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Buch

Gloustershire, September 1909. Eine Woche mit eleganten Dinnern, rauschenden Partys und aufregenden Autorennen – für Lady Hardcastle und ihre Zofe Florence Armstrong klingt das nach der perfekten Zerstreuung. Und so folgen sie der Einladung Lord Riddlethorpes auf dessen Landsitz. Doch gleich während des ersten Rennens geschieht ein fürchterlicher Unfall, und einer der Fahrer stirbt. Die beiden Frauen ahnen, dass kein Fahrfehler dahintersteckt, sondern eine weitaus teuflischere Ursache … Eine genaue Untersuchung des Autos bestätigt den Verdacht: Der Rennwagen wurde sabotiert! Lady Hardcastle und Flo machen sich entschlossen ans Werk, den Übeltäter zu überführen …

Autor

T E Kinsey wuchs in London auf und studierte Geschichte an der Universität Bristol. Er schrieb einige Jahre lang als Journalist für Zeitschriften und Magazine, bevor er der glamourösen Welt des Internets verfiel und viele weitere Jahre für eine sehr bekannte Unterhaltungswebsite arbeitete. Nachdem er dabei half, drei Kinder großzuziehen, Tauchen lernte und sich beibrachte, Schlagzeug und Mandoline zu spielen, beschloss er schließlich, dass es an der Zeit ist, zum Schreiben zurückzukehren. Zum Glück, denn seine Reihe um die exzentrische Hobbydetektivin Lady Emily Hardcastle und ihre tatkräftige Zofe Florence Armstrong wurde in Großbritannien zu einem Megahit.

Von T E Kinsey bereits erschienen

Lady Hardcastle und der Tote im Wald · Lady Hardcastle und ein mörderischer Markttag · Lady Hardcastle und das tödliche Autorennen

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T E Kinsey

Lady Hardcastle
und das tödliche
Autorennen

Kriminalroman

Deutsch von Bernd Stratthaus

Die Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel »Death Around the Bend. A Lady Hardcastle Mystery« bei Thomas & Mercer, Seattle.

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Copyright der Originalausgabe © 2016 T E Kinsey

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Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2022 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Susann Rehlein

Umschlaggestaltung: © www.buerosued.de nach einer Originalvorlage von Thomas & Mercer

Umschlagdesign: Lisa Horton

JA · Herstellung: sam

Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, München

ISBN 978-3-641-28745-0
V001

www.blanvalet.de

1

Was meinst du, Flo? Das rote Tuch oder das grüne?« Lady Hardcastle hielt mir zwei Seidentücher hin.

»Warum nehmen Sie nicht beide mit, Mylady?«, schlug ich vor und packte weiter ein.

»Na ja, das ginge natürlich. Ich wollte es nicht übertreiben. Immerhin fahren wir ja bloß für eine Woche weg.«

»Ein einzelner Seidenschal macht an diesem Punkt wohl kaum noch einen großen Unterschied«, sagte ich und zeigte auf den bereits aus allen Nähten platzenden Schrankkoffer sowie auf den Berg von Schachteln und Taschen, die zwischen uns auf dem Boden des Schlafzimmers herumstanden.

Sie blickte sich um. »Ich verstehe, was du meinst. Ganz ehrlich, Flo, brauchen wir diesen vielen Kram denn wirklich?«

»Dieser ›Kram‹, wie Sie so herablassend sagen, ist das absolute Minimum, das für eine Woche in einem Landhaus notwendig ist, und das wissen Sie auch sehr genau!«, rief ich sie zur Ordnung.

Sie seufzte. »Ich weiß, ich weiß. Aber … ich meine … ganz ehrlich. Wie sollen wir das denn alles im Automobil verstauen?«

Nun war ich mit dem Seufzen an der Reihe. »Ich dachte, das hätten wir geklärt, Mylady. Dr. Fitzsimmons leiht uns seine Kutsche, und sein Fahrer Newton bringt uns damit zum Bahnhof. Den Rover lassen wir hier.«

Seit wir für eine Woche nach Codrington Hall in Rutland, dem Zuhause Lord Riddlethorpes, eingeladen worden waren, waren mehrere hektische Sommerwochen vergangen, in denen wir mit ermüdender Regelmäßigkeit das Thema diskutiert hatten, ob wir mit dem neu angeschafften Auto dorthin fahren sollten.

Einerseits wäre die lange Fahrt von unserem Zuhause in Gloucestershire nach Riddlethorpe möglicherweise sehr unterhaltsam geworden: Wir wären durch schöne Städtchen und Dörfer im Herzen Englands gebraust, hätten die letzten Erntetätigkeiten sowie das Vieh gesehen, das wiederkäuend auf den Weiden gestanden hätte … Wir machten uns eine ziemlich romantische Vorstellung vom spätsommerlichen England, und die lange Fahrt hätte gewährleistet, dass wir dessen Schönheit in vollen Zügen hätten genießen können.

Andererseits gab es wenigstens einen Zentner »Kram«, den wir unterbringen mussten, außerdem uns selbst: eine Witwe und ihre Kammerzofe. Der August war wonnig warm und sommerlich gewesen, und alles deutete darauf hin, dass das gute Wetter in der ersten Septemberwoche weiter anhalten würde, doch dem englischen Wetter ist nicht zu trauen. Ich entschied also, für warme Temperaturen zu packen, aber auch ihren Regenmantel, Galoschen und wenigstens zwei Tweedkombinationen mitzunehmen, falls die Morgen in Rutland ein bisschen frisch werden sollten.

Die Vorstellung, viele Stunden zusammen in dem winzigen Auto eingezwängt zu verbringen, erfüllte uns beide mit Unbehagen. Und zudem gab es noch das Problem, den Schrankkoffer, die Schachteln und Taschen irgendwie zu verstauen. Lange hatten wir zwischen den unterschiedlichen Alternativen geschwankt, bevor wir uns schließlich entschlossen hatten – wenigstens war ich bisher davon ausgegangen – , dass eine Reise mit dem Auto wirklich unpraktisch gewesen wäre und dass der Zug daher die deutlich vernünftigere Wahl war.

»Na ja«, sagte sie und nestelte noch immer an den Seidentüchern herum, »ich weiß schon, dass wir uns darauf geeinigt hatten … aber es wäre doch ziemlich günstig, dort ein Auto zu haben … Du weißt schon, um uns ein bisschen umzuschauen und so weiter …«

»Ich bin mir sicher, dass uns Lord Riddlethorpe eins seiner vielen Fahrzeuge leiht. Seine Freunde und er sind wahrscheinlich glücklich, wenn wir eine kleine Spritztour ins Dorf unternehmen, dann können sie treiben, was auch immer diese Kerle treiben, sobald keine Damen anwesend sind.«

Die Einladung nach Rutland war über Lady Hardcastles Bruder Harry zustande gekommen. Er kannte Lord Riddlethorpe (seine Freunde nannten ihn »Fishy« – denn sein Familienname Codrington trug die englische Bezeichnung für »Kabeljau« in sich) seit der gemeinsamen Studienzeit in Cambridge. Er hatte seine Schwester gefragt, ob sie (und ich) nicht Lust hätten, die »Freunde« zu sein, die mitzubringen ihm freigestellt war. Anlässlich der Gründung von Lord Riddlethorpes neuem Rennstall sollte eine kleine Feier stattfinden, zu der auch die ortsansässigen Würdenträger eingeladen waren. Außerdem waren Wettfahrten auf Lord Riddlethorpes neu gebauter Rennstrecke angesetzt. All das war furchtbar aufregend, sodass Lady Hardcastle ohne großes Zögern zugesagt hatte.

»Glauben Sie denn, dass Lord Riddlethorpe Sie an einem Rennen teilnehmen lässt?«, fragte ich, nahm ihr die Tücher ab und legte sie zusammen, bevor ich sie einpackte.

»Ich hoffe doch sehr«, erwiderte sie. »Und ich wäre ziemlich enttäuscht, wenn er dich nicht auch einmal fahren ließe.«

»Ist er denn so fortschrittlich? Denkt er nicht, dass sich so etwas für Frauen nicht gehört?«

»Soweit ich mich erinnern kann, ist er ganz in Ordnung. Ich nehme nicht an, dass er Mrs. Pankhurst und ihren Suffragetten Geld spendet, aber ich kann mich noch daran erinnern, dass er sich mit einigen dieser unerträglichen Dummköpfe angelegt hat, die uns Studentinnen in Girton das Leben schwermachen wollten. Ich meine, er hat uns gegenüber eine erfrischend offene Einstellung.«

»Sie kennen ihn also noch aus Cambridge?«

»Nur flüchtig, er ist mit Harry aufs King’s College gegangen, also haben sich unsere Wege bisweilen gekreuzt. Er ist ein ziemlich verträglicher Zeitgenosse. Ich kann mich erinnern, dass er damals wie ein anhängliches Hündchen war: freundlich, gut gelaunt und darauf bedacht, anderen zu gefallen – du kennst doch diese Art Mann. Begeisterte sich ständig grenzenlos für so ziemlich alles Neue. Seitdem ist er vielleicht erwachsen geworden, könnte ich mir vorstellen; all das ist ja immerhin zwanzig Jahre her.«

»Dann lassen Sie uns einfach hoffen, dass er immer noch findet, Frauen sollten unschickliche Dinge tun dürfen«, entgegnete ich. »Seit wir den Rover haben, habe ich am Fahren Geschmack gefunden. Ich würde ganz gern einen Wagen mit ein paar mehr PS ausprobieren.«

»Mir geht es genauso, Flo.« Einen Augenblick lang stand sie in Gedanken versunken da, dann umrundete sie das Bett und ging zur Tür, wo sie sich noch einmal umdrehte. »Ach, aber ich sag dir was, ich habe gehört, dass die Landschaft dort ziemlich hübsch ist. Ob wohl im Gepäck noch Platz für meine Wasserfarben ist?«

Ich seufzte theatralisch. »Ich denke schon, Mylady, ansonsten können wir sie in meiner Tasche verstauen. Mir macht es nichts aus, wenn ich in ungewaschenen Kleidern herumlaufen muss. Ich bin ja nur eine bescheidene Kammerzofe.«

Ich wich einem spielerischen Klaps aus, den sie mir im Weggehen verpassen wollte.

Eine weitere halbe Stunde später hatte ich den Rest ihrer Sachen eingepackt. Noch schloss ich allerdings keine der Taschen, denn aus Erfahrung wusste ich, dass es trotz all ihrer Klagen über zu viel Gepäck in letzter Sekunde noch ein oder zwei »Ach, ohne das komme ich aber nicht aus«-Momente geben würde. Die entsprechenden Dinge müssten dann noch untergebracht werden, bevor wir schließlich am nächsten Morgen aufbrechen könnten.

Ich ging nach unten. Miss Jones, die Köchin, und Edna, das Hausmädchen, waren schon gegangen – Lady Hardcastle hatte ihnen für die Zeit unserer Abwesenheit freigegeben – , also wollte ich gerade Wasser für eine schöne Kanne Tee aufsetzen. Allerdings wurde mein Vorhaben jäh durch ein ebenso unvertrautes wie penetrantes Läuten unterbrochen. Es kam nicht von der Tür, und wenn Lady Hardcastle nicht wieder daran herumgebastelt hatte, war ich mir sicher, dass es sich auch nicht um die Zimmerklingeln handelte.

»Gehst du jetzt ans Telefon oder nicht?«, rief Lady Hardcastle aus ihrem Arbeitszimmer.

Das neue Telefon. Natürlich. Nach Wochen des Hinauszögerns und dem, was Lady Hardcastle ungeduldig als »wirklich vollkommen unnötiges Palaver« bezeichnet hatte, war der Anschluss nun endlich gelegt worden. Ich war noch immer nicht ganz sicher, ob wir so ein Ding wirklich brauchten, aber ich konnte nicht leugnen, dass es sehr bequem war, nicht mehr zur Post traben zu müssen, wenn wir ein Telegramm aufgeben wollten.

Ich ging in den Flur und nahm den Hörer von dem hölzernen Kasten, der an der Wand angebracht war. Noch immer war ich mir nicht sicher, welche Höflichkeitsregeln bei der Benutzung dieses Dings beachtet werden mussten, aber wir hatten uns darauf geeinigt, dass ich nicht vollkommen falschliegen könnte, wenn ich Anrufer genauso behandeln würde wie unangemeldete Besucher.

»Hallo«, sagte ich also laut und deutlich. »Chipping Bevington zwei-drei.«

»Hallo?«, antwortete eine schrille Frauenstimme. »Hallo? Bist du das, Emily? Hallo?«

Ich erkannte unsere Anruferin als Lady Farley-Stroud, die Frau des hiesigen Grundbesitzers. »Nein, Lady Farley-Stroud, ich bin es, Armstrong.«

»Armstrong?«, antwortete sie. »Sind Sie das?«

»Ja, Mylady. Soll ich Lady Hardcastle holen?«

»Ob es Ihnen wohl etwas ausmachen würde, Lady Hardcastle für mich zu holen? Ich würde gern kurz mit ihr sprechen.«

Ich legte den Hörer auf dem Tischchen im Flur ab und wollte Lady Hardcastle holen gehen, aber sie war schon auf dem Weg aus ihrem Arbeitszimmer. »Ist das Gertie? Ich schwöre dir, sie wird allmählich taub. Hat sie gesagt, was sie will?«

Ich schüttelte nur den Kopf und ließ sie dann in Ruhe telefonieren.

Bis Lady Hardcastle das Gespräch beendet hatte, war der Tee bereits aufgegossen, und ich saß im Frühstückszimmer bei einer wohlverdienten Pause. Als sie sich zu mir gesellte, legte ich die Zeitung hin und zog fragend eine Augenbraue hoch.

»Hat Miss Jones irgendetwas fürs Abendessen vorbereitet?«, fragte sie und goss sich eine Tasse Tee ein.

»Nichts Besonderes, Mylady. Sie hat vorgeschlagen, wir sollten die Schinkenpastete mit ein bisschen Salat aus dem Garten garnieren und aufessen. Sie wollte nichts Neues mehr kochen, das nur zu weiteren Resten geführt hätte, da wir ja für eine Woche wegfahren und so weiter.«

»Gut mitgedacht. In diesem Fall: Was sagst du zu einem Abendessen auf The Grange

»Ich auch, Mylady? Nicht nur Sie?«

»Nein, wir sind beide eingeladen. Gertie hat ganz ausdrücklich auf deiner Anwesenheit bestanden.«

»Du meine Güte«, rief ich aus. »Allmählich klettere ich wirklich die gesellschaftliche Leiter empor.«

»Scheint so. Seit der Vergiftung des Farmers hat sie dich ziemlich ins Herz geschlossen. Außerdem respektiert sie dich.«

»Wie außerordentlich schmeichelhaft«, sagte ich lächelnd. »Hat sie irgendetwas über den Grund für diese unerwartete Einladung gesagt?«

»Offenbar hat Sir Hector ein Problem, das wir für ihn lösen sollen. Etwas, was unsere einzigartigen Talente erfordert, meine Liebe, so hat sie es wenigstens ausgedrückt.«

»Einzigartige Talente, hm?«, wiederholte ich.

»Wir haben doch wohl einzigartige Talente.«

»Hm«, machte ich noch einmal unbestimmt und goss ihr Tee nach.

»Ach, komm schon, Flo, haben wir doch. Vorgetäuschte Selbstmorde, mörderisches Zirkusvolk, erschlagene Trompeter, vergiftete Farmer, Pubs, in denen es spukt, vermisste Trophäen … Wir haben all diese Fälle gelöst. Wer in dieser Gegend kann von sich schon dasselbe behaupten?«

»Na, wenn Sie es so schildern …«

»Genau«, erwiderte sie und stippte triumphierend einen Keks in ihren Tee. »Und als Nächstes müssen wir nun herausfinden, was in aller Welt Hector so sehr plagt, dass er es für nötig hält, die Dienste der ortsansässigen schrulligen Witwe und ihrer Zofe in Anspruch zu nehmen.«

Ich kicherte in meine Teetasse. »Der Fall des ungezogenen Hundes?«, riet ich. »Die Affäre um den verlorenen Manschettenknopf?«

»Da muss ich dir zustimmen – man kann sich eigentlich nicht vorstellen, dass in ihrem Leben irgendetwas besonders Aufregendes geschieht. Ich liebe die beiden heiß und innig, aber für sie scheint das Leben etwas zu sein, was nur anderen Menschen passiert.«

»Obwohl man ja zugeben muss, dass nach der Verlobungsfeier ihrer Tochter ein toter Trompeter in ihrer Bibliothek lag.«

»Und Gertie war im Hayrick, als der alte Wie-hieß-er-noch-gleich den Geist aufgab und vornüber in seine Pastete fiel«, fügte sie hinzu.

»Also ist auch der Tod etwas, was anderen Menschen passiert, sobald sie sich in ihrer Nähe aufhalten.«

»Oje«, sagte sie und blickte abrupt auf. »Ich hoffe, niemand ist gestorben.«

»Wenn es so wäre, hätte sie uns doch längst einen Besuch abgestattet, Mylady. Höchstwahrscheinlich geht es nur um ein paar Kinder, die ihnen Äpfel gestohlen haben, oder um eine verlegte Garnitur von Fischmessern.«

»Vermutlich hast du recht«, stimmte sie mir zu und stellte ihre Tasse ab. »Aber ein Abendessen und ihre Gesellschaft sind dennoch eine wunderbare Art, unsere freie Woche einzuläuten.«

»Ihre freie Woche«, verbesserte ich sie.

»Papperlapapp. Du weißt sehr gut, dass du ebenso frei hast.«

»Ich muss mir unterm Dach das Zimmer mit jemandem teilen«, murrte ich. »Und mit den Dienstboten in der Küche essen.«

»Ach, sei still. Immerhin darfst du mit mir mitkommen, und wir haben darüber gesprochen, dass wir versuchen, dir einen Platz in einem der Rennwagen zu organisieren. Außerdem genießt du den Dienstbotentratsch. Du wirst dich köstlich amüsieren, und das weißt du auch.«

Ich lächelte. »Na ja, wenn Sie es so ausdrücken …«

»Natürlich. Und jetzt haben wir noch ein paar Stündchen, bevor wir uns fürs Dinner umziehen müssen, wie wäre es also mit ein wenig Klavier-Üben?«

»Ganz recht, Mylady«, erwiderte ich leichthin. »Viel Spaß dabei.«

»Nein, meine Liebe, du sollst üben. Du musst dich wirklich ein bisschen anstrengen, wenn du das Instrument irgendwann beherrschen willst. Ich lese solange Zeitung.«

Seit einigen Jahren hatte sie immer wieder mal versucht, mir das Klavierspielen beizubringen, doch in letzter Zeit hatte sie bei ihren Bemühungen einen ziemlichen Eifer entwickelt. Wenn ich ganz ehrlich bin, muss ich sagen, dass mir das Klavierspielen ziemlich viel Spaß machte und dass ich im Geheimen auch durchaus zufrieden mit meinen Fortschritten war. Leider hatte die Vorstellung, »üben« zu müssen, etwas an sich, was die ganze Sache in Schwerstarbeit verwandelte. Und zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich einen kindischen Widerwillen dagegen entwickelte.

»Aber ich muss doch noch packen, Mylady«, versuchte ich es also. »Mit meinen eigenen Sachen habe ich noch nicht mal angefangen.«

»Papperlapipapp«, erwiderte sie. »Dazu hast du später noch genug Zeit. Und jetzt los. Spiel.«

»Wie Sie wünschen, Mylady.«

Sie nahm sich die Zeitung und betrachtete sie mit zusammengekniffenen Augen. »Ach, wärst du so lieb und würdest mir mein Lesedingsbums holen? Ich hab es auf dem Schreibtisch liegen lassen.«

Vor Kurzem hatte sie ihre Lesebrille abgeschafft und war dazu übergegangen, ein altmodisches Lorgnon zu benutzen, das sie allerdings niemals bei sich trug. Dabei ließ sich das Gestell zusammenklappen und in den Griff versenken, sodass ein ziemlich aparter silberner Anhänger daraus wurde, der – so hatte es sich derjenige, der es entworfen hatte, wohl auch gedacht – an einer Kette um den Hals getragen werden konnte. Doch aus unerfindlichen Gründen vermied Lady Hardcastle derlei Annehmlichkeiten.

Also seufzte ich theatralisch und machte mich auf die Suche nach der verlegten Sehhilfe.

Nachdem ich ihr das Lorgnon gebracht hatte, zog ich mich gehorsam in den Salon zurück und setzte mich ans Klavier. Eine knappe Stunde lang spielte ich mit einigem Vergnügen und hatte nur ein einziges Mal gute Lust, dem Instrument einen Schlag zu versetzen. Herr Mozart hingegen hatte Glück, dass er bereits tot war, sonst hätte ich wohl schon im nächsten Zug zur Fähre in Richtung Wien gesessen, um ihm eine Abreibung zu verpassen.

Ich war an der Reihe mit Fahren, sodass wir bei unserer Ankunft auf The Grange tatsächlich das Bild von Herrin und Dienerin abgaben. Allerdings ruinierte mein Aufzug diesen Eindruck. Lady Hardcastle hatte bei ihrem Lieblingsschneider in Bristol ein Kleid für mich anfertigen lassen, und nun trug ich es zum ersten Mal zu diesem Dinner. Es war aus dunkelgrüner Seide und hatte ein reich besticktes Oberteil. Hauchdünne grüne Seide bedeckte meine Schultern und weitete sich zu den Ärmeln hin, und auch von der hohen Taille fiel zarte, mit Perlen und Pailletten besetzte Seide hinab (»Eine hohe Taille ist in dieser Saison der letzte Schrei, Miss.«). Es war so ziemlich das Schönste, was ich jemals getragen hatte.

Die meisten Erfahrungen mit Dinners hatte ich zu der Zeit gesammelt, als wir im Auftrag der Krone unterwegs gewesen waren. Damals hatte ich die Rolle einer Dame der feinen Gesellschaft gespielt und dabei Lady Hardcastle im Auge behalten. An diesem Abend hatte ich nun aber keine Rolle zu spielen, und ich trug auch keinen falschen Titel, hinter dem ich mich hätte verstecken können. Ich war einfach nur Florence Armstrong, eine Kammerzofe in einem eleganten Kleid, und fühlte mich ganz entschieden wie auf dem Präsentierteller.

Das Haus der Farley-Strouds war ein bezaubernd heruntergekommenes Durcheinander verschiedener architektonischer Stile, von Tudor bis zu Neogotik, garniert mit einem Quäntchen Georgianismus. Es passte genau zu seinen entzückend exzentrischen Besitzern.

The Grange als Gast zu betreten erzeugte Unwohlsein in mir. Zwar war ich schon viele Male zuvor in diesem Haus gewesen, ich hatte es sogar schon durch die Vordertür betreten und mit Lady Farley-Stroud zu Mittag gegessen. Dennoch erschien es mir außerordentlich seltsam, hier zum Dinner eingeladen zu sein. Ich fragte mich, ob das möglicherweise daran lag, dass die Farley-Strouds mich zunächst als Lady Hardcastles Zofe kennengelernt und erst danach begonnen hatten, mich mit anderen Augen zu betrachten. Da sie allerdings stets so zauberhaft mit mir umgingen, kam ich zu dem Schluss, dass dies nicht der Grund für mein Unbehagen sein konnte.

Als Jenkins, der Butler der Farley-Strouds, die Tür öffnete und uns mit einem Lächeln und einer Verbeugung hereinbat, wusste ich plötzlich, woran es lag. Es ging um die Dienerschaft. Die Dienstboten dieses Hauses wussten, dass ich nur eine Kammerzofe war, und obwohl ich ziemlich gut mit allen auskam (sogar mit der herrischen Köchin Mrs. Brown), wusste ich doch, dass eine oder zwei unter ihnen (vor allem Dora, das Hausmädchen) der Ansicht wären, dass ich mich für etwas Besseres hielt.

Es war ein lauer Abend, sodass wir keine Mäntel trugen, also führte Jenkins uns direkt in die gemütliche Bibliothek, wo Sir Hector und Lady Farley-Stroud sich vor dem Essen bereits ein paar Drinks genehmigten. Die Jahre unmittelbar nach ihrer Heirat hatten sie gemeinsam in Indien verbracht (obwohl es mir nie gelang herauszufinden, in welcher Branche Sir Hector eigentlich tätig war), sodass Gin Tonic noch immer ihr bevorzugter Aperitif war. Als wir eintraten, schenkte sich Sir Hector gerade ein Glas davon ein und machte sich sofort daran, zwei weitere zu mixen.

»Guten Abend, meine Lieben«, begrüßte er uns herzlich. »Wie wunderbar, dass ihr kommen konntet, hm?«

»Das Vergnügen liegt ganz auf unserer Seite, mein lieber Hector«, erwiderte Lady Hardcastle. »Und Gertie, du siehst bezaubernd aus. Ist das Kleid neu?«

Lady Farley-Stroud strahlte vor Freude. »Wie nett, dass du das sagst, Liebes. Die letzte halbe Stunde über habe ich versucht, Hector darauf aufmerksam zu machen.«

»Ist dir auch gelungen, meine Liebe«, warf Sir Hector ein und reichte uns unsere Drinks. »Ich wollte nur nichts Falsches sagen – ich bin vorher schon in diese Falle getappt. ›Was für ein hübsches Kleid‹, hab ich da gesagt. ›Ist das neu?‹ Und daraufhin musste ich mir dann einen langen Vortrag darüber anhören, dass ich nie auf irgendetwas achte und dass es nur ein schäbiges altes Kleid ist, das du schon jahrelang hast, und dass ich dir doch sicher mal ein neues kaufen könnte. Für mich gibt es da nichts zu gewinnen, meine Liebe. Überhaupt nichts.«

Lady Farley-Stroud gab einen missbilligenden Laut von sich, strahlte aber unvermindert weiter. Wahrscheinlich hatte ich noch nie ein Paar getroffen, das einander so tief verbunden war, obwohl die Hardcastles dem ziemlich nahe gekommen waren, bevor Sir Roderick in China ermordet worden war.

Auch Lady Hardcastle schien von den beiden berührt zu sein, sie lächelte herzlich, als sie ihren Gin Tonic entgegennahm.

»Tut mir leid, aber wir haben keine Limetten, meine Liebe«, entschuldigte sich Sir Hector und schien gar nicht zu bemerken, welchen Effekt der Wortwechsel mit seiner Frau gehabt hatte. »Ich kann dir aber eine Scheibe Zitrone anbieten, wenn du magst.«

»Nein, nein, mein Lieber«, lehnte Lady Hardcastle ab. »So ist es wunderbar.«

Vorsichtig nippte ich an meinem Drink und versuchte, mich so unaufdringlich wie möglich zu verhalten.

»Schauen Sie nicht so nervös, Liebes«, wandte Lady Farley-Stroud sich freundlich an mich. »Ich habe doch schon gesagt: Wenn Emily Sie als Familienmitglied behandelt, sollten wir das ebenfalls tun. Außerdem haben wir Sie ausdrücklich eingeladen.«

Sir Hector zwinkerte mir zu. »Nicht zu vergessen, dass sie sich ein bisschen vor Ihnen fürchtet. Allen, die wir kennen, hat sie davon erzählt, wie Sie mit diesem Kerl vor dem Hayrick kurzen Prozess gemacht haben. ›Mit ihr möchte man sich wirklich nicht anlegen‹, sagt sie immer.«

Ich musste lachen.

»Also, Hector! Wirklich!«, rief Lady Farley-Stroud empört aus.

Ich sah mich in der Bibliothek um und versuchte herauszufinden, warum es hier immer so gemütlich und einladend war, obwohl doch alles ein bisschen heruntergewirtschaftet war und seinen Zenit bereits überschritten hatte. Vielleicht lag es genau daran: Vielleicht ließ die Tatsache, dass dieser Ort geliebt und dass in ihm gelebt wurde, ihn so behaglich wirken. Die gepolsterten Stühle waren einst der letzte Schrei gewesen, genau wie das Mahagoni-Sideboard, aber ihre besten Tage lagen inzwischen hinter ihnen.

»Das Leben ist wirklich so viel aufregender geworden, seit ihr zwei ins Dorf gezogen seid, wisst ihr?«, sagte Lady Farley-Stroud. »Wahrscheinlich war das Interessanteste, was sich hier vor eurer Ankunft bisweilen ereignet hat, das nächtliche Geturtel hinter dem Kricketklubhaus während der Brunftzeit.« Dazu zwinkerte sie theatralisch.

»Gemach, altes Mädchen«, warf Sir Hector ein. »Nicht in Wallung geraten.«

»Es gab aber doch sicherlich weniger Tote, würde ich meinen«, meldete sich Lady Hardcastle zu Wort.

»Nein, Emily«, widersprach Sir Hector. »In dieser Gegend gab es schon immer eine Menge Morde. Das liegt hier wohl in der Luft, hm?«

Ich musste an unseren Freund Inspektor Sunderland von der Kriminalpolizei in Bristol denken. Er hatte uns einst verraten, dass wir an einen Ort gezogen waren, den er als die »Mordhauptstadt« Englands bezeichnete. Während wir ihm dabei halfen, das Geheimnis um einen Mord aufzuklären, der in genau dieser Bibliothek verübt worden war, hatte er uns erzählt, dass es in diesem Teil von Gloucestershire mehr Morde pro Kopf gebe als irgendwo sonst im Land. Es wäre wirklich eine Erleichterung, mal rauszukommen und nach Rutland zu fahren, wo niemand Gefahr lief, unter verdächtigen Umständen ums Leben zu kommen. Dort könnten wir uns dann der ernsten Aufgabe widmen, Spaß zu haben.

»Aber das ist doch ganz nebensächlich, mein lieber Hector«, sagte Lady Farley-Stroud. »Ich will darauf hinaus, dass das Dorfleben um so viel ereignisreicher verläuft, seit Emily hergezogen ist. Außerdem ist es schön, dass euer Haus endlich bewohnt ist. Wir haben schon befürchtet, dass es weiter leer stehen würde, als wir hörten, dass der Bursche, der es gebaut hat, nicht so schnell nach England zurückkehrt. Leicht hätte es verfallen oder zu einem Unterschlupf für Landstreicher werden können. Das war wirklich furchtbar unverantwortlich von ihm, wer auch immer er ist.«

»Jasper Laxton«, half Lady Hardcastle aus. »Tatsächlich hat er uns erst vor ein paar Tagen eine Nachricht geschickt. Es scheint, als bliebe er auf absehbare Zeit in Indien – seine Geschäfte laufen auf einmal prächtig, und seine Frau bemüht sich darum, eine Schule einzurichten. Um ganz ehrlich zu sein, denke ich ernsthaft darüber nach, ihm das Haus abzukaufen.«

Beinahe hätte Lady Farley-Stroud in die Hände geklatscht. »Ach, oh, wie wunderbar! Ach, bleib doch bitte, liebe Emily. Sie sollte hierbleiben, Hector, oder etwa nicht?«

Sir Hector hatte sich gerade wieder in Richtung der Getränke geschlichen, als er seinen Namen hörte. »Wie?«, fragte er zerstreut. »Wer sollte was tun?«

»Ach, Hector, hör doch mal zu, wenn wir Gäste haben«, tadelte seine Frau ihn ungeduldig. »Und denk nicht mal dran, dir noch einen Gin einzuschenken. Du hattest wirklich genug.«

Die Entscheidung wurde beiden abgenommen, als Jenkins hereinkam und in feierlichem Ton verkündete, dass angerichtet sei.

Das Speisezimmer war ebenso gemütlich abgenutzt und altmodisch wie der Rest des Hauses. Es war sauber und einigermaßen aufgeräumt, aber sowohl die Möbel als auch die Dekoration hatten schon bessere Tage gesehen. Wir waren nur zu viert, daher setzten wir uns gemeinsam ans eine Ende eines großen Esstischs, an dem wenigstens sechzehn Personen Platz gefunden hätten, vielleicht sogar zwanzig, wenn sie sich alle gut leiden konnten.

Was immer man über Mrs. Browns Charakter und die Art sagen mochte, wie sie das Regiment in ihrer Küche führte und ihre Untergebenen behandelte, sie war eine ausgezeichnete Köchin. Für dieses Abendessen war sie ganz offenbar angewiesen worden, sich besondere Mühe zu geben. Jenkins servierte zusammen mit Dewi, dem Hausdiener, Gang um Gang. Dabei handelte es sich um das köstlichste Essen, was ich außerhalb der Pariser Restaurants jemals probiert hatte – na ja, das ist vielleicht eine leichte Übertreibung, aber Mrs. Brown behandelte Nahrungsmittel zweifellos mit deutlich mehr Respekt als ihre Untergebenen.

Das Gespräch, das von großen Mengen sehr trinkbaren Weins begleitet wurde, war gesellig, beinahe schon ausgelassen, und beide Farley-Strouds gaben sich große Mühe, mich einzubinden und mir das Gefühl zu geben, bei ihnen willkommen zu sein. Als schließlich der Nachtisch (eine außergewöhnliche Kreation aus Meringue, in Alkohol eingelegten Früchten und Schlagsahne) von uns verputzt worden war und Jenkins uns mit Käse und Portwein allein gelassen hatte, fühlte ich mich pudelwohl.

»Also gut, Hector«, sagte Lady Hardcastle, schnitt sich ein großzügiges Stück Double Gloucester ab und schenkte sich einen noch großzügigeren Schluck Portwein ein. »Worum geht es denn nun genau bei dem geheimnisvollen Rätsel, das du mit uns besprechen willst? Ich hoffe doch, es ist knifflig genug, damit wir uns für dieses wundervolle Essen bei dir revanchieren können, indem wir es lösen.«

Auch ich hatte mich bereits über den auffälligen Aufwand gewundert, der für diese Mahlzeit betrieben worden war, denn ich wusste, dass die beiden Grundbesitzer nicht annähernd so reich waren, wie im Dorf geglaubt wurde. Ich verstand Lady Hardcastles Wunsch, ihnen etwas für ihre Großzügigkeit zurückzugeben.

Sir Hector lachte leise. »Mach dir um das Essen mal keine Sorgen, meine Liebe. Ich teile mit euch nur meine unrechtmäßig erworbenen Gewinne.«

Lady Hardcastle und ich blickten beide fragend zu Lady Farley-Stroud, die nur mit den Augen rollte. »Hector hat gespielt. Er und sein alter Freund Jimmy Amersham – er lebt in einem entzückenden alten Haus drüben in Woodworthy – er und Jimmy wetten also auf so gut wie alles, mit dem man Rennen veranstalten kann: Pferde, Brieftauben, Fahrräder, Autos, Läufer … Einmal, als sie besonders verzweifelt waren, haben sie sogar auf Ameisen gewettet, die über das Verandageländer krabbelten. Letzte Woche sind sie dann zu einer Versammlung von Rennliebhabern nach Cheltenham gefahren, und Hector hat doch tatsächlich mal etwas gewonnen. Also habe ich ein neues Kleid, und wir alle haben ein besonderes Essen bekommen.«

»Es hat doch keinen Sinn, sich an Geld festzuklammern, hm? Man kann es doch genauso gut ausgeben, solange man es hat, oder?«, warf Sir Hector fröhlich ein.

»Da hast du wohl recht«, stimmte ihm Lady Hardcastle zu.

»Es ist ja nicht so, dass die Nachkommenschaft damit irgendwas Sinnvolleres anstellen wird, sobald wir dann den Löffel abgegeben haben, oder?«

»Wie dem auch sei«, versuchte Lady Hardcastle das Gespräch wieder auf Kurs zu bringen, »wir müssen uns irgendwie für deine Großzügigkeit revanchieren, und am Telefon hast du doch ein Rätsel erwähnt, Gertie.«

»Ganz recht, meine Liebe, das habe ich«, bestätigte Lady Farley-Stroud. »Aber ich möchte vorausschicken, dass es nichts mit mir zu tun hat und dass ich es für den Gipfel der Albernheit halte.«

Wir wandten uns zu Sir Hector um.

Verlegen sagte er: »Jetzt komme ich mir ein bisschen blöde vor, wenn Gertie es so darstellt. Es geht um Jimmy, wisst ihr? Gertie hat ganz recht, wir wetten gern. Das machen wir schon, seit wir noch Jungspunde waren. Er hat gewettet, dass er schneller bei der Eiche ist als ich, dann hab ich gewettet, dass ich schneller als er über den Fluss schwimmen kann. Wir haben auf alles Mögliche gewettet – Pferde, Sportler, was auch immer. Doch am liebsten haben wir immer bei Läufen gewettet, an denen wir selbst teilgenommen haben. Die Tage, in denen wir schnell laufen und schwimmen konnten, liegen nun aber schon eine ganze Weile hinter uns, also müssen wir uns, so gut es geht, mit etwas anderem behelfen. Vor einigen Jahren haben wir beobachtet, wie ein paar junge Burschen sich in kleinen selbstgezimmerten Seifenkisten Wettkämpfe geliefert haben. Irgendwo haben sie die Räder aufgetrieben und sie an alten Kisten angebracht, gesteuert wurde mit einem Stück Seil. Dann haben sie die Kisten auf einen Hügel raufgeschleppt und sind bergab Rennen gefahren. Das hat uns auf eine Idee gebracht, weißt du?«

Lady Hardcastle lachte auf. »Erzähl mir jetzt nicht, dass du und Jimmy Seifenkisten gebaut habt. Wie großartig!«

»Erraten!«, freute sich Sir Hector. »Wir haben nicht nur welche gebaut, wir sind auch damit gefahren. Jedes Jahr ein Mal. Haben ein paar alte Freunde eingeladen und uns ein schönes Wochenende gemacht.«

»Und worin besteht nun das Rätsel?«, hakte Lady Hardcastle nach.

»Geduld, meine Liebe. Dazu komme ich jetzt. Der alte Jimmy, weißt du, der kann es nicht ausstehen, wenn er verliert. Er hasst es regelrecht. Ich bin ja ein guter Verlierer, aber Jimmy überhaupt nicht. Manchmal glaube ich, dass er für einen Sieg so ziemlich alles tun würde. Und allmählich glaube ich, dass er das wirklich macht, verstehst du? Vor ein paar Jahren habe ich Bert gebeten, mir bei ein paar besonders ausgeklügelten Details zu helfen, ein paar kleinen Kniffen für meine Seifenkiste. Ich wollte sie stromlinienförmiger haben, sie besser um die Kurve steuern können, solche Sachen eben. Er ist ein ziemlich begabter Mechaniker, unser Bert. Wir haben also alle diese Verbesserungen und Änderungen vorgenommen und waren uns sicher, dass wir die anderen um Längen schlagen würden, aber dann ist Jimmy an dem Wochenende aufgekreuzt und hatte fast genau dieselben Änderungen an seiner Seifenkiste vorgenommen. Letztes Jahr war es dasselbe. Wir haben uns ein paar schlaue neue Verbesserungen ausgedacht, die Bert sich über den professionellen Motorsport angelesen hatte, doch als der alte Jimmy seine Seifenkiste an die Startlinie gerollt hat, hatte er all unsere Ideen an seiner verdammten Karre ebenfalls umgesetzt. Dafür gibt es doch nur eine Erklärung, oder? Der alte Nichtsnutz spioniert uns aus!«

Sir Hector war ernsthaft erbost, Lady Hardcastle dagegen musste sich augenscheinlich sehr darum bemühen, nicht laut loszulachen. Auch Lady Farley-Stroud sah auf ihren leeren Teller hinab und versuchte, niemandem in die Augen zu sehen, also entschloss ich mich, etwas dazu zu sagen.

»Sind Sie sicher, Sir Hector? Vielleicht liest er auch einfach nur dieselben Zeitschriften wie Bert?«

»Daran habe ich zunächst auch gedacht, meine Liebe«, räumte er ein. »Aber wie wahrscheinlich ist es denn, dass er sich für genau die gleichen Änderungen wie wir entscheidet? Im Motorsport gibt es ja gerade eine Menge Entwicklungen, da soll er zufällig genau das Gleiche wie wir probieren? Nein, er muss uns ausspionieren.«

»Könnte es vielleicht einen Maulwurf in Ihrem eigenen Haushalt geben?«, hakte ich nach.

»Auch daran habe ich schon gedacht. Dem jungen Dewi würde ich das schon zutrauen, das muss ich zugeben, aber er kann ja das eine Ende eines Schraubenschlüssels nicht vom anderen unterscheiden. Er könnte Jimmy nie irgendetwas Nützliches verraten.«

»Werden Sie vielleicht beobachtet?«, versuchte ich es weiter. »Gibt es irgendeine Möglichkeit, dass Sie bei der Arbeit bespitzelt werden?«

»Auch daran hab ich gedacht, meine Liebe«, erwiderte er bedrückt. »Aber wir arbeiten in unserem Hof – hinter einer Mauer, verstehen Sie? Hinter einer Mauer. Man kann nicht mal einen Blick auf unser Fahrzeug werfen.«

»Das Rätsel besteht also darin, wie Jimmy Amersham herausbekommt, was du vorhast, und den Vorteil deiner Ingenieurskunst neutralisiert, indem er ihn einfach kopiert?«

»Gut zusammengefasst, meine Liebe, gut zusammengefasst.«

»Weißt du, was ich in Fällen wie diesem immer hilfreich finde?«, fragte Lady Hardcastle.

»Nein«, erwiderte Lady Farley-Stroud erwartungsvoll. »Sag es uns.«

»Moment«, warf Sir Hector ein, »Ich weiß es. Es ist dein, wie nennst du es gleich noch? Dein Tafeldingsbums.«

»Meine Verbrechenstafel? Nein.«

Sir Hector blickte hilfesuchend zu seiner Frau.

»Schau mich nicht so an. Ich habe keine Ahnung, was sie meint.«

»Also, schieß schon los, meine Liebe«, forderte Sir Hector sie auf. »Wir geben auf. Verrat es uns.«

»Brandy«, sagte Lady Hardcastle.

Die Farley-Strouds lachten beide auf. »Dann ziehen wir besser in den Salon um und sehen mal nach, ob wir ein, zwei Tropfen übrig haben.«

Gesagt, getan.

Wir spielten ein paar Runden Bridge, bei denen Lady Hardcastle und ich sang- und klanglos untergingen, da das alte Pärchen ziemlich raffiniert spielte und einigermaßen waghalsig reizte. Wir erfuhren, dass sie seit über vierzig Jahren gemeinsam spielten und nur selten eine Niederlage kassierten.

Als wir irgendwann zu beschwipst waren, um weiter Karten zu spielen, gingen wir in den Ballsaal, wo der wunderbare Flügel der Farley-Strouds stand, und Lady Hardcastle spielte uns ein bisschen Chopin und ein wenig Schubert vor, bevor wir uns einer Auswahl an anzüglichen Varietéstücken widmeten, zu denen – zu meinem großen Erstaunen – Lady Farley-Stroud nicht nur die Texte, sondern auch die entsprechenden Bewegungen kannte.

Um zwei Uhr früh machten wir uns dann hügelabwärts auf den Nachhauseweg. Unsere Gastgeber versicherten uns, dass Bert den Rover bis um neun Uhr am nächsten Morgen zu unserem Haus zurückbringen werde.

Anziehen, Frühstücken und Fertigpacken wurde in bemerkenswerter Geschwindigkeit am nächsten Morgen erledigt – nach viel zu wenig Schlaf und während wir noch immer unter den Nachwehen unseres famosen Abends bei den Farley-Strouds litten.

Ich bedauerte Lady Hardcastles Entscheidung, Edna und Miss Jones die ganze Woche freizugeben. Hätten sie ihren Urlaub nicht auch am Dienstag antreten können?, fragte ich mich beim Abräumen des Frühstücksgeschirrs und während ich noch einmal durchs Haus ging und Ordnung schaffte.

Als die Uhr in der Eingangshalle neun schlug, kam Bert mit dem Rover an und erklärte ihn zu einem »schönen, kleinen Fahrzeug«, bevor er höflich mein Angebot ablehnte, ihn nach Hause zu fahren, und sich zu Fuß auf den Rückweg machte. Er behauptete, der Spaziergang werde ihm guttun, aber ich vermutete, dass er die Gelegenheit nutzen wollte, ins Dorf zu schlendern.

Kurze Zeit später traf Newton in Dr. Fitzsimmons’ Kutsche ein, bereit, uns zum Bahnhof ins nahe gelegene Chipping Bevington zu fahren, denn die Gleise hatten es noch nicht bis nach Littleton Cotterell geschafft. Er war ein behäbiger Mann, der unter dem Pantoffel seiner kratzbürstigen Ehefrau stand, Dr. Fitzsimmons’ Haushälterin. In unserer ersten Woche im Dorf war ich ihr begegnet und nicht gerade angetan von ihr gewesen. Eine willkommene Folge ihrer herrischen Natur war allerdings, dass Newton nicht einmal mit der Wimper zuckte, als ich ihm mitteilte, ich würde ihm beim Verladen unseres Gepäcks in die Kutsche behilflich sein. Nicht einmal, wie stark ich war, kommentierte er, und das fand ich erfrischender als jede Art von »Lassen Sie mich das für Sie erledigen, Miss«.

Im Handumdrehen war alles verstaut, und wir befanden uns auf unserem geruhsamen und gleichmäßigen Weg zum Bahnhof von Chipping. Newton machte keinerlei Anstalten, eine von uns in ein Gespräch zu verwickeln, und wir hatten auch nichts dagegen, die Fahrt in geselligem Schweigen zu verbringen. Die Luft war mild, und ich genoss die Aussicht und den Duft Englands, das sich von seiner besten spätsommerlichen Seite präsentierte. Vom hohen Kutschbock aus konnten wir die Hecken überblicken, die unsere Sicht stets einschränkten, wenn wir mit dem kleinen Auto unterwegs waren. Auf diese Weise konnte ich einen Blick auf einige der besten Milchkuhherden Südwestenglands werfen – aus beruhigender Entfernung. Kühe, wie jeder mit einem Funken Verstand ausgestattete Mensch weiß, sind furchterregende Bestien, denen man sich besser nicht näherte, allerdings war es ungefährlich, sie von der anderen Seite einer stabilen englischen Hecke aus zu beobachten. Im Verlauf unserer Fahrt und während wir unserem Ziel allmählich näher kamen, erhaschte ich außerdem einen Blick auf ein paar ziemlich lustig aussehende Schweine (Gloucestershire Old Spots vermutete ich, obwohl ich ehrlicherweise keine Ahnung hatte), die sich neben ihren kleinen Holzhütten auf einem Feld nahe der Straße eifrig begatteten.

Sobald wir am Bahnhof eintrafen, eilte der Träger, der uns von unseren vorherigen Reisen her wiederzuerkennen schien, mit seinem Handkarren zu unserer Kutsche. Fröhlich begann er, das Gepäck abzuladen, bevor wir ganz zum Stillstand gekommen waren. Bis Lady Hardcastle und ich hinuntergeklettert waren und sie Newton für seine Mühe einige Münzen in die Hand gedrückt hatte, hatte der kräftige kleine Träger bereits alles auf seinen stabilen Handkarren gestapelt und war unterwegs zu dem kleinen Fahrkartenschalter.

Dort wartete er schon auf uns.

»Guten Morgen, Mylady«, begrüßte er Lady Hardcastle. »Schön, Sie wiederzusehen. Klären Sie das mit der Fahrkarte einfach mit dem jungen Roberts hier, dann bringe ich Sie zu Ihrem Zug.«

»Danke, Mr. …?«, erwiderte Lady Hardcastle.

»Roberts, Mylady«, half er ihr auf die Sprünge und tippte sich gegen den Schirm seiner Eisenbahnermütze. »Man nennt mich den ›alten Roberts‹. Der junge Roberts dort hinterm Schalter ist mein Ältester. Die Eisenbahn liegt uns im Blut. Hier im Bahnhof von Chipping Bevington arbeiten wir Roberts jetzt schon seit sechzig Jahren. Angefangen hat alles mit Mr. Roberts, meinem Großvater.«

»Alle Achtung«, sagte Lady Hardcastle mit einem anerkennenden Lächeln und trat an den Schalter. »Ein Familienbetrieb also. Wie wunderbar, dass Sie sich so gut um uns kümmern.«

Roberts strahlte stolz. Sein Sohn wirkte eher peinlich berührt, grinste Lady Hardcastle aber verschwörerisch an, als sie ihm zuzwinkerte.

»Zwei Fahrkarten von hier nach Riddlethorpe und zurück, bitte«, sagte sie dann.

Der junge Mann griff unter den Tresen und hievte ein riesiges, zerfleddertes Buch herauf. Einige Minuten lang blätterte er dann darin herum und machte sich Notizen auf einen Zettel. »Ich glaube nicht, dass ich je eine Fahrkarte nach Riddlethorpe verkauft habe, Mylady«, verkündete er, als er seine Berechnungen abgeschlossen hatte. »Das muss ich mir in mein Buch schreiben. Ich erinnere mich gern an all die Orte, an die ich die Leute so geschickt habe. Das ist doch interessant, finde ich, zu sehen, wo die Menschen überall herumkommen.«

Sie lächelte ihn milde an.

»Der schnellste Weg«, fuhr er fort und blickte dabei auf seine Notizen, »ist, nach Bristol Temple Meads zu fahren und dort in den Express nach Birmingham New Street umzusteigen. Von da gibt es dann eine Verbindung nach Leicester, wo Sie Anschluss in Richtung Riddlethorpe haben. Es sieht so aus, als wären Sie genau zur richtigen Zeit angekommen. Wenn Sie den nächsten Zug von hier aus nehmen, erreichen Sie bequem alle Ihre Anschlüsse.«

Um die Wahrheit zu sagen, wussten wir das alles bereits, da wir am vergangenen Wochenende fast eine Stunde lang Bradshaw’s Guide gewälzt hatten, um den besten Weg nach Codrington Hall auszutüfteln. Doch die Freude des jungen Schalterbeamten darüber, das alles für uns herausgefunden zu haben, war so offensichtlich, dass es sehr unhöflich gewesen wäre, ihm das mitzuteilen.

Lady Hardcastle bezahlte unsere beiden Fahrkarten für die erste Klasse, dann führte uns der »alte Roberts« auf die »schattige Seite« des Bahnsteigs, wo wir uns in einen Warteraum setzten, bis der Regionalzug nach Bristol eintraf.

»Weißt du, Flo«, sagte Lady Hardcastle und sah Roberts durch das Fenster dabei zu, wie er sorgfältig unsere Adressen auf Schilder schrieb, die er dann an unserem Gepäck befestigte, »diese Reise wäre um so vieles einfacher gewesen, wenn wir unser Gepäck schon vorher aufgegeben hätten. Ich weiß, dass sie hier ziemlich gut organisiert sind, aber ich mache mir trotzdem Sorgen, dass etwas verloren geht, wenn wir so oft umsteigen müssen. Hätten wir alles im Voraus geschickt, hätten sie mehr Zeit gehabt, es wiederzufinden und auf den richtigen Weg zu bringen, wenn es an einem falschen Ort gelandet wäre, denkst du nicht auch?«

Ich schwieg. Genau diesen Einwand hatte ich vor ein paar Tagen gemacht, aber meine Bedenken waren einfach beiseitegewischt worden. Nun endlich Lady Hardcastles Zustimmung zu bekommen war ein schaler Sieg, also entschied ich mich, dazu zu schweigen.

Stattdessen sagte ich: »Ach, das wird schon, Mylady. Es wird schon alles ausgeladen sein und auf uns warten, bis wir unsere Bücher weggepackt haben und ausgestiegen sind. Diese Menschen haben bestimmt täglich mit komplizierteren Frachten zu tun. Und selbst wenn etwas verloren geht, ist doch alles fein säuberlich beschriftet. Wir bitten Lord Riddlethorpe einfach darum, jemanden zum Bahnhof zu schicken und es dort abzuholen, wenn es schließlich ankommt.«

»Du hast natürlich recht. Trotzdem hätte ich auf deinen Vorschlag hören sollen.«

Mein Mund stand noch immer vor Verblüffung offen, als der Zug einfuhr, wir auf den Bahnsteig traten und einstiegen.