Kai Meyer
Die Seiten der Welt
Nachtland
FISCHER E-Books
Kai Meyer, geboren 1969, ist einer der wichtigsten deutschen Phantastik-Autoren. Er hat über fünfzig Romane veröffentlicht, Übersetzungen erscheinen in dreißig Sprachen. Seine Geschichten wurden als Film, Hörspiel und Graphic Novel adaptiert und mit Preisen im In- und Ausland ausgezeichnet.
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Erschienen bei FISCHER E-Books
Copyright © 2015 by Kai Meyer
Copyright Deutsche Erstausgabe © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2015
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Michael Meller Literary Agency GmbH, München
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ISBN 978-3-10-402949-8
Schon seit Wochen roch Furia nach Büchern: Sie war auf dem besten Weg, eine erstklassige Bibliomantin zu werden.
Ihre sommersprossige Haut duftete nach Papier und Buchbinderleim, ihr langes blondes Haar nach Druckerschwärze. Sie hatte diesen Geruch geliebt, seit sie ein Kind gewesen war, aufgewachsen in Salons und Sälen voller Bücher. Man hätte meinen können, sie hätte den Duft ihrer Umgebung angenommen. Stattdessen aber ging er von ihrem Körper aus, so als wäre sie selbst zu einem Buch geworden.
Sogar jetzt, im Freien, konnte sie ihn riechen.
Sie kauerte an der niedrigen Ummauerung eines Flachdachs, hoch über den engen Gassen von Libropolis. Zahllose Rauchsäulen standen am grauen Himmel über der Stadt der verschwundenen Buchläden, schienen wie Kletterpflanzen in den Ziegelschloten der Häuser zu wurzeln. Vor Furia lag ein dreigeschossiger Abgrund. Exlibri aus aller Herren Bücher drängten sich dort unten über den Schwarzmarkt des Ghettos.
»Bist du sicher, dass du das hinbekommst?«, fragte Isis Nimmernis. Die ehemalige Agentin der Adamitischen Akademie kniete neben Furia und spähte hinab in die Gasse.
»Summerbelle hat mich gut trainiert.«
»Summerbelle«, sagte Isis geringschätzig, »mag eine begabte Bibliomantin sein. Aber das hier wird womöglich schlimmer als alles, was sie bei den Bardenbrüdern erlebt hat.«
»Sie behauptet was anderes.«
»Sie gibt nur an.«
Furia warf Isis einen Seitenblick zu. »Wirklich, ich schaff’ das schon.«
Isis verzog einen Mundwinkel, aber ihre Mimik wirkte ebenso erschöpft wie alle ihre Bewegungen in den letzten Stunden. Sie hatte neue Fältchen an den Augenwinkeln: eines für jeden der sechs Monate, die seit ihrem Kampf mit der Umgarnten vergangen waren. Ihr helles Haar war straff zu einem Pferdeschwanz gebunden, die Härchen auf ihren Unterarmen fast durchsichtig. Sie war eine schöne Frau Mitte dreißig, aber die Härte in ihren Zügen hatte sie vorzeitig altern lassen, erst recht, seit sie die Seiten gewechselt und sich dem Widerstand gegen die Akademie angeschlossen hatte.
Auch jetzt lag wieder Sorge in ihrem Blick. Offenbar kreisten ihre Gedanken um das, was sich unten in der Gasse tat. Oder, besser, gerade nicht tat.
»Es hätte längst losgehen müssen«, murmelte sie. »Finnian ist zu spät dran.«
»Er kann nichts unternehmen, solange die Buchegel nicht schlüpfen«, entgegnete Furia mit gerunzelter Stirn. Sie hatte das Gefühl, Finnian in Schutz nehmen zu müssen, nach allem, was er während der letzten drei Monate in Kauf genommen hatte.
Hirudo librorum, der gemeine Buchegel, war ein gefräßiger Verwandter des Buchwurms vermis librorum. Gnade der Bibliothek, die er als Mahlzeit erkor. Vor Wochen hatte Finnian mehrere tausend Eier in dem Gebäudekomplex auf der anderen Straßenseite verteilt. Heute war der Tag, an dem die Buchegel schlüpfen würden. Der eintägige Lebenszyklus der winzigen Parasiten ließ sich auf die Minute genau berechnen, vorausgesetzt, man kannte den exakten Zeitpunkt, an dem ihre Eier gelegt worden waren. Dahingehend hatten Furia und Finnian sich auf die Angaben des gierigen kleinen Mannes verlassen müssen, der die Egel in einem der tieferen Refugien züchtete. Er hatte keine Fragen gestellt, lediglich seine üppige Bezahlung eingestrichen und war im Gedränge des Basars untergetaucht, auf dem die Transaktion stattgefunden hatte.
Wären seine Informationen korrekt gewesen, hätte hirudo librorum vor neun Minuten schlüpfen müssen. Alles war vorbereitet, jeder auf seinem Posten, um das bevorstehende Chaos auszunutzen. Nur dass das Chaos nicht ausbrechen wollte.
Isis ließ durch keine Regung erkennen, ob ihr Zweifel an der Mission kamen. Was daran liegen mochte, dass die Erfolgschancen von vornherein bescheiden waren. Furia wusste so gut wie sie, dass die Sache böse enden konnte, noch ehe sie begonnen hatte. Das war ihnen allen von Anfang an klar gewesen, Furia und Isis ebenso wie Cat und Summerbelle. Und natürlich Finnian, der das größte Risiko trug.
Über dem Gassengewirr des Ghettos hing wabernder Lärm. Zahllose Stimmen vermischten sich mit dem Scharren der Schritte auf dem Pflaster, dem Schlagen von Türen und Fenstern, den Fahrradklingeln und klappernden Pferdehufen. Im Ghetto der Exlibri fuhren nur wenige motorisierte Gefährte, dann und wann ein Moped, noch seltener ein Transporter. Schob sich doch mal einer durch die dichtbevölkerten Straßen, dann war es ein dreirädriger Piaggio, gerade schmal genug, um sich in den engen Schneisen nicht zu verkeilen.
In der Gasse unterhalb des Beobachtungspostens, den Furia und Isis bezogen hatten, verteidigten fliegende Händler unerbittlich ihre Plätze. Auf dem Schwarzmarkt gab es alles, was sonst nur selten den Weg ins Ghetto fand. Viele Exlibri waren bereit, ihren kargen Monatslohn für Parfüm und Kosmetik, Modeschmuck und Zigaretten auszugeben. Besonders umlagert waren die Verkäufer von alten Videokassetten mit Literaturverfilmungen. Exlibri liebten Filme, die auf Romanen basierten, aus denen sie selbst einst gefallen waren. Nichts amüsierte sie mehr als ein Schauspieler, der jemanden spielte, den sie wiedererkannten. Da digitale Medien in den Refugien nicht funktionierten – hier gab es weder Computer noch Speicherdiscs –, behalf man sich mit antiken Röhrenfernsehern und mechanischen Videorekordern der ersten Generation. Besaß jemand beides, scharten sich ganze Nachbarschaften um den Bildschirm und schauten sich unter schallendem Gelächter staubtrockene Buchadaptionen an.
Isis blickte ungeduldig auf ihre Armbanduhr, dann zum verhangenen Himmel. »Das ist nicht gut.« Buchegel schlüpften nur bei Tageslicht, und es war bereits gefährlich düster geworden.
Sie hatten die dunklen Kapuzenmäntel über sich gebreitet, um sich vor Blicken aus der Luft zu schützen. Auf der anderen Seite der Gasse erhob sich ein verschachtelter Komplex aus Gebäuden. Anbauten waren in alle Richtungen gewuchert: solide Ziegelklötze, Bretterschuppen auf den Dächern, sogar Türme mit Schießscharten. Marduk, der gefährlichste Unterweltboss des Ghettos, hatte den ganzen Block in eine Festung verwandelt, dann einen zweiten und schließlich einen dritten Straßenzug in seinen Besitz gebracht. Außerhalb des Ghettos wäre es undenkbar gewesen, die pittoreske Architektur von Libropolis durch Neubauten zu zerstören – die ganze Stadt ähnelte einem englischen Dorf voller Sprossenfenster und Erker –, doch darum scherte Marduk sich nicht: Er hatte weite Teile der hinteren Blocks niederreißen und Hallen aus roten Ziegelsteinen errichten lassen, mitten im Zentrum seines Reiches. Furia konnte von hier aus nur die Dächer sehen, eines hinter dem anderen, aneinandergereiht wie gewaltige Containerschiffe in einem Hafen. Und ausgerechnet dort lag ihr Ziel, in der letzten der drei großen Hallen. Der einzige Weg dorthin führte quer durch Marduks Hauptquartier.
»Hol schon mal dein Seelenbuch raus«, sagte Isis.
Furia schob die Hand in eine Tasche ihrer Cargohose und ertastete das Schnabelbuch. Sie spürte, dass es zitterte. »Was ist los?«, fragte sie leise, als sie es unter dem Mantel hervorzog.
Der Schnabel, der sonst an seinem Rüsselhals vorwitzig aus dem Lederdeckel ragte, hatte sich zurückgezogen. Zwischen knittrigen Hautringen, zusammengeschoben wie eine Ziehharmonika, schaute nur die gelbe Spitze hervor. Man hätte sie für einen skurrilen Buchschmuck halten können – oder einen umgedrehten Handtuchhalter –, ohne je auf die Idee zu kommen, dass der kleine rote Band ein Eigenleben besaß.
Das Buch erbebte von neuem, bekam aber keinen Ton heraus.
»Es ist wegen Marduk«, vermutete Isis. »Er veranstaltet oft Schnabelbuchkämpfe, um seine Leute bei Laune zu halten. Tagelange Turniere, bei denen Hunderte Bücher zerfleddert werden.« Sie warf Furias Seelenbuch einen kurzen Blick zu. »Du hast von ihm gehört, nicht wahr?«
Der Schnabel zuckte auf und ab, die Andeutung eines Nickens.
»Ach je«, entfuhr es Furia mitfühlend. Sie streichelte ihr Seelenbuch und wollte es behutsam öffnen, aber die Seiten lösten sich nicht voneinander, das Buch war wie zugeklebt. »Was machst du denn? Ich bin doch bei dir.« Um ihre bibliomantischen Kräfte freizusetzen, musste sie ein Seitenherz spalten, und das ging nur, wenn sie ihr Seelenbuch aufschlug.
»… akkke …«, krächzte das Buch.
»Ich brauche deine Hilfe«, sagte Furia einschmeichelnd. »Ohne dich bin ich aufgeschmissen.«
»Iiiih … auube … akkkke …«
»Bitte?«
»Ich glaube … hab eine … Panikattacke!«
Isis beäugte das verkrampfte Buch mit einem Grinsen. »Sieht aus wie ein Problem mit dem Schließmuskel.«
Der Schnabel schob sich einen Fingerbreit vor. Obgleich er keine Augen besaß, brachte er es fertig, vorwurfsvoll auszusehen. »Ich und die meinen sind von sensibler Wesensart«, sagte er wehklagend. »Unser Dasein ist ein Tal der Tränen, ein Leidensweg der Entbehrungen. Gerade du müsstest die Gefühlswelt eines Buches verstehen, Isis Nimmernis!«
Die knurrte nur etwas, das Furia nicht verstand, und konzentrierte sich wieder auf die andere Straßenseite.
Eine Sekunde lang war das Buch abgelenkt, und Furia nutzte die Gunst des Augenblicks. Mit einem Ruck schlug sie es auf. Dabei prallte der Schnabel auf die Dachziegel.
»Sag ich’s nicht?«, rief das Buch mit einem Seufzen, als laste alles Elend der Welt auf seinem Rücken. Leben und Zeiten des Abel Humble Uxbridge stand dort geschrieben, doch das war nur Tarnung. Das Schnabelbuch war nicht geschaffen worden, um darin zu lesen. Es war ein zäher kleiner Kämpfer und hatte in den Hinterhöfen von Libropolis so manchen Schnabelbuchkampf für sich entschieden. Zahlreiche Kerben und ein paar lose Seiten waren von seiner Karriere in den Arenen zurückgeblieben, ehe es sich Furia als ihr Seelenbuch offenbart hatte. Seither trug sie es Tag und Nacht griffbereit bei sich. Wann immer ihre Lehrmeisterin Summerbelle mit ihr trainierte, leistete das Buch ihr gute Dienste.
»Kannst du die beiden sehen?«, fragte Furia, während sie einmal durch das Schnabelbuch blätterte, um seine steifen Seiten zu lockern.
Isis reckte den Hals und blickte um die Ecke von Marduks Festung. Irgendwo dort vorne befand sich der Haupteingang, ganz in seiner Nähe hatten Cat und Summerbelle Posten bezogen. Auch sie warteten darauf, dass es endlich losging.
»Nichts.«
Furia rümpfte die Nase über den Gestank, der aus der Gasse aufstieg. Allmählich überdeckte er sogar den Buchduft ihrer Haut. »So hab ich mir das nicht vorgestellt, als ich davon geträumt habe, all die Abenteuer in den Büchern selbst zu erleben.« In der Behaglichkeit ihres Lesesessels mit Fantastico Fantasticelli Kaufleute auszurauben und an der Seite von Jim Hawkins zur Schatzinsel zu segeln, hatte sich anders angefühlt, als hier im Dreck zu kauern.
Vor zwei Monaten war sie sechzehn geworden. Früher hatte sie an ihren Geburtstagen immer eine von Paulines formidablen Lebkuchentorten auf dem Frühstückstisch vorgefunden. Doch die Köchin lebte nicht mehr, und so hatte Furia in diesem Jahr andere Geschenke bekommen: Von Cat ein Stück Lavendelseife aus dem Laden in Winchcombe (seit Cat sich regelmäßig wusch, glaubte sie, dass auch andere es nötig hätten); von Isis ein Taschenmesser (»Zweiunddreißig Funktionen! Garantiert rostfrei!«); und von ihrem kleinen Bruder Pip den vorletzten Lebkuchen, den er sechs Monate lang für sie unter seiner Matratze aufbewahrt hatte.
Während das Schnabelbuch noch murrte, fragte Isis: »Wer füttert eigentlich Samsa, während du weg bist?«
»Pip. Er macht das schon eine ganze Weile.«
Isis hob zweifelnd eine Augenbraue. »Du lässt ihn allein zum melancholischen Ungeziefer?«
»Er ist elf. Er kommt schon klar.«
Isis öffnete die Lippen, aber sie vergaß die Erwiderung im selben Augenblick. Auf der anderen Seite der Gasse ertönte ein Schrei, gefolgt von vielen weiteren. Das aufgeregte Gebrüll vermischte sich mit Alarmsignalen. Die bewaffneten Wächter, die auf den Dächern von Marduks Festung patrouillierten, blickten sich aufgeregt um. Die ersten rannten zu den Eingängen ins Gebäude.
In einer fließenden Bewegung sprang Isis in die Hocke. Ihre Augen strahlten vor Entschlossenheit, und ein Lächeln erschien auf ihren grimmigen Zügen. Ein sanftes Glimmen drang durch die Hakenleiste an der Vorderseite ihrer engen Korsage. Bereits seit Wochen trug sie kein Weiß mehr wie früher, sondern allertiefstes Schwarz.
Furia streifte den Kapuzenmantel ab. Über der Cargohose trug sie einen dunklen Rollkragenpullover, das blonde Haar hatte sie im Nacken verknotet. Der Zeigefinger ihrer rechten Hand steckte zwischen den Seiten ihres Seelenbuchs.
»Buchegel!« Der Schnabel stieß ein klägliches Seufzen aus. »Ich hasse die Viecher! Fressen sich durch Bücher wie Maden durch Käse. Es ist unverantwortlich, mich mitzunehmen. Hört ihr? Un-ver-ant-wort-lich!«
Isis schleuderte die gebundene Ausgabe eines vergessenen Bestsellers über die Gasse. Das Buch landete auf dem gegenüberliegenden Dach. Ein zweites Exemplar desselben Romans lag zwischen ihnen, aber als Furia danach greifen wollte, schwebte es bereits ganz von selbst in die Höhe. Isis legte ihre rechte Hand auf das Titelbild, Furia ihre linke auf die Rückseite. Sie hatten das Buch kaum berührt, als es unter ihren Fingern zu flimmern begann.
Im selben Moment lösten sich die beiden in Luft auf, stürzten für einen Atemzug durch die Leere zwischen den Seiten der Welt und erschienen wieder auf dem Dach von Marduks Festung, genau neben dem ersten Exemplar. Das Buch verblasste bereits zu ihren Füßen und war im nächsten Augenblick verschwunden.
Furia beobachtete die Umgebung, während Isis mit flinken Bewegungen die Haken ihrer Korsage öffnete; nur einen ließ sie geschlossen, den mittleren. Eine Woge aus Licht drang zwischen dem schwarzen Stoff hervor, pulsierte sanft im Rhythmus ihres Herzschlags.
»Alles klar?«
Furia nickte.
»Falls es jemanden interessiert«, murmelte das Schnabelbuch, »mir ist übel.«
Furia tätschelte mitfühlend den Buchdeckel, dann folgte sie Isis geduckt zu einem turmähnlichen Aufbau, keine zehn Schritte entfernt. Vor einer schmalen Stahltür blieben sie stehen. Isis drückte die Klinke hinunter. Von innen verriegelt.
»Finnian müsste gleich hier sein«, sagte Furia. »Er hält sich immer an Absprachen.«
Isis wirbelte herum, sah aber nicht Furia an, sondern an ihr vorbei übers Dach. Ihre Augen weiteten sich, während die Reflexion von Mündungsfeuer wie in Zeitlupe über ihre Pupillen loderte.
»Runter!«, rief sie, stieß mit der einen Hand Furia beiseite und löste mit der anderen den letzten Haken der Korsage.
Das Peitschen des Schusses erklang einen Sekundenbruchteil später, jemand schrie auf, und Isis erstrahlte in sternkaltem Licht.
Wenige Minuten zuvor hatten Cat und Summerbelle im Schatten einer Gassenmündung gestanden. Ungeduldig beobachteten sie das Treiben vor dem Hauptportal der Festung.
Zahlreiche Händler hatten Stände errichtet, andere boten ihre Waren in Bauchläden feil. Angst vor der Garde und der Miliz hatte hier niemand. Marduk steuerte die meisten illegalen Geschäfte im Ghetto, und die Adamitische Akademie ließ ihn gewähren, solange er ihren Lakaien nicht unmittelbar auf die Füße trat. Es hieß, der Unterweltkönig besitze ein Druckmittel, mit dem er sich die Behörden gefügig machte, und wer mitansah, wie kaltschnäuzig er hier verbotene Güter feilbieten ließ, der glaubte den Gerüchten aufs Wort.
Das Gewimmel ähnelte einem orientalischen Basar. Zwischen den Fachwerkhäusern hing der Duft von Kräutern und Seifen, vermischt mit den Ausdünstungen eng gedrängter Männer und Frauen, den Gerüchen von gebratenem Schwein und frischen Pferdeäpfeln. Obwohl Englisch die gebräuchlichste Sprache in Libropolis war, hörte Cat immer wieder Satzfetzen auf Französisch, Italienisch und Deutsch. Zweifellos gab es auch Exlibri aus asiatischen, afrikanischen und arabischen Büchern, aber genau wie auf Londons bunten Straßenmärkten bemühten sich die meisten um eine gemeinsame Sprache, damit sie ihre Waren anbieten oder um Preise feilschen konnten.
»Wir hätten diesem widerlichen Kerl nicht trauen dürfen«, sagte Cat verächtlich, »diesem Egelzüchter!« Sie betonte das Wort wie eines, das sie lieber nicht in den Mund genommen hätte. Dabei hatte sie fast drei Jahre hier im Ghetto gelebt und in dieser Zeit jedes erdenkliche Schimpfwort benutzt, meist voller Hingabe.
Cats größte Sorge galt nicht dem Gelingen des Plans, sondern Finnian im Inneren der Festung. Sie war schon einmal allein in diese Gebäude eingedrungen, vor fast sieben Monaten. Damals hatte sie aus Marduks legendärer Sammlung eine mumifizierte Bibliomantenhand gestohlen. Sie hatte angeboten, es auch dieses Mal allein zu versuchen, dann jedoch einsehen müssen, dass die Situation heute eine andere war. Zum einen lagerte der Gegenstand, auf den sie es abgesehen hatten, in Marduks letzter Halle, dem hinteren jener Säle, in denen er sein legendäres Kabinett bibliomantischer Kuriositäten aufbewahrte; kein Dieb war jemals dorthin gelangt. Zum anderen war die Zahl der Wachtposten nach Cats Einbruch verdreifacht worden.
Neben ihr zupfte Summerbelle sich die Kapuze ihrer Jacke tiefer in die Stirn, obwohl es schon seit Stunden nicht mehr regnete. Die junge Bibliomantin war ungemein hellhäutig und besaß die filigranen Züge einer Porzellanstatue. Ihr nackenlanges Haar war schneeweiß, ihre Augenbrauen hingegen fast schwarz. Summerbelle war der Sprössling eines Earls aus Sussex und hochgeborene Tochter durch und durch. Ihr Vater war ein offener Kritiker der Akademie gewesen, ein gelehrter Sammler mittelalterlicher Handschriften, dem es nicht passte, nach der Pfeife der Drei Häuser zu tanzen. Wie so viele, die aufbegehrt hatten, war er eines Nachts von Angehörigen der Garde unter fadenscheinigen Gründen abgeholt und ins Gefängnis geworfen worden. Seine Familie hatte ihn nicht wiedergesehen, bis man Monate später seine Leiche herausgegeben hatte. Angeblich war er während der Haft an einem Herzschlag gestorben.
Bald darauf hatte Summerbelle sich den Bardenbrüdern angeschlossen und war zunächst die einzige Bibliomantin, die auf der Seite des Widerstands kämpfte. Neben ihr hatte es noch einen ehemaligen Geistlichen mit bibliomantischem Talent gegeben; vor einigen Wochen hatte er der Residenz den Rücken gekehrt und war in den Refugien untergetaucht.
Während der Zeit, die Summerbelle sich mit den Bardenbrüdern im Wald der toten Bücher versteckt hatte, hatte sie nichts von ihrem piekfeinen Gestus verloren. Sie ging stets erhobenen Hauptes, trug bereits mit siebzehn den Schatten einer tiefen Skepsisfalte über der Nasenwurzel und sprach meist so, als käme sie gerade vom Gartenfest der Queen. Während der ersten Wochen in der Residenz hatte Cat sie gemieden – so hatte sie es früher mit den meisten Bibliomanten gehalten –, aber irgendwann war ihr Summerbelles Getue derart auf die Nerven gegangen, dass sie es auf einen Streit hatte ankommen lassen. Zu ihrem Erstaunen hatte Summerbelle sich bei ihr entschuldigt und versichert, sich keineswegs für etwas Besseres zu halten.
Nach den Jahren im Ghetto war Cat ein so höfliches Einlenken nicht gewohnt. Finnian hatte sie daraufhin beiseitegenommen und ihr ein paar Dinge über Summerbelles Vergangenheit erklärt. Seitdem herrschte zwischen den Mädchen ein wackliger Waffenstillstand: Cat ignorierte Summerbelles Höhere-Tochter-Gehabe, während Summerbelle sich spitze Bemerkungen zu Cats Gossenjargon verkniff. Es war ein Frieden, dem keiner so recht traute, ein Pakt zwischen Ober- und Unterschicht, zwischen beschaulichem Sussex und schmutzigem Ghetto, zwischen der geborenen Lady und dem rüpelhaften Wildfang.
Vor Marduks Hauptquartier verscheuchten die Wächter einen kleinwüchsigen Exlibro, der versuchte, zollfreie Zigaretten an Passanten zu verkaufen: Smoke & Mirrors war die beliebteste Marke der meisten Bibliomanten, weil ihr Rauch mit ein wenig Übung die Schlüsselszenen der letzten Lektüre nachformte. Das war manchmal beeindruckend, manchmal peinlich und immer eine schlimme Prahlerei. Der Verkäufer zahlte wahrscheinlich kein Schutzgeld oder stand aus anderen Gründen auf Marduks schwarzer Liste.
Die Wachtposten waren grobschlächtige Gestalten, bewaffnet mit Schusswaffen und Säbeln; Klingen waren in den Refugien noch immer ein Statussymbol, auch wenn kaum jemand sie offen benutzte. Die Männer waren allesamt Exlibri, denn Marduk hätte sich niemals mit Bibliomanten umgeben. Zwar sammelte er ihre Artefakte und Relikte, doch zugleich verzehrte ihn der Neid: Als Exlibro würde er niemals eigene bibliomantische Macht besitzen – so hatte es Siebenstern einst in den Büchern der Schöpfung festgelegt. Isis war die einzige bekannte Ausnahme von dieser Regel, und das hatte sie Furia zu verdanken.
Cat schaute erneut auf ihre Armbanduhr, ein klobiges Herrenmodell, das sie an ihrem ersten Tag im Ghetto gestohlen und seither kaum abgelegt hatte. »Warum schlüpfen sie nicht?«
»Vielleicht sind sie’s schon«, sagte Summerbelle und rieb sich die spitze Nase. »Weißt du, Cat, es gibt durchaus Mittel gegen den hirudo librorum.«
Summerbelle liebte es, ihre Sätze mit Weißt du zu beginnen. Das war einer dieser Spleens, die Cat zur Weißglut brachten. Nur heute ließ es sie kalt. So verlockend die Vorstellung war, Summerbelle an ihrem weißen Schwanenhals zu packen und durchzuschütteln, so wenig wollte sie sich ablenken lassen von den Dingen, auf die es wirklich ankam. Etwa, sich um Finnian zu sorgen.
»Immer macht er das«, murmelte sie vor sich hin. »Steckt sich irgendwelche Ziele und riskiert sein Leben dafür. Ihm ist völlig egal, dass ihn jemand vermissen könnte, wenn er draufgeht.«
Summerbelle berührte sie an der Schulter. »Finnian wird schon nichts passieren. Er weiß genau, was er tut.«
Vor einem Vierteljahr hatte er sich in Marduks Verbrecherbande eingeschleust, um den heutigen Tag von langer Hand vorzubereiten. Drei Monate lang hatte sie ihn nicht gesehen und so gut wie nichts von ihm gehört; nur ein paar Zeilen in einem toten Briefkasten am Rande des Ghettos. Sie vermisste ihn so sehr, dass sie nachts von ihrem rasenden Herzschlag erwachte und stundenlang an nichts anderes denken konnte als an all die Katastrophen, die ihm widerfahren mochten. Aber das bin ich nicht, hatte sie sich wieder und wieder eingeredet. Seit sie als Dreizehnjährige von zu Hause fortgegangen war, hatte sie Wert auf ihre Unabhängigkeit gelegt, hatte sich jahrelang im Ghetto durchgeschlagen und sich einen Ruf als zuverlässige Auftragsdiebin erarbeitet. Sie wollte sich um niemanden sorgen müssen, nicht mal um sich selbst und erst recht nicht um jemand anderes.
»Ich kann verstehen, dass du ihn gernhast«, sagte Summerbelle, während sie zu Marduks verschachtelter Festung hinübersah.
»Wie meinst du das denn?«
Summerbelle lächelte verstohlen. »Er ist clever. Sieht gut aus … Na ja, vielleicht nicht in jedermanns Augen mit der gebrochenen Nase und den Narben am Ohr. Aber es wäre gelogen, würde ich behaupten, er hätte nichts Anziehendes.«
Cat funkelte Summerbelle an. »Vor allem hat er eine Freundin, okay?«
»Drei Monate lang hatte er keine.« Falls sie jetzt noch hinzufügte »Jedenfalls keine, von der wir wissen«, dann würde Cat ihr hier und jetzt einen Nasenbruch verpassen, der sie zweifellos ein gutes Stück weniger anziehend machen würde als Finnian. Ungeachtet des Risikos, dass die Bibliomantin sie zur Strafe in einen Buchegel verwandeln mochte.
Gerade das war, zugegeben, ein Problem: Summerbelle war bereits mit zwölf von ihrem Seelenbuch gefunden worden, unerhört früh, und seitdem meisterte sie die Bibliomantik wie andere Mädchen ihres Alters eine Reitprüfung.
Cat atmete tief durch, strubbelte sich durch ihr kurzes schwarzes Haar und tat, als müsste sie dringend alle Reißverschlüsse ihrer Bikerjacke überprüfen. Darunter schauten ihre langen Beine in gestreiften Leggings hervor, und sie trug nach wie vor die schweren Lederschuhe, von denen sie sich nicht trennen wollte.
»Achtung«, sagte Summerbelle. »Es geht los.«
Im Inneren der Festung ertönte eine Alarmglocke, gefolgt vom Aufheulen einer Sirene.
Unter ihrer Jacke zog Cat das Buch hervor, das sie die ganze Zeit über dort verborgen hatte. Summerbelle hielt ihr identisches Exemplar bereits in Händen. Sie öffneten die Bücher auf den ersten Seiten und lasen jede für sich im Flüsterton die einleitenden Sätze. Cat, die ohne bibliomantisches Talent geboren war, konnte spüren, wie die Macht des Buchs auf sie abstrahlte. Sie würde sich nie daran gewöhnen; es war, als wäre da mit einem Mal ein zweiter Verstand in ihr, das Bewusstsein des Buches, das sich mit ihrem Geist vereinigte. Für kurze Zeit ging es eine Symbiose mit ihr ein und las ihre Gedanken.
Im Schutz der engen Gasse legten sie die Bücher vor sich auf den Boden – jedes so groß wie ein Kunstbildband und in steinhartes Leder gebunden – und schlugen sie in der Mitte auf.
Mit beiden Füßen stellten sie sich auf die offenen Seiten.
Dann gaben sie den Bookboards Befehl, sich vom Boden zu erheben und sie hinauf in die Lüfte zu tragen.
Als die Buchegel schlüpften, befand Finnian sich auf dem Weg ins Dachgeschoss.
Wären die Angaben des Züchters verlässlich gewesen, dann hätten die Parasiten schon vor zehn Minuten ausschwärmen müssen. Hinter Dachbalken, unter losen Bodenplatten, in den Rissen von Täfelungen und Mauerwerk – bereits vor Wochen hatte Finnian fast zwei Dutzend Stellen mit dem schleimigen Eiersekret präpariert. Dass es zu Verzögerungen kam, verhieß nichts Gutes.
Eigentlich hatte er schon vor einer Viertelstunde an der Tür zum Dach sein wollen, um Furia und Isis beim ersten Alarm einzulassen. Aber einer von Marduks Unterführern hatte ihn in einem der verwinkelten Korridore in ein Gespräch verwickelt. Seine Fragen nach Finnians Vergangenheit beim Widerstand hatten beiläufig gewirkt; aber dass er gerade heute so ausdauernd nachhakte, hatte Finnians Argwohn geschürt.
Eine Etage noch bis zum Dach. Bis zu einem der Dächer. Denn der Komplex bestand aus so vielen einzelnen Gebäuden, die über ein wirres Netz aus Gängen und Stiegen miteinander verbunden waren, dass die Orientierung im Inneren so schwerfiel wie in einem Labyrinth.
Das Gebrüll begann, als er gerade um die letzte Ecke bog.
Bis vor wenigen Augenblicken hatte er von oben das Gurren der Brieftauben hören können. Marduk ließ Botschaften gern von Tauben überbringen, er hielt sie für verlässlicher und sicherer als das antiquierte Telefonnetz von Libropolis, dessen Kabelknoten an jeder Straßenecke angezapft werden konnten.
Als aus den Tiefen des Hauptquartiers immer lautere Rufe und Alarmsignale ertönten, waren die Vogellaute jäh verstummt. Marduk besaß neben seinem Kuriositätenkabinett eine der wertvollsten Bibliotheken von Libropolis, Zehntausende Einzelstücke, die er von den Buchhändlern der Stadt als Tribut und »Beweise guter Freundschaft« eingetrieben hatte. Finnian hatte die Eier der Buchegel vor den Zugängen zu den Bibliothekssälen deponiert, und gerade musste entdeckt worden sein, dass Tausende der madenähnlichen Kreaturen unter den Türen hindurchwimmelten und über Marduks bibliophile Schätze herfielen. Da Marduk selbst nicht anwesend war – er regelte Geschäfte in einem der anderen Refugien –, verfielen seine Unterführer hoffentlich in Panik und stellten jeden verfügbaren Mann für die Jagd auf die hungrigen Egel ab. Sie ahnten wohl, was ihnen blühte, sobald ihr Anführer die Verwüstungen entdeckte.
Finnian hatte Wochen gebraucht, um sich das Vertrauen der Bande zu sichern. Mit der Bombe, die er auf der Schwelle zum Wald der toten Bücher platziert hatte, hatte er viele der Bardenbrüder vor dem Zugriff der Garde gerettet. Da seine Leiche nie gefunden worden war, stand sein Name weiterhin auf den Fahndungslisten der Akademie – ein beträchtlicher Vorteil, wenn man der mächtigsten Verbrecherorganisation von Libropolis weismachen wollte, man ersuche um Zuflucht in ihren Reihen.
Als er die Taubenkammer erreichte, schlug ihm der stechende Geruch von Vogelkot und alten Federn entgegen. Ringsum waren die Tiere in Käfigen untergebracht, saßen eng beieinander und beobachteten ihn aus ihren dunklen Knopfaugen, als könnte ihr Meister durch sie den Verrat mit ansehen. Man erzählte sich, Marduks Blick reiche in jeden Winkel von Libropolis, und Finnian kam nicht gegen das Gefühl an, dass er längst durchschaut war und sie ihm nur vorgaukelten, er hätte die Dinge noch immer in der Hand.
Wieder heulte in den Tiefen der Festung eine Sirene auf. Türen schlugen auf und zu, Männer brüllten durcheinander, ihre Rufe verzerrt vom Hall in all den Fluren und Treppenschächten.
Finnian erreichte die stählerne Außentür. Den Gestank der Käfige bemerkte er kaum, als er die Hand an den schweren Riegel legte. Er selbst war kein Bibliomant, deshalb konnte er nicht spüren, ob sich auf der anderen Seite jemand mit bibliomantischen Fähigkeiten befand. Er musste sich ganz auf den Plan und sein Glück verlassen.
Der schwere Riegel klemmte. Er ließ sich nur langsam und ruckelnd bewegen.
»Nun komm schon!« Er gab dem Schieber einen heftigen Stoß.
Draußen ertönte ein Schuss.
Isis’ Stoß schleuderte Furia beiseite. Sie machte einen Ausfallschritt, fuhr dabei herum und stolperte trotzdem. Sie hatte gelesen, dass man eine Kugel erst zeitversetzt spürte – der Schock betäubte in den ersten Sekunden den Schmerz, und für einen Moment war Furia sich nicht sicher, ob sie getroffen worden war.
Ihr blieb keine Zeit, um nach einer Verletzung zu suchen. Jemand schrie, während eine Lichtflut die Umgebung in blendendes Weiß tauchte.
Isis stand breitbeinig vor der stählernen Tür. Ihr Oberkörper hatte sich zu einem Buch geöffnet, war dort, wo sich vor wenigen Augenblicken noch ihr Brustbein befunden hatte, auseinandergeklafft und offenbarte flatternde Seiten. Eine der Seiten hatte sich versteift, sich dann in zwei Schichten gespalten und das glühende Seitenherz dazwischen offenbart. Isis’ Lippen murmelten stumm ein paar Silben. Ihre Macht war größer als die der meisten Bibliomanten, doch ihr Einsatz kostete sie ungeheure Kraft. Auch nach sechs Monaten fiel es ihr immer noch schwer, ihre neugewonnenen Fertigkeiten vollends auszuschöpfen.
Der Mann, der auf sie geschossen hatte, wurde in gleißender Helligkeit gebadet und von einem Druckstoß, der einen Panzer versetzt hätte, weit nach hinten geschleudert. Brüllend krachte er auf die Kante des Daches und stürzte hinterrücks in die Gasse hinab.
Furia sprang auf. Jetzt musste auch der letzte Wachtposten am Fuß der Festung begriffen haben, dass sich Eindringlinge auf dem Dach befanden.
Das Seitenherz inmitten von Isis’ Brust erlosch, dann klappte auch das Buch zu und formte sich wieder zu einem weiblichen Oberkörper. Zurück blieb ein roter Strich, kaum eine Narbe, der zwischen ihren Brüsten hinab bis zur Gürtelschnalle reichte.
Furia lag die Bemerkung auf der Zunge, dass es durchaus genügt hätte, auf den Mann zu schießen – Isis trug eine silberne Automatik am Gürtel –, aber ihr war klar, dass dies keine bewusste Entscheidung gewesen war. Seit Isis zur Siebenstern-Exlibra geworden war, hatte sie mit den Folgen zu kämpfen: Einerseits besaß sie jetzt eine ungeheure Macht, andererseits hatte sie Schwierigkeiten, diese Macht zu beherrschen. Sie war die erste und vermutlich einzige Exlibra, die über bibliomantische Kräfte verfügte – in einem Ausmaß, das wohl selbst die legendäre Phaedra Herculanea, die Urmutter aller Bibliomanten, beeindruckt hätte.
Isis murmelte einen Fluch, als sie die Korsage schloss, diesmal fast alle Haken, damit sich das Seitenherz in ihrem Inneren nicht abermals selbständig öffnen konnte. Dann zückte sie die Pistole und blickte über das Dach. Jeden Moment mussten weitere Wächter auftauchen.
Furia sah, dass Isis leicht schwankte. Schweißtropfen glitzerten in ihren Augenbrauen. »Bist du in Ordnung?«
Isis nickte.
»Ganz sicher?«
»Herrje, Furia, hör schon auf! Mir geht’s gut!« Die Schärfe in Isis’ Stimme mochte ebenso ungewollt sein wie der Gewaltausbruch vorhin. Isis’ Launen häuften sich immer dann, wenn ihre Kräfte fast aufgezehrt waren. Bald würde sie wieder in einen tagelangen Regenerationsschlaf fallen, wie so oft während der vergangenen Monate.
Furia hob das Schnabelbuch auf und schob einen Finger zwischen die Seiten. Aus der Richtung des Turmaufbaus drangen Stimmen herüber. Also waren noch nicht alle Männer zur Bekämpfung der Egel ins Innere gerufen worden.
»Rücken an Rücken«, befahl Isis. »Sie werden von beiden Seiten kommen. Du darfst nicht in Panik verfallen, wenn es zu viele sind. Konzentrier dich immer nur auf einen und schalte sie der Reihe nach aus. Und achte auf den Rückstoß!«
Furia nickte. Rückstöße bemerkte sie mittlerweile kaum noch, so geübt war sie im Einsatz der Bibliomantik, nachdem Summerbelle sie monatelang trainiert hatte.
Von beiden Seiten des Turms näherten sich jetzt Schritte auf den Steinplatten und Ziegelschrägen der Dachlandschaft. Männerstimmen riefen durcheinander. Zugleich erklangen von unten weitere Glocken, die Alarmsirene hob zu neuerlichem Heulen an.
Furia klappte ihr Seelenbuch auf.
»Wir schaffen das schon«, rief der Schnabel von der Unterseite, hatte aber sicherheitshalber seinen elastischen Halsrüssel eingezogen, so als traue er seinen eigenen Worten nicht.
Furia hatte weniger Angst vor den Wächtern als vor ihrem eigenen Versagen. Lange hatte sie darum gekämpft, an diesem Einsatz teilnehmen zu dürfen.
Die Stimmen wurden lauter. Jemand rief eine Warnung. Wahrscheinlich hatte der Mann das Licht gesehen, das dem anderen Wachtposten zum Verhängnis geworden war.
»Achtung«, flüsterte Isis hinter ihr. »Es geht los in drei – zwei –«
Neben ihnen wurde die Stahltür aufgerissen. Federn wirbelten empor. Der beißende Geruch von Vogelkot drang ins Freie.
»Rein hier!«, rief Finnian. »Beeilt euch!«
Er sah schlimm aus, schmutzig und mit fettigem Haar. Etwas in seinen Augen sagte Furia, dass er nicht nur äußerlich gezeichnet war. Hastig sprang er beiseite und winkte sie herein.
»Wir hätten sie alle erledigt!«, krähte das Schnabelbuch, reckte aber seinen langen Hals in Richtung Tür, als könne es nicht schnell genug dahinter verschwinden.
»Lauf!«, kommandierte Isis. Sie blieb einen Moment länger stehen, um den Rückzug zu decken. Furia sah aus den Augenwinkeln einige Gestalten an der Ecke des Turms auftauchen, aber die Männer kamen zu spät. Isis und sie konnten der Konfrontation aus dem Weg gehen, einfach die Tür hinter sich zuschlagen und –
Isis dachte gar nicht daran. Sie warf Furia die Pistole zu – »Fang auf!« – und machte zwei, drei Sätze zurück aufs Dach. Um die Blicke aller Gegner auf sich zu ziehen, schlug sie aus dem Stand einen Salto in der Luft, ein flatternder Schemen aus schwarzem Stoff. Als sie im Stand aufkam, hatte sie ihr Gesicht den sechs Männern zugewandt, die gerade in zwei Gruppen hinter den Ecken des Turmes hervorstürmten. Isis’ Finger bewegten sich blitzschnell, rasten wie die einer Pianistin an den Haken der Korsage entlang.
Furia wandte sich ab, als das Licht aus Isis’ Oberkörper hervorbrach, die geballte Macht eines Seitenherzens, das stärker war als das eines jeden gedruckten Buches. Im Inneren der Taubenkammer fiel ihr Blick auf Finnian, der mit aufgerissenen Augen nach draußen starrte. Da waren weder Triumph noch Schrecken in seinen Zügen, nur etwas, das fatal nach Zorn aussah. Wie nah mochte er diesen Männern in den letzten drei Monaten gekommen sein? Er hatte mitten unter ihnen gelebt und womöglich Freundschaften schließen müssen, um akzeptiert zu werden. Wie gut kannte er die sechs Männer, die Isis dort draußen innerhalb eines Wimpernschlags tötete?
Die Stimmen im Freien waren verstummt, als Isis hinter ihnen in den Taubenturm drängte. Finnian schlug die Tür zu und ließ den Riegel einrasten.
Isis ging in die Hocke, zog ein flachgedrücktes Origami-Tier aus ihrer Tasche und brachte es in Form. Dann öffnete sie mit einer beiläufigen Handbewegung ein Tor zwischen den Refugien, gerade groß genug für eine Faust. Furia wusste, dass es in die Bibliothek der Residenz führte, in die römischen Katakomben unter dem Anwesen. Dort erwartete Ariel ihre Botschaften.
Isis setzte sich den kleinen Origami-Vogel auf die offene Hand, flüsterte ihm etwas zu und ließ ihn fliegen. Mit flattrigen Schwingenschlägen segelte er durch die Öffnung zwischen den Refugien, um Ariel wissen zu lassen, dass sie die erste Hürde bewältigt hatten.
Das winzige Portal schloss sich wieder, wurde zu einem flirrenden Punkt in der Luft und verschwand. Isis hatte einige der kleinen Papiertiere dabei, und jedes war abgerichtet auf ein bestimmtes Buch, zu dem es zurückkehren würde. Ein Buch, das sich bei Ariel befand. Die Origamis waren nicht intelligent, besaßen aber gute Instinkte; die meisten fanden ihren Weg sogar durch die Leere zwischen den Seiten der Welt.
Isis und Finnian nickten einander zu wie die Profis, die sie waren. Sie die einstige Agentin, die Dutzende gesuchte Exlibri zur Strecke gebracht hatte, und er der Widerstandskämpfer, der zahlreiche Anschläge auf Einrichtungen der Adamitischen Akademie durchgeführt hatte. Sie hätten Todfeinde sein müssen, und doch arbeiteten sie nun gemeinsam für dasselbe Ziel.
Sie waren hier, um die Sanktuariumskarte zu erbeuten, und niemand stellte in Frage, ob sie es wert war, das Leben von Menschen und Exlibri dafür zu opfern. Die Karte wies den geheimen Weg ins Allerheiligste der Adamitischen Akademie, ins Sanktuarium, jenen Ort, an dem sich die Oberhäupter der Drei Häuser zu ihren Beratungen versammelten. Kein Bardenbruder hatte die Karte je mit eigenen Augen gesehen. Tatsächlich jagten sie alle einem Gerücht hinterher: Angeblich war die Karte vor geraumer Zeit in Marduks Hände gefallen und das kostbarste Kleinod seines Kuriositätenkabinetts.
Die Begründer des Scharlachsaals – aus dem später die Adamitische Akademie geworden war – hatten das Sanktuarium im neunzehnten Jahrhundert geschaffen, ein verborgenes Refugium tief zwischen den Seiten der Welt. Nur Angehörige der Drei Häuser vermochten das Portal dorthin zu öffnen. Seine Lage war, so hieß es, auf der Sanktuariumskarte verzeichnet. Ihr Kartograph hatte einen hohen Preis für seinen Wagemut gezahlt.
Hastig durchquerten die drei die Taubenkammer, begleitet vom Geschrei der Vögel und einem Wirbel aus losen Federn. Finnian führte sie eine Wendeltreppe hinunter. Aus den Tiefen des Schachts drangen ihnen die heulende Sirene und das Befehlsgeschrei der Unterführer entgegen.
Plötzlich blieb Isis stehen.
»Irgendwas stimmt hier nicht.«
Furia blickte sich zu ihr um. »Was meinst –«
Und dann spürte sie es ebenfalls.
»Bibliomantik«, flüsterte sie. Dieser Ort war gesättigt davon. Finnian hatte es nicht fühlen können, er besaß keine Sinne dafür. Die beiden Bibliomantinnen aber erkannten die vertrauten Energien sofort.
»Unmöglich«, sagte Finnian. »In Marduks Hauptquartier gibt es keine …« Er ließ den Rest ungesagt, als ein Schatten über sein Gesicht huschte. Etwas veränderte sich in seinen dunklen Augen. »Ich …«, begann er von neuem, schüttelte dann jedoch den Kopf.
»Was ist hier los?«, fragte Isis scharf.
Ja, was?, hätte Furia am liebsten gefragt. An einem Ort, an dem es keine Bibliomantik hätte geben dürfen, weil Marduk keine Bibliomanten in seinen Reihen duldete, troff die Luft förmlich von entfesselter Buchmagie.
»Die Egel?«, schlug sie vor, selbst kaum überzeugt davon. »Oder Marduks Sammlung?«
Isis schüttelte den Kopf. »Das würde höchstens einen Bruchteil von dem hier erklären, nicht mehr als ein leichtes Flackern.«
»Wir müssen weiter!« Finnian zeigte nach unten. »Uns bleiben nur ein paar Minuten.«
Cat und Summerbelle schossen auf ihren Bookboards über die Köpfe der Wächter am Haupteingang hinweg, riefen Schmähungen und Schimpfworte und lenkten die Aufmerksamkeit aller Besucher des Marktes auf sich.
Nervöses Wiehern erklang, das Schlagen von Pferdehufen. Als Cat einen Blick über die Schulter warf, war es kein Ross, das da mit den Vorderhufen aufstieg, sondern ein Zentaur. Nichtmenschliche Exlibri waren keine Seltenheit im Ghetto, aber manche erregten mehr Aufmerksamkeit als andere. Dieser hier hätte ihnen fast die Show gestohlen. Summerbelle spaltete rasch ein Seitenherz ihres Seelenbuchs, las im Flug die glühende Schrift darin und ließ einen Blitz vom Himmel in die Menge fahren. Es war nur ein harmloses Trugbild, aber der begleitende Donnerschlag übertönte sogar die Sirene im Inneren der Festung.
Die Besucher des Schwarzmarkts strömten in die angrenzenden Gassen. Einige griffen zuvor noch flink in die Auslagen der abgelenkten Händler und stopften sich die Taschen voll. Die Verkäufer drohten den Mädchen über ihren Köpfen mit erhobenen Fäusten, bis Summerbelle zwei weitere Blitze erzeugte und sie rechts und links des Portals einschlagen ließ. Diesmal knisterten Funken an der Fassade empor, und zwei Wachtposten wurden zu Boden gerissen. Die Zeit für Illusionen war vorüber. Es würde Stunden dauern, bis die Männer wieder auf die Beine kamen.
Cat hatte das Bookboard gut im Griff und lenkte es allein durch den Druck ihrer Füße. Es erforderte ein wenig Übung, aufrecht auf einem fliegenden Buch zu stehen und nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Während ihrer Zeit im Ghetto hatte sie hin und wieder eines benutzt, aber nie ein eigenes besessen. Erst in den letzten zwei Wochen hatte sie regelmäßig trainiert, manchmal gemeinsam mit Summerbelle, die meiste Zeit allein. Während der Jahre auf Libropolis’ Dächern hatte sie gelernt, in großen Höhen die Balance zu halten, und das kam ihr nun zugute. Sie bewegte sich fast tänzerisch, fühlte sich frei und federleicht, während der Wind um ihre Wangen blies und die Reißverschlüsse ihrer Lederjacke zum Klimpern brachte.
Die meisten Bibliomanten rümpften die Nase über Spielereien wie Bookboards; sie schätzten Bücher, die man lesen, nicht fliegen konnte. Furias Großvater Cassius Faerfax hingegen hatte sich schon vor Jahrzehnten der Herstellung bibliomantischer Wunderwerke verschrieben und die lebende Leselampe und den sprechenden Sessel in der Residenz erschaffen. Auch ein Franzose namens Jean-Louis de Ville war solchen Experimenten nicht abgeneigt gewesen. Im Jahr 1890 hatte er entschieden, dass er das Schleppen schwerer Stapel in seiner Bibliothek leid war, und hatte kurzerhand Bücher erschaffen, die ihm die Arbeit abnahmen. Sie lagen stets als unterster Band in seinen Büchertürmen und konnten die hohen Stapel auf Zuruf durch sein Anwesen in der Auvergne bewegen. De Ville hatte einen hochgestochenen Namen für seine Erfindung gehabt, doch der war so gut wie vergessen. Vor einigen Jahren hatte die Jugend von Libropolis seine Schöpfung für sich entdeckt und sie der Einfachheit halber Bookboard getauft. Cat wusste von acht, die in der Stadt benutzt wurden. Nachdem sie Isis davon erzählt hatte, war diese kurz darauf mit zwei Exemplaren in die Residenz zurückgekehrt. Da den Büchern eigene bibliomantische Energie innewohnte, konnte auch Cat sie benutzen, wenn auch nicht so lange wie eine Bibliomantin; nach einigen Minuten sanken sie zu Boden und konnten erst nach Tagen wieder eingesetzt werden.
Die Gassen um Marduks Festung wurden jetzt nur noch von Wächtern und den aufgescheuchten Händlern bevölkert. Die Schläger des Unterweltbosses schienen sich nicht entscheiden zu können, ob sie erst im Inneren bei der Bekämpfung der Egelplage helfen oder die Mädchen auf den Bookboards einfangen sollten. Einige feuerten mit ihren Gewehren und Pistolen auf die Unruhestifterinnen.
Eine der Kugeln verfehlte Cat um Haaresbreite, während sie eine enge Kurve flog und mit halsbrecherischer Geschwindigkeit über die Planen der Verkaufsstände hinwegfegte. Instinktiv duckte sie sich, um den Kugeln weniger Fläche zu bieten. Das aufgeschlagene Buch unter ihren Füßen schien zu zappeln, aber das war nur eine Folge des Luftwiderstands. Jean-Louis de Ville hatte die Bücher nicht für derartige Geschwindigkeiten geschaffen; es war, als würde sie einen Lastenesel über eine Pferderennbahn jagen. Ihnen blieben vielleicht noch fünf, sechs Minuten, dann würde erst Cats Buch zu Boden sinken, wenig später auch Summerbelles. Bis dahin mussten sie alles tun, um die Scharfschützen auf den Dächern von Furia und Isis abzulenken.
Cat gab Summerbelle einen Wink. Sie hatten hier unten genug Verwirrung gestiftet. Die junge Bibliomantin wich gerade mit wehendem weißen Haar einer Salve von Schüssen aus. Wer den Schwarzmarkt aufmischte, kam nicht mit einer freundlichen Verwarnung davon. Marduk hatte seine Gorillas gut dressiert.
Cat und Summerbelle stiegen jetzt beide auf, bis sie den Rand der Dächer erreichten. Cat duckte sich noch tiefer, presste den linken Fuß fester auf die Buchseite darunter und legte sich in die Kurve. Das Bookboard raste zwischen zwei Giebeln hindurch und konnte jetzt von unten nicht mehr getroffen werden. Allerdings wusste Cat nicht, wie viele der Schützen auf dem Dach sie bereits ins Visier genommen hatten.
Als sie in einen Spalt zwischen zwei steilen Ziegeldächern flog, fegte Summerbelle an ihr vorüber und gestikulierte mit ihrem Seelenbuch.
»Drei von denen waren gleich hinter mir!«
»Auf Bookboards?«
»Besen hätten Stiele, oder?«
Cat fluchte. »Bibliomanten?«
»Glaub ich nicht. Aber zwei haben Gewehre, und der dritte hat einen Knüppel.«
Sie flogen jetzt nebeneinander zwischen zwei Dächerzeilen, tiefer in das zerklüftete Gebirge aus Stein und Tonziegeln. Alles war dick vermost. Wo Rinnen und Rohre verstopft waren, hatten sich nach dem letzten Regen modrige Tümpel gebildet. Vögel flatterten am Himmel, aufgeschreckt von der Sirene.
Cat blickte zum Dachfirst rechts über ihnen. Dahinter hörte sie Stimmen. Jeden Augenblick mussten ihre Verfolger dort auftauchen.
»Ich lenke sie ab«, rief Cat, als sie einen dunklen Innenhof überquerten. »Kannst du sie dir von da unten aus schnappen?«
Summerbelle überlegte nicht lange und ließ das Buch einen Haken schlagen. Einen Augenblick später tauchte sie hinab in die schattige Tiefe. Cat sprang in die Luft, drehte sich dabei um und landete mit beiden Füßen sicher auf den offenen Seiten. Sie flog jetzt rückwärts, und kurz wurde ihr schwindelig.
Da kamen sie auch schon. Fegten nacheinander über den Dachfirst hinweg und folgten ihr in einem Abstand von dreißig Yards. Die beiden mit den Gewehren legten im Flug auf sie an. Vielleicht war es naiv gewesen, zu hoffen, Marduks Leute wären auf einen Angriff aus der Luft nicht vorbereitet.
Sie ließ das Bookboard einen leichten Schlingerkurs fliegen und bekam es mit der Angst zu tun, als sie sah, mit welcher Seelenruhe die beiden Männer auf sie zielten, unbeeindruckt von der Geschwindigkeit und dem Gegenwind.
Im nächsten Augenblick überflogen sie den Innenhof. Niemand blickte nach unten.