DAS BUCH
Nach dem Tod ihrer Mutter kehrt Veronika in ihr Elternhaus im Nürnberger Reichswald zurück, um dessen Verkauf abzuwickeln. Ganz ungelegen kommt ihr diese Flucht aufs Land nicht: Ihr Mann Joachim hat sich in einer Midlife Crisis auf einen Selbstfindungstrip verabschiedet, die PR-Agentur, in der Veronika seit Jahren arbeitet, hat ihr kurzerhand gekündigt, und ihre Tochter Ava verbringt ein Jahr in Neuseeland, von wo aus sie sich nur sporadisch meldet, und das auch eher aus Pflichtgefühl denn aus Zuneigung.
Nun, zurück in dem Wald, in den Veronika nie zurückkehren wollte, weil sie als Jugendliche alles, was mit ihrer Herkunft zu tun hatte, restlos hatte abstreifen wollen, stürzen die Kindheitserinnerungen auf sie ein. Zu ihrer eigenen Überraschung sind es nicht nur schlechte. Da sind die an ihre Beziehung zur Natur, in der sie aufgewachsen ist, an die Bücher, die sie gern gelesen hat – und an Martin, ihre große Jugendliebe. Auch ihn hat sie damals zurückgelassen. Das Wiedersehen mit ihm überwältigt und überfordert Veronika, genauso wie die Anwesenheit eines ungebetenen Besuchers auf ihrem Waldstück. Da entdeckt sie alte Aufzeichnungen über Anna Stromer, eine mutige junge Frau die sich im 14. Jahrhundert mit Pioniergeist für den Schutz des Waldes eingesetzt hat. In Annas Geschichte findet sie Trost und Inspiration, und es entwickelt sich ein besonderes Band zwischen den Leben beider Frauen, denen derselbe Ort durch die Zeiten hindurch Kraft gibt.
DIE AUTORIN
Klara Jahn ist das Pseudonym einer bekannten Bestsellerautorin. Die Historikerin liebt es, große Geschichten zu erzählen und dabei tief in die Vergangenheit der Orte und Menschen einzutauchen. Dabei lässt sie sich von ihrer Liebe zur Natur und ihrer Faszination für raue Landschaften leiten. Die gebürtige Österreicherin und Mutter einer Tochter lebt seit 2001 in Frankfurt am Main. Ebenfalls bei Heyne erschienen ist Die Farbe des Nordwinds.
KLARA JAHN
Das Lied
des
Waldes
ROMAN
Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Originalausgabe 03/2022
Copyright © 2022 by Klara Jahn
Copyright © 2022 dieser Ausgabe
by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Redaktion: Uta Rupprecht
Umschlaggestaltung: FAVORITBUERO, München
unter Verwendung von Getty Images/Andrew_Howe;
Bridgeman Images/Granger
Herstellung: Mariam En Nazer
Satz: Leingärtner, Nabburg
ISBN 978-3-641-28439-8
V002
www.heyne.de
Wie deine grüngoldenen Augen funkeln,
Wald, du moosiger Träumer!
Wie deine Gedanken dunkeln,
Einsiedel, schwer von Leben,
Saftseufzender Tagesversäumer!
Über der Wipfel Hin- und Widerschweben
Wie’s Atem holt und voller wogt und braust
Und weiterzieht –
Und stille wird –
Und saust!
Über der Wipfel Hin- und Widerschweben
Hoch droben steht ein ernster Ton,
Dem lauschten tausend Jahre schon
Und werden tausend Jahre lauschen …
Und immer dieses starke, donnerdunkle Rauschen.
Peter Hille
VERONIKA
»Verdammt!«, entfuhr es Veronika. Sie hatte eine randvolle Kiste mit Einkäufen aus dem Kofferraum geladen, dabei war eine Packung Hafermilch heruntergefallen und auf dem Waldboden zerplatzt. Einige Tropfen landeten auf ihrer Jeans.
Ihre Freundin Luna würde sie jetzt rügen. Sie hatte die Stille des Waldes erst kürzlich als heilig bezeichnet. Und als heilsam. »Wusstest du, dass Menschen, die in der Nähe von Wäldern leben, mehr Killerzellen produzieren, die Krankheitserreger bekämpfen?«
Veronika hatte es nicht gewusst.
Sie wusste nur, dass sie immer noch von Luna enttäuscht war. Diese hatte versprochen, sie in den Wald zu begleiten, und dann kurzfristig abgesagt. So erdend ein Trip in das Forsthaus, wo Veronika ihre Kindheit und Jugend verbracht hatte, auch sein mochte – mit dem auf den letzten Drücker frei gewordenen Platz in einem Klangschalenseminar hatte er nicht mithalten können.
Veronika bückte sich. Beim Aufheben riss die Packung noch weiter auf, die Hafermilch ergoss sich über den Ärmel ihrer Jacke. Diesmal verkniff sie sich einen Fluch, stampfte wütend auf. Prompt drang Matsch in die Ritzen ihrer Schuhe.
Stadtschuhe, hätte ihre Mutter dazu gesagt, obwohl die Absätze nur drei Zentimeter hoch waren.
Auf Walderde geht man am besten mit nackten Füßen, behauptete Luna. Sie hatte für die paar Tage im Wald viele Pläne gemacht. Shinrin Yoku, das Waldbaden, reize sie schon seit Langem, die Japaner meinten damit nicht bloß einen Waldspaziergang, sondern eine Aromatherapie, eine Stressmanagement-Methode, eine Achtsamkeitsübung.
Veronika hatte keinen Sinn für ein Bad im Wald. Die Hafermilch war im Boden versickert, sie warf die leere Packung in den Kofferraum. Er schloss sich auf Knopfdruck, ganz leise. Ihre Schritte waren auch kaum zu hören, als sie vom Waldrand zum Forsthaus ging, auf einem schmalen Weg, beschattet von alten Birken und Kiefern. Lauter klang der Ruf eines einsamen Waldkauzes, und er war ähnlich melancholisch wie die Erinnerungen, die in ihr hochstiegen, als sie ihr Elternhaus erreichte.
Nur zwei der weißen Sprossenfenster waren zu sehen, die anderen verbargen sich hinter Fensterläden, von denen grüne Farbe blätterte. Das Holz darunter war verwittert. Das Haus schien sie aus müden Augen anzustarren. Risse zogen sich durch die Fassade, Putz bröckelte ab, die Dachbalken waren größtenteils von grauem Moos überwuchert. Durch die löchrige Dachrinne tropfte es. Gut möglich, dass es auch durchs Dach ins Haus tropfte, aber darum musste Veronika sich nicht mehr kümmern, das wäre das Problem der künftigen Besitzer. Lange blieb sie ohnehin nicht, für die paar Tage hatte sie eigentlich zu viel eingekauft.
Sie stellte die Kiste ab, um das Gartentor zu öffnen. Der Zaun aus dünnen Fichtenstämmen war morsch, das Holz des Tors rumpelte über den unebenen Boden. Sie musste mit ganzer Kraft dagegendrücken, um sich mitsamt der Kiste in den Garten zwängen zu können.
Ihre Erinnerungen hatten nun nichts mehr mit dem Schrei des Waldkäuzchens gemein, gedämpft vom Wald und so weit entfernt, dass man ihn geflissentlich überhören könnte. Hartnäckig klopften sie an wie ein Specht, der mit dem Schnabel Baumrinde bearbeitet. Sie drangen durch die Schichten der Zeit, die zwischen Veronika und der Vergangenheit stand, ganze siebenundzwanzig Jahre, in denen sie nur sporadisch hier gewesen war. Seit dem Tod ihrer Mutter Ilse im letzten Herbst hatte sie das Forsthaus überhaupt nicht mehr betreten. Doch jetzt stand sie in Ilses Garten – und in ihrem eigenen früheren Leben.
Ilse Pichlers Garten war immer schon der Schauplatz eines langen, zermürbenden Stellungskriegs gewesen. Die Front verlief rund um die Beete, wo Kohl, Rote Rüben und Rettich angebaut wurden, rund um die Salbei-, Thymian- und Ziermohnstauden, um die Narzissen, Tulpen und Rosen. Auf diesem Schlachtfeld galt keine Genfer Konvention, sammelte kein Rotes Kreuz die Verletzten ein. Ilse Pichler hatte mit Schaufel und Spaten, Sichel und Rasenkantenstecher, Unkrautjäter und Blumenkralle, mit Dicamba, Glyphosat und Rasenherbiziden gekämpft. Der Wald mit Pollen, Samen, Insekten und Wühlmäusen.
Sie hatte die giftigeren Waffen, er das beweglichere Heer, manchmal auch die bessere Taktik. Die blauen Vergissmeinnichtpolster, die sich einmal übers ganze Gemüsebeet ausbreiteten, konnten auf Allianzen setzen. Ameisen mochten die nährreichen Samenkappen und verteilten freudig die Samen.
Als Veronika etwa zwölf Jahre alt war, erklärte sie das einmal der Mutter. Gerade hatte diese verlangt, sie solle ihr beim Ausreißen der Vergissmeinnicht helfen. »Wusstest du«, sagte Veronika und ließ sich, anstatt zu pflücken, zu rupfen, zu jäten und zu tilgen, auf der Gartenbank nieder, »dass das Gesamtgewicht aller Ameisen dem Gewicht sämtlicher Menschen auf der Erde entspricht?«
»Hmpf«, machte die Mutter und wiederholte ihre Bitte nicht. Sie kämpfte gegen den Wald, nicht gegen den Widerstand der Tochter. Während die auf der Gartenbank ihre Hausaufgaben machte, arbeitete sich die Mutter durch die Beete, bis nicht nur die Vergissmeinnicht verschwunden waren, sondern auch sämtliches Unkraut und etliche ihrer Blumen. Die schwarze Erde, die zwischen armseligen Farbtupfern zurückblieb, war zwar nicht unbedingt Zeichen für einen Sieg, aber auch nicht für eine Kapitulation.
Ilse Pichler konnte nicht lange stolz darauf sein. Kurze Zeit später schickte der Wald ein Reh als Verstärkung, das Salat, Erdbeeren und Johannisbeeren liebte. Es schaffte es, den Gartenzaun zu überwinden, der bislang alle Artgenossen abgehalten hatte, und innerhalb einer Nacht das Ergebnis von mehreren Monaten Arbeit wegzufressen.
Die Mutter streute ein Gemisch aus Wasser und Blutmehl auf ihre Pflanzen, aber das Reh scheute den Geruch von Tierblut nicht. Sie platzierte ungewaschene, naturbelassene Schafwolle strategisch günstig rund um die Gartenbeete, aber anders als erhofft ließ sich das Reh auch davon nicht stören. Sie drohte, Goldregen, Rhododendron und Kirschlorbeer anzubauen – Gift für das Reh –, aber bis das alles angewachsen war, hätte sie den Garten in einen Bunker verwandeln müssen. Beim Gift blieb sie, sie vermischte Rattengift mit Wildfutter und verteilte es auf dem Rasen. Das Reh verschmähte es und hinterließ Rehlosung als Gruß.
Das Waffenarsenal der Mutter war aufgebraucht.
»Erschieß es«, befahl sie dem Vater, doch der schob die leidige Pflicht wieder und wieder auf. Er schoss lieber Hirsche.
Veronika betrachtete den Garten. Am Ende hatte doch der Wald gewonnen. Die Beete waren von überbordenden Sträuchern, Wildkräutern, Gräsern, Farnen, Moosen und Flechten bedeckt. Auf dem Rasen, einst eine glatte grüne Fläche, wucherten Huflattich, Klee und Wegerich. Und auf dem Weg zum Haus riss sie sich die Hose an einer dornigen Ranke auf. Als sie die Einkäufe abstellte, wanderte ihr Blick hoch zum Türstock aus Sandstein – neben dem Gewölbekeller der älteste Teil des Hauses. Die darauf eingeritzte Jahreszahl war einmal deutlich zu lesen gewesen, jetzt waren da nur verwischte graue Spuren. Veronika wusste auch so, dass der erste Bewohner das Forsthaus Anfang des 16. Jahrhunderts bezogen hatte.
An den Sandstein schlossen sich die Reste einer pechschwarzen Holzvertäfelung an, übersät von Vogelkot. Darüber befand sich der Balkon mit der hohen gedrechselten Balustrade. Die Mutter hatte damals auch hier Blumen angepflanzt, Geranien, so prächtig, dass man den Balkon nicht betreten konnte, ohne von ihnen gekitzelt zu werden. Der Feind der Geranien war nicht der Wald gewesen, sondern der Sturm. Wenn der anrückte, blieb nur die Flucht, alle Blumentöpfe mussten so schnell wie möglich in Sicherheit gebracht werden.
»Hilf mir doch!«, sagte Ilse dann zu Veronika, aber die war wieder mal in ein Buch vertieft und stellte sich wie so oft taub, wenn die Mutter um Hilfe bat.
Veronika sperrte das widerspenstige alte Türschloss auf und zog den wurmstichigen Holzriegel zurück. Der Dielenboden war zerkratzt und uneben. Sie hatten den Flur nie mit Schuhen betreten, doch jetzt tat sie es, obwohl an ihren Sohlen noch Waldboden klebte. Vorsichtig setzte sie einen Fuß vor den anderen, als wäre die Fläche vermint.
Der modrige Geruch, der sie empfing, erinnerte sie an jene Gläser mit Himbeermarmelade, die die Mutter eingerext hatte, nicht immer sorgfältig genug, sodass sich oft eine graue Schimmelschicht bildete. Ilse pflegte den Schimmel mit einem Messer abzukratzen. »Das darunter kann man noch essen«, meinte sie, auch wenn sich zum süßen Aroma eine muffige Note gesellt hatte. »Wenn der Pilz bereits sichtbar ist, ist das ein Zeichen, dass das ganze Lebensmittel mit Pilzgeflecht durchzogen ist«, erläuterte Veronika altklug. Aber gegen Unsichtbares kämpfte die Mutter nicht.
Mit jedem Schritt, der Veronika tiefer in den länglichen Flur führte, verstärkte sich der unangenehme Geruch. Sonst empfing sie nichts, und diese Leere konnte man nicht abkratzen. Sämtliches Mobiliar, das einst im Flur gestanden hatte – der Schuhkasten, der Schirmständer, der Telefontisch –, war verschwunden, der Staub konnte sich nirgendwo verstecken, blieb nirgendwo haften. Im Luftzug, der von draußen kam, tanzte er haltlos hin und her. Über der Tür zur Stube hatte früher ein prächtiges Hirschgeweih gehangen. Jetzt war da nur mehr ein schwarzer Nagel, der wie eine zerquetschte Fliege auf einem ovalen Stück Tapete saß.
Es war Josef Pichlers schönstes Geweih gewesen, eines der ersten Dinge, das die Mutter entfernt hatte, nachdem er gestorben war und sie beschlossen hatte, nicht allein im Forsthaus wohnen zu bleiben. Und das Letzte, bei dem Veronika ihr geholfen hatte. Sie hatte keine Zeit gehabt, beim Entrümpeln zu helfen, berufstätig und mit Familie. Ihr Frankfurter Leben war mindestens so vollgestopft wie dieses Haus.
»Willst du sie nicht haben?«, hatte die Mutter gefragt und damit nicht nur das Hirschgeweih gemeint, sondern auch den Kopf eines Keilers, der weiter hinten hing, und die Geweihe von unzähligen Böcken. »Ich kann sie nicht mitnehmen, aber es wäre doch schade um die Trophäen deines Vaters.«
»Wo denkst du hin, so etwas passt doch nicht in unsere Wohnung.«
Ilse hatte sie vorwurfsvoll angeschaut. »Magst dich ja gar nicht an uns erinnern.«
»Hast du dich nicht selber geärgert, dass Vater es nie erwarten konnte, Hirsche zu schießen, es aber endlos lange aufgeschoben hat, deinen Garten von diesem Reh zu befreien? Weil das zu schießen ja keine echte Herausforderung sei?«
Die Mutter zuckte die Schultern, nun war sie es, die sich nicht erinnern wollte. Der Triumph über das Reh hatte damals nicht lange gewährt, eine Schneckenplage war gefolgt. An deren Ende stand wieder einer ihrer Pyrrhussiege: Der Schädling war beseitigt, aber der Garten entweder vergiftet oder kahl.
Anders als der Flur war die Wohnküche, die sie stets Stube genannt hatten, nicht komplett leer. Ilse Pichler hatte bei ihrem Auszug ein paar Möbelstücke zurückgelassen. Das sei kein rechtes Leben mehr hier, so ganz allein, hatte sie gesagt. Aber bei ihrer Schwester auf dem Hof, wo sie die Kindheit verbracht hatte, passte es ihr dann auch nicht. So viel Land, so wenig Wald, ein gepflegter Garten. Ohne Kampf wurde sie müde, zerbrechlich.
Das graue Sofa stand noch da, das Bild darüber – zwei Birken an einem Bächlein – war verschwunden, hatte aber Spuren hinterlassen: Wo es gehangen hatte, war die Tapete nicht nachgedunkelt, die Vergangenheit hatte dort keine Schatten geworfen.
Eine Matratze lag auch noch da, uralt, mit zerkrümelten Schaumstoffecken, von Mäusekötel übersät. Wahrscheinlich hatte die Mutter hier geschlafen, als das Schlafzimmer schon leer geräumt war. Die hölzerne Bank gegenüber vom Gasherd hatte sie ebenfalls zurückgelassen, nur die Sitzpolster fehlten. Die Mäuse mussten auch hier hochgeklettert sein, denn die Häkelborte am vergilbten Vorhang, der vor dem Fenster hing, sah angefressen aus.
Veronika stellte die Kiste mit den Einkäufen auf ein schiefes Regal neben dem Gasherd. Sie hatte nicht vor, den Herd zu benutzen, sondern hatte einen Wasserkocher mitgebracht, um sich notdürftig versorgen zu können. Sie entnahm dem Karton zwei weitere Packungen Hafermilch, ein paar Quinoa-Cups und Reisnudeln. Eine Packung Nüsse – Haselnüsse, Mandeln, Cashewkerne – hatte sie ebenfalls dabei, außerdem Kiwis, Äpfel und Bananen.
Danach sah sie sich weiter um: Dort hinten hatte der Fauteuil gestanden, auf dem ihr Vater stets ferngesehen hatte. Josef Pichler hatte zeit seines Lebens auf den schlechten Fernsehanschluss geschimpft. Man musste die Antenne des Uraltmodells immer eine Weile hin und her schieben, bis ein scharfes Bild zu sehen war und der Ton nicht mehr rauschte. Am besten bekam man es hin, wenn man die Antenne um ein paar Grad knickte, aber der Vater bevorzugte es, dass sie gerade stand. Er mochte auch gerade gewachsene Bäume am liebsten, »Steckeleswald« aus hochstämmigen Föhren machte keine Arbeit. Auf die Ranken und Sträucher, die sich am Boden duckten, trat er achtlos. Während die Mutter ihren Kampf gegen den Wald bis zum Schluss ausfocht, war er für den Vater nie ein Gegner auf Augenhöhe gewesen.
Wenn der Vater fernsah, stand die Mutter ein kleines Stück daneben und bügelte. Wie der Fauteuil hatte das Bügelbrett Abdrücke im Boden hinterlassen. Wenn Ilse bügelte, lächelte sie meist zufrieden, weiße Hemden ließen sich leichter glätten als schwarze Erde. Nur an einem Tag, der Veronika nun deutlich vor Augen stand, war das Lächeln nicht zufrieden, sondern verbissen gewesen.
»Wann kriegen wir endlich einen neuen Zaun?«, fragte sie ungehalten. »Der jetzige ist zu niedrig.«
Das Reh war damals schon Geschichte, aber sie hatte Angst vor neuen Angriffen aus dem Wald.
Erstaunlich, dass ihre Mundwinkel trotz der mürrischen Stimme nach oben gebogen blieben, als wären die Lippen aus Maschendraht, dem selbst ein Sturm nichts anhaben konnte. Sie waren nicht unter sich: Sophie war da, die Neue in Veronikas Schulklasse, deren Familie erst vor Kurzem aus Hamburg nach Nürnberg gezogen war. Die beiden Mädchen mussten gemeinsam ein Referat für den Sachkundeunterricht der vierten Klasse vorbereiten. Übergeordnetes Thema war die Geschichte Nürnbergs im Mittelalter. Sophie und Veronika sollten das Handelshaus der Familie Stromer vorstellen.
Der Vater achtete nicht auf die Mutter, er stand auf, um die Antenne gerade zu richten. Es lief »Unser Land«, die Stimme von Carolin Reiber verlor sich im weißen Rauschen. Die Mutter seufzte genervt, das Maschendrahtlächeln hielt.
»Diese verfluchten Schädlinge …«, setzte sie an.
Der Vater saß noch nicht wieder auf dem Fauteuil, als er sich an die beiden Mädchen wandte. »Soll ich euch später meine Insektensammlung zeigen?«
Die Insektensammlung bestand aus Hunderten von Käfern, Spinnen, Wespen und anderen Kerbtieren, auf Nadeln gespießt und in Schächtelchen auf Schaumstoffkissen gebettet, von denen die größeren Tiere sogar Glasaugen hatten.
»Die interessiert doch niemanden«, sagte Veronika schnell.
»Nürnberg im Mittelalter – das interessiert niemanden«, erwiderte Sophie genervt und verdrehte die Augen. Sie zog etwas aus ihrem Rucksack und hielt es Ilse vors Gesicht. »Das soll ich Ihnen von meiner Mutter geben.«
Es waren Sanddornpralinen, verpackt in knisterndes Stanniolpapier, auf dem die Hamburger Landungsbrücken zu sehen waren. Sogar eine dunkelrosa Schleife war darumgebunden.
Die Mutter starrte darauf. »Das wäre doch nicht nötig gewesen, so etwas Feines.«
»Das ist ein Dankeschön, weil ich mit Veronika lernen darf.« Sophie war die Einzige, die sie so nannte, alle anderen sagten Vroni zu ihr.
»So etwas Feines«, murmelte die Mutter erneut und nahm die Pralinen immer noch nicht. Erst als Sophie sie auf die Ablagefläche für das Bügeleisen legte, griff die Mutter vorsichtig danach und verstaute das Geschenk im obersten Fach des Küchenschranks. Sie würde nie an der Schleife ziehen, nie das knisternde Stanniolpapier entfernen. So etwas Feines verschwendete man nicht leichtfertig, das war für einen besonderen Anlass bestimmt. Nur kam der nie.
Sie kehrte zurück zum Bügeltisch. »Das wäre doch nicht nötig gewesen.«
Nach Ilses Ansicht wäre es auch nicht nötig gewesen, dass Sophies Mutter Nora das Mädchen mit dem Auto zum Forsthaus brachte, es hätte doch laufen können.
»Das sind zwanzig Minuten durch den Wald!«, hatte Nora entsetzt ausgerufen.
Ilse hatte nicht verstanden, wo das Problem lag. Vor dem Wald schützte man seine Blumen- und Gemüsebeete, Kindern tat er ja nichts.
Um achtzehn Uhr würde Nora Sophie wieder abholen.
»Wir müssen uns beeilen, wenn wir noch etwas schaffen wollen«, drängte Veronika.
Sophie schaute fasziniert auf den flimmernden Bildschirm. Ähnlich fasziniert hatte sie vorhin den ausgestopften Keiler und das Hirschgeweih angestarrt. »Ich würde die toten Insekten gerne sehen.«
»Vielleicht später, jetzt komm mit.«
Sophie verdrehte wieder die Augen, aber sie folgte Veronika nach oben.
Den gleichen Weg nahm Veronika auch jetzt. Ihr Zimmer war das letzte am Ende des Korridors im ersten Stock, wo sich auch das Schlafzimmer der Eltern, das Badezimmer und ein kleines Büro befanden. Anders als der Flur im Erdgeschoss war dieser Gang nicht gänzlich leer. Neben der Tür zu Veronikas Zimmer stand noch ein alter fränkischer Bauernschrank aus massivem Holz, mit originalen Beschlägen aus dem Jahr 1887 und floralen Motiven.
Wenigstens den könnte sie doch nehmen, hatte Ilse bei ihrem Auszug gesagt, auch Städter stellten sich so was in ihre Wohnung. Man müsse ihn nur richtig gegen den Holzwurm behandeln. Dazu hatte sie viele Vorschläge parat, ihr Giftrepertoire war umfangreich. Der Schrank stammte aus dem Bauernhof von Ilses Eltern, sie hatte ihn mitgenommen, als sie Josef Pichler geheiratet und mit ihm das Forsthaus bezogen hatte. Warum sie ihn beim Umzug zurück ins Elternhaus nicht selbst mitnehme, hatte Veronika wissen wollen.
Aber auf dem Hof hatte man nicht mal Ilse haben wollen, geschweige denn einen alten Schrank. Zwei Jahre später war sie ins Altersheim gezogen; sie und die Schwester, das sei einfach nicht gegangen.
»Hier hast du es doch schön«, hatte Veronika bei ihrem ersten Besuch im Heim gesagt, als sie sich in dem hellen, geräumigen Zimmer umsah. Sie hatte die Mutter von nun an drei-, viermal im Jahr besucht und immer feine Pralinen mitgebracht.
Die alten Dielen knarrten bei jedem Schritt. Was die Mutter wohl mit Veronikas Möbeln gemacht hatte?
Sie erreichte die Tür und drückte mit dem Knie gegen das Holz. Die Tür öffnete sich nur zu einem Drittel, dann stieß sie auf Widerstand – ihr alter Flickenteppich war verrutscht. Sie drückte nicht weiter gegen die Tür, sondern zwängte sich durch den Spalt. Das Bett sah aus wie frisch gemacht, die Kissen- und Deckenbezüge waren die geblümten von einst. Ihr Schreibtisch stand wie damals vor dem Fenster, der Drehstuhl davor war leicht zur Seite gedreht, als hätte sie eben noch dort gesessen. Im Wandregal standen ihre alten Bücher, von einer dicken Staubschicht bedeckt. Gleich daneben hing der vertraute Kupferstich, der Nürnberg im Mittelalter zeigte, rechts vom Fenster das Hinterglasbild mit der Wildschweinjagd. Darauf waren die Nester in den Bäumen riesig, die Vogeljungen darin fast so groß wie der Frischling. Die einst weißen Häkelborten der Vorhänge waren vergilbt, aber nicht angefressen wie die in der Stube. Nichts hatte an diesem Raum genagt, er war erhalten geblieben wie in einem Einmachglas, die Zeit hatte sich als zahnlos erwiesen. Als hätte er auf Veronika gewartet. Als hätte die Mutter auf sie gewartet.
»Schade, dass Sie nicht rechtzeitig kommen konnten«, hatte die Altenpflegerin nach dem Tod der Mutter vorwurfsvoll erklärt. Dabei hatte Veronika sich doch sofort ins Auto gesetzt. Sie hatte später noch Stunden neben dem Bett gesessen, in dem die tote Mutter lag, hatte gewartet, bis die Kerze heruntergebrannt war. Ilses Lächeln war so sanft gewesen, in diesem gelblich-wächsernen Gesicht war nichts mehr aus Maschendraht, kündete nichts mehr von einem Kampf.
Vergissmeinnicht.
Sie hatte die Mutter nicht vergessen, der Anblick des konservierten Kinderzimmers trieb ihr Tränen in die Augen.
Sie hatte auch Sophie nicht vergessen, die ständig gemault hatte, wie langweilig Sachkunde sei. »Warum spielen wir nicht?« In Veronikas Zimmer gab es kein Spielzeug.
»Die Familie Stromer, Besitzerin eines großen Handelshauses, hat im Mittelalter von Nürnberg aus die ganze Welt erobert«, belehrte Veronika sie.
Sie selbst hatte zwar vom Forsthaus aus nicht die ganze Welt erobert, aber sich in Frankfurt eine eigene geschaffen. Hatte Karriere gemacht, geheiratet, eine Tochter großgezogen.
Sie sank auf das Bett. Die Bettwäsche war glatt wie frisch gebügelt, nirgendwo eine Falte, nur eine Stopfnaht. Unwillkürlich japste sie nach Luft, aber in einem Einmachglas gab es keinen Sauerstoff. Sie stürzte zum Fenster, riss es auf.
Wieder sog sie tief den Atem ein. Der Druck auf der Brust verging, die würzige Waldluft füllte die Lungen, und als sie sich hinausbeugte, tropfte es ihr von der löchrigen Regenrinne auf den Hinterkopf. Sie fühlte sich erfrischt, aber dennoch beklommen und … schrecklich einsam. In der Ferne rief immer noch der Waldkauz.
ANNA
Als ich das erste Mal allein im Wald war, dachte ich, ich würde dort sterben. Dabei stirbt man im Wald nicht, man wird nur verwandelt.
Wäre ich verdurstet oder erfroren, hätten sich Bären, Wölfe und Raben an meinem Leichnam gütlich getan und dabei den Boden rundherum aufgerissen, sodass dort Samen keimen könnten. Die Reste meines verwesenden Fleisches wären ein vorzüglicher Dünger gewesen, die Knochen ein köstliches Mahl für die Mäuse. Sie hätten die harte Schale aufgebrochen, und die Linsenfliegen hätten darin ihre Eier ablegen können, während ein Käfer namens Totengräber sämtliche Haare abgebissen und mit seinem Speichel dafür gesorgt hätte, dass meine Überreste sich nach und nach mit dem Boden verbanden und frische Erde entstand.
Dieses Verschwinden macht einer alten Frau wie mir keine Angst, im Gegenteil. Es ist eine Verheißung. Als kleines Mädchen wusste ich freilich noch nicht, dass der Tod nie das Ende ist, nur eine Faser im Lebensfaden.
Ich heiße Anna Stromer, und die Geschichte, die ich erzählen will, beginnt im Jahr 1366, als ich acht Jahre alt war. Zu diesem Zeitpunkt war ich dem Tod schon zweimal begegnet.
Einmal hatte er mein kleines Brüderchen geraubt, als es noch eine Larve war. Nein, keine Larve, ein Säugling. Ich lebe schon so lange zurückgezogen in den Wäldern, dass mir die menschliche Sprache mehr und mehr abhandenkommt. Manchmal muss ich mühsam nach einem Wort suchen, während es ein Leichtes wäre, wie ein Kolkrabe zu krächzen.
Nach dem Tod meines Brüderchens ging meine Mutter Anna Hegner bald wieder schwanger, doch diesmal brachte sie das Ungeborene nicht auf die Welt. Es starb in ihr und vergiftete ihren Körper. Mit schweißbeflecktem Gewand, dunklen Adern unter der weißen Haut und verzerrtem Gesicht zeichnete sie mir ein Kreuz auf die Stirn und tat ihren letzten Atemzug. Noch Tage später glaubte ich, das Kreuz wie ein Brandmal zu spüren. Noch Monate später war ich von Trauer wie gelähmt.
Mein Vater Ulmann Stromer hatte seine Trauer schneller verwunden. Um mein kleines Brüderchen nicht zu vergessen, hatte er dessen Namen – Ulrich – in ein kleines Büchlein geschrieben, wo er später auch das Todesdatum meiner Mutter eintrug. Sodann nahm er sich eine neue Frau namens Agnes, die erst fünfzehn Jahre alt war. Gab ein Stuhl unter ihm nach, weil die Beine morsch geworden waren, verlegte er sich schließlich auch nicht aufs Stehen, sondern ließ sich einen neuen zimmern.
Agnes kümmerte sich nicht um mich. Sie sah in mir eher eine lästige kleine Schwester denn eine Stieftochter. Sie trachtete danach, sich nach der neuesten Mode zu kleiden, drehte sich damit hoffärtig vor dem Spiegel und erfreute sich an dem fußlangen, seidigen herbstbunten Unterkleid ebenso wie an dem ärmellosen Überkleid in der Farbe des Winterhimmels. Das eigene Spiegelbild lächelte ihr zu, ich stand stumm und bleich daneben.
»Sag, hast du deine Zunge verschluckt?«, rief Agnes einmal und brach in spöttisches Lachen aus.
Tiefes Entsetzen erfasste mich. Als meine Mutter noch lebte, hatte ich einmal einen der Knöpfe verschluckt, die seit geraumer Zeit jene Schlaufen ersetzten, mit denen die Nürnbergerinnen bislang ihre Kleider verschlossen hatten. Die Mutter hatte Angst gehabt, ich könnte ersticken. Der Vater hatte sich geärgert, denn Knöpfe waren teuer.
Am Ende hatte ich den Knopf wieder ausgeschieden. Doch eine Zunge war größer, daran würde ich wohl tatsächlich ersticken.
»Na los«, sagte Agnes und packte mich an den Schultern, »mach den Mund auf und lass mich schauen.«
Ich presste die Lippen zusammen und schüttelte den Kopf. Agnes schimpfte, ich sei ein böses, verstocktes Mädchen.
Erst nachdem die Stiefmutter den Raum verlassen hatte, stellte ich mich selbst vor den Spiegel und machte den Mund auf. Als ich meine Zunge erblickte, war ich erleichtert. Ich war nicht böse und auch nicht verstockt, aber einsam war ich, schrecklich einsam. Und fürderhin stumm.
Meinem Vater gefiel es, wenn Mädchen und Frauen wenig sprachen. Aber dass sie gar nicht sprachen, hatte der Allmächtige wohl nicht vorgesehen. Die Leute begannen zu tuscheln, die junge Anna sei am Tod ihrer Mutter irre geworden. Doch eine verrückte Frau würde dereinst kein ehrbarer Nürnberger ehelichen.
Also suchte mein Vater Rat in der Sebalduskirche, dann in der Lorenzerkirche, schließlich in der Frauenkirche.
Ein Priester sagte, dass nicht ich es sei, die beharrlich schwiege, sondern der Dämon, der in mir wohne. Der zweite sprach von einem bösen Zauber, gegen den Milch helfe, die man rot oder blau färben müsse. Der dritte behauptete, ich hätte etwas aus Eisen verschluckt, das mir nun schwer im Magen liege und jedes Wort in die Tiefe ziehe, bevor es den Mund erreiche.
Ich saß bei diesen Unterredungen daneben. Gerne hätte ich eingeworfen, dass der Knopf, den ich verschluckt und der den Körper schon wieder verlassen hatte, nicht aus Eisen bestanden habe, sondern aus Holz, und dass er mit Seidenstoff überzogen gewesen sei, der im Frühlingswind wie Schmetterlingsflügel flatterte. Doch ich bekam den Mund nicht auf. Mein Vater schon. Als der eine von Exorzismus sprach, der zweite von Gebeten, der dritte vom strengen Fasten und alle drei von großzügigen Schenkungen an die jeweilige Gemeinde, die Gott günstig stimmen würden, lehnte er ab.
Ulmann Stromer hätte sich zwar selbst als frommen Menschen bezeichnet, aber ich glaube nicht, dass er im tiefsten Herzen einer war. Vielmehr gehörte er zu jenem neuen Menschenschlag, wie man ihn vor allem in den Städten trifft – er fürchtete Gott nicht mehr, sondern handelte mit ihm. Und die Preise, die ihm die Priester nannten, deuchten ihn zu hoch.
Wer keine Schenkung wollte, sondern ihre Hilfe umsonst gewährte, war meine Tante Gerhaus. Die Schwester meines Vaters war eine belesene und kluge Frau, die dem Nürnberger Katharinenkloster als Äbtissin vorstand. Zunächst erging sie sich in mannigfaltigen Vermutungen, doch die meisten verwarf sie wieder. Vergiftetes Brunnenwasser hätte einen solchen Schaden anrichten können, aber die Juden habe man ja jüngst aus der Stadt vertrieben. Im Krankenhaus zum Heiligen Geist habe sie einmal gesehen, wie einem Siechenden ein Knochen aus dem Kopf wuchs, weil der Kranke einst einem Mann den Arm gebrochen hatte, doch ich sei noch zu jung für solch schwere Sünden und die daraufhin von Gott gesandte Strafe.
»Du musst mit ihr zu Sebald pilgern«, schloss sie ihre Ausführungen.
Sebald war ein frommer Mensch, der einst als Eremit im Wald gelebt hatte. Die Nürnberger pilgerten regelmäßig zu seinem Grab mit dem verwitterten Steinkreuz und zu der Quelle gleich in der Nähe, erhofften sie sich von dem Wasser doch Linderung für alle möglichen Leiden.
»Er wird deinem Töchterlein die Sprache zurückgeben«, schloss Tante Gerhaus hoffnungsvoll.
Ich war noch nie aus Nürnberg herausgekommen.
Die Freie Reichsstadt zählte damals schon mehr als dreihundert Jahre. Bei einer Eiche werden in diesem Alter die jährlichen Neuaustriebe etwas kürzer, mancher Zweig verbiegt sich krallenartig. Nürnberg hingegen streckte die Hände immer weiter nach Macht, Einfluss und Reichtum aus. Und die Hände meines Vaters bekamen besonders viel zu fassen.
Unsere Familie war eine der mächtigsten in der Stadt und eine der wohlhabendsten. Sie hatte mit Waren aus ganz Europa – Gewürzen, Tuch und Wein – ein riesiges Handelshaus erschaffen, dessen Verbindungen bis nach Maastricht, Valenciennes, Lüttich, Metz, Antwerpen reichte. In seinem Kontor wurde so emsig gearbeitet wie in einem Bienenstock. Bei den Bienen dreht sich freilich alles um die Königin, indes mein Vater und die anderen Patrizierfamilien alles daransetzten, den Herrscher, der in unserer Welt Kaiser heißt, mit Steuern gnädig zu stimmen, ansonsten aber von der Stadt fernzuhalten.
Der Reichswald umgibt Nürnberg von allen Seiten und ist so riesig, dass man ihn selbst dann nicht überblicken kann, wenn man am höchsten Punkt des Norenberc steht – dem Sandsteinfelsen, auf dem die Kaiserburg errichtet wurde. Manche nennen den Reichswald auch den Mantel der Stadt. Doch ein Mantel schmiegt sich sanft an den Körper, wohingegen zwischen der Stadt und dem Wald ein schmaler, abgeholzter Streifen Land liegt – das Knoblauchsland, auf dem die Menschen auf kargem Boden Gemüse anbauen. Auch quer durch den Wald hat man Schneisen geschlagen – Straßen, die nicht nur nach Bamberg oder Regensburg, sondern auch zur besagten Quelle des Eremiten Sebald führen.
Es hätte nicht gereicht, bloß meine Hände ins Wasser zu tauchen und einen Schluck aus der heilsamen Quelle zu trinken. Nein, Tante Gerhaus hatte geraten, mich gänzlich darin unterzutauchen und dazu einen lateinischen Segen zu sprechen. Sobald ich prustend auftauchte und nach Luft schnappte, würde ich gleich einem Neugeborenen einen durchdringenden Schrei ausstoßen.
Bang fragte ich mich, ob unter Wasser getaucht zu werden sich so anfühlte, wie an der Zunge zu ersticken. Ich hatte schreckliche Angst davor und hielt darum beharrlich den Kopf gesenkt. So merkte ich weder, wie unser Gefährt durch eines der Stadttore fuhr, noch, wie wir die mächtige Stadtmauer, an der unermesslich lange gebaut worden war, hinter uns ließen und bald der Schatten der Bäume auf die Kutsche fiel. Nicht nur, dass ich den Wald zu diesem Zeitpunkt noch nie betreten hatte – ich wusste nicht einmal, dass dies ein Wald war, hatten meine Amme und meine Mutter in meiner Gegenwart doch vornehmlich über Dinge getuschelt, die sich innerhalb der Stadtmauern zutrugen.
Auch Agnes nannte ihn nicht so. Seit Tagen beschwerte sie sich lautstark, weil sie meinen Vater und mich begleiten sollte, und hörte auch jetzt nicht auf, schiefmäulig zu klagen. Gut möglich, dass die Quelle besondere Heilkraft besitze, ihre Umgebung jedoch sei Feindesland.
»An einem Ort, wo hohe Bäume stetig Schatten werfen, werden böse und verstockte Menschen nur noch böser und verstockter«, rief sie. Eine terra inculta sei dieser Ort, wo sich finstere Menschen mit noch finsterer Seele versteckten. Ein res nullius, wo keine rechtschaffenen Menschen leben könnten – in schönen Häusern, prächtigen Gewändern und in Gesellschaft von ihresgleichen.
Die lateinischen Worte klangen aus ihrem Mund wie ein Fluch. Vater indes wurde zunehmend gereizt, weil seine Tochter zu viel schwieg und seine neue Frau zu viel redete. Doch ich hörte nicht auf zu schweigen und Agnes nicht auf zu reden.
»Ein Erzbischof ist vor vielen Jahren im Traum in die Hölle gereist«, erzählte sie, »und als man ihn fragte, wie es dort aussehe, da sprach er nicht von Feuerseen und Eisenrosten, auf denen Sünder brieten, sondern von Bäumen, die so dicht wüchsen, dass dazwischen bloß Platz für Schwärze und Ödnis sei. Der Boden sei nicht fest, die Schritte darauf würden versinken in einer Masse, die sich der ordnenden Hand, der Formung entzieht. Zudem ersticke man an giftigen Miasmen und werde von Schlingpflanzen zu Fall gebracht. Jungfräulich sei dieser Ort, doch wenn der Jungfrau der Gebieter fehlt, dem sie sich unterwirft und der sie fruchtbar macht, wird sie zum verdorbenen, gefährlichen Weibsbild.«
Vater wurde unbehaglich zumute. Er hatte durchaus Angst vor der Hölle und auch vor dem Fegefeuer. Allerdings hatte er in seinem Testament verfügt, dass nach seinem Tode gleich mehrere Klöster einen beträchtlichen Geldbetrag erhalten sollten, um regelmäßig Seelenmessen für ihn zu lesen und dadurch seine Zeit im Fegefeuer zu verkürzen. Das musste reichen.
»Schweig!«, fuhr er Agnes nun rüde an, und diesmal hielt sie den Mund, wenn auch mehr trotzig als ängstlich. Meine Furcht dagegen wuchs immer weiter, mein Magen verkrampfte sich schmerzhaft. Vielleicht wucherte eine Schlingpflanze auch in meinem Leib und setzte gerade an, sich um mein Herz zu ranken!
Aber noch schlug es, denn ich vernahm, wie Agnes erklärte, sie müsse sich erleichtern. Wir waren kaum eine Stunde unterwegs, hatten die Quelle noch lange nicht erreicht.
Als die Kutsche hielt, stieg Agnes aus, um aufstöhnend hinter einem Gebüsch zu verschwinden, und desgleichen mein Vater, weil er sich die Beine vertreten wollte. Ich folgte ihnen, um nicht allein zurückzubleiben – nicht ohne Unbehagen, aber auch nicht ohne Neugierde.
Beim Aussteigen zögerte ich kurz, lugte bloß nach draußen. Sodann setzte ich meinen Fuß auf die Erde, ganz vorsichtig, misstrauisch, schien sie mir doch gefährlich. Als ich freilich feststellte, dass ich mitnichten versank, wagte ich ein paar Schritte und erkannte: Zwischen den Bäumen, die den Weg säumten, wartete keine Ödnis, kein Feindesland. Ich stand auf einem samtweichen tiefgrünen Untergrund, nicht auf sumpfigem Boden, der mich zu verschlingen drohte. In der Luft lag nicht der Gestank von Schwefel, wie ich es erwartet hatte, sondern ein angenehm würziger Duft. Ich war auch nicht in ewiger Nacht gefangen – das Licht, das durch die Kronen rieselte, spann vielmehr grünliche Fäden, die, wo sie den Boden sprenkelten, einen warmen Bronzeton annahmen. Ich vernahm nicht das Echo jener Wehklagen, die die armen Sünder und Verdammten ausstießen, stattdessen ein Knacken und Rauschen und Rascheln, als würden die Geister, wenn es sie denn fürwahr gab, einander fröhlich necken.
Behutsam setzte ich noch mehr Schritte auf die weichgrünen Polster, sog den herben Geruch ein, entfernte mich immer weiter von Straße und Gefährt – und stand plötzlich vor einem mächtigen braunen Riesen.
Dass die gefurchte Haut nur die dicke Borke einer Eiche war – robuster als die glatte, dünne Haut der Buche, erst recht dann, wenn sie Jahrhunderte alt war –, erkannte ich noch nicht. Ich begriff auch nicht, dass die vermeintlichen Arme des Riesen bloß kräftige Äste waren und sein feister Leib ein Stamm, der noch den gewaltigsten Stürmen trotzte, und hielt es selbstredend für möglich, dass Riesen anstelle blonder Haare grüne Blätter trugen. Dass da anstatt der Füße Wurzeln waren, die aus der Tiefe Nahrung fischten, war nicht zu sehen – zu spüren hingegen schon. Prompt stolperte ich, als ich davonlaufen wollte, über eine von ihnen und fiel dem Riesen entgegen. An seinem Barthaar schrammte ich mir das Gesicht blutig. Wie das brannte!
Mit dem Schmerz überwältigte mich die Angst. Ich wich zurück, erst einen Schritt, dann einen zweiten, dann begann ich zu rennen. Fort, fort, fort von diesem Riesen! Fort, fort, fort von der Angst! Doch die Angst verfolgte mich, holte mich ein. Selbst wenn der Riese bloß ein Baum war – andere Gestalten aus dunklen Legenden kamen mir in den Sinn. Versteckte sich dort hinten im Dickicht nicht eine goldhaarige Fee, die liebreizend anzusehen war, aber Unheil brachte? Gut möglich auch, dass in den tiefen Baumlöchern, aus denen eine rötliche, sämige Flüssigkeit perlte, bösartige Zwerge ihre Heimstatt hatten! Und dass die rosig blühende Pflanze dort, die auf dem sumpfigen Boden wogte, sich nicht nur regte, weil der Wind mit ihr spielte, sondern weil sie ein verzaubertes Wesen war, das mich anstarren, einkreisen, betasten, erwürgen wollte.
Ich lief und lief, doch der Riese war schneller. Wohin ich auch kam, der Eichenbaum war immer schon dort. Verfolgte er mich oder ich ihn? Wo war die Straße mit der Kutsche? Wo waren mein Vater, der Kutscher, Agnes? Wie hatte ich mich so schnell zwischen all diesen Bäumen verirren können? Warum konnte ich nicht schreien, nur den Mund weit aufreißen und dem schwachen Stöhnen nachlauschen, das aus dem Dickicht entkam, während ich seine Gefangene blieb?
Ich konnte diesen leisen Ort nicht übertönen. Nicht den Gedanken, der sich in mir einnistete.
Ich war allein.
Ganz allein im Wald.