Die Taten der Toten

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Inhaltsverzeichnis

Harry Houdini

Sie trat mit aller Kraft in die Pedale und spürte die warme Luft in dem mit Sommersprossen übersäten Gesicht. Der Fahrtwind griff nach den Zöpfen und zupfte an ihnen, die schmale Brust spannte vor Anstrengung und Stolz. Im Vorjahr hatte sie das Fahren ohne Stützräder gelernt, nun fühlte sich Pippi – so wurde sie von den anderen Kindern gerufen – auf dem blau lackierten Rad mit der Dreigangschaltung sicher. Sie gehörte nun nicht mehr zu den Kleinen, den Popelfressern und Hosenscheißern, die den Garten, die Auffahrt oder den einsehbaren Abschnitt der Straße vor dem Haus nicht verlassen durften. Pippi gehörte endlich zu den Großen. Ihre Eltern hatten ihr erlaubt, die langen Sommertage mit den Nachbarskindern aus der Siedlung im nahen Wald zu verbringen, sie kannte das Losungswort für das

Sie nutzte das Gefälle des Waldwegs, um vor der lang gestreckten Biegung noch einmal an Fahrt aufzunehmen. Sie schoss durch die Kurve, steuerte konzentriert an den Baumwurzeln vorbei und wartete auf das Kribbeln im Bauch, das sich jedes Mal einstellte, wenn sie die schwierige Stelle gemeistert hatte, das Fahrrad ausrollen ließ und schließlich auf der Lichtung zum Stehen kam. Den dichten Wald hinter sich zurückzulassen, war wie aus einem Tunnel ins Licht zu fahren. Sie stieg ab und ließ das Rad ins Gras fallen. Die hoch stehende Sonne zwang sie zu blinzeln, zweimal, dreimal, dann hatten sich die Augen an die Helligkeit gewöhnt. Während sie auf die ausladende Eiche zuging, die in der Mitte der Lichtung thronte und auf der sich das Baumhaus befand, bemerkte sie, dass außer ihrem kein weiteres Fahrrad im Gras lag. Weder Victorias Monark mit den fehlenden Speichen noch Daniels BMX noch das Rad eines der anderen Kinder. War sie heute tatsächlich die Erste, die nach dem Mittagessen hier herausgekommen war? Unsicher warf sie einen Blick auf die neue Quarzuhr am Handgelenk. Die Ziffern zeigten 12:55 an, fünf vor eins bedeutete das, aber ob das nun früh war oder spät, vermochte sie nicht zu beurteilen. Dass sie als Erste auf der Lichtung eintraf, war jedenfalls noch nie vorgekommen, die Situation war so neu und aufregend wie vieles in diesem Sommer. Sie entschloss sich, auf die anderen zu warten, was blieb ihr auch anderes übrig? Oben im Baumhaus hatte sie ein altes Kartenspiel

Die Silhouette eines Mannes löste sich aus dem Schatten der Eiche. Sie blieb sofort stehen, der Schreck brachte ihr Herz zum Klopfen. Wo kam der Mann so plötzlich her? Was wollte er hier? Dies hier, das war ihr Platz, ein Ort für Kinder, das Bandenbaumhaus. Ein Erwachsener gehörte hier nicht hin, etwas war falsch an der Situation, das spürte sie intuitiv und mit einer Eindringlichkeit, die ihr Angst machte.

»Hej«, sagte der Mann und hob lächelnd eine Hand.

»Hej«, entgegnete sie und musterte ihn. Er war alt, älter jedenfalls als Papa oder die Väter der anderen Kinder, aber er sah nicht unfreundlich aus. Die Art, wie er einige Meter vor ihr stand und unbeholfen winkte, hatte etwas Scheues an sich. Trotzdem blieb sie auf der Hut.

»Ich heiße Rune«, sagte der Mann und lächelte noch ein Stück breiter, bevor er seine Hand sinken und in der Hosentasche verschwinden ließ. »Und wer bist du, wenn man fragen darf?«

Er konnte sogar mit den Augen lächeln. Sie entspannte sich etwas.

»Pippi«, sagte sie. Aus einem Grund, den sie nicht hätte in Worte kleiden können, fühlte es sich richtig an, nur ihren Spitznamen preiszugeben.

Der Mann, der Rune hieß, lachte.

»Natürlich«, sagte er, »deine Haarfarbe, die Zöpfe, die Sommersprossen: Ich hätte selbst darauf kommen können. Und?«, fragte er schelmisch, »hast du deinen Affen und dein Pferd dabei?«

»Nur mein Fahrrad«, antwortete sie ernst. »Es liegt dort drüben.« Sie drehte sich um und wies mit einer vagen Geste auf den Rand der Lichtung. Als sie sich wieder dem Mann

Wieder lachten Runes Augen. Wie machte er das bloß?

»Tommy und Annika, richtig?«

Sie schüttelte energisch den Kopf.

»Nein, Victoria und Daniel. Malin und Linda. Henrik und vielleicht auch sein kleiner Bruder«, zählte sie auf.

»Ich hab auch nur Quatsch gemacht«, sagte Rune. »Wo du doch Pippi heißt.«

Sie überlegte, ob sie ihm doch ihren richtigen Namen nennen sollte. Dann fiel ihr etwas anderes ein.

»Hast du dich verirrt?«, fragte sie.

»Ja, genau, ich bin im Wald spazieren gegangen und habe mich verlaufen«, sagte Rune und kratzte sich verlegen am Kopf. Dann holte er aus der hinteren Hosentasche eine gefaltete Landkarte und begann sie aufzuklappen. »Schau mal hier, vielleicht kannst du mir ja den Weg zeigen.«

Sie war sich unsicher, ob sie dem Mann, der Rune hieß, helfen konnte. Natürlich wusste sie, was eine Landkarte war, Mama benutzte sie manchmal und gab Papa Anweisungen, wenn sie alle zusammen mit dem Auto unterwegs waren. Aber wie man aus dem Gewusel der vielen farbigen Linien erkennen sollte, wo es langging, war ihr nicht ganz klar.

»Ich weiß nicht …«, sagte sie, beäugte die Karte, schaute wieder zu ihm auf, suchte und fand das Lächeln in seinen Augen, bevor sie endlich einige Schritte auf ihn zutrat.

Die Hand, die gerade noch die Karte gehalten hatte, schnappte plötzlich nach ihrem Arm. Ihr entfuhr ein Schrei. Die Karte segelte zu Boden. Der Mann, der Rune hieß, riss sie an sich. Das Lächeln in seinen Augen war mit einem Mal verschwunden. In der anderen Hand war wie aus dem Nichts

»Ruhe!«, zischte er.

Sie biss die Zähne zusammen, ihr Körper zitterte. Sie spürte die Spitze des Messers auf der Haut an ihrem Hals. Ich sterbe, dachte sie, jetzt sterbe ich, weil er ein Loch in mich hineinmacht, aus dem alles Blut aus mir herausläuft, bis ich tot bin.

Dann ging alles ganz schnell, eine einzige, fließende Bewegung. Er ließ das Handgelenk los und griff im selben Moment nach einem ihrer Zöpfe. Das Messer verschwand von ihrem Hals und schnitt durch ihr Haar. Ein knirschendes Geräusch, direkt über dem linken Ohr. Kurz tat es weh, dann war es vorbei. Sie starrte auf den Zopf, der aus seiner Faust baumelte. Wie fremd, wie unvertraut er aussah, dort, in seiner Hand. Wie ganz und gar falsch. Der Mann hatte ein Stück von ihr abgeschnitten. Er grinste. Sie schluckte. Die Angst hockte wie ein Kropf in ihrem Hals, noch immer hatte er das Messer in der Hand. Aber da war nun auch noch ein anderes Gefühl.

Etwas Starkes.

Eine weiß lodernde Wut.

»Nein!«, schrie sie und trat nach ihm, so fest sie konnte. »Nein!«

Der Schlag traf sie so heftig gegen die Schläfe, dass sie das Bewusstsein verlor.

Die Pension war eine heruntergekommene Absteige: die Matratze durchgelegen, die Vorhänge fadenscheinig, der Linoleumboden stumpf und rissig. Der Mann hatte es gleichgültig zur Kenntnis genommen, geschlafen hatte er trotzdem gut. Mechanisch schaufelte er nun das Frühstück in sich hinein, Haferbrei mit Milch und Preiselbeermarmelade, dazu gab es dünnen Kaffee. Gleichzeitig blätterte er in einer wochenalten Illustrierten und musterte über den Rand hinweg die anderen Gäste im Speiseraum. Es waren ausschließlich Männer, Monteure in derber Arbeitskleidung und Vertreter in schlecht sitzenden Anzügen, er bezweifelte, dass sich später irgendjemand an ihn würde erinnern können. Er trank den Kaffee aus, klappte die Zeitschrift zu, legte sie neben das Frühstücksgeschirr und ging zurück auf das kleine Zimmer. Nachdem er sich rasiert, frisch gemacht und die Zähne geputzt hatte, holte

Eine Stunde döste er auf diese Weise dahin, dann stand er endgültig auf. Draußen war es kalt, weit unter null Grad, und der Tag würde aller Voraussicht nach lang werden. Also zog er Wollsocken an, eine lange Unterhose, Jeans, einen Norwegerpulli, gefütterte Winterstiefel. Darüber würde er eine weite Steppjacke tragen, die die Waffe im Schulterholster ebenso verbarg wie das Walkie-Talkie. Sicherheitshalber überprüfte er die Batterie, bevor er es einsteckte. Sie war voll, der Akku hatte die ganze Nacht geladen. Er verstaute das Funkgerät samt Ersatzbatterie in der Innentasche der Jacke. Er band sich das Holster um und steckte die wuchtige Waffe ein. Alles, was er unterwegs nicht benötigte, kam in den Seesack. Als Letztes zog er die Jacke, Lederhandschuhe und eine Mütze mit Ohrenklappen an. Mit einem Handtuch wischte er über alle Oberflächen und die Türklinken, auch wenn das wahrscheinlich überflüssig war – je weniger Spuren er hinterließ, desto besser. Er ging aus

Um 11.17 Uhr nahm er die U-Bahn zum Hauptbahnhof. Dort verstaute er den Seesack in einem Schließfach. In einem nahe gelegenen Stehcafé trank er einen Kaffee und aß dazu Plundergebäck, anschließend rauchte er eine Zigarette und durchblätterte die Tageszeitung, die jemand an seinem Tisch liegen gelassen hatte. Politik und Wirtschaft interessierten ihn genauso wenig wie der Kulturteil. Er vertiefte sich in die Eishockey-Ergebnisse und eine Reportage über Doping in den Ostblockstaaten. Anschließend machte er einen Spaziergang. Er hielt sich nordöstlich und schlenderte durch den Vasaparken. Es war noch früh, der Einsatz war für die Abendstunden geplant. Trotzdem sollte er ab Mittag in Bereitschaft sein. Als kein Passant in der Nähe war, blieb er vor einer der reifüberzogenen Gottfrid-Larsson-Skulpturen stehen und holte das Funkgerät heraus. In einem kurzen Gespräch wurde ihm bestätigt, dass die Lage noch ruhig sei. Die Zielperson würde aller Voraussicht nach den Arbeitsplatz den Nachmittag über nicht verlassen. Er steckte das Walkie-Talkie ein und sah auf die Armbanduhr. Es war 13.24 Uhr. Sein Atem bildete in der feuchtkalten Luft Wolken. Er entschied, den Nachmittag im Kino zu verbringen. Dort war es warm und niemand würde von ihm Notiz nehmen. Nicht weit vom Park entfernt stieß er auf ein Kino, das um 14 Uhr »Jenseits von Afrika« zeigte. Er hatte den Film noch nicht gesehen, außerdem spielte Robert Redford mit, warum also nicht? Außer zwei älteren Damen war er der einzige Besucher der Vorstellung.

Als er aus der Hitze Kenias zurück in den schwedischen Winter trat, war es 17.02 Uhr und dämmerte bereits. Der Verkehr war nun dichter, die Bürgersteige voll von Menschenmassen, die von den Bürotürmen der Innenstadt ausgespuckt wurden. Er zog sich erneut in den Vasaparken zurück. Hier begegneten ihm nur vereinzelt Spaziergänger sowie der ein oder andere Jogger, der sich

An einem Imbissstand am Sveavägen machte er eine Pause und bestellte sich zwei Brühwürstchen mit Kartoffelmus und einen Becher Tee. Die Mahlzeit war belebend und half gegen die schneidende Kälte. Er spazierte weiter, überquerte auf der Riksbron den Lilla Värtan, passierte das Parlamentsgebäude und gelangte über die Stallbron in die Altstadt. Man merkte, dass Freitagabend und noch dazu Zahltag war: Die Kneipen, Bars und Restaurants füllten sich mit erlebnishungrigem Volk. Er ließ sich durch die engen Kopfsteinpflasterstraßen treiben, achtete aber darauf, sich nicht allzu

Er bog links ab, beschleunigte den Schritt, bog wieder ab und wieder, bis er sich in einem unbeleuchteten Hinterhof befand. Hier wagte er es, das Funkgerät zur Hand zu nehmen und seine Beobachtung zu melden. Er wurde gebeten, zu warten. Im Kopfhörer knackte und rauschte es. Eine Minute verging, zwei. Dann kam der überraschende Befehl: abrücken! Er sollte das Gebiet augenblicklich verlassen und sich stattdessen in die Nähe des Grands begeben. Er stutzte. Es kam nicht infrage, sich der Anordnung zu widersetzen. Aber ihm war zugesichert worden, im Rahmen der Missionsparameter freie Hand zu haben. Stattdessen schickte man ihn aus der roten Zone und befahl ihm, zu warten. Das war nicht das, was er sich unter Kontrolle vorstellte. Der Handlungsspielraum seines Plans hatte sich halbiert. Und das nur, weil die Einsatzleitung nervös geworden war, überlegte er. Bei dem Beobachtungsposten in der Västerlånggatan musste es sich also um einen Personenschützer handeln, den niemand auf dem Radar gehabt hatte.

In einer Seitenstraße, drei Blocks entfernt, fand er eine gut gefüllte Kneipe. Kurz zögerte er, dann trat er ein. Das entsprach eigentlich nicht seinem selbst auferlegten Protokoll. Ich habe ein Allerweltsgesicht, beruhigte er sich, niemand wird sich an mich erinnern können. Ich bin nur irgendein Mann, der ein Bier trinkt.

Als seine Armbanduhr 22.40 Uhr anzeigte, raffte er sich auf. Am Ende waren es drei Bier geworden. Scheiß drauf, dachte er. Er fühlte sich wach und konzentriert. Als er aus der lärmenden Kneipe trat, griff die Kälte nach seinem Gesicht. Das schärfte seinen Fokus zusätzlich. Um 22.47 Uhr kam er vor dem Grand an. Auf dem Sveavägen herrschte noch immer Autoverkehr, wenn auch nicht mehr so rege wie vor drei Stunden. Er wechselte die Straßenseite, um einen besseren Überblick zu haben. Aus dem Schatten eines Reklameschilds heraus beobachtete er den Eingang des Kinos. Irrte er sich, oder stand vor der Glasscheibe des Foyers derselbe Mann, den er in dem dunklen Ladeneingang in der Västerlånggatan gesehen hatte? Eine Traube von Menschen drängte heraus. Den Mann konnte er nun nicht mehr sehen. Zinnober jedoch auch nicht. Leute verabschiedeten sich voneinander, gingen in verschiedene Richtungen davon. Der Bürgersteig leerte sich allmählich. Immer noch keine Spur von der Zielperson. Er spürte die Anspannung. Was, wenn Zinnober überhaupt nicht ins Kino gegangen war? Aber dann hätte der Funk sich in jedem Fall bei ihm gemeldet. Ein zweiter Schub Menschen kam aus dem Foyer. Da! Er hatte Sichtkontakt zur Zielperson. Sie trug eine dunkle Fellmütze und einen Wintermantel. Daneben die Ehefrau, er kannte sie ebenfalls von Fotos. Das junge Paar, das bei ihnen war, mussten Sohn und Verlobte sein. Jetzt standen sie vor dem Kino und unterhielten sich. Die junge Frau

Sekunden später zerriss ein Schuss die eisige Luft, unmittelbar darauf folgte ein weiterer. Olof Palme ging zu Boden, Lisbeth Palme schrie auf. Er steckte die Waffe weg und rannte in die enge Tunnelgatan, an Baubaracken vorbei, die Treppenstufen zur Malmskillnadsgatan hinauf und in die David Bagares gatan hinein, bis sich seine Schritte in der Dunkelheit verloren.

Schweden, 2019

1

Um kurz nach drei Uhr morgens öffnete Kommissarin Stina Forss vorsichtig das Fenster im ersten Stock auf der Rückseite des Hotels. Der heftige Herbstwind wirbelte Blätter ins Zimmer, im Schein der Außenbeleuchtung schimmerten sie fahl auf dem dunklen Teppichboden. Sie hörte die Wellen des Helgasees, die sich am nahen Strand brachen. Die Kronen der Bäume rauschten. Dann wuchtete Forss die Tasche aus dem Fenster und ließ sie auf den regennassen Sand fallen, anschließend kletterte sie selbst auf die Fensterbank und sprang. Der Aufprall schmerzte so stark, dass sie nach Luft rang. Sie fasste sich an den Brustkorb. Es war noch nicht lange her, dass der mehrfache Rippenbruch und die Lungenverletzung verheilt waren. Nach einer halben Minute hatte sie die Schmerzen so weit unter Kontrolle, dass

Beide Hände an der Automatik, die Arme angewinkelt, ging sie den sich schlängelnden Weg entlang auf den kleinen Waldsee zu, an dem das Haus lag. Ihr Vater hatte es ihr vor Jahren vermacht. Das Haus, die Narben an ihrem Hals und eine Bürde, die sie drohte, in den Abgrund zu reißen.

Papa, wirklich? Du? Von allen Menschen in der Welt, du?

Sie wollte es noch immer nicht glauben, obwohl doch so vieles dafür sprach, nicht nur der Überfall auf sie.

Das Haus kam in Sichtweite. Obwohl der Himmel noch immer bedeckt war und sie keine Sterne ausmachen konnte, war es jetzt heller. Sie kannte diesen Effekt. Es war, als würde der Waldsee etwas von dem Licht absondern, das er über den Tag hinweg gesammelt hatte. Die Auffahrt war leer, ihr BMW stand wahrscheinlich immer noch in der Garage. Sie kam näher. Von einer Überwachung keine Spur. Aber wenn jemand mit einem Infrarotfernglas im Wald säße, hätte sie

Das, weswegen sie hierhin zurückgekehrt war, befand sich woanders. Wenn es überhaupt noch da war. Natürlich hatten ihre Kollegen und ein Spurensicherungsteam das Haus nach dem Überfall auf den Kopf gestellt. Der Staatsschutz war mit eigenen Leuten dagewesen. Und weiß der Teufel wer noch. Sie konnte nur hoffen, dass sie alle nicht gründlich genug gesucht hatten. Sie ging zu dem Brunnen, der zwischen dem Haus und dem Geräteschuppen lag. Es war ein klassisch gemauerter Ziehbrunnen mit geschreinerter Winde, auf den

Du hast es mir vermacht, Papa.

Dann hast du es mir wieder weggenommen.

Ein Gedanke streifte sie. Galt das nicht im Grunde für ihr ganzes Leben? Nein, entschied sie. Nicht, solange sie sich noch wehren konnte.

Auch das hab ich von dir gelernt.

Eine bittere Lektion. Sie schluckte. Ihr Brustkorb schmerzte von der Anstrengung. Es war Zeit, wegzukommen. Sie setzte sich in den Wagen, ließ den Motor an und gab Gas.

Wie vereinbart, wartete Oleg auf dem dortigen Supermarktparkplatz. Er war ein alter Freund aus Berlin. Vor Urzeiten hatte sie ihn wegen eines Betrugsdelikts festgenommen, später war er eine Zeit lang ihr Informant und Grasdealer gewesen, irgendwann hatten sie sich angefreundet. Es war Jahre her, dass sie sich gesehen hatten. Trotzdem war er da, wenn sie ihn brauchte. Zur Begrüßung drückte er sie an sich. Ihr wurde bewusst, wie lange sie keine körperliche Nähe mehr gespürt hatte. Unbeholfen befreite sie sich aus der Umarmung. Es tat gut, Oleg zu sehen. Er trug jetzt einen Bart und sah wie ein Seemann aus.

»Michaela grüßt dich. Und die Kinder auch.«

»Danke.«

Sie lächelte unsicher.

Dass Oleg verheiratet war, hatte sie vollkommen vergessen. Sie war der Einladung zur Hochzeit nicht gefolgt, hatte noch nicht einmal eine Karte geschrieben. Das Pflegen sozialer Beziehungen gehörte nicht gerade zu ihren Stärken.

Sie luden die Schuhkartons in Olegs Transporter. Anschließend stieg er zurück in den Transporter und fuhr los, sie ging über den Parkplatz in den Supermarkt und besorgte sich einen Kaffee und ein Brötchen. Als sie ihr Frühstück beendet hatte, schlenderte sie zurück zu dem gestohlenen Wagen und machte sich ebenfalls auf den Weg zum nahe gelegenen Fähranleger. Die Frau hinter der Scheibe der Baracke, die Fahrkarte und Ausweis kontrollierte, musterte sie

Die Nils Holgersson legte um zehn Uhr ab. Forss duschte heiß und zog sich frische Sachen an. Anschließend ging sie in den Bordladen und kaufte eine Flasche Wodka. Sie war sich sicher, dass der Verkäufer sie ebenfalls zur Kenntnis nahm. Eine Frau Ende dreißig mit Augenklappe sah man nicht so oft. Zurück in der Kabine legte sie sich aufs Bett und schlief ein. Als der Wecker klingelte, den sie auf eine Stunde vor Ankunft gestellt hatte, zog sie sich erneut um, verstaute ihre widerspenstigen rotbraunen Locken unter einer blonden Perücke, schlüpfte in High Heels, nahm die Augenklappe ab und setzte eine verspiegelte Sonnenbrille auf. Sie leerte die Wodkaflasche zur Hälfte im Waschbecken, verstreute einige Kleidungsstücke in der Kabine und legte eine leere Packung Diazepam neben die halb leere Flasche. Dann lauschte sie an der Tür, schlüpfte in den menschenleeren Flur und begab sich pünktlich zum Einlaufen der Fähre im Rostocker Hafen aufs Autodeck, wo sie zu Oleg in den Transporter stieg. In einer Karawane von Lkws fuhren sie von Bord. Der Zoll kontrollierte sie nicht. In Güstrow fuhr Oleg auf den Parkplatz eines Baumarkts. OBI. Der Anblick des orange-schwarzen Bibers löste etwas in ihr aus, womit sie nicht gerechnet hatte: Heimweh. Sie war seit über zwei Jahren nicht mehr in Deutschland gewesen. Dabei hatte sie hier den Großteil ihres Lebens verbracht. Als siebenjähriges Mädchen war sie gemeinsam mit ihrer deutschen Mutter hierhergekommen. Auf der Flucht vor dir und deinen Schlägen, Papa. Vor einigen Jahren war sie nach Schweden, in das Land ihrer frühen

Stina Forss und ihren Vater verband eine denkbar schwierige Beziehung, und sie hatte die vage und schließlich auch vergebliche Hoffnung gehabt, die Dinge zwischen ihnen ins Reine zu bringen. Und jetzt bin ich erneut auf der Flucht, und wieder ist es deinetwegen.

»Alles in Ordnung, Stina?«

Sie ließ nicht zu, dass Tränen kamen.

»Ja«, sagte sie und lächelte schief. »Danke. Für das alles hier. Ich weiß, dass es keine Selbstverständlichkeiten sind.«

»Eine meiner leichtesten Übungen.« Er zwinkerte ihr zu. »Die Augenklappe steht dir ausgezeichnet, Tanja Petrow.« Er reichte ihr den gefälschten Pass, eine Kreditkarte und ein Handy.

Sie stiegen aus.

Oleg hatte neben einem rostigen Passat geparkt. Er schloss den Wagen auf und öffnete den Kofferraum. Gemeinsam luden sie die Kartons ein weiteres Mal um, dann reichte er ihr die Autoschlüssel.

»Optisch macht der Wagen nicht viel her, aber auf den Motor kannst du dich verlassen.«

»Noch einmal tausend Dank, Oleg.«

»Quatsch mit Soße.«

Sie drückten einander zum Abschied, dann stieg er in den Transporter und fuhr in den diesigen Herbstabend davon, sie machte sich mit dem Passat auf den Weg nach Travemünde. Oleg hatte ihr ein Hotel am Lübecker Stadtrand gebucht. An der Rezeption probierte sie den neuen Namen aus. Er ging ihr leicht über die Lippen, wie die meisten Lügen. »Sind Sie beruflich in der Stadt?«, fragte der junge Hotelangestellte.

Sein anzügliches Grinsen war ein Zeichen dafür, dass er ihr den Blödsinn genauso abnahm wie die wasserstoffblonde Perücke und die verspiegelte Sonnenbrille. Auf ihrem Zimmer nahm sie ein langes Bad, dann ließ sie sich vom Service ein Schnitzel mit Bratkartoffeln und ein großes Bier bringen. Anschließend zappte sie aus Nostalgie eine Weile durch deutsche Sender. Die Fähre nach Helsinki ging um drei Uhr morgens.