Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Dezember 2020
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ISBN 978-3-644-00730-7
www.rowohlt.de
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ISBN 978-3-644-00730-7
Für Daniel Zalewski
und David Remnick
… I follow with my eyes the proud and futile wake. Which, as it bears me from no fatherland away, bears me onward to no shipwreck.
SAMUEL BECKETT, MOLLOY
Ein altehrwürdiger Mythos verklärt Musik in ein vom alltäglichen Leben losgelöstes, freischwebendes Reich der Wahrheit und Schönheit. Oft gilt sie als die reine, universelle Sprache, die direkt zum Herzen spricht. Zur gleichen Zeit aber stattet man diese Kunstform mit enormer sozialer Macht aus. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts hat das jeweilige Publikum die Musik zu einer Art weltlichen Religion oder spirituellen Kraft gemacht und ihr Botschaften angedichtet, die so eindringlich wie unbestimmt waren und sind. Beethovens Sinfonien versprechen politische und individuelle Freiheit; Wagners Opern befeuern die Einbildungskraft von Schriftstellern und Demagogen; Strawinskys Ballettkompositionen setzen Primär-Energien frei; die Beatles verkörpern das Aufbegehren gegen eine überkommene Gesellschaftsordnung. An jedem Punkt der Geschichte gibt es ein paar Komponisten und kreative Musiker, die das Geheimnis ihrer Zeit in sich zu tragen scheinen. Die Musik bricht unter einer solchen Last fast zusammen, und wenn wir von ihrer Ausdruckslosigkeit sprechen, wollen wir sie vermutlich vor einem übertriebenen Anspruch schützen. Denn sosehr wir unsere Musikidole verehren, so sehr zwingen wir sie, quasi auf Knopfdruck bestimmte Emotionen zu liefern: Ein Teenager lässt Hip-Hop dröhnen, um seine Wut zu kanalisieren; eine Frau im gehobenen Management hört zur Entspannung Bach. Die Musiker befinden sich in der merkwürdigen Situation, gleichzeitig vergöttert zu werden und versklavt zu sein.
Dieses Buch ist der vorläufige Bericht einer gefährdeten Spezies, des amerikanischen Musikkritikers. Seit 1996 habe ich das große Glück, Musikkritiken für den New Yorker zu schreiben, eine der wenigen amerikanischen Publikationen, die der klassischen Musik noch Platz widmen. Von Anfang an ermutigten mich meine Herausgeber, den Blick weit über die musikalische Landschaft streifen zu lassen – also nicht nur über die Stars in Carnegie Hall oder Metropolitan Opera zu schreiben, sondern auch an entlegeneren Orten nach jungen Stimmen zu suchen. Genau wie meine Vorgänger Andrew Porter und Paul Griffiths war ich immer der Ansicht, dass modernen Komponisten die gleiche Behandlung wie den kanonischen Meistern gebührt – ein Grundsatz, der zu meinem ersten Buch The Rest Is Noise: Das 20. Jahrhundert hören geführt hat. Gelegentlich kam es auch zu Ausflügen in Pop und Rock, aber als jemand, der komplett mit klassischer Musik aufgewachsen ist, fühle ich mich außerhalb dieses Bereichs eher unsicher. Die Zeitschrift hat mir durchaus erlaubt, anderes Terrain zu betreten – ich durfte über Thomas Mann, die Frankfurter Schule, Stéphane Mallarmé, Oscar Wilde, Orson Welles und das Death Valley schreiben –, aber meine Heimat ist und bleibt einfach die Musik.
Im Gegensatz zu den meisten Amerikanern meiner Generation – ich kam 1968 zur Welt – bin ich mit einer fast schon fanatischen Hingabe an die großen Komponisten der klassischen Tradition aufgewachsen. Wie ich im ersten, memoirenhaften Essay dieses Buchs darlege, war mir zeitgenössische Musik anfangs vollkommen gleichgültig, egal ob klassisch oder populär. Listen to This stellt zum Teil eine Dokumentation dar, wie ein Zuhörer seine jugendliche Liebe zur Klassik mit einem reiferen Verständnis des musikalischen Kosmos versöhnt. Die ersten Essays versuchen, die komplizierten Verbindungen zwischen den Genres zu entwirren, und zeigen auf, wie sehr die Musikkultur von den gesellschaftlichen und politischen Umständen abhängt, innerhalb deren sie sich bewegt. Danach kommen ein paar Aufsätze zu kanonischen Figuren von Bach bis Cage, an die sich Ausflüge in den zeitgenössisch-populären Bereich anschließen. Ganz am Schluss hinterfrage ich dann den Kanon als solchen, und zwar anhand der verdienstvollen, schattenhaften Figur Antonio Salieri.
Die Große Sowjetische Enzyklopädie definiert Musik in einem ihrer weiseren Momente als «eine spezielle Variante menschlich erzeugter Klänge». Die Musik-Essayistik besteht also letzten Endes darin, dass man nicht über Klänge schreibt, sondern über Menschen. Das ist tatsächlich knifflig, weil im Fall von lebenden Künstlerinnen und Künstlern anmaßend, im Fall von toten hingegen rein spekulativ. Dennoch hoffe ich natürlich, hier den einen oder anderen Blick auf die geisterhafte Realität zu ermöglichen, die uns die Musik offenbart.
Alex Ross, im Oktober 2020
Ich hasse «klassische Musik»: nicht die Sache als solche, nur den Begriff. Er verortet eine hartnäckig lebendige Kunst in einem Themenpark der Vergangenheit. Er schließt die Möglichkeit aus, dass Musik im Geiste Beethovens auch heute noch erschaffen werden kann. Der Ausdruck erzeugt eine Hängepartie für das Werk Tausender Gegenwartskomponisten, die im Grunde gebildeten Menschen Rede und Antwort stehen müssen, womit sie da eigentlich ihren Lebensunterhalt bestreiten. Der Begriff ist eine Glanzleistung an Negativ-Publicity, ein extrem gelungener Anti-Hype. Ich wünschte, es gäbe eine andere Bezeichnung. Wie sehr beneide ich die Jazzer, die einfach nur «die Musik» sagen.
Den Großteil des vergangenen Jahrhunderts war die Musik von einem Kult des mediokren Elitarismus getragen, der seinen Selbstwert dadurch zu steigern sucht, dass er sich an hohle Phrasen einer intellektuellen Überlegenheit klammert. Man höre sich einmal die anderen Bezeichnungen an, die so im Umlauf sind: «Kunst»-Musik, «ernste» Musik, «bedeutende» Musik, «gute» Musik. Natürlich kann die Musik bedeutend und ernst sein, aber Bedeutsamkeit und Ernsthaftigkeit sind nicht ihre entscheidenden Charakteristika. Sie kann genauso gut auch dumm, vulgär und krank sein. Komponisten sind Künstler und keine Kolumnisten für Etikettefragen; sie haben das Recht, jede Emotion, jede geistige Verfassung auszudrücken. Sie wurden von wohlmeinenden Liebhabern hintergangen, die finden, man müsse die Musik als Luxusartikel vermarkten – als eine Sache, die das schlechtere Produkt «Pop» ersetzen kann. Diese Schwellenhüter sagen letzten Endes: «Die Musik, die euch gefällt, ist Müll. Hört euch lieber unsere bedeutende, kunstvolle Musik an.» Dadurch erreichen sie wenig bei den vermeintlichen Ignoranten, denn sie haben vergessen, die Musik als etwas zu beschreiben, das zu lieben sich lohnt. Musik ist ein viel zu persönliches Medium, als dass sie für eine absolute Wertehierarchie taugen würde. Die beste Musik ist immer die, die uns glauben lässt, sie sei die einzige auf der Welt.
Wenn die Leute «klassisch» hören, denken sie automatisch an «tot». Die Beschreibung dieser Musik schließt immer ihre Distanz zur Gegenwart mit ein, ihren Unterschied zur Masse. Kaum verwunderlich also, dass jeder schon Geschichten von ihrem bevorstehenden Ende gehört hat. In den Zeitungen wird über die wohlbekannten Probleme berichtet: Orchester und Opernhäuser fahren Defizite ein; die Musik wird kaum noch an staatlichen Schulen unterrichtet, ist in den amerikanischen Medien so gut wie unsichtbar und wird von Hollywood ignoriert oder verhöhnt. Nur gab es diese Geschichte auch schon vor vierzig, sechzig oder achtzig Jahren. Im Jahr 1969 schrieb Stereo Review: «Es werden weniger Klassikplatten verkauft, weil die Menschen sterben (…) Der heutige Klassikmarkt ist, was er ist, weil vor fünfzehn Jahren niemand versucht hat, die Liebe zur klassischen Musik bei den Kindern zu wecken, die damals noch zu beeindrucken waren und heute den Markt darstellen.» Der Dirigent Alfred Wallenstein schrieb im Jahr 1950: «Die wirtschaftlichen Probleme, vor denen ein amerikanisches Sinfonieorchester steht, spitzen sich immer mehr zu.» Der Kritiker Karl Heinz Stuckenschmidt schrieb 1926 im Beitrag «Mechanische Musik»: «Konzerte sind schlecht besucht, und die Haushaltsdefizite werden von Jahr zu Jahr größer.» Die Klagen über den Niedergang oder gar Tod der Kunstform sind bis ins 14. Jahrhundert zurückzuverfolgen, als die gefühlvollen Melodien der Ars Nova das Ende der Zivilisation anzukündigen schienen. Der Pianist Charles Rosen hat den klugen Satz geäußert: «Der Tod der klassischen Musik ist vermutlich der älteste und beständigste Teil ihrer Tradition.»
Das Klassik-Publikum gilt allgemein als todgeweihte Versammlung der Alten, der Weißen, der Reichen und der Gelangweilten. Wie Statistiken des National Endowment for the Arts zeigen, ist die Situation nicht ganz so schlimm. Das Publikum ist hier tatsächlich älter als in anderen Sparten, aber das wohlhabendste ist es keineswegs. Musicals, Theater, Ballett und Museen bekommen im Einkommenssegment 55000 Dollar und darüber größere Stücke des Kuchens ab (wie auch der Sportsender ESPN übrigens). Das Parterre der Metropolitan Opera spielt den Gastgeber für Firmenchefs und die oberen Zehntausend, aber in den weniger teuren Bereichen – bei Abfassung dieses Textes kosteten die meisten Plätze in den oberen Rängen fünfundzwanzig Dollar – tummeln sich Lehrer, Textkorrektoren, Studenten, Rentner und viele andere, die keinen Eintrag im Who’s who haben. Wer echten, durch Schweizer Konten gestützten und auch zur Schau gestellten Reichtum sehen will, geht besser zu den Millionären, die bei einem Billy-Joel-Konzert in den Stadionlogen sitzen – so die Security das zulässt. Was das Ergrauen des Publikums betrifft, kann diese Tendenz nicht verleugnet werden, aber mit etwas Glück pendelt sich das ein. Paradoxerweise ist es nämlich so, dass trotz des zunehmenden Durchschnittsalters der Zuschauer das der Musiker immer mehr abnimmt. Die Mitglieder der Berliner Philharmoniker sind durchschnittlich eine Generation jünger als die Rolling Stones.
Die Musik liegt ständig im Sterben, und das seit jeher. Sie ist wie eine alterslose Diva auf permanenter Abschiedstournee, die noch ein allerletztes Konzert gibt. Sie ist schwer zu benennen, weil sie im Grund nie wirklich existiert hat – also nicht in dem Sinn, dass sie zu einem bestimmten Zeitpunkt oder an einem bestimmten Ort entstanden ist. Sie hat keine Genealogie, keine ethnische Herkunft: Die führenden Komponisten der Gegenwart kommen aus China, Estland, Argentinien oder Queens. Die Musik ist einfach das, was Komponisten erschaffen – eine lange Reihe niedergeschriebener Werke, an die sich verschiedene Aufführungstraditionen geheftet haben. Sie umfasst das Hohe, das Niedrige, Oberschicht, Untergrund, Tanz, Gebet, Stille, Lärm.
Bis ich zwanzig wurde, habe ich ausschließlich klassische Musik gehört. Im Rückblick betrachtet, wirkt das etwas seltsam, aber damals kam es mir völlig normal vor. In gewisser Hinsicht bin ich nicht in den Siebzigern und Achtzigern aufgewachsen, sondern in den Dreißiger und Vierzigern, den Jugendjahren meiner Eltern. Weder meine Mutter noch mein Vater haben eine Musikausbildung genossen – beide wurden Mineralogen –, aber sie waren begeisterte Konzertgänger und Plattensammler. Sie wuchsen im «Goldenen Zeitalter» des amerikanischen Mittelstands auf, als die Musik in der Gesellschaft noch einen anderen Platz einnahm als heute. In diesen Jahren, die einem heute wie eine Traumwelt vorkommen, saß man zu Millionen vor den Radios und hörte zu, wie Toscanini das NBC Symphony Orchestra dirigierte. Walter Damrosch erklärte Schulkindern die Klassiker und erfand Liedchen, mit denen sie sich das Behandelte besser merken konnten. (Meine Mutter erinnert sich noch an eines: «This is / The sym-pho-nee / That Schubert wrote but never / Fi-nished (…)» – Das ist / Die Sin-fo-nie / Die Schubert schrieb, aber nie / vollen-dete.) Die NBC übertrug an einem Nachmittag ein College-Football-Spiel, am nächsten dann ein Konzert von Lotte Lehmann. Bei mir daheim kamen erst das Boston Symphony Orchestra und dann Football. Für mich klaffte dazwischen keine Lücke.
Schon früh stürzte ich mich auf die Plattensammlung meiner Eltern, gut bestückt mit Werken des Goldenen Zeitalters: Serge Koussevitzkys Sibelius, Charles Munchs Berlioz, das Thibaud-Casals-Cortot-Trio, das Budapest String Quartet. Wie die Platten aussahen und sich anfühlten, war untrennbar mit ihrem Klang verbunden. Es gab Otto Klemperers majestätische, in Zeitlupe vorgetragene Matthäus-Passion mit der schockierenden Illustration des Meisters von Delft. Toscaninis energische Interpretationen von Beethoven und Brahms waren von Robert Hupkas Fotos geziert, die den Maestro in Aktion zeigten, im Gesicht das gesamte Gefühlsspektrum von der Ekstase bis hin zum Ekel. Mozarts Divertimento in Es-Dur schmückte das berühmte Porträt, auf dem der Komponist nachdenklich den Blick senkt, wie ein General, der eine aussichtslose Schlacht vor sich hat. Während ich zuhörte, las ich die Begleittexte, die meist im leicht überkandidelten und deshalb fast schon platten Stil gehalten waren, wie er um die Mitte des 20. Jahrhunderts in den Medien vorherrschte. Über Tschaikowsky hieß es etwa, er zeige eine «Melancholie, die manchmal abyssale Tiefen erreicht». Nichts davon ergab Sinn für mich: So etwas wie Melancholie war mir unbekannt, von abyssalen Tiefen ganz zu schweigen. Wichtig war nur das abrupte Aufwallen des Gedankens, das meiner Reaktion auf die Musik entsprach.
Das erste Werk, das ich fast bis zum Wahnsinn verehrte, war Beethovens Eroica-Sinfonie. Bei einem Garagenflohmarkt fand meine Mutter eine Platte von Leonard Bernstein und dem New York Philharmonic Orchestra – aus der Reihe der Music-Appreciation Records des Book-of-the-Month-Clubs. Eine Begleitplatte enthielt Bernsteins Analyse der Sinfonie, eine Art Reiseführer zu ihrer fünfundvierzigminütigen Ausdehnung. Jetzt kannte ich die Bezeichnungen für die Konturen, die ich da wahrnahm. Bernstein bespricht etwas, das nach etwa zehn Sekunden passiert: Dem fanfarenähnlichen Hauptthema in Es-Dur wird von der Note Cis aufgelauert. «Hier gab es einen Stoß zudringlicher Andersartigkeit», sagte Bernstein so rätselhaft wie verführerisch mit seinem nikotinlastigen Bariton. Immer wieder hörte ich mir diesen Ton der Andersartigkeit an. Ich kaufte mir die Partitur und entzifferte die Notation. Mit Hilfe von Max Rudolphs Dirigierhandbuch brachte ich mir ein paar Bewegungen bei, mit denen man den Takt richtig schlägt. Im Wohnzimmer nahm ich meine Eltern in Geiselhaft, während ich für eine verzehrende Fassung der Eroica den Plattenspieler dirigierte.
Übertreibt Bernstein, wenn er dieses zurückgenommene Cis in den Celli als «Schock», «Hieb» und «Stoß» bezeichnet? Hätte man Gelegenheit, die Eroica einem vierzehnjährigen Hip-Hop-Fan vorzuspielen, würde er sie wohl im besten Fall schockierend langweilig finden. Aber das Werk fährt fort, wie aufs Stichwort für immer neue Überraschungen zu sorgen. Sieben Takte Es-Dur, dann das Cis, das für einen Moment auftaucht und gleich wieder verschwindet: wie ein Redner, der ans Mikrophon tritt, die ersten Worte einer feierlichen Ansprache äußert und dann verstummt, als müsse er an ein Kindheitserlebnis denken oder hätte im Publikum eine kritische Miene erblickt. Ich kann mich nicht mit dem Zuhörer identifizieren, der beim Anhören der Eroica sagt: «Uff! – Zivilisation!» Bei mir hat Musikhören nicht den Zweck, zivilisiert zu sein; immer wieder mache ich es, um der Welt um mich herum zu entfliehen. Was ich an der Eroica liebe, ist die Art und Weise, in der sie Romantik und Aufklärung, Zivilisation und Revolution, Körper und Geist, Ordnung und Chaos vereinigt. Sie weiß genau, dass man denkt, die Musik würde jetzt da oder dahin gehen, und schlägt dann triumphierend eine andere Richtung ein. Der dänische Komponist Carl Nielsen hat einmal einen Monolog für den Geist der Musik geschrieben, in dem sie oder er sagt: «Ich liebe die riesige Oberfläche der Stille – und mit allergrößtem Vergnügen durchbreche ich sie.»
Etwa zu der Zeit, als ich von Beethovens Cis gestoßen wurde, fing ich selbst mit dem Komponieren an. Meine dahingehende Karriere dauerte vom achten bis zum zwanzigsten Lebensjahr. Ich habe noch den Spiralblock mit einer ehrgeizigen Auflistung zukünftiger Kompositionen: dreißig Klaviersonaten, zwölf Violinsonaten, diverse Sinfonien, Konzerte, Phantasien und Trauermärsche, die meisten davon in der Tonart d-Moll. Ideen für diese Werke finden sich auf den folgenden Seiten verstreut, nur wurde da letztendlich nichts draus, was insgesamt auch für mein Komponistendasein gilt. Für den Schulgottesdienst gelang mir immerhin eine Vertonung von «O Magnum Mysterium»: Sie endete mit einem dissonanten Orgelakkord, der einen rätselhaften Gott symbolisieren sollte. Aufgeführt wurde sie nie. Gern denke ich an den Kommentar meines College-Dozenten, des Komponisten Peter Lieberson, der auf die letzte Seite meiner Semesterabschlussarbeit kritzelte, ich hätte da eine «hochinteressante und ziemlich eigenwillige Sonatine» geschrieben. Ich legte den Stift weg und versank in Schweigen, genau wie Sibelius in Järvenpää.
Meine Unfähigkeit, irgendetwas fertigzustellen – und schon gar etwas Gutes –, erzeugte bei mir den allergrößten Respekt vor dieser absurden Art und Weise, seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Komponisten rebellieren im Grunde gegen die Realität. Sie erschaffen ein Produkt, das komplett überflüssig ist – zumindest bis ihre Musik ins öffentliche Bewusstsein dringt und die Leute ab da denken, sie könnten ohne dieses Produkt gar nicht mehr leben. Die meisten derer, die regelmäßig auf der Liste mit den meistgespielten Komponisten auftauchen – Mahler, Strauss, Sibelius, Debussy, Ravel, Rachmaninow, Strawinsky, Schostakowitsch, Prokofjew und Copland –, waren noch nicht einmal geboren, als der erste Entwurf des «Standardrepertoires» verfasst wurde.
Über die gesamte Teenagerzeit hatte ich Klavierunterricht bei einem Mann namens Denning Barnes. Ich lernte bei ihm auch Komposition, Musikgeschichte und die Kunst des Zuhörens. Er war ein drahtiger Mann mit wirrem Haar, dessen Tweedjacketts komisch rochen: nicht gut oder schlecht, einfach komisch. Er kannte sich gut mit Beethoven, Schubert und Chopin aus, liebte aber auch die Musik des 20. Jahrhunderts. Besonders angetan war er von Béla Bartók und Alban Berg. Er öffnete mir eine weitere Tür – in einer Wand, von der ich bislang nicht einmal wusste. Seine eigene Musik war wild, jazzig und leicht durchgeknallt. Einmal hämmerte er eine der Variationen aus Beethovens letzter Klaviersonate herunter und erklärte mir, das sei eine Vorwegnahme von Boogie-Woogie. Ich wusste nicht, was Boogie-Woogie sein sollte, war aber total begeistert, dass Beethoven das vorweggenommen hatte. Die Beethoven-Marmorbüste meiner Kindheit war ab da ein adleräugiger Wächter auf den Bollwerken des Klangs.
«Boogie-Woogie» war ein Wesen aus der ernsthaft-lustigen Welt Bernsteins, und Mr. Barnes war mein persönlicher Bernstein. Nichts an ihm war snobistisch: Er bestand zu hundert Prozent aus Enthusiasmus und war ein Fünfzehn-Dollar-die-Stunde-Guerillakämpfer für die Musik, die er liebte. Er starb 1989 an einem Gehirntumor. Bei unserem letzten Treffen spielten wir eine haarsträubende Version von Schuberts Fantasie in f-Moll für Klavier zu vier Händen. Sie enthielt viele falsche Töne, vornehmlich auf meiner Seite der Tastatur, fühlte sich aber großartig an und war wunderbar laut – bis heute hat für mich keine andere Interpretation des Werks die unsrige übertroffen.
In meiner Highschool-Zeit machte ich eine fürchterliche Entdeckung: Ich war in meiner Altersgruppe der Einzige, der dieses Zeug mochte. In anderen Klassen gab es zwar durchaus Klassik-Nerds, aber wir waren viel zu unterschiedlich, um irgendwie zusammenzufinden. Ein paar «normale» Freunde schleppten mich in eine Filmvorführung von Pink Floyd – The Wall, nach der ich immerhin einräumte, eine Passage daraus würde nach Mahler klingen.
Erst im College begann meine musikalische Festung dann zu bröckeln. Ich verbrachte viel Zeit beim Campus-Radio, wo ich eine Sendung moderierte und das Klassikprogramm mitgestaltete. Fast schon fanatisch kontrollierte ich die Grenzen des täglichen Sendeablaufs und war nicht bereit, auch nur fünfzehn Minuten von Meisterwerke der Kammermusik oder Ähnlichem abzugeben. Um Punkt 22 Uhr wechselte das Programm von Klassik zu Punk, und zwar Punk der abstrusesten Sorte. Sobald von einer Platte mehr als nur ein paar hundert Stück verkauft wurden, flog sie von der Playlist. Die DJs ließen zu Beginn ihrer Sendung gern die schlimmsten, abgedrehtesten Songs laufen, um die Klassik-Hörer abzuschrecken. Ich versuchte, sie mit klanglichen Wallungen von Xenakis zu übertreffen. Sie bedankten sich mit Sinatras «Only the Lonely». Einmal beantworteten sie meinen Beitrag über Herbert von Karajan, indem sie sarkastisch einen Song der Neonazi-Band Skrewdriver spielten, in dem es hieß: «Free Rudolf Hess / How long can they keep him there? We can only guess».
Verrückterweise waren diese studentischen Punkrocker die interessantesten Typen, die ich je getroffen hatte. Zwischen penibel recherchierten Sendungen zu Mission of Burma oder den Butthole Surfers erstellten sie Hausarbeiten über römische Befestigungsanlagen oder das liberale Denken des Autors und Literaturkritikers Lionel Trillings. Ich fing an, nach meiner eigenen Sendung noch im Studio abzuhängen, und unterdrückte meine instinktive Angst vor ihren stickerbesetzten Lederjacken und buntgefärbten Haartrachten. Ich erklärte ihnen – genau wie Mr. Barnes das getan hätte –, dass die atonale Musik Arnold Schönbergs all das bereits vorweggenommen hätte. Und ich begann, auch neuere Sachen zu hören. Die ersten beiden Rock-Platten, die ich mir zulegte, waren die Pere-Ubu-Kompilation Terminal Tower sowie Daydream Nation von Sonic Youth. Ich arbeitete mich vom Underground zum Alternative Rock vor und landete schließlich beim durchweg kommerziellen Rock. Ich verabschiedete mich von der Vorstellung einer Überlegenheit der Klassik, was aber zu einer Glaubenskrise führte: Wenn die Musik nicht bedeutend und ernst, nicht groß und mächtig war – was war sie dann?
Als ich nach der Uni im nördlichen Kalifornien lebte, dachte ich eine Zeitlang daran, die klassische Musik ganz aufzugeben. Ich verkaufte viele meiner CDs, darunter auch die gesammelten Sinfonien von Arnold Bax, um mir mehr Pere Ubu und Sonic Youth kaufen zu können. Ich schnitt mir die Haare kurz, trug wütende T-Shirts und trieb mich in Berkeleys Punkklub 924 Gilman Street herum. Ich wurde Fan einer Band namens Blatz – weiter hätte ich mich von Bax nicht entfernen können. (Ihr großer Hit war «Fuk Shit Up».) Zum Glück musste mir niemand erst sagen, dass ich am falschen Ort war. Es gibt in Amerika den merkwürdigen Traum, dass eine neue Musik dir eine neue Persönlichkeit, eine neue Gesellschaftsschicht, sogar eine neue Rasse schenken kann. Das außerkörperliche Gefühl ist aufregend, solange es anhält, aber die meisten Leute werden dorthin zurückgeworfen, wo sie gestartet sind.
Als ich mich wieder ins Ghetto der Klassik begab, beschloss ich, seine Begrenzungen zu akzeptieren. Ich merkte, dass diese Kultur nach außen hin zwar ungemein baufällig wirkte, in sich aber nach wie vor eine leuchtende Flamme barg. Und ich dachte: Wenn ich von Brahms zu Blatz gehen kann, können andere diesen Weg auch in der Gegenrichtung bewältigen. Ich wollte schon immer über Klassik reden, als sei sie populäre Musik – und über populäre, als sei sie Klassik.
Für viele Leute ist Popmusik der Soundtrack zur chaotischen Adoleszenz, während die andere dann im langen Zwielicht des Erwachsenseins erklingt. Bei mir ist das genau umgekehrt. Wenn ich die Eroica höre, verspüre ich eine fast schon kindliche Energie, eine glückliche Bereitschaft für die Welt. Da ich erst spät zur Popmusik kam, gehe ich sie auch erwachsener an. Für mich ist sie tiefgründig, wissend, voll winziger Schattierungen der Wahrheit darüber, wie die Dinge wirklich sind. Bob Dylans Blood on the Tracks zerlegt eine scheiternde Beziehung mit nüchterner Klarheit. Pervers gedacht, wäre die Eroica das ungehobelte, grobschlächtige Ding – ein einziger Ausbruch von Ich und Es –, ein Song wie Radioheads «Everything in Its Right Place» hingegen die reine, abgeklärte Erwachsenen-Ironie. Die Vorstellung, dass das Leben harmlos und ebenmäßig dahinfließt – die dunkle Cis-Haftigkeit der Welt zwar spürbar, aber nicht bestätigt –, entspricht einer Schicksalsergebenheit, die Beethoven wahrscheinlich nie fühlte und schon gar nicht kommunizierte. Niemals will ich akzeptieren, dass eine bestimmte Art von Musik dem Verstand guttut und eine andere der Seele. Weil das vom jeweiligen Verstand und der jeweiligen Seele abhängt.
Die fatale Bezeichnung kam erst ganz spät in Umlauf. Von Machaut bis zu Beethoven war die Musik, die es gab, moderne Musik, und der Markt, in dem mit ihr gehandelt wurde, ganz ähnlich wie die heutige Popkultur. Ältere Musik wurde entweder schnell vergessen oder nur in akademischen Zusammenhängen behandelt. Sogar in den Kirchen war ständig Bedarf an neuem Material. Im Jahr 1687 wurde in Flensburg die Entlassung eines Kantors angestrebt, der auf ältere Musikstücke zurückgriff und keine zeitgenössischen spielen wollte. Als Johann Sebastian Bach im Jahr 1730 dem Leipziger Stadtrat vorwarf, nicht genug Sänger und Musiker engagiert zu haben, begründete er das damit, dass «die ehemahlige Arth von Musik unseren Ohren nicht mehr klingen will» und man nur mit ausgebildeten Künstlern «die neueren Arthen der Musik bestreiten» könne.
Bis weit ins 19. Jahrhundert waren Musikveranstaltungen eklektische Spektakel, bei denen Opernarien mit Teilen aus Sonaten und Konzertkompositionen kombiniert wurden. Drehorgelspieler trugen die beliebtesten Melodien hinaus auf die Straßen, wo sie sich mit Volkliedern abwechselten. Das Publikum drückte Gefallen oder Missfallen durch Beifall oder Rufe aus, während die Musik noch gespielt wurde. Mozart schrieb bezüglich seiner «Pariser» Sinfonie im Jahr 1778 über den Umgang mit seinem Publikum: «Gleich mitten im ersten Allegro war eine Passage, die ich wohl wusste, dass sie gefallen müsste: alle Zuhörer wurden davon hingerissen, und war ein grosses Applaudissement. – Weil ich aber wusste, wie ich sie schrieb, was das für einen Effect machen würde, so brachte ich sie zuletzt noch einmal an, – da ging es nun da capo.»
James Johnson beschreibt in seinem Buch Listening in Paris einen Abend in der Pariser Opéra, etwa zur gleichen Zeit:
Auch wenn die meisten Zuschauer mit dem Ende des Ersten Akts ihre Plätze eingenommen hatten, hörten die Bewegungen und Gespräche nie ganz auf. Lakaien und Junggesellen drängelten sich im überfüllten und oft auch lauten Parterre, dem ebenerdigen Bereich, zu dem nur Männer Zutritt hatten. Gebürtige Prinzen und Herzöge besuchten sich gegenseitig in den gut sichtbaren Logen des ersten Rangs. Weltliche Abbés plauderten im zweiten Rang fröhlich mit diamantengeschmückten Damen und ernteten empörte Rufe aus dem Parterre, wenn die Gespräche allzu vertraulich wurden. Liebespaare zogen sich gern in die lichtschwachen Höhen des dritten Rangs zurück – ins Paradies –, um der Kontrolle der Operngläser zu entgehen.
In Amerika waren Musikveranstaltungen ein stilistisches Durcheinander, ein Spiegel der bunten Gesellschaftsstruktur. Walt Whitman deutete die Oper als Metapher der Demokratie; die Stimmen seiner Lieblingssänger waren integraler Bestandteil seines lauter werdenden «barbarischen Raubvogelschreis».
Um das Jahr 1800 war es in Europa so weit, dass die Vergangenheit zunehmend Druck auf die Gegenwart ausübte. Johann Nikolaus Forkels Bach-Biographie (1802), eines der ersten größeren Werke über einen toten Komponisten, ist vermutlich die Gründungsurkunde des «klassischen» Denkens. Alle wichtigen Punkte finden sich hier: die Sehnsucht nach untergegangenen Epochen, die Verehrung eines einzelnen, gottgleichen Wesens, die Ablehnung der Gegenwart. Bach war «der erste Klassiker, der je gewesen ist, und vielleicht je seyn wird», verkündete Forkel. Er sagte außerdem: «Wenn die Kunst Kunst bleiben, und nicht immer mehr zu bloß zeitvertreibender Tändeley zurück sinken soll, so müssen überhaupt klassische Kunstwerke mehr benutzt werden, als sie seit einiger Zeit benutzt worden sind.» Mit «zeitvertreibender Tändeley» meinte Forkel wahrscheinlich das Parlando oder auch Geschwätz der italienischen Oper; seine Biographie richtet sich an «patriotische Verehrer echter musikalischer Kunst», vor allem der deutschen. Forkels Klage, die Musik seiner Zeit sei am Aussterben, wirkt heute natürlich amüsant, denn im Sommer 1802 nahm Beethoven die Arbeit an seiner 3. Sinfonie, der Eroica, auf.
Das gigantische, turbulente Werk stieß anfänglich eher auf Unverständnis, doch dann erkannte man zunehmend seinen Zauber. Eine Aufführung in Leipzig stellte 1807 den Wendepunk dar: Die Sinfonie wurde eine Woche später «wegen großer Nachfrage» wiederholt und erhielt sogar den Ehrenplatz am Ende des Programms. Beethoven müsse mehrmals gehört und erlebt werden, hatte ein Kritiker bereits über die 2. Sinfonie geschrieben: «Sie will, selbst von dem geschicktesten Orchester, wieder und immer wieder gespielt sein.» Es war vor allem die bestechende Komplexität seiner Konstruktionen – die Erschaffung größerer Strukturen aus einer obsessiven Entwicklung kleinerer Motive –, die der Repertoire-Kultur der Klassik den Weg ebnete. Damit soll nicht gesagt sein, dass sich wiederholtes Hören bei Beethovens Vorgängern mit ihren variationsreichen Spielereien nicht lohnen würde. Bei Beethoven selbst entsteht aber geradezu eine Abhängigkeit, eine Unausweichlichkeit. Kein Komponist kämpft so sehr darum, Langeweile zu vermeiden und die Aufmerksamkeit der Person zu fesseln, die eine seiner Kompositionen zum zehnten oder auch hundertsten Mal hört oder selbst spielt.
So kam es, dass Beethoven den problematischen Status einer säkularen Gottheit erlangte und seinen Schatten nicht nur auf die warf, die nach ihm kamen, sondern auch auf diejenigen, die ihm vorausgegangen waren. Bereits zu Lebzeiten intensivierte sich diese Verherrlichung. Im Jahr 1810 veröffentlichte E.T.A. Hoffmann, Schriftsteller und selbst großer Musiker, der aber vornehmlich für seine Phantasie- und Schauergeschichten bekannt ist, eine erstaunliche Rezension der 5. Sinfonie:
So öffnet uns auch Beethovens Instrumentalmusik das Reich des Ungeheuern und Unermeßlichen. Glühende Strahlen schießen durch dieses Reiches tiefe Nacht, und wir werden Riesenschatten gewahr, die auf- und abwogen, enger und enger uns einschließen und uns vernichten, aber nicht den Schmerz der unendlichen Sehnsucht, in welcher jede Lust, die schnell in jauchzenden Tönen emporgestiegen, hinsinkt und untergeht. (…) Beethovens Musik bewegt die Hebel der Furcht, des Schauers, des Entsetzens, des Schmerzes (…)
Das war Musikkritik in einer neuen Tonart. Der Musik werden sowohl transzendente als auch transformative Kräfte zugeschrieben: Sie schwebt weit über der normalen Welt, reicht jedoch herunter und verändert den Lauf der menschlichen Dinge.
Klassische Konzerte erhielten zunehmend den Charakter von Kulthandlungen. Die Partitur wurde ein geheiligtes Objekt; Improvisation fand immer weniger statt. In den Konzertsälen kehrten Stille und Zurückhaltung ein, Verhalten und Kleidung wurden förmlich. Bei den Wagnerfestspielen in Bayreuth, die erstmals 1876 stattfanden, zeigte man sich bei der Unterbindung von Beifall besonders rigoros. Für die Parsifal-Premiere 1882 verbot Wagner, dass die Sänger nach dem Vorhang noch einmal herauskamen, damit die ergriffene Stimmung seines «Bühnenweihfestspiels» nicht zerstört würde. Das Publikum nahm das als generelles Verbot von Applaus. Cosima Wagner, die Frau des Komponisten, notierte in ihr Tagebuch, was bei der zweiten Aufführung geschah: «Nach dem ersten Akt entsteht ein wohltuendes Schweigen der Andacht. Aber nach dem zweiten wirkt es peinlich, daß die Beifall-Spendenden wieder ausgezischt werden.» Zwei Wochen später brachten Zuschauer einen Mann zum Schweigen, der bei der Blumenmädchenszene «Bravo!» rief. Ihnen war nicht klar, dass sie den Komponisten auszischten. Die Wagnerianer nahmen Wagner ernster als er sich selbst – eine bedenkliche Entwicklung.
Die Sakralisierung der Musik, um hier eine Formulierung von Lawrence Levine zu verwenden, hatte aber auch Vorteile. Viele Komponisten waren froh, dass bei den Zuschauern Ruhe einkehrte; das sanfte Schock eines Cis bliebe ansonsten ja unbemerkt. Sie fingen an, für ein schweigendes, hörerfahrenes Publikum zu komponieren. Leute wie Beethoven oder Verdi kümmerten sich wenig um diese Herausbildung einer selbsternannten Elite. So egoman die Großmeister des 19. Jahrhunderts vielleicht waren – als Snobs kann man sie nicht bezeichnen. Wagner war von Luxus, hochrangigen Persönlichkeiten und sehr viel Dünkel umgeben und wetterte trotzdem gegen den Gedanken eines «klassischen» Repertoires, für den er die Juden verantwortlich machte. Sein erschreckender Antisemitismus ging Hand in Hand mit einem immer wieder charmanten Populismus. In einem Brief an Franz Liszt beklagte er den «monumentalen Charakter» der zeitgenössischen Musik, ihr «Kleben und Hangen an der Vergangenheit».
Nachdem die europäische Bourgeoisie Beethoven zum Halbgott erhoben hatte, verlor sie sogar an den aufregendsten unter den lebenden Komponisten das Interesse. 1859 schrieb ein Rezensent in Leipzig, dass «neue Kompositionen wenig oder gar kein Glück gemacht haben (…) Das gegenwärtige vierzehnte Gewandhausconcert war nun wieder ein solches, in dem eine neue Composition zu Grabe getragen wurde». Die Musik, um die es hier ging, war das Klavierkonzert Nr. 1 von Brahms. (Brahms wusste, dass es schlecht für ihn lief, als nach dem ersten Satz niemand klatschte.) Um die gleiche Zeit bemerkten die Veranstalter einer Pariser Konzertreihe, dass ihre Abonnenten «ärgerlich werden, wenn auf dem Programm auch nur ein einziger zeitgenössischer Komponist steht». Der Musikwissenschaftler William Weber hat gezeigt, wie das historische Repertoire in ganz Europa Dominanz über das Konzertwesen erlangte. 1782 betrug in Leipzig der Anteil der Musik noch lebender Komponisten satte 89 Prozent. 1845 war er auf rund 50 Prozent abgesunken, und noch später im 19. Jahrhundert ging er sogar bis auf 25 Prozent zurück.
Die Fetischisierung der Vergangenheit hatte eine verheerende Wirkung auf die Moral der Komponisten. Immer mehr bezweifelten sie, dieses unversöhnliche Publikum befriedigen zu können, das alles ablehnte, was ihm angeboten wurde, egal in welchem Stil. Wenn es eh keinen interessiert, dachten sich die Komponisten, dann können wir uns ja gleich nur untereinander austauschen. Das war in etwa die Haltung, die im frühen 20. Jahrhundert zur kompromisslosen, manchmal fast schon asozialen Mentalität der Avantgarde führte. Ein Rezensent der Uraufführung der Eroica sah genau, welche Sackgasse sich da auftat:
Die Musik könne so bald dahin kommen, daß jeder, der nicht genau mit den Regeln und Schwierigkeiten der Kunst vertraut ist, schlechterdings gar keinen Genuß bey ihr finde, sondern durch eine Menge unzusammenhängender und überhäufter Ideen und einen fortwährenden Tumult einiger Instrumente, die den Eingang charakterisiren sollten, zu Boden gedrückt, nur mit einem unangenehmen Gefühl der Ermattung das Koncert verlasse.
In Amerika trieb die bürgerliche Mittelschicht die Klassik-Verehrung zu einem fast schon nekrophilen Extrem. Lawrence Levine gibt in seinem Buch Highbrow/Lowbrow ein erschreckendes Bild der Musikkultur, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts im Land herrschte. Es war demnach eine Welt, die Virtuosität, Extravaganz und alles, was nur entfernt nach «Unterhaltung» roch, rigoros ablehnte. Die Orchester widmeten sich «der hervorragenden Aufführung der bedeutenden Schöpfungen bedeutender Komponisten, der besten und tiefgründigsten Kunstwerke – und ausschließlich dieser», um die leicht redundante Formulierung des Dirigenten Theodore Thomas zu zitieren, der mehr oder weniger der Begründer des modernen amerikanischen Orchesters gelten kann.
Teilweise geht Levine mit der Kultur des späten 19. Jahrhunderts etwas zu streng um. Zwar stimmt es, dass die europäische Musik für viele Amerikaner zum Statussymbol wurde, nur verfolgten die meisten der führenden Köpfe – darunter auch Henry Lee Higginson, der Gründer des Boston Symphony Orchestra – ganz altruistische Ziele und wandten sich an Zuhörer aller Schichten, Nationalitäten und ethnischer Herkünfte. Die billigen Plätze in den großen Konzerthallen kosteten nicht viel mehr als der Eintritt in die Vaudeville-Theater, meist von fünfundzwanzig Cent an aufwärts. Trotzdem machten sich Überheblichkeit und Bevormundung breit: Die klassische Musik fing an, sich selbst für einen Modus der spirituellen Erhebung und kollektiven Selbstvervollkommnung zu halten – und nicht für einen Bereich des ungebremsten künstlerischen Ausdrucks.
Bereits ein oder zwei Jahrzehnte später hatten amerikanische Sinfonieorchester etwas so Verknöchertes, dass progressivere Geister einen dahingehenden Wandel forderten. «Amerika ist mit Kultur belastet, von Kultur gepeinigt», schrieb der Kritiker-Komponist Arthur Farwell im Jahr 1912. «Sinfoniekonzerte, Recitals und Opern sind voller Konventionalismus, Zynismus und Befangenheit.» Daniel Gregory Mason, ein einzelkämpferischer Columbia-Professor, attackierte die «prestigebesessenen» Plutokraten, die das New York Philharmonic Orchestra betrieben. Erheblich mehr Freude hatte er an Open-Air-Konzerten im Harlemer Lewisohn Stadium, wo sich das Publikum frei zu äußern pflegte. Von dort führte Mason süffisant den Verhaltenshinweis an: «Das Publikum wird höflich gebeten, nicht mit den Sitzkissen zu werfen.»
In den Konzertsälen hielt eine strengere Etikette Einzug. Beifall wurde erneut rationiert, und die Zuhörer waren angehalten, sich nicht nur während der Musik, sondern auch zwischen den Sätzen längerer Kompositionen ruhig zu verhalten – und das sogar nach den oft ohrenbetäubenden Codas erster Sätze, die zu Klatschen und Beifallsrufen quasi auffordern. Deutsche Musiker hatten sich das zu Beginn des 20. Jahrhunderts ausgedacht. Leopold Stokowski war als Dirigent des Philadelphia Orchestras maßgeblich daran beteiligt, diese Praxis auch in Amerika heimisch zu machen. Mason schrieb in seinem Buch Tune in, America: «Nach dem Trauermarsch der Eroica hätte Mr. Stokowski, wie jemand meinte, wenigstens einen Knopf drücken und über ein Schild dem Publikum (lautlos) mitteilen können: ‹Jetzt dürfen Sie das andere Bein übereinanderschlagen.›»
In den 1930er Jahren nahm eine neue Generation von Komponisten, Dirigenten und Radiomachern Farwells Idee einer «Musik für alle» auf. Das legendäre Zeitalter des Mittelstands begann. David Sarnoff, Chef der NBC
New Yorker
Nigger HeavenNew York TimesLe Sacre du PrintempsThe Seven Lively ArtsFour Indian Love LyricsThe Rosary
Murder at the VanitiesUngarische Rhapsodie Nr. 2Ebony Rhapsody
Murder at the VanitiesNew York TribuneRhapsody in BlueRhapsody
LPRing des Nibelungen
Jede Musik wird irgendwann zu klassischer Musik. Wenn ich mir die Geschichte anderer Genres ansehe, kommt es immer wieder zu komischen Déjà-vu-Erlebnissen. Die Geschichte des Jazz scheint beispielsweise die der Klassik im Eiltempo zu durchlaufen. Am Anfang die jugendliche Rebellion: Satchmo, der Duke, Bix und Jelly Roll zeigen einer Generation, wie man sich in der Musik verlieren kann. Dann die Ära bourgeoisen Pomps: Die erstklassigen Swing-Bands übernehmen die Rolle des romantischen Orchesters. Phase 3: Die Musiker rebellieren – ähnlich wie bei der modernistischen Revolution – gegen das bourgeoise Image, teilweise sogar durch direkte Zitate. (Charlie Parker baut die Anfangstöne von Le Sacre du Printemps in «Salt Peanuts» ein.) Phase 4: der Free Jazz verkörpert den Moment, an dem die Vorhut den Kontakt zum Massenpublikum verliert und zur selbstzufriedenen Avantgarde wird. Phase 5: eine Periode der Konsolidierung und Rückbesinnung. Wynton Marsalis’ Versuch, ein traditionalistisches Jazz-Revival zu lancieren, entspricht der neoromantischen Musik vieler Komponisten des späten 20. Jahrhunderts. Aber dieses Engagement kommt zu spät, um die Kunst wieder dem populären Mainstream zuzuführen.
Die gleiche Entwicklung ist im Rock ’n’ Roll feststellbar. Was waren denn meine supergebildeten Punkrock-Freunde anderes als Modernisten der Phase 3, die gegen Phase 2 – den aufgeblasenen Romantizismus des Stadionrocks – rebellierten? In den ersten Jahren des neuen Jahrhunderts gab es in dem, was vom Rock noch übrig war, jede Menge Neoklassizismus der Phase 5. The Strokes, The Hives, die Stills, Thrills, White Stripes und zahlreiche andere Bands griffen auf einen verlorenen, reinen Moment in den Sechzigern oder Siebzigern zurück. Viele setzten auf alte Instrumente, alte Verstärker, alte Mischpulte. Ein Rockmusiker sagte sogar: «Ich verwende ausschließlich das, was ich zuvor schon gehört habe.» Ein Tonträger der White Stripes brachte den Hinweis: «No computers were used during the recording, mixing, or mastering of this record.» («Beim Aufnehmen, Mischen oder Mastern dieser Platte wurden keinerlei Computer eingesetzt.»)
SymphonyGoldberg VariationsCD
EroicaVon der unendlichen Vielfalt der Musik
Eroica
CD
Eroica