rowohlts monographien
begründet von Kurt Kusenberg
herausgegeben von Uwe Naumann
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, September 2018
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Umschlagfoto picture alliance./newscom (Edgar Allan Poe. Daguerreotypie von William Pratt, 1849 [Ausschnitt]. Original in der Rare Books and Manuscript Library, Columbia University, New York)
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ISBN Printausgabe 978-3-499-50599-7 (1. Auflage 2003)
ISBN E-Book 978-3-644-40370-3
www.rowohlt.de
ISBN 978-3-644-40370-3
GW 4, 833
Vgl. Klaus Heinrich: Versuch über die Schwierigkeit nein zu sagen. Basel/Frankfurt a.M. 1982, 137
Zum (Frank T. Zumbach) 540
GW 10, 850f.
GW 10, 866
GW 2, 556
GW 2, 674
GW 4, 671
GW 10, 720
Zum, 19
GW 9, 512
GW 4, 673
John H. Ingram: Edgar Allan Poe. His Life, Letters, and Opinions. New York 1965, 10
Ebd. 11
GW 4, 672
GW 4, 671
Zum, 80
Ebd.
GW 10, 821
GW 1, 256–257
Vgl. Hervey Allen and Thomas Ollive Mabbott: Poe’s Brother: The Life and Poetry of William H. Poe. New York 1926
Zum, 108
LW (Liliane Weissberg) 25
GW 8, 634
CB (Charles Baudelaire) 285
Zum, 126
Vgl. TOM (Thomas Ollive Mabbott) 75ff.
GW 9, 35
Vgl. AHQ (Arthur Hobson Quinn) 109
Zum, 144
Zitiert nach FHL (Franz H. Link) 79
KS (Kuno Schumann) 38
DH (Daniel Hoffman) 30
Vgl. DH, 31
Vgl. TOM, 24
GW 2, 859f.
Zum, 159
GW, 10, 783f.
Vgl. TOM, 95
CB (Charles Baudelaire) 361
Vgl. TOM, 95
GW 10, 785
Ebd.
GW 8, 638
Zum, 220
Zum, 223
Ebd.
GW 10, 618
GW 9, 242
Vgl. Jeffrey Meyers: Edgar Allan Poe: His Life and Legacy. New York 1992, 17
GW 9, 99
GW 9, 95
Ebd.
TSE (T.S. Eliot) 257
Ebd.
GW 9, 89
KS, 17
GW 2, 949
GW 1, 77
GW 1, 78
Vgl. FHL, 210
GW 1, 103
GW 1, 104
Vgl. MB (Marie Bonaparte) 245
GW 1, 144
Zum, 244
Zum, 267
Zum, 270
GW 3, 9
GW 3, 10
CB, 339
GW 3, 10
GW 3, 12
GW 3, 15
GW 3, 19
GW 3, 19
GW 3, 24
GW 3, 25
Zum, 283
Zum, 291
GW 2, 558
GW 2, 560
GW 2, 564
Vgl. Eric W. Carlson: Edgar Allan Poe. In: American Short-Story Writers before 1880. Ed. Bobby Ellen Kimbel. Detroit 1988, 316
GW 2, 569
GW 3, 27
GW 3, 29
GW 3, 32
Carla Gregorzewski: Edgar Allan Poe und die Anfänge einer originär amerikanischen Ästhetik. Heidelberg 1982, 76f.
GW 7, 379
GW 7, 380
Vgl. Alexander Kupfer: Die künstlichen Paradiese. Rausch und Realität seit der Romantik. Ein Handbuch. Stuttgart, Weimar 1996, 517ff.
GW 8, 712
GW 8, 642f.
GW 8, 645
GW 8, 646
Zum, 316
GW 6, 18
GW 6, 18f.
GW 6, 30
Zum, 326
GW 6, 36
Zum, 319
Ebd.
GW 6, 133
GW 6, 145
GW 8, 649
Zum, 340
GW 3, 115f.
GW 3, 117
GW 3, 396
UB (Ulrike Brunotte) 148, vgl. auch PK, 104ff.
Vgl. Peter Freese: Die Initiationsreise. Studien zum jugendlichen Helden im modernen amerikanischen Roman. Neumünster 1971
Vgl. UB, 149
W.H. Auden: Wie es mir schien. Übersetzt von Hella Bronold. Wien–Zürich 1977, 184
Vgl. UB, 153
GW 5, 1078
Vgl. UB, 244ff.
Vgl. Grace Farrell Lee: The Quest of Arthur Gordon Pym. In: Southern Literary Journal, Vol. IV, No. 2 (1972)
Vgl. John T. Irwin: American Hieroglyphics. The Symbol of the Egyptian Hieroglyphics in the American Renaissance. New Haven 1980
Vgl. PK (Peter Krumme) 126ff.; UB, 247
GW 2, 610
GW 2, 611f.
EB (Elisabeth Bronfen) 477
GW 2, 622
EB, 483
GW 1, 195
GW 1, 196
GW 1, 216
Zum, 375
Zum, 376
GW 1, 244
GW 1, 232f.
UB, 202
UB, 200f.
Klaus Theweleit: «You Give Me Fever»: Arno Schmidt. Seelandschaft mit Pocahontas. Frankfurt a.M.–Basel 1999, 207
Ebd., 207ff.
GW 2, 664
GW 2, 635
GW 2, 636
GW 4, 684
GW 4, 705
Sigmund Freud: Das Unheimliche. In: S.F.: Der Moses des Michelangelo. Schriften über Kunst und Künstler. Einleitung von Peter Gay. Frankfurt a.M. 1993, S. 153f.
GW 8, 655
Vgl. GW 5, 1101
Vgl. LW, 67ff.
Zum, 396
Ebd.
GW 8, 656
GW 8, 661
GW 4, 706
GW 4, 720
RT (Rudi Thiessen) 184ff.
GW 4, 707
Ebd.
GW 4, 713
Ebd.
GW 4, 719f.
RT, 191
Vgl. CB, 338
Ernst Jünger: Strahlungen. Tübingen 1949, 349
Theodor W. Adorno: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Frankfurt a.M. 1979, 318
GW 2, 731
GW 8, 712
EB, 526
GW 2, 679
Ebd.
Ebd.
GW 2, 686
GW 2, 688
GW 2, 689
GW 4, 721
GW 4, 738
UB, 44ff.
GW 4, 746
GW 4, 758
Ebd.
GW 4, 759
GW 4, 755
GW 1, 298
GW 4, 787
GW 8, 680
GW 8, 682f.
GW 9, 131
GW 8, 684f.
GW 8, 686
GW 8, 687
DH, 117ff.
Jacques Lacan: Der entwendete Brief. In: Das Seminar von Jacques Lacan. Buch II (1954–1955): Das Ich in der Theorie Freuds und in der Technik der Psychoanalyse. Hg. v. Norbert Haas u. Hans-Joachim Metzger. Weinheim-Berlin 1991
Ebd., 250
Vgl. Jacques Derrida: Le facteur de la vérité. In: Poétique 21 (1975), S. 95–147. S. 147
Zum, 549
GW 4, 853
Ebd.
GW 4, 831
GW 10, 553
GW 10, 554
GW 10, 555
GW 10, 592f.
GW 10, 576
GW 10, 577
GW 4, 859
TSE, 257
GW 5, 896
GW 5, 899
GW 5, 923
Zum, 638
GW 8, 728
GW 8, 736
Zum, 650
GW 8, 758
Zum, 664
Zum, 666
GW 8, 760
GW 8, 760
Zum, 683f.
CB, 329
Poe war davon überzeugt, dass Literatur vom Effekt her betrachtet werden müsse. Die Dichtkunst soll sich auf das Empfinden richten, nicht auf den Verstand und den Intellekt, ihr eigentlicher Sinn und Zweck besteht in der Erregung der Seele. Es soll dem Autor nicht um Belehrung oder um Erziehung gehen, sondern um Wirkungen, die er durch Silbenklang und Rhythmus zu erzielen versucht. Wobei für Poe schon die Wahl des poetischen Gegenstandes eine bedeutende Rolle spielt. Größtmögliche Wirkung erreicht der Dichter nur, wenn er ein zugleich schönes und melancholisches Thema wählt. Schönheit und Melancholie sind nach Poes Überzeugung aufs innigste mit dem Tod einer schönen Frau verbunden. Zweifellos sei dies der dichterischste Gegenstand auf Erden, ein Thema, mit dem sich die höchste Erregung im Leser hervorrufen lasse.
Auf Effekte, auf die Lust am Grauen und Unheimlichen setzt Poe nicht nur in seinen poetologischen Konzepten, sie ziehen sich durch sein ganzes Werk und sind geradezu sein Markenzeichen geworden. Gleichwohl sind es Effekte, die tiefer gehen. Das Unheimliche an Poes Helden offenbart sich gerade da, wo sie rational und in verstandesmäßiger Klarheit denken und sich gleichsam in einem Wahn befinden, einem Wahn, der etwas Selbstzerstörerisches hat oder, wie Poes es ausdrückt, dem Geist der Perversheit folgt. Und dieser Geist, das führt Poe in seinen Geschichten in extenso vor, führt in die Katastrophe. Poes Helden sind in ihren Obsessionen gefangen, sie stehen allesamt am Rande der Gesellschaft, sie leben als zuweilen skurrile, ‹vereinzelte Einzelne›, die, um es mit Freud zu sagen, ihrer nach innen gewendeten «Destruktionssucht» nicht Herr werden. Was Freud 1930 im Unbehagen der Kultur beschrieb, hat Poe in seinen Texten prophetisch vorweggenommen –: den «Selbstvernichtungstrieb», von dem er nicht nur den einzelnen Menschen, sondern die ganze Gattung erfasst sah.
Die Bewegung der Selbstzerstörung zieht sich nicht zuletzt auch durch seine Existenz. Im puritanischen Amerika galt Poe lange Zeit als ein eher suspekter Autor, der einen zweifelhaften Lebenswandel führt, dem Alkohol ergeben ist und es mit Moral und Sitte nicht so genau nimmt. Die diesbezüglichen Anschuldigungen wurden in oft verleumderischer Absicht hervorgebracht und haben auf Poes Werk in Amerika des 19. Jahrhunderts einen Schatten geworfen. Als Dichter fand Poe zunächst in Europa Beachtung, vor allem in Frankreich. Kurz vor Poes Tod (1849) hat Charles Baudelaire den Dichter-Kollegen entdeckt. Mit großer Sympathie übersetzte er nicht nur die Texte Poes, seine Zuneigung galt auch dem Menschen, der Außenseiterexistenz, auf die sich Poe zeitlebens verwiesen sah und die in den Augen Baudelaires etwas Heroisches hatte.
Schmal war der Grat, auf dem Poe wandelte. Nur kurzfristig gelang es ihm, die Balance zu halten. So wie seine Helden, so sah er sich auch selbst am Rande eines Abgrunds[1] stehen. Poe hat die Wirkung beschrieben, die der Sog des Abgrunds auf den ausübt, der zu entkommen versucht. Unsere Vernunft hält uns mit aller Macht von der Kante zurück, will uns vor der Gefahr schützen. Für den vom Sog Erfassten gibt es kein Halten, kein ruhiges Überlegen, es zieht ihn mit dämonischer Gewalt zum Abgrund hin. Unfähig, in dieser Situation zu denken, gerät er in eine Bewegung der Selbstzerstörung, in einen Taumel von Grauen und Lockung.[2] Poe glaubte sich immer wieder vom Rand des Abgrunds entfernt zu haben, gesichert zu sein. So auch im Jahre 1845, als in New York sein berühmtes Gedicht Der Rabe erschien. Urplötzlich stand Poe ganz oben. Die Zeitungen überschlugen sich in Lobeshymnen, druckten das Gedicht an prominenter Stelle ab und feierten Poe als Dichtergenie. Der große Erfolg des Raben hatte auch mit Poes Auftritten zu tun, es war ein wohlkalkuliertes Spiel mit Effekten. Im schwarzen, hochzugeknöpften Gehrock, um den Hals eine sorgfältig geknotete Krawatte, so trat er damals auf die Bühne. Mit seiner melodischen Stimme begann er dann jene Verse zu rezitieren: Once upon a midnight dreary, while I pondered, weak and weary … Wie eine altbekannte Melodie hebt das Gedicht an, und in rhythmischer Klangmalerei geht es weiter. Erzählt wird eine absurd-gespenstische Szene: In stürmischer Nacht erhält ein junger Gelehrter, der einsam über seinen Büchern sitzt und seine tote Geliebte nicht vergessen kann, überraschenden Besuch von einem sprechenden Raben. Der Gelehrte beginnt den Raben anfangs amüsiert und ironisch, später mit unverholenem Ernst auszufragen, ob er Kunde von der toten Geliebten hat. Aber der Rabe kann nur ein einziges Wort: Nevermore. Was der Gelehrte auch fragt, als Antwort erhält er immer nur das vieldeutig-düstere Nevermore. An diesem Zauberwort hängt das ganze Gedicht, der ganze Gestus des Rezitierens, der einer magischen Beschwörung gleichkommt. Es war, so ein Zuhörer, als spräche Poe «zu etwas wirklich Anwesendem»[3].
Die theatralische Darbietung wurde zum gesellschaftlichen Ereignis. Im Februar lauschten über dreihundert Leute in der New York Society Library der Rezitation. Wenn Poe das Gedicht passagenweise in einen lyrischen Sprechgesang überführte, fühlten sich viele an eine musikalische Darbietung erinnert. Die Zeitungen waren voll des Lobes, vor allem beeindruckte die Pose, «die gefaßte Melancholie des Dichters am Rande düsterer Verzweiflung»[4], wie es im New Yorker Express hieß. Noch nie hatte ein amerikanisches Gedicht ein solches Echo hervorgerufen. Selbst im literarisch verwöhnten England machte der Rabe Furore. «Einige meiner Freunde», schreibt die Schriftstellerin Elizabeth Barrett Browning an Poe, «überwältigte die Angst, andere die Musik. Ich höre von Menschen, die das ‹Nevermore› verfolgt.»[5]
Bis zu seinem allgemein bewunderten Geniestreich galt Poe als ein skurriler Außenseiter der jungen amerikanischen Literatur, der sich als Redakteur mit aufmüpfig-rabiaten Literaturkritiken hervorgetan hatte und dem daneben einige bemerkenswerte Kurzgeschichten gelungen waren. Diese Erzählungen wurden von der Kritik gelobt, dem Publikum blieben sie aber fremd, dunkel und unverständlich. Was Poe in seinen Geschichten thematisierte, die inneren Ängste, das Beherrschtwerden durch die Triebe, den Zweifel an der Vernunft, schien nicht in die Neue Welt mit ihrem Fortschrittsoptimismus zu passen. Literatur sollte moralisch vorbildlich und aufbauend sein. Poe verachtete den Dünkel, mit dem sich die Literatur seiner Zeit umgab, er wollte nicht erziehen, nicht aufklären, sondern den Menschen in seiner Neigung zu Aggression und Grausamkeit zeigen; einen Menschen, der Böses tut nur um des Bösen willen – und dabei auch vor der Selbstzerstörung nicht zurückschreckt. Poe spürt der Abgründigkeit des Menschen nach, er zeigt ihn als Gefangenen einer Fluchtbewegung, alle seine Versuche, zu entkommen und sich zu retten, führen ihn tiefer ins Grauen, vor dem er sich fürchtet und das ihn zugleich verlockt. Mit seiner Faszination für den Schrecken, den Destruktionstrieb und die Todessehnsucht verkörperte Poe die andere, die dunkle Seite des American Dream.
Fast alle Erzählungen Poes kreisen um das Problem der Selbstvergewisserung: Es sind Monologe, gehalten von Erzählern, die Grauenvolles erlitten oder Schreckliches getan haben, sie befinden sich auf der Schwelle zum Wahnsinn und machen mit dem Erzählen den Versuch, der eigenen Geschichte habhaft zu werden. Schon Name und Herkunft der Protagonisten sind häufig alles andere als eindeutig, sie stammen zwar aus wohlhabenden Familien, aber angespielt wird auch auf mancherlei Merkwürdigkeiten. In Berenice heißt es: Mein Taufname ist Egaeus; den meiner Familie will ich nicht nennen.[6] Die Erzählung Eleonora beginnt mit dem Satz des Protagonisten: Ich entstamme einem Geschlecht, das berufen ist ob der Stärke seiner Fantasie und der Glut seiner Leidenschaft.[7] William Wilson beginnt mit der Erklärung: Sei mir erlaubt, mich für den gegenwärtigen Zweck «William Wilson» zu nennen.[8] Äußerlich sind fast alle Helden mit ihren Familien zerworfen, innerlich aber empfinden sie eine kaum zu unterdrückende Sehnsucht nach dem familiären Milieu. Aus ihrer angestammten Welt sind sie herausgefallen; es sind haltlose, in sich gefangene Individuen, die sich selbst und ihre Existenz als Rätsel empfinden.
Poe hat dieses Rätsel nicht nur seinen Figuren aufgenötigt, er selbst fühlte sich mit ganzer Existenz in dieses Spiel verstrickt. Im Gegensatz jedoch zu seinen Lieblingshelden war sein familiärer Hintergrund in den Augen der besseren Gesellschaft alles andere als respektabel. Er wuchs als Pflegesohn des wohlhabenden Geschäftsmannes John Allan auf. Da er von seinem Pflegevater nie adoptiert wurde, blieb auch öffentlich sichtbar, dass er eigentlich nicht dazugehörte, kein «Allan» war, sondern das Kind eines umherziehenden Schauspieler-Ehepaars. Nicht von Stand zu sein, keiner guten Familie anzugehören, darin sah Poe die Hypothek seines Lebens. Er war der festen Überzeugung, dass die Vorgeschichte die entscheidenden Akzente setzt: Das Bewußtsein hoher Geburt, schreibt Poe, ist eine moralische Kraft, deren Wert die Democraten, und wären sie vollgestopft mit Mathematik, nimmermehr zu ermessen vermögen.[9]
Die Vorgeschichte der Familie Poe beginnt durchaus viel versprechend. Es ist die Geschichte amerikanischer Einwanderer, die, wie so viele damals, den Verheißungen der Neuen Welt folgten und es zu Anerkennung und Ansehen brachten. Den Grundstein zu dieser Entwicklung legte der Urgroßvater Edgar Allan Poes, John Poe. Er stammte aus Irland und lebte dort als Farmer. 1750 entschloss er sich zusammen mit seiner Frau und seinen beiden Söhnen, George und David, zur Emigration nach Amerika. Die Familie lebte kurze Zeit in Pennsylvania und zog dann nach Baltimore; hier begann der soziale Aufstieg. Eine besondere Rolle spielte dabei der erstgeborene Sohn David Poe, der Großvater des Dichters. Zunächst verkaufte und reparierte er Spinnräder, dann machte er sich im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg einen Namen. David Poe engagierte sich im Kampf gegen die Engländer und zeichnete sich als Patriot aus. In ehrender Anerkennung seiner Verdienste nannte man ihn «General» Poe. Die Poes gehörten von da ab zu den angesehenen Familien in Baltimore, der weitere soziale Aufstieg schien gesichert, zumal in einem gesellschaftlichen Klima, das förderlicher nicht hätte sein können. Amerika stand nach der Lösung von England im Zeichen politischer und sozialer Reformen.
David Poe und seine Frau Elizabeth hatten sieben Kinder. Was die berufliche Karriere anging, setzte man seine Hoffnungen natürlich auf die Söhne, ganz besonders auf den 1784 geborenen David. David Poe jr., der Vater Edgar Allan Poes, sollte nach dem Willen der Familie Jurist werden. Ein angesehener Baltimorer Rechtsanwalt wollte ihn auch in seiner Kanzlei ausbilden, doch David Poe interessierte sich zum Leidwesen seines Vaters für das Theater. Als Schauspieler zu arbeiten war auf der Rangskala der Tätigkeiten, die man im Amerika dieser Zeit ausüben sollte, so ungefähr das Letzte. Wer sich gesellschaftlich nicht unmöglich machen wollte, der war dazu aufgefordert, sich von Kunst und Literatur fern zu halten. Der Kunstgenuss galt als schädlich und wurde mit der Dekadenz des alten Europas in Verbindung gebracht. Als die Familie durch ein Zeitungsinserat vom Theaterdebüt ihres Sohnes erfuhr, war die Grenze erreicht. Ein Onkel, William Poe, machte sich auf den Weg und holte David von der Bühne herunter. Für kurze Zeit arbeitete er nun in einer Anwaltskanzlei, dann verließ er sein Elternhaus, um sein Glück als Schauspieler zu versuchen. Er spielte in zahlreichen Rollen, in Stücken von Kotzebue, Henry Brooke und Shakespeare. Die ersten Theaterkritiken bescheinigten ihm Talent und sprachen von einer hoffnungsvollen Begabung.
Unter dem schlechten Image des Schauspielerberufs hatten vor allem die amerikanischen Mimen zu leiden, ihre Kollegen aus England wurden wiederum von Presse und Publikum mit Neugier und Interesse bedacht. Am 5. Januar 1796 meldete die Bostoner Zeitung Massachusetts Mercury die Ankunft einer Mrs. Arnold mit ihrer kleinen Tochter aus dem Theatre Royal, Covent Garden, sowie einer Miss Green. Von der vornehmen Wesensart der Damen, ihren ausdrucksvollen Gesichtszügen und ihrer großen Grazie zeigte man sich sofort begeistert. Stolz war das Bostoner Theater vor allem auf die Verpflichtung von Mrs. Arnold, denn sie war im Covent Garden mit einigem Erfolg aufgetreten. Die besagte Tochter von Mrs. Arnold, Elizabeth, war zu diesem Zeitpunkt neun Jahre alt. Elizabeth Arnold, Edgar Allan Poes Mutter, wird wenig später bereits auf der Bühne stehen. Ihr Vater war vermutlich schon 1790 gestorben. Kurz nach ihrer Ankunft heiratete die Mutter ihren Klavierbegleiter und Kollegen Charles Tubbs, der ebenfalls mit nach Boston gekommen war. Mrs. Arnolds Auftritte wurden von der Presse gefeiert, doch mit dem Ende der Spielzeit endete auch die Anstellung in Boston. Für die Familie begann nun eine Zeit wechselnder Engagements. Im Jahre 1798 landet man in Philadelphia, damals die mit Abstand größte Stadt Amerikas und vor allem auch ein literarisches und kulturelles Zentrum. Der ganze Stolz der Stadt war das pompöse Theater mit über zweitausend Plätzen. Eine viel versprechende Spielzeit stand vor der Tür, doch kurz nach Eröffnung brach eine Gelbfieberepidemie aus, der vermutlich auch Mr. und Mrs. Tubbs zum Opfer fielen. Mrs. Snowden, eine Schauspielerkollegin, nahm Elizabeth auf. In Philadelphia entwickelte sich Elizabeth zu einem kleinen Star. Mit ihrer Unbefangenheit, ihrer grazilen Figur, ihren dunklen Locken und großen Augen rief sie allgemeines Entzücken hervor.
Elizabeth blieb nicht lange in der Obhut von Mrs. Snowden. Im Sommer 1802, sie war eben fünfzehn Jahre alt geworden, heiratete sie ihren Schauspielerkollegen Charles Hopkins. Ungefähr zur selben Zeit schloss sich das Ehepaar einer anderen Truppe an, der Green’s Virginia Company, die am Richmond Theatre auftrat. Elizabeth übernahm nun anspruchsvolle Rollen und wusste auch darin zu gefallen. Mr. und Mrs. Hopkins waren die großen Namen der Truppe. Ansonsten herrschte große Fluktuation, Schauspieler kamen und gingen. Im Jahre 1804 bekam ein wenig bekannter amerikanischer Schauspieler namens David Poe ein Engagement in der Company. In der folgenden Spielzeit stand er mit Elizabeth auf der Bühne und war hingerissen von ihrem Charme. Mit dem Ehepaar Hopkins pflegte David Poe enge Beziehungen. Das brachte auch berufliche Vorteile mit sich, denn Mr. Hopkins war zwischenzeitlich Leiter der Virginia Company geworden und besetzte die Hauptrollen mit seiner Frau Elizabeth und David Poe. So konnten sie auf der Bühne bereits ein Paar sein, bevor sie es dann wirklich wurden. Im Herbst 1805 starb Hopkins plötzlich, und im Frühjahr des folgenden Jahres heiratete David Poe die neunzehnjährige Elizabeth.
Nach ihrer Heirat löste sich das Ehepaar von der alten Theatertruppe und suchte sich neue Engagements. Von Richmond ging es nach Philadelphia, von dort nach New York, und schließlich wurden sie von Powell’s Company in Boston unter Vertrag genommen. Fast drei Jahre, zwischen Oktober 1806 und Sommer 1809, spielten sie im Federal Street Theatre. Im Vergleich zu den anderen Städten erscheint das Engagement in Boston wie ein Abstieg. Die neuenglische Stadt, sehr puritanisch und streng bürgerlich in der Lebenshaltung, war nicht gerade eine kulturelle Hochburg, hier herrschte ein starkes Ressentiment gegen Kunst und Künstlertum, gegen alles Freigeistige und Sinnliche. Offensichtlich fühlte sich Elizabeth in dieser Stadt jedoch ganz wohl und aufgehoben. Ihrem Sohn Edgar, der hier am 19. Januar 1809 zur Welt kam, hinterließ sie ein kleines Aquarell vom Bostoner Hafen mit einer Widmung auf der Rückseite: «Meinem kleinen Sohn Edgar, der Boston, seinen Geburtsort, immer lieben soll, denn seine Mutter fand dort ihre besten und innigsten Freunde.»[10] In das Lob der Bostoner mochte der Sohn später so gar nicht einstimmen: Die Bostoner sind wohlerzogen – wie es sehr langweilige Leute meist sind.[11]
Edgar war der zweite Sohn des Ehepaars, der erste wurde am 30. Januar 1807 geboren und auf den Namen William Henry getauft. Die viel beschäftigten Eltern, die jeden Abend auf der Bühne standen, wurden mit William kaum fertig, eine Hilfe konnte man sich nicht leisten, und so verfiel man auf den Gedanken, die Großeltern zu bitten, das Kind in Obhut zu nehmen. «General» Poe ließ sich überreden, und William blieb von nun an in Baltimore. Die Karriere der Eltern verlief höchst unterschiedlich. Während Elizabeth vom Publikum hofiert wurde, bekam David Poe des Öfteren Kritisches zu hören. Als das Theater zwei damals populäre Schauspieler verpflichtete, blieben für David Poe nur noch Nebenrollen. Der Abstieg vollzog sich im rasanten Tempo, er suchte Trost im Alkohol, im Theater wurde er nur noch geduldet, und die Ehe war ein Scherbenhaufen. Ein wenig Hoffnung keimte im Sommer 1809 auf, als man dem Ehepaar das Angebot machte, in der nächsten Saison im Park Theatre in New York aufzutreten. Der Niedergang David Poes war jedoch nicht mehr zu stoppen. Im Oktober trat er ein letztes Mal auf, dann ergab er sich völlig demoralisiert der Trunksucht und setzte sich von seiner Familie ab. Vermutlich starb er ein Jahr später, Ende 1810, möglicherweise an Tuberkulose.
Auch Elizabeth Poe litt an dieser damals unheilbaren Krankheit, erste Anzeichen machten sich 1810 bemerkbar. Und zu allen Sorgen kam eine dritte Schwangerschaft. Am 20. Dezember 1810 wurde Rosalie während eines Tourneeaufenthalts in Norfolk, Virginia, geboren. Trotz ihres schlechten Gesundheitszustands trat Elizabeth Poe täglich auf. Zur Unterstützung der kranken Schauspielerin veranstaltete das Theater Benefiz-Aufführungen. Ende 1811 konnte Elizabeth nur noch in Nebenrollen auftreten, ihre Kräfte reichten nicht mehr. Am 11. Dezember starb sie – vierundzwanzig Jahre alt. Der dreijährige Edgar und die einjährige Rosalie blieben als mittellose Waisenkinder zurück. In Richmond hatte man das Theaterpublikum zur Hilfe aufgerufen. Tatsächlich fanden sich kurz nach dem Tod der Mutter zwei Damen, die sich bereit erklärten, für die Kinder zu sorgen. Rosalie wurde von Mrs. Mackenzie aufgenommen und später adoptiert. Für Edgar interessierte sich Mrs. Frances Allan, die Frau eines reichen Geschäftsmannes. In Begleitung ihrer Schwester sprach Mrs. Allan in der Pension vor und nahm das Kind gleich mit. Der Wechsel hätte für den dreijährigen Edgar drastischer nicht sein können: eben noch in einer heruntergekommenen Absteige, im nächsten Moment schon in einer hochherrschaftlichen Kutsche auf dem Weg ins Haus der Allans.
Die Aufnahme Edgar Poes in das Haus der Allans trug alle Anzeichen eines Glücksfalles. Frances Allan war siebenundzwanzig Jahre alt, eine schöne Frau mit schwarzen Haaren und dunklen Augen. Mit ganzem Herzen hing sie an ihrer Ehe und dem wohl geordneten bürgerlichen Leben. Auch sie hatte ihre Eltern früh verloren und ihre Kindheit zusammen mit ihrer Schwester bei Pflegeeltern in Richmond verlebt. 1803 heiratete sie den Geschäftsmann John Allan – ein stattlicher Mann und eine gute Partie. Das Paar wohnte zusammen mit Frances’ Schwester, Ann Moore Valentine, oberhalb der Geschäftsräume. Zum Leidwesen der Allans blieb ihre Ehe kinderlos.
Edgar Poe kam also gerade recht. Und wenn es nach Frances Allan und ihrer Schwester gegangen wäre, so hätte man das Kind sofort adoptiert. John Allan blieb jedoch skeptisch, eine Adoption kam für ihn zunächst nicht in Frage. Über die genauen Gründe lässt sich nur spekulieren: Vielleicht waren es die dubiosen Familienverhältnisse Edgar Poes, vielleicht fürchtete John Allan auch seinen Onkel, William Galt, zu verärgern, von dem er ein großes Erbe zu erwarten hatte. In der momentanen Situation blieb es bei einem Kompromiss: Man arrangierte eine kleine Taufzeremonie, und aus Edgar Poe wurde Edgar Allan Poe. Diese unter Vorbehalt stehende Aufnahme in die Familie hatte Konsequenzen: Edgar stand von Anfang an unter Erfolgsdruck.
In der amerikanischen Gesellschaft, zunächst vor allem in den Nordstaaten, war der Bewährungsgedanke tief verwurzelt, er entstammte der puritanischen Religiosität, die zum Wegbereiter und Motor der Modernisierung und Rationalisierung geworden war. Im Puritanismus wird nur dem Bewährung und «Gnade» zuteil, dessen Leben einem unermüdlichen Streben gleichkommt. In der Arbeit liegt die Quelle des Heils; sie gibt jedem die Möglichkeit, sein Glück in die eigenen Hände zu nehmen. Erfolg wurde im amerikanischen Traum zu einer machbaren Größe. Die Devise lautete so einfach wie faszinierend: Jeder kann aus seinem Leben etwas machen, wenn er nur arbeitsam ist und sich auf die natürlichen Anlagen besinnt. Der Glaube an Vernunft, an Moral und Selbstbestimmungsfähigkeit des common man, bereitete dem Mythos vom Land der unbegrenzten Möglichkeiten den Boden. Hinter der heroisierten Vorstellung vom autonomen Individuum steckte jedoch nur das zu rastloser Produktivität befreite Individuum. In den zwanziger und dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts setzte sich in Amerika ein Individualismus durch, der sich außerhalb von sozialen Verpflichtungen, von Traditionen und Bindungen definierte. Im tätigen, freien Individuum regiert ein uneingeschränkter Wille, der keine Selbstberuhigung kennt und die inneren und äußeren Grenzen, die menschliche Triebnatur und die Wildnis transformiert und unterwirft. Der Mensch ist das Anhängsel dieser grenzenlosen Expansion; einer rastlosen Produktivität verfallen, gibt es für ihn kein Außen, die Realität ist ihm genauso entglitten wie jede Form einer übergreifenden Rationalität. Poe hat in vielen Geschichten diese Konstellation aufgegriffen und Figuren entworfen, die in einer zirkulären Rationalität befangen bleiben und verzweifelte Anstrengungen machen, ihr eigenes Bewusstsein mit dem Realgeschehen in einen Zusammenhang zu bringen. Für Poe hatte der amerikanische Traum nicht nur eine dunkle Seite, sondern eine selbstzerstörerische Potenz.
John Allan dagegen repräsentierte den amerikanischen Traum, wenn auch in der spezifischen Färbung des Südens. Er sah das, was er erreicht hatte, als das Resultat harter Arbeit an. Der Ziehvater wurde im Jahre 1779 in Schottland geboren. Wie seine spätere Frau und sein Pflegesohn Edgar Poe verlor er in jungen Jahren seine Eltern und wuchs in der verwandten Familie Galt auf. Die Galts waren wie die Allans ursprünglich kleine Kaufleute. Den Aufstieg schaffte William Galt, Johns Onkel, der nach Amerika auswanderte und in Richmond ein Im- und Exportunternehmen aufbaute. In kürzester Zeit hatte er ein riesiges Vermögen gemacht und es zu einem der reichsten Männer in Virginia gebracht. Im Jahre 1795 kam Allan nach Richmond und ging bei seinem Onkel in die Lehre. Richmond war damals ein aufstrebendes, rasch wachsendes Zentrum, nahezu die Hälfte der Bevölkerung bestand aus Sklaven und schwarzen Arbeitern. Das größte Ansehen genossen die alteingesessenen Pflanzer, doch der Handel spielte eine immer wichtigere Rolle. Allan machte sich mit einem befreundeten Kollegen, Charles Ellis, schnell selbständig; die beiden Partner gründeten die Firma Ellis & Allan. Anfangs handelten sie hauptsächlich mit Tabak, schon bald aber weiteten sie ihr Sortiment beträchtlich aus. Ob Kohle, Weizen, Mais, Kaffee oder Tee – die Firma Ellis & Allan handelte mit allem, was Geld einbrachte, natürlich auch mit Sklaven, die meistbietend an Plantagen verkauft wurden.