Für meinen Vater Emile Linster, der die Träume in mir weckte, und für meine Mutter Marie-Antoinette, der ich die Kraft verdanke, sie zu verwirklichen

Vorwort

Ich habe eine unbändige Freude daran, mit anderen Menschen zusammen zu sein. Das war schon immer so, und es ist überhaupt die Voraussetzung für meinen Beruf. Wenn es einen quält, dass immer Leute um einen herum sind, die mit einem plaudern wollen, darf man nicht Gastronom werden.

Ich bin in einem Restaurant groß geworden, und dann habe ich es übernommen. Als ich mein erstes selbst gekochtes Gericht an die Tische getragen und den verdutzten Gästen angeboten habe, war ich gerade zehn Jahre alt. Ich weiß es noch genau: Es waren Luxemburger Mehlknödel, die Kniddelen. Davon hatte ich sehr viel anzubieten, denn bis ich endlich die richtige Konsistenz des Teigs heraushatte, waren immerhin zwei Dutzend Eier und zwei Kilo Mehl verarbeitet. Et voilà: Meine leckeren Knödel mit gebratenem Speck obendrauf waren im Nu aus. Sie schmeckten wunderbar, die Leute haben über mich geschmunzelt und sich alle unterhalten. Und da habe ich etwas Wesentliches begriffen: Bei Tisch redet es sich gut.

Die schönsten Gespräche entstehen, wenn Menschen beisammensitzen, bei einem Café Crème, bei einem Glas Wein, bei einem köstlichen Essen, das mit Liebe kredenzt wird. Dann entstehen Freundschaften, werden Missverständnisse ausgeräumt, es bahnen sich Liebesgeschichten an, und wir sprechen über das, was uns im Kopf herumgeht. Manchmal ist das leicht wie ein Soufflé, manchmal gehaltvoll wie ein Bœuf Bourguignon. Wir reden leichter über die bitteren oder süßen Momente unseres Lebens, wenn etwas Gutes auf dem Tisch steht, nicht wahr? Ich will uns Köche ja nicht wichtiger machen, als wir sind – aber mich macht das glücklich.

Ich liebe das übrigens auch sehr, das Zusammensitzen und Erzählen. Wenn ich Geburtstag habe, mache ich gerne einen großen Tisch. Ich lade meine Freunde ein, und dann halte ich aus dem Stegreif Reden: über die Freunde, wie wir uns kennengelernt und was wir alles gemeinsam erlebt haben.

In meinem Lokal in Frisange gibt es 50 Plätze. Mit diesem Buch möchte ich die Tafel einfach mal ein bisschen vergrößern. Und Sie, die Leser meines Buches, dazuholen an meinen Tisch.

Verführung ist das Salz des Lebens

In der Küche meines Restaurants in Frisange stand vor neun Jahren mal der Rapper Snoop Dog, um sich von mir knusprige Kartoffelrösti machen zu lassen.

An unserem Ruhetag.

Da staunen Sie, oder? Einen amerikanischen Megastar erwartet man nicht unbedingt in einem kleinen luxemburgischen Dorf in einer Restaurantküche außerhalb der Öffnungszeiten. Ich war auch ziemlich überrascht, als mein Bruder Jean mich um den Gefallen bat, meine Küche am Montag ausnahmsweise aufzusperren. Jean ist Musikproduzent, und der amerikanische Gast hatte mit ihm gearbeitet. Aber wie wir alle wissen, macht Arbeiten hungrig, im Musikstudio von Jean gibt es keine Küche, und außerdem kann ich einfach besser kochen als er. Also kam er zu mir.

Ich gab mich ganz gelassen, sagte, ich würde gleich da sein und legte auf. Dann rief ich sofort meinen Sohn Louis an, der damals 14 Jahre alt war und nicht weit von unserem Dorf ein Internat besuchte. Louis hörte Snoop Dog zu der Zeit natürlich rauf und runter. »Louis!«, rief ich, »komm sofort her! Hier steht gleich dieser berühmte amerikanische Rapper vor der Tür!« Welcher denn, wollte er wissen. Den Namen hatte ich in der Aufregung vergessen. Irgendwas mit Hund? Snoop Dog, stellte Louis beeindruckt fest. Er setze sich jetzt sofort in den Bus und komme. Mit dem Bus, so ein Unsinn! Wer weiß, wie lange der prominente Gast bleiben würde. »Du nimmst ein Taxi«, befahl ich, »das ist es mir wert.«

Ich wollte unbedingt, dass mein Sohn dieses Abenteuer erlebt. Ich habe in meinem Leben schon für Künstler und Millionäre gekocht, für Hochzeitsgesellschaften am Hofe der großherzoglichen Familie in Luxemburg, und kürzlich habe ich ein großes Essen für die Mitglieder des amerikanischen Obersten Gerichtshofs ausgerichtet. Aber dass ein internationaler Superstar in unserem Dorf antanzt – das finde ich immer noch sensationell.

Solche Späße habe ich mein Leben lang geliebt, das habe ich von meinem Vater. Von ihm habe ich das Restaurant übernommen. Und noch vieles mehr.

Louis kam bald an und sah von seinem Idol erst mal nicht viel. Vor der Eingangstür lungerten schon Fans herum, die vom Besuch aus Amerika Wind bekommen hatten. Im Lokal machte sich seine Entourage breit, darunter Bodyguards, die so groß und voluminös und schwer waren, dass sie sicher nie im Leben eine Waffe nötig gehabt hatten. Die hätten sich nur ganz langsam auf jemanden setzen müssen, dann wäre der nie wieder aufgestanden. Und in dem Saaleck, aus dem dicke süßliche Rauchschwaden waberten, da musste wohl der berühmte Rapper hocken, der damals ein bekennender Kiffer war.

Einen eigenen Leibkoch hatte er auch mitgebracht. Der hantierte bereits mit meinen Töpfen und behandelte mich zunächst, als sei ich die Spülfrau. Es war ja mein freier Tag, und ich hatte meine Kochweste nicht an, also war ich nicht gleich als Chef zu identifizieren. Aber ich bin in meinem Leben schon manches Mal unterschätzt worden, davon lasse ich mich nicht so leicht einschüchtern. Ich zeigte dem Kollegen mein schönstes Lächeln. Mit meinem Lachen bin ich immer gut durchgekommen! Dazu überreichte ich ihm mein aktuelles Kochbuch, das ich liebevoll für ihn signierte. Er brach fast zusammen vor Verlegenheit, aber ich sagte ihm, er solle sich hier wie zu Hause fühlen. Voilà, schon waren wir die besten Freunde.

Alle zusammen hatten wir einen lustigen Abend. Der amerikanische Koch und ich standen gemeinsam am Herd und unterstützten uns gegenseitig. Er briet Steaks und kochte Grits, diesen Maisbrei, den die Amerikaner so lieben. Ich machte frische Röstis und Salat, dazu meine Brötchen mit Luxemburger Butter, nicht zu fest, nicht zu weich, und danach Crème brûlée und meine fantastischen Madeleines. Snoop Dog bedankte sich am Ende höflich dafür, dass ich es seinen Leuten so schön gemacht hatte, und lud uns auf sein Konzert ein. Alle waren happy.

Ich liebe solche Überraschungen, denn sie sind die Glanzmomente, die unserem Alltag ein Licht aufsetzen. Aber wir müssen auch bereit sein, uns überraschen zu lassen! Wie in unserer Kindheit, als wir jeden Morgen gespannt waren, welche ungeahnten Erlebnisse uns der neue Tag bringen würde. Als wir am Geburtstag vor Neugierde brannten, was im hübsch verpackten Geschenk stecken würde. Als wir unser Leben für das spannendste der Welt hielten und jedem unser Herz schenkten, der uns zum Lachen und Staunen brachte.

Wie traurig, wenn man diese Bereitschaft verliert, weil man schon so satt und überdrüssig ist! Mit einer müden Einstellung kann man kein lustiges Leben führen. Ich finde, sie ist sehr uncharmant und das Einzige, was uns richtig alt wirken lässt.

Auch beim Essen schätze ich kleine Überraschungen. Deshalb sind mir die Entrees in meinem Restaurant »Léa Linster« in Frisange auch so wichtig. Vorab gibt es immer ein Tässchen Suppe, ob der Gast es nun bestellt hat oder nicht. Diese Süppchen sind ein Versprechen auf mehr. Sie sollen jeden in freudige Erwartung versetzen auf all die Leckerbissen, die noch folgen werden.

Am schönsten ist es, wenn schon die Komposition des Entrees verblüfft. Ein Beispiel: mein Kartoffelsüppchen mit Champagner. Die Suppe ist fein passiert, obendrauf kommt ein großzügiger Klecks geschlagene Sahne, darüber eine kleine Handvoll gehobelter Parmesankäse und etwas Muskatnuss. Da erlebt man eine erste Überraschung, weil man einen Löffel heißer Suppe mit der kühlen Sahne in den Mund nimmt, und eine zweite, weil die Konsistenzen von Kartoffelsuppe, Sahne und Käse so unterschiedlich sind.

Das ist sehr verführerisch! Und um Verführung geht es doch, beim Essen wie im Leben. Nichts macht mich zufriedener, als mit meiner Kochkunst Freude zu bereiten. Wir finden es doch alle herrlich, wenn uns jemand auf Händen trägt. Verwöhnen macht die Menschen glücklich, ob sie es nun selbst tun oder ob sie es erfahren.

Mir kann man sehr leicht eine Freude machen. Zum Beispiel, indem man mich frühmorgens auf dem Markt mit den Händen in einer Kiste mit Möhrchen wühlen lässt, unter denen ich mir die kleinsten und feinsten heraussuchen darf. In Luxemburg traue ich mich das nirgendwo, das mache ich nur im französischen Thionville, 20 Minuten von meinem Zuhause entfernt. Dort fahre ich gerne am Samstag hin, ganz früh. Dafür nehme ich auch in Kauf, dass mein heiliger Morgenspaziergang in den Weinbergen ausfallen muss, die unterhalb von meinem Haus an der Mosel liegen.

In Thionville besuche ich immer den Stand von Madame Christine. Dort gibt es unbehandeltes Gemüse: Rote Bete, perfekt geformt wie Pralinen, winzige, hübsche Karotten, saftigen Feldsalat. Und das Beste ist: Alles darf ich dort anfassen.

Danach gehe ich zum Stand der Hühner-Madame, die mich schon seit mindestens 30 Jahren kennt. Niemals käme mir Geflügel aus der Batterie auf den Tisch. Ihre Hühner aber fressen nur feine Mais- und Weizenkörner und die Reste von hausgebackenem Brot. Sie sind wirklich glücklich, diese Hühner, und das schmeckt man auch. So ein Huhn ist wie ein guter Freund, es lässt dich niemals im Stich. Du kannst es stundenlang kochen und es zaubert dir den schönsten Fond. Das Fleisch ist dann nicht trocken, sondern perfekt für eine Königinpastete. Ein gutes Huhn kann man warm und kalt essen, braten, grillen, ganz oder als Coq au vin in Stücken servieren. Es macht alles mit.

Das Einkaufen auf dem Markt von Thionville betreibe ich nur zum Spaß, schließlich fahren unsere Lieferanten ihre Ware direkt zum Restaurant. Wir benötigen weit mehr Zutaten als das bisschen, was ich samstags hinten in mein Auto einlade.

Aber es ist eine schöne Gewohnheit. Manchmal lasse ich mir am Fischstand ein paar frische Austern zum Frühstück öffnen – das ist morgens um neun vielleicht nicht jedermanns Sache, aber ich finde es toll. Das Meerwasser lässt man auslaufen, und Austern sind das Beste gegen Muskelkrampf, denn sie stecken voller Mineralien.

Danach kaufe ich noch in der traditionellen Patisserie Bauer zwei frische Pains au chocolat, die bringe ich meinem Bäcker Dominique Simonnet mit, einfach so, weil sie so gut sind.

Und schon bin ich für den ganzen Tag vollgetankt mit Energie, kann in der Küche nach dem Rechten sehen und mich auf die Gäste freuen, die wir später nach Herzenslust verwöhnen werden. Manchmal kann ich kaum fassen, dass all das, was mir solchen Spaß macht, mein Broterwerb ist. Ich bin Köchin, und für mich ist das der schönste Beruf der Welt.

Das Mädchen von der Tankstelle

Ich habe ein gutes Gedächtnis, und darüber freue ich mich sehr. Nie muss ich in einem meiner Kochbücher nachschlagen, all meine köstlichen Gerichte koche ich aus dem Kopf nach.

Mit meiner Kindheit ist es ganz genauso: Ich trage sie in mir. Die meisten Menschen besitzen Fotoalben mit Aufnahmen ihrer Familie, und beim Durchblättern ist alles wieder da – die Stimmen, die Gerüche, die Gefühle. Meine alten Fotos aber sind fast alle verloren. Sie waren in einem Safe, der mir vor zwei Jahren gestohlen wurde. Aber die Bilder in meinem Kopf kann man mir nicht stehlen.

In meiner allerersten Kindheitserinnerung sitze ich auf meinem heiß geliebten Dreirad. Ich bin drei Jahre alt, ein aufgewecktes, vorwitziges Kind mit kastanienbraunen Locken und braunen Augen, und ich kurve mit Vergnügen im Gastraum unseres Cafés herum, in dem meine Eltern Wein, Bier und große Platten mit würzigen Schinkenbroten servieren. Vor einem Tisch mit einem Mann und seiner Frau bleibe ich stehen, lege den Kopf weit nach hinten, damit ich besser hochsehen kann, und dann sage ich zu dem Herrn, der mich so arglos anlächelt: »Diese Dame gefällt mir aber viel besser als die andere von gestern.«

So schnell ist mein Vater noch nie hinter dem Tresen hervorgestürmt! Mit einem Griff hebt er mich mitsamt dem Dreirad hoch und verfrachtet mich in die Küche, wo ich keinen weiteren Schaden anrichten kann. Er schimpft zwar ein bisschen, aber ich merke ganz genau: Heimlich muss mein liebevoller Vater lachen. Ist doch kein Wunder, wenn man in einem Kaff wie Frisange mit wechselnden Damenbegleitungen unschuldige Kinder verwirrt, nicht wahr?

Frisange war damals ein winzig kleiner Ort. Es gab einige Bauernhöfe und viele Kühe. Und ich erinnere mich an viele alte Junggesellen, die bei uns im Lokal herumsaßen. »Frisange, das ist ja nur ein Dorf«, sagte meine Mutter manchmal verächtlich. Sie selbst stammte aus dem auch nicht gerade riesigen Luxemburger Städtchen Mersch.

Wenn man es genau nimmt, war Frisange noch nicht einmal ein richtiges Dorf: Es war nur eine Kreuzung. Durch den Ort verliefen eine kleine Landstraße sowie eine große internationale Route, die nicht nur in die 13 Kilometer entfernte Stadt Luxemburg führte, sondern in meinen Augen auch in die Welt hinaus: in Richtung Norden nach Ostende und in Richtung Süden über die französische Grenze, die gerade mal 800 Meter von unserem Haus entfernt ist. Wo sich die beiden Straßen kreuzten, gab es eine Schule, eine Bäckerei und das Gemeindehaus. Und dann hatte Frisange noch unser Café zu bieten. Es war ein paar Meter von der Kreuzung entfernt. Gleich am Haus standen zwei mächtige Walnussbäume, und nach hinten öffneten sich Wiesen, Felder und hohe Hecken. Diese Bäume, die Hecken und die Wiesen – es gibt sie noch immer, und mit ihnen den weiten Blick meiner Kindheit.

Mein Vater Emile Linster hatte das Lokal sehr jung übernommen. Er war erst 18 Jahre alt, als sein Vater starb. Seit mehr als hundert Jahren ist das Anwesen nun in Familienbesitz, und es gibt ein schönes Foto von 1906 vom Haus, auf dessen Mauern stolz geschrieben steht: »Restaurant de la Gare Linster«. Der Bahnhof von Frisange war damals genau vis-à-vis, wenn man diese Haltestelle einen Bahnhof nennen kann. Aber immerhin hielt 1906 hier die Bahn aus dem Städtchen Mondorf, und sie brachte einen in die große Stadt, nach Luxemburg.

Posieren im Jahr 1906: Seit mehr als 100 Jahren ist das Restaurant Linster im Familienbesitz

Meine Eltern haben sich in einer feinen Bäckerei in Mersch kennengelernt, 40 Kilometer von Frisange entfernt. Dort bewarb sich mein Vater Emile als Konditor und Bäcker, und meine Mutter Marie-Antoinette war die Tochter des Chefs. Der Vater erzählte immer, dass er sich schon bei seinem allerersten Telefonanruf in der Bäckerei in die bezaubernde Stimme unserer Mutter verliebt habe. Außerdem ist es sehr verführerisch, immer vom Duft buttriger Brioches und zuckersüßer Törtchen umgeben zu sein, also heirateten sie. Emile brachte Marie-Antoinette dann nach Frisange, und gemeinsam übernahmen sie das Café. Dort herrschte am Anfang noch Emiles Stiefmutter. Ihren Stiefsohn vergötterte sie zwar, aber seiner jungen Frau muss sie das Leben recht schwer gemacht haben. Dass meine Mutter das ertrug, hat mein Vater ihr hoch angerechnet.

Meine Eltern führten eine glückliche Ehe. Ich kann mich nicht erinnern, dass sie miteinander gestritten hätten. Emile war ein fescher Typ, groß, herzlich und äußerst gewinnend. Als junger Mann fuhr er ein Motorrad mit einem Seitenwagen, was ihm ein draufgängerisches Flair verlieh. Er war ein umtriebiger Mann, und er war immer für das Moderne, das Neue und das Fortschrittliche. Das Enge und Altmodische an Luxemburg, diesem winzigen Großherzogtum, hat ihn oft gestört und beengt. Das habe ich übrigens von ihm geerbt.

Meine Eltern Marie-Antoinette und Emile Linster

Meine Mutter Marie-Antoinette neigte zur Molligkeit, und das haben wir Kinder dann wiederum alle von ihr geerbt. Keiner von uns war je gertenschlank. Als meine Mutter heiratete, soll sie nur 50 Kilo gewogen haben – so sagt es die Familienlegende. Ihr Gesicht war fein, auch später noch, als sie schon rundlicher geworden war. Sie hatte wunderbare Haut und graugrüne Augen. Sonntags, wenn sie sich geschminkt hatte, fand ich sie immer sehr schön.

Wir waren zu Hause vier Kinder, ich bin das dritte. Geboren bin ich am 27. April 1955, einem Mittwoch. Meine älteste Schwester Maryse war damals drei Jahre alt, mein großer Bruder Jean eineinhalb. Marianne kam als Nachzüglerin sechs Jahre nach mir zur Welt.

Meine Mutter fuhr bei allen vier Geburten nicht etwa in die Stadt nach Luxemburg, sondern ins Krankenhaus von Differdingen, obwohl das weiter entfernt war. Dort wirkte die berühmteste Hebamme des Landes, eine Frau Prommenschenkel. Trotz dieser Koryphäe muss meine Geburt kompliziert verlaufen sein. Meine Mutter hat mir oft gesagt, ich sei das einzige Kind gewesen, dessen Geburt sie fast nicht überlebt hätte. Kinder glauben ja alles, was die Erwachsenen ihnen erzählen, und ihre Fantasie spinnt diese Geschichten weiter. So konnte ich gut verstehen, dass meine Mutter von mir weniger hingerissen war als von meinen Geschwistern. Ich bin ihr auf die Nerven gefallen, immer.

Als Kind hatte ich anscheinend Gelbsucht, jedenfalls soll ich lange Zeit sehr gelb im Gesicht gewesen sein. Und sehr schwächlich, so dass ich Lebertran trinken musste. Motzig war ich auch. Ich hatte einen eisernen Willen und war als einziges der Kinder schwer zu erziehen. Meiner Mutter hat das überhaupt nicht gefallen.

Als ich etwa vier Jahre alt war, besuchte ich einmal meine Freundin Joss. Sie wohnte im Haus gegenüber, wir spielten den ganzen Nachmittag und vergaßen die Zeit. Es war Winter, und als ich nach Hause kam, war es schon längst dunkel. Natürlich war ich viel zu spät, und meine Mutter war außer sich. Als ich endlich eintraf, guckte sie mich an und sagte dann: »Du kannst keines meiner Kinder sein. Meine Kinder liegen schon alle brav im Bett.« Das war schrecklich. Ich war vollkommen verzweifelt. Vehement versuchte ich sie davon zu überzeugen, dass ich wirklich und wahrhaftig ihre Tochter sei: »Schau mich doch an, du musst mich doch erkennen! Schau doch die Mütze an, die kennst du doch!«

Aber meine Mutter wollte ein Exempel statuieren. Sie wartete die entscheidenden Augenblicke zu lange, bis sie mich endlich erlöste. Und so ist dieses Entsetzen bei mir hängen geblieben. Bis ich eine junge Frau war, hat mich die Angst verfolgt, dass ich irgendwo klingele, und man erkennt mich nicht. Manchmal frage ich mich, ob es mir deshalb ein so großes Anliegen ist, zu gefallen und andere froh zu machen mit meinem Essen und einem schönen Ambiente. Damit man mich nicht vergisst.

Ich erinnere mich übrigens, dass ich als kleine Vierjährige schon deshalb nicht begriff, wie meine Mutter mich vergessen konnte, weil ich doch diesen besonders schönen, ungewöhnlichen Namen trug: Léa. Darauf war ich stolz. Ich denke, dass es eine Rolle spielt, ob man seinen Namen liebt und dessen Aura. »Léa« fand ich einfach herrlich ausgefallen. Und auch so kurz. Ich dachte, meine Schwester Maryse trüge einen längeren Namen, weil sie größer war als ich.

Außer diesem schönen Namen hatte ich auch ein besonders schönes Lachen. Ich lachte nicht viel als Kind, aber wenn, dann waren alle hin und weg. Dieses Lachen gebrauchte ich zur Verführung, zum Beispiel, wenn ich zu spät kam. In den Ferien besuchte ich oft die Großeltern in Mersch, und dort ging ich in eine Ferienbetreuung. Jeden Morgen wartete ich darauf, dass in der Bäckerei der Großeltern endlich die Mützel aus dem Ofen kamen. Das waren Plunderteile mit Streusel, und dieser nach Zucker und Butter duftende Hefeteig war für mich der herrlichste Duft der Welt. Ich kam immer zu spät ins Ferienlager, und immer rettete mich mein Lachen.

Meine Motzigkeit habe ich dann abgelegt, als ich elf wurde. Irgendwie fand ich wohl heraus, dass man weiterkommt, wenn man freundlich ist. Vor allem als Mädchen.

Und ich merkte, dass die Mutter es lieber hatte, wenn ich nett und lustig war. Eine kleine Entertainerin zu sein, das brachte mir Anerkennung und Applaus, auch bei den Gästen. Genauso wie mein Zeichentalent, unentwegt kritzelte ich die weiße Rückseite der Bierdeckel voll. Besonders gerne zeichnete ich hübsche Mädchengesichter – mit Zopf oder Dutt, großen Augen und lächelndem Mund. Und wenn ein Gast mal etwas länger warten musste, schickte mich der Vater als künstlerisches Vorprogramm an den Tisch: »Geh, Léa, und mal’ dem eine Braut, bis das Essen kommt.«

Im Café Linster spielte sich das ganze Dorfleben ab, es herrschte immer reger Betrieb. Auch aus dem nahen Frankreich kamen Gäste. Ich hatte nie die Vorstellung: Das hier ist die Familie und das der Rest der Welt. Ich dachte: Der Rest der Welt ist auch Familie, wenn er zu uns nach Hause kommt.

Das Café war Restaurant, Tankstelle, Kegelbahn, Gasthaus und Tanzlokal in einem, ein großes Gebäude mit mehreren Räumen. In der oberen Etage wohnte die Familie. Außerdem gab es ein paar Gästezimmer und Platz für die zwei oder drei Dienstmädchen, die bei uns aushalfen.

Unten im Saal saßen die Männer beim Bier, füllten Aschenbecher von der Größe eines Hundenapfs mit ihren Zigarettenstummeln und spielten bis spät in die Nacht Karten. Manchmal, vor allem, wenn mein Vater sich dazusetzte, dauerte die Partie bis in die frühen Morgenstunden, und dann riefen die Ehefrauen seiner Mitspieler um halb acht entnervt an: Man möge jetzt endlich ihre Männer heimschicken, wenigstens kurz, damit sie den Laden aufsperrten!

Freitagabends hörte man von der Kegelbahn das laute Poltern der umfallenden Kegel, und manchmal gab es im Café auch rauschende Tanzveranstaltungen. Meine Mutter richtete in der Küche ihre berühmten belegten Brote, die dann in den holzgetäfelten Saal getragen und auf die weiß gedeckten Tische gestellt wurden. Sie konnte die Schinkenscheiben hauchdünn schneiden, so wie die Spanier es tun. Den Schinken legte sie auf zwei gebutterte Brotscheiben, eine Gabel hielt das Ganze zusammen, und daneben lag ein Messer. Wenn die Mutter mir den Teller gab und sagte: »Trag’ das zum Tisch am Piano!«, wusste ich, dass mir die Gäste erst dort die schwere Last abnehmen würden. Auf dem Weg drückte ich das Brot daher vorsichtshalber mit der ganzen Hand nach unten, damit es mir nicht vom Teller rutschte. Damals war ich erst vier Jahre alt, aber ich wusste genau, ab wann ich im Saal gesehen wurde. Und wann ich ganz schnell die Finger vom Schinken nehmen musste.

Besondere Anlässe wie Hochzeiten, Taufen und Beerdigungen feierten die Leute bei uns. Für solche Gesellschaften gab es natürlich etwas Besseres als Schinkenbrot, dann wurde ganz groß aufgetischt. Es klingt wahrscheinlich herzlos, aber ich habe mich immer gefreut, wenn jemand aus dem Dorf gestorben war. Dann gab es stets dieses wunderbare Menü: Festtagssuppe von Rind und Huhn, Königinpastete, Tafelspitz, Blattsalat »Mimosa«, Aprikosentarte. Und natürlich den Verdauungsschnaps, »Pousse-Café« genannt. Jede Feier begann pietätvoll und endete meist in einem fröhlichen Besäufnis.

Lokale sind das Herz kleiner Ortschaften, und in Frisange schlug es bei uns.

Früher dachte ich, wir seien die Reichsten im Dorf. Warum? Weil es bei uns am besten geduftet hat. Nach knuspriger Kalbshaxe und frischgebackenem Brot. Sogar den ersten Geruch einer frisch angezündeten Zigarette empfand ich als angenehm. Aber die Reichsten im Dorf waren wir sicher nicht. Wir waren wahrscheinlich nicht mal, was man wohlhabend nennt, obwohl es uns an nichts fehlte. Wir Kinder hatten zum Beispiel alle ein eigenes Zimmer. Aber ich trug stets die Kleider meiner großen Schwester Maryse auf.

Meine Geschwister und ich haben immer mitgeholfen im Betrieb. Wir trugen Teller hinaus und hinein, wir spülten ab – wir machten, was eben gemacht werden musste. Eine weitere Selbstverständlichkeit, mit der ich aufgewachsen bin: Die Gäste kommen immer an erster Stelle. Das Geschäft ging vor, sowieso! Wenn wir gerade beim Essen saßen und jemand an der Tankstelle Benzin brauchte, musste einer hinaus. Dann stritten wir Kinder: »Geh’ du!« – »Nein, ich war gerade!« – bis der Vater eingriff und schimpfte: »Nun wird doch wohl einer gehen, bevor der Kunde weiterfährt!« Er selbst stand natürlich nie auf.

Feierabend in den Sechzigerjahren: Die Eltern, die Großmutter, meine kleine Schwester Marianne und ich in der Küche unseres Familiencafés im luxemburgischen Dorf Frisange. Man beachte: Ich trage bereits Schürze

Unser Vater war schon ein Macho, aber er tat alles, um das zu verschleiern. Er war eben sehr charmant. Einmal schenkte er meiner Mutter ein Autoradio zum Muttertag. Sie hatte aber gar keinen Führerschein! Und es war sein Auto. »Damit, Tonilla, spiele ich dir die schönste Musik, wenn ich dich in die Stadt fahre«, sagte er.

Und dann war da noch diese Geschichte mit der Spülmaschine. Lange Jahre wurde alles von Hand gespült, bis meine Mutter so verzweifelt war, dass sie verlangte, eine Spülmaschine müsse her, anders sei es nicht zu schaffen. »Ach, Tonilla, so was brauchen wir doch nicht«, sagte mein Vater. Der hatte anderes im Kopf, bot aber immerhin an, mal den Spüldienst zu übernehmen. Da wurde mir angst und bange. Wenn mein Vater jetzt schon selbst spülte, dachte ich, bedeutet das das Ende.

Aber er machte nur ein paar Teller sauber, und dann verkündete er gereizt: So, jetzt sei es entschieden, es werde eine Spülmaschine gekauft.

Es ist wahr: An meiner Mutter blieb viel hängen. Mein Vater wusste das, und er hat sie dafür sehr geliebt. Sie hielt den Laden am Laufen, wenn er mal wieder unterwegs war. Mein Vater hatte eine kleine Firma gegründet, die Ventilatoren eines britischen Herstellers vertrieb. Deshalb fuhr er oft nach England. Wahrscheinlich reizten ihn an diesem zusätzlichen Job vor allem diese Reisen. Ich kann mir gut vorstellen, wie begeistert er dann durch die Londoner Straßen zog und in die Clubs hineinschnupperte, gespannt, was es hier zu sehen, riechen und schmecken gab. Oder was für interessante Menschen er hier kennenlernen würde. Und in der Zwischenzeit kümmerte sich Marie-Antoinette in Frisange um das Lokal und uns vier Kinder.

Sie musste zu viel arbeiten, heute ist mir das bewusst. Meine Mutter war einfach müde. Erschöpft. Und dann gingen wir Kinder ihr auf die Nerven. Sie hat uns oft Dresche gegeben. Der Vater hat uns nie geschlagen. Er hatte den Glamour, sie den Stress.

Trotzdem: Seine Heiterkeit und seine Weltoffenheit haben der Mutter schon sehr gefallen. Heute denke ich, es ist vielleicht kein Zufall, dass wir 1953 eine Tankstelle ans Haus gebaut hatten. Wenn mein Vater auch nicht so oft hinauskam in die Welt, so kam dadurch doch die Welt zu uns.

Wenn die Engländer mit dem Auto nach Italien oder Spanien fuhren, ging ihr Weg von Ostende hinunter durch Brüssel und Luxemburg. Wegen der internationalen Route, die durch Frisange führte, kamen alle an unserer Haustür vorbei: Holländer, Deutsche, Belgier, Franzosen, Italiener, und die mussten natürlich tanken. Es war schon damals billiger, in Luxemburg zu tanken, und die Reisenden machten ohnehin gerade Pause, also kamen sie ins Lokal, um etwas zu essen und zu trinken.

Als Kind fand ich es faszinierend, wie unterschiedlich die Durchreisenden waren. Die Holländerinnen hatten schöne Haut und wurden im Sommer so braun, das gefiel mir sehr! Engländer, die es mit dem Auto bis hierher geschafft hatten, waren per se außergewöhnlich. Mein Vater hatte uns strengstens verboten, mit ihnen Englisch zu reden. Wer in den Sechzigerjahren so weit reiste, wollte selbstverständlich beweisen, dass er ein Kosmopolit war. Also sprachen die Engländer ganz schick und falsch Französisch, und wir Kinder verzogen keine Miene.

Zwischenstopp auf der Durchreise in die große Welt: 1953 baut mein Vater eine Tankstelle ans Café

Auch die wohlhabenden Städter aus Luxemburg tankten bei uns, bevor sie in die Ferien nach Frankreich fuhren. Wenn sie zurückkehrten, machten sie wieder Halt und erzählten von ihren Abenteuern. Sie tranken ein Bier, freuten sich über das Schinkenbrot meiner Mutter und berichteten, wie man in der Bretagne Hummer isst, und welche Soße in Brest zu den berühmten Poularden gereicht wurde. Mein Vater hörte leidenschaftlich gerne zu. Ich auch. So erfuhr ich genau, was die französische Lebensart ausmachte.

Als die Luxemburger Ende der Sechziger nicht mehr nur ins Elsass oder in die Bretagne fuhren, sondern nach Südfrankreich, änderten sich die Themen. Jetzt erzählten sie vom herrlichen Wetter, vom Jetset und dem Chic an der Côte d’Azur. Die eleganten Damen aus der Stadt trugen dicke goldene Armreifen, während sie in unserem Dorflokal saßen und sich mit uns unterhielten. Diese Kontraste haben mich sehr fasziniert. Was es da draußen alles gab! Und gleichzeitig spürte ich: Unsere Arbeit ist nicht beschämend.

Die Leute aus Frisange konnten sich solche Reisen natürlich nicht leisten. Wir auch nicht. Unsere Familie fuhr überhaupt nie in die Ferien, das war ja die Hauptsaison an der Tankstelle! Doch: Einmal verreisten wir, in die Vogesen. Nach drei Tagen fuhren wir wieder heim, und in der Zwischenzeit hatte der Vater nur geschlafen.

Als ich zehn Jahre alt war, konnte ich mich bereits mit allen Gästen verständigen, auf Englisch, Französisch und Deutsch. Und natürlich auf Luxemburgisch. Auf meine Vielsprachigkeit war ich sehr stolz. Ich fühlte mich kultiviert und international, weil ich schon als kleines Mädchen wusste, wie die Belgier so sind, und wie die Engländer mit Stil und Konzentration eine Erbse so behutsam auf die Spitze der Gabel schieben, als ob es das Delikateste sei, was sie je gegessen hätten. All das war Teil der weltoffenen Erziehung, auf die unser Vater viel Wert legte.

Für die Schule hatte er auch einen tollen Satz: »Um dumm zu sein, braucht man nicht viel zu wissen.« Er hat uns allerdings nie gesagt, wie viel genau wir wissen mussten, um nicht als dumm zu gelten. Klar war nur: sich nicht anzustrengen, ist eine Schande.

Aber ich muss zugeben, dass die Schule mich gelangweilt hat. Ich besuchte erst die Grundschule in Frisange, die an der großen Kreuzung im Dorf lag. Auch hier gab es eine Bäckerei nebenan, und wieder hatte ich Probleme, pünktlich zu sein. Morgens wurden die Hefeteilchen fertig, und dann duftete es bis zur Straße hinaus. Das wollte ich mir nie entgehen lassen.

Als ich zwölf wurde, wechselte ich wie viele andere Kinder aus dem Dorf aufs Lycée nach Luxemburg. Jeden Morgen fuhren wir mit dem Bus dorthin. Das erste Jahr verbrachte ich auf einem reinen Mädchengymnasium und wusste schon am ersten Tag, dass mir das zu öde sein würde. Die ganze Atmosphäre war streng und freudlos, jede Art von Spaß schien hier verboten. Also meldete ich mich selbst auf dem funkelnagelneuen »Lycée Michel-Rodange« an, einer gemischten Schule. Meine Eltern waren verblüfft, als aus dem Sekretariat die Anfrage kam: Ob sie dem Wechsel zustimmen würden? Das taten sie.

An der neuen Schule fühlte ich mich viel wohler. Ich hatte den Lehrern bald erzählt, meine Eltern würden sie so gerne ins Café Linster nach Frisange einladen, und den Eltern sagte ich, die Lehrer wünschten sich nichts mehr, als unser wunderbares Lokal kennenzulernen, von dem ich so viel berichtete. Beide Seiten freuten sich sehr, und es wurde ein wunderbarer Abend.

Einer meiner Mitschüler wurde später berühmt: Jean-Claude Juncker, der ehemalige Luxemburger Premierminister und heutige Präsident der Europäischen Kommission. Namensgeber des Gymnasiums war übrigens der Schriftsteller Michel Rodange, der Goethes »Reineke Fuchs« ins Luxemburgische adaptiert hatte. Als ein Wettbewerb für das neue Schulwappen ausgerufen wurde, zeichnete ich einen hübschen Fuchs – und gewann. Wie hab ich mich gefreut! Die vielen Mädchenköpfe auf den Bierdeckeln hatten sich ausgezahlt.

Meine Lieblingsfächer waren Rechnen und Deutsch. Trotzdem fielen mir das Lernen und die Hausaufgaben oft schwer. Nachmittags warteten schließlich noch andere Aufgaben auf mich: Ich musste den Tisch decken, Speisen auftragen und spülen.

Klingt das nach einem freudlosen Kinderleben? Das war es aber nicht. Damals trugen die Kinder in einem Familienbetrieb eben ihren Teil bei, und für uns war das selbstverständlich. Als ich selbst einen Sohn hatte, musste er nie im Restaurant mithelfen. Wenn er einem Gast einen Teller brachte, war es eher aus Spaß.

Ich hatte eine schöne und erfüllte Kindheit. Mein größtes Glück war meine überbordende Fantasie. Wenn ich mit meinem Bruder Jean und dessen Freunden in den Wiesen und Hecken hinter dem Haus Winnetou spielte, ging ich völlig darin auf. Jean war mein großes Vorbild, aber auch mein Rivale. Manchmal erlaubte er mir nicht mitzukommen: »Heute nur für Jungs!« Aber mir gelang es doch meist, dabei zu sein. Einmal fiel ich mitten im Winter während einer Verfolgungsjagd in den eiskalten Bach. Das machte mir gar nichts aus. Ich dachte, es gehöre zur Rolle, und rannte einfach weiter, in klatschnassen Sachen. Eigentlich hätte ich auch Schauspielerin werden können. Wenn ich eine Indianersquaw geben sollte oder das Rotkäppchen, war ich noch Stunden danach ganz und gar davon erfüllt. Es lag mir im Blut.

Fernsehen hatten wir keines, bis ich zwölf Jahre alt war. Dafür mussten wir zu den Nachbarn gehen. Mein Vater sagte immer: »Fernsehen ist der Tod aller Cafés. Dann redet keiner mehr mit dem andern. Und keiner spielt Karten.« Das war für ihn die Apokalypse.

Statt fernzusehen, las ich viel. Um ehrlich zu sein: Ich sah mir die Bildermärchen an, die mein Großvater mütterlicherseits, der Konditor aus Mersch, mir schenkte. Die Geschichten handelten von Winnetou, Ivanhoe, Zorro. Ich liebte Helden. Vor allem Zorro mit seiner schwarzen Maske hatte es mir angetan. Einmal sagte ich meinem Großvater: »Wenn ich mal heirate, muss es so einer wie Zorro sein.« Mein Großvater, der mir nie die Träume zerstörte, antwortete: »Und ich werde dir die schönste Hochzeitstorte machen, die es überhaupt gibt.«

Der Großvater war ein wunderbarer Mann, an ihn habe ich stärkere Erinnerungen als an die Großmutter. Er erlaubte, dass ich ihn ab und an auf der morgendlichen Brottour begleitete, bei der er das frische Brot mit dem Auto von Haus zu Haus fuhr – das machten die Bäcker vor 50 Jahren noch. Er gab mir sogar eine eigene kleine Tasche, weil ich so gerne das eingenommene Geld zählte. Außerdem spielte er immer mit mir. Wenn andere, vor allem die Großen, lächelnd sagten, er sei ja selbst wie ein Kind, wurde ich wütend. Als ob das eine Beleidigung wäre!

Spielen bedeutet für mich noch heute das Versinken in eine andere Welt. Jede Freizeit ist für mich Spielen, ob ich in eine andere Stadt reise oder zum Friseur gehe. Denn geht es dabei nicht auch darum, sich für eine Weile zu verwandeln und dem Alltag, in dem man immer so seriös sein muss, kurz Adieu zu sagen?

Ich hatte natürlich auch Freunde in meiner Altersklasse. Da gab es zum Beispiel die schöne Joss. Sie war ein paar Jahre älter als ich. Joss stammte von einem Bauernhof und war doch immer hinreißend zurechtgemacht wie ein Fotomodell. Sie war schlank, schwarzhaarig, elegant. Ihre Fingernägel waren immer tipptopp manikürt, obwohl sie zupacken musste, und ihre Schuhe blitzten nur so. Sie trug Unterhöschen, die sie selbst mit Spitze gesäumt hatte, weil das Angebot in den Luxemburger Läden nicht ihren exquisiten Ansprüchen genügte. Außerdem liebte sie schöne Taschen.

Von solch einem Geschöpf konnte ich viel lernen, denn ich selbst war als Teenager eher burschikos. Als ganz kleines Mädchen trug ich einen Pferdeschwanz, aber später wurden die Haare der Einfachheit halber abgeschnitten. Das war schade, denn meine blonde Mähne, die im Sommer so hübsch gesträhnt und immer kräftig war, gehörte zu meinen Vorzügen. Aber ich habe mich auch nicht dagegen gewehrt. Nur Joss mit ihrem Starappeal, die entschied selbst, wie sie aussehen wollte.

An Joss’ feinen femininen Sachen fand ich großen Gefallen. Gleichzeitig aber war ich brennend interessiert an all dem, was sich bei meinem Bruder und seinen Freunden tat. Dass die Jungs sich für Musik interessierten und dabei waren, eine Band zu gründen, fand ich unerhört cool und sehr spannend. Ich schwebte etwas unentschlossen zwischen der Welt der Jungen und dem Kosmos der Mädchen und versuchte, mich auf beiden Seiten zu orientieren.

Meine eigene Kleidung bestand aus dem, was meine große Schwester Maryse mir vererbt hatte. Von Spitzenunterhöschen konnte ich nur träumen. Zweimal allerdings brachte mein Vater mir aus England unvergesslich schöne Souvenirs mit: einmal eine kurze Hose in Orange und Rosa, und ein anderes Mal einen Bikini aus lilafarbenem Frottee. Darüber habe ich mich unheimlich gefreut, und beides trug ich, bis es in Fetzen hing.

Durch unsere französischen Dienstmädchen erfuhr ich immer, was gerade in Frankreich der letzte Schrei war – und darauf kam es schließlich an! Damals gingen viele junge Französinnen für eine Zeit ins Ausland, um etwas zu lernen. Im Gepäck hatten unsere Mädchen die Illustrierte »Salut les copains«, eine Art französische »Bravo«. So kannten wir den Sänger Johnny Hallyday, Jane Birkin und all die anderen Ikonen und konnten mitreden. Wir wollten ja nicht wirken, als lebten wir auf dem Mond. Anfang der Siebzigerjahre schaute sogar die Hippiezeit bei uns vorbei: in Gestalt von zwei Gastköchen mit nackten Füßen, Bärten, Afros von einem halben Meter Durchmesser, Joints und allem Drum und Dran. So was sahen wir nicht oft in Frisange. Es hat sich bei uns im Dorf auch nicht recht durchgesetzt.

Die Pubertät machte mir ein bisschen Angst. Ich kann mich nicht erinnern, dass unsere Mutter uns besonders ausführlich darüber aufgeklärt hätte, was mit uns Mädchen geschehen würde, und so erschrak ich gehörig. Ich erinnere mich, dass mein Vater mich, ich war etwa 16, tröstete und mir sagte, wenn ich erwachsen sei, würden wir den Männern um einiges voraus sein. Dann würden wir unsere Revanche dafür haben, dass wir uns jetzt unsicher fühlten.

Da unser Café ja das Zentrum des Dorfes war, fanden bei uns turbulente Faschingsbälle statt. Dann konnte ich beobachten, wie sich die Leute heimlich küssten. Wobei man sich in den wilden Sechzigern nicht einmal bei uns auf dem Land noch besonders heimlich küsste. Waren die Paare schön, fand ich das noch ganz hübsch, waren sie aber nicht so schön, fand ich es ein bisschen eklig. Meist saßen sie ja zu dritt am Tisch. Das Mädchen, ihr Freund und die beste Freundin des Mädchens. Letztere fragte mein Vater dann gelegentlich: »Bist du denn allein? Umso besser, dann kann dir keiner abhandenkommen!«