Erde unter ihm aufgetan. So etwas hatte er noch nie erlebt, aber das galt für alles, was mit Claire zu tun hatte. Sie war einzigartig, jedenfalls in der wohlgeordneten Welt des jungen Rechtsmediziners, der seine Berufung gefunden und eine genaue Vorstellung hatte, wie sich sein Leben in den nächsten Jahren und Jahrzehnten entwickeln sollte.

Nach ihrem Verschwinden geriet er kurzzeitig aus dem Tritt. Er war wild entschlossen, Claire aufzuspüren und umzustimmen. Sie musste mit ihm kommen, er konnte sich nicht vorstellen, ohne sie zu leben. Verzweifelt wehrte er sich gegen die Einsicht, dass er keine Chance hatte, sie zu finden, wenn sie nicht gefunden werden wollte. Er kannte ihren Namen, Claire Borel, den Duft ihrer schwarzen Haut und ihres krausen Haars. Er kannte ihr Lachen und jedes ihrer Muttermale, aber er wusste weder, wo sie in Paris wohnte, noch von welcher Insel in der Karibik sie eigentlich kam. Martinique, Réunion oder wie sie alle heißen mochten. Ob absichtlich oder nicht, Claire hatte immer nur von ihrer Insel in der Karibik gesprochen, mon île dans les Caraïbes, und Abel hatte nie nachgefragt. Eigentlich hatten sie überhaupt nur wenig miteinander geredet. Ihre Körper hatten gesprochen, ihre Triebe, ihre Hormone, und ihnen beiden den Kopf verdreht.

Abel verlängerte seinen Parisaufenthalt um weitere zwei Tage, aber Claire blieb unauffindbar. Ruhelos zog er durch die Straßen, hastete dann wieder zurück ins Hotel, aus Angst, dass sie vor verschlossener Tür stehen könnte.

Schließlich musste er einsehen, dass sie nicht zu ihm zurückkehren wollte und dass es für ihn keine Möglichkeit gab, ihren Entschluss zu ändern. Er grübelte stundenlang darüber nach, warum sie ihn verlassen hatte. Was hatte er falsch gemacht? Oder hatte sie ihn die ganze Zeit über ihre wahren Absichten getäuscht? Doch das ergab keinen Sinn.

Zuletzt siegte sein nüchternes Naturell über den Wirbelsturm, den Claire in seinem Innern entfacht hatte. Abel fuhr nach Hannover zurück und lebte sein Leben im Großen und Ganzen so weiter, wie er das geplant hatte. Nur Claire Borel, die er kurzzeitig als Bestandteil dieses Lebens angesehen hatte, blieb verschwunden. Er vergaß sie nie gänzlich – auch wenn er immer seltener an sie dachte, seit er Lisa kennengelernt hatte, mit der er seit vielen Jahren in einer harmonischen Beziehung zusammenlebte.

Auf die Idee, dass Claire als Folge ihres Liebeswochenendes schwanger sein könnte, kam Abel in all der Zeit nie. Bis er drei Tage vor dem Mordanschlag eine E-Mail von seinen beiden Kindern, den fünfzehnjährigen Zwillingen Noah und Manon, erhielt, denen ihre Mutter Claire endlich verraten hatte, wer ihr leiblicher Vater war.

Als Abel diese Nachricht bekam, war er – Ironie des Schicksals – zum ersten Mal seit vielen Jahren wieder in Paris gewesen und dem Serienkiller, den er durch halb Europa verfolgt hatte, dicht auf den Fersen. So kam er erst kurz vor der Fahrt zu seiner Schwester dazu, die unverhoffte Botschaft halbwegs zu verarbeiten und seinen Kindern eine lange Antwortmail zu schreiben. Sie wollten ihn so gerne kennenlernen – und er selbst, schrieb er zurück, wünschte sich gleichfalls nicht sehnlicher. Doch unmittelbar danach wurde er von den beiden Totschlägern überfallen, und die Zwillinge, die ihm sofort zurückgeschrieben hatten, bekamen keine Antwort mehr von ihm. Tief verunsichert beknieten sie ihre Mutter, in Berlin anzurufen und ihren Ex zur Rede zu stellen: Weshalb um alles in der Welt hatte er ihnen zuerst liebevoll und enthusiastisch geantwortet und sich anschließend tot gestellt?

Nachdem sie fast zwei Wochen lang vergeblich auf seine Antwort gewartet hatten, ließ sich Claire erweichen und wählte Abels private Telefonnummer, die er Manon und Noah mitsamt seiner Adresse geschrieben hatte. Lisa nahm den Anruf entgegen. Abel hatte ihr die Mail der Zwillinge gezeigt und von seiner so lange zurückliegenden Liebschaft erzählt, trotzdem war es für beide Frauen kein einfaches Gespräch.

Und die Zwillinge bekamen den Schreck ihres Lebens, als sie erfuhren, dass ihr gerade erst gefundener Vater sich nicht vor ihnen tot gestellt hatte, sondern tatsächlich mehr tot als lebendig war.

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In den folgenden Wochen hält Lisa die Zwillinge und ihre Mutter Claire auf dem Laufenden. Allmählich stabilisiert sich Abels Zustand, und schließlich fragt er von sich aus nach Noah und Manon. Da erzählt ihm Lisa, dass sie seit mehr als einer Woche regelmäßig mit seinen Kindern chattet und skypt.

»Und mit deiner Ex«, fügt sie lächelnd hinzu. »Herzlichen Glückwunsch zu deiner karibischen Zweitfamilie, Freddy. Claire und ich haben übrigens schon alles im Groben besprochen: Sobald du wiederhergestellt bist, fliegst du nach Guadeloupe, um deine Kinder kennenzulernen.«

Abel ist überwältigt. Sein psychischer Zustand ist noch immer fragil, er hat seine Gefühle nicht annähernd so unter Kontrolle wie sonst. Wie vor dem Überfall. Er will etwas antworten, doch seine Stimme versagt. Stumm drückt er Lisas Hand.

»Ich komme natürlich mit«, sagt sie und lächelt noch immer. »Oder glaubst du, ich überlasse dich wochenlang den Voodookünsten dieser heißblütigen Inselschönheit? Sie sagt, sie hätte dich damals nur deshalb holterdiepolter verlassen, weil  das aus ihrer Sicht viel zu ordentliche Deutschland ihr Angst eingejagt hat. Sie konnte sich einfach nicht vorstellen, als deine Ehefrau in einem Ort mit dem furchterregend deutschen Namen Hannover zu leben. Aber wenn du allein sie in Guadeloupe besuchen würdest, in ihrem ›karibischen Chaos‹, wie sie das genannt hat – wer weiß, wie mutig sie dann plötzlich würde? Darauf lassen wir es besser nicht ankommen, mein Lieber.«

Abel setzt zu Treueschwüren an, doch Lisa verschließt ihm den Mund mit einem zärtlichen Kuss. »Sie ist wirklich umwerfend. Der reinste Hurrikan. Und deine Kinder habe ich jetzt schon ins Herz geschlossen.«

Sie streicht sich eine Strähne aus der Stirn. Mit einem Mal wirkt sie eine Spur verlegen. Was einer mit allen Wassern gewaschenen Bundesanwältin auch nicht alle Tage passiert. »Weißt du, Freddy, ich hatte mehr als ein Mal ein schlechtes Gewissen«, setzt sie neu an. »Du hast immer respektiert, dass ich um meiner Karriere willen keine Kinder haben möchte. Und auch deshalb liebe ich dich: weil du so großherzig und selbstlos sein kannst. Und jetzt mit einem Mal, wie durch ein Wunder, bekommen wir das alles unter einen Hut!«

Lisa strahlt ihn an. Er nimmt sie in die Arme und fühlt sich kräftiger, lebendiger als seit Wochen.

»Keine Ahnung, ob ich zur Zweit- oder Ersatzmutter tauge«, fährt sie fort. »Aber ich verspreche dir, ich werde mein Bestes geben, damit sich die Zwillinge bei uns wohl fühlen. Sie wollen möglichst bald nach Berlin kommen, nachdem wir bei ihnen in Guadeloupe waren. Und von mir aus können sie gerne kommen und so lange bei uns bleiben, wie sie wollen.«

Die behandelnden Ärzte registrieren verwundert, dass es mit Abels Gesundung von diesem Tag an steil bergauf geht. Ihre Therapiemethoden sind die gleichen wie vorher, aber nachdem es lange Zeit eher zäh voranging, scheint Abel plötzlich den Regenerationsturbo gezündet zu haben.

Genau neunundzwanzig Tage nachdem er vor seinem Elternhaus zusammengebrochen ist, verlässt Abel die neurochirurgische Klinik. Auf eigenen Füßen, auch wenn er insgeheim froh ist, dass Lisa ihn untergehakt hat. Und dass es nur wenige Schritte sind vom Lift bis zu dem Krankentransportwagen, der ihn in die Reha im brandenburgischen Rheinsberg bringen soll.

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