Klaus Zeyringer
Olympische Spiele.
Eine Kulturgeschichte von 1896 bis heute
Band 2: Winter
FISCHER E-Books
Klaus Zeyringer, geboren 1953 in Graz, habilitierte sich dort 1993 und war Universitätsprofessor für Germanistik in Frankreich. Er ist als Literaturkritiker u.a. für den »Standard« tätig sowie Jurymitglied der ORF-Bestenliste, moderiert in Österreich, Deutschland und der Schweiz. Im S. Fischer Verlag ist »Fußball. Eine Kulturgeschichte« (2014) erschienen sowie zuletzt »Olympische Spiele. Eine Kulturgeschichte. Band 1: Sommer« (2016).
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Rund ein Vierteljahrhundert hat es gedauert, bis sich neben den olympischen Sommer- auch Winterspiele etablieren konnten. Von dem anfänglichen Widerstand der Skandinavier, von Sportarten wie »Spezialfiguren« aufs Eis zu zeichnen, von den politischen Ersatzkämpfen im Kalten Krieg und der zunehmenden Rolle der Medien erzählt Klaus Zeyringer so kurzweilig wie anekdotenreich. Die Welt des Wintersports mit ihren Helden wie Toni Sailer oder Rosi Mittermaier und ihren tragischen Figuren wie »Eddy the Eagle« rückt Klaus Zeyringer in ihren kulturellen, sozialen und politischen Kontext. Ob Sportler wegen des Tragens von Reklame ausgeschlossen werden, ob neue Techniken eine Sportart revolutionieren, eines bleibt konstant: das Wetter, das Probleme macht.
Bildnachweise
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Erschienen bei FISCHER E-Books
© 2018 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: hißmann, heilmann, Hamburg
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ISBN 978-3-10-403194-1
Auf klobigen Skiern sieht man drei Männer und eine Frau im Schnee, das Schwarzweißfoto ist leicht verschwommen. Als seien sie zum Start angetreten, blicken sie entschlossen in die Kamera. Sie sind in dicke Kleidung eingemummt, tragen Mützen und große Brillen.
Sie haben sich in Pose begeben, zugleich wirken sie sportlich auf dem Sprung. Als ob der starke Bärtige rechts im Bild gerade gemeint hätte, er könne olympisch mitmachen. Schließlich, würden sie sich erinnern, habe ihr Paris kürzlich die Sommerspiele gesehen, und vor kaum zwölf Monaten sei Winterolympia in Chamonix abgehalten worden. In der Metropole an der Seine werde Ende des Jahres die erste »Nationalausstellung des Skilaufs und des Wintersports« eröffnet. Die vier Menschen im Schnee scheinen up to date zu sein.
Es sind John Dos Passos, der Verleger Gerald Murphy, eine Sekretärin und Ernest Hemingway im vorarlbergischen Montafon. Das Jahr 1925 hat erst ein paar Tage gesehen.
Wer im folgenden Jahr am 13. Januar 1926 die dünne Vorarlberger Landes-Zeitung aufschlägt, erfährt auf der letzten der vier Seiten, dass künftig die Weltmeisterschaft im Eishockey mit dem olympischen Turnier ausgetragen werde. Die Goldene bedeute zugleich den WM-Titel.
Auf Seite drei steht die Rubrik »Aus Stadt und Land«. In Schruns im Montafon, ist da zu lesen, hätten »Hans Sachs aus dem Nüremberg des 16. Jahrhunderts und Bernhard Shaw, ein Irländer aus dem London des 20. Jahrhunderts«, um den Vorrang an einem erfolgreichen Theaterabend gestritten. Herr Norman G. Kapp aus London hatte zwei Stücke auf die Bühne gebracht. Mitten in den winterlichen Alpen, betont der Artikel, »zeigte er in seiner Beherrschung der modernen Bühnentechnik, daß er die Entdeckungen des Gordon Craig und des Max Reinhardt assimiliert hatte«.
Ungewöhnlich war derlei nicht. Mit der Mechanisierung, mit der Moderne und ihrem Faible für Beschleunigung kamen mehr Touristen auf die Schneehänge der Bergorte. Vor allem Engländer stürzten sich in die recht neuen Sportarten, ohne zugleich eine kulturelle Betätigung missen zu wollen, schließlich mache die Einheit von Körper und Geist den Gentleman aus.
Unter dem kurzen Artikel der kleinen Landes-Zeitung steht der Name des Berichterstatters. Heute mutet es an, als habe sich damals das vorarlbergische Lokalblatt eine internationale Größe geleistet: Ernest Hemingway.
Ein anderes Foto zeigt den späteren Literaturnobelpreisträger wieder im österreichischen Schnee auf Skiern. Es muss wärmer gewesen sein, die Oberbekleidung ist sichtlich dünn. Hemingway hat eine Pudelhaube auf, seine Frau Hadley eine Kappe, sie trägt das Baby auf dem Arm. »Hadley und ich fanden Skilaufen herrlich, seit wir es zuerst zusammen in der Schweiz versucht hatten und später in Cortina d’Ampezzo in den Dolomiten«, schreibt er.
Paris, Spanien und die Alpen, das waren in dieser Zeit für Hemingway die Orte, an denen er sich »zu Hause« fühlte. »Wir alle kannten die verschiedenen Schneebeschaffenheiten, und jeder wusste, wie man im tiefen Pulverschnee laufen musste.« In Erinnerung blieb ihm, »wie der Schnee auf der Straße zum Dorf knirschte, wenn wir mit unseren Skiern und Skistöcken auf den Schultern in der Kälte nach Hause gingen«.
Der Wintersport erlebte in diesen Jahren seinen Aufschwung, er (und mit ihm Olympia auf Eis und Schnee) wurde zum Tourismusfaktor. Er lockte Begüterte und Kulturbürger aus den Städten in die Berge. Man lernte von den örtlichen Skipionieren, wie Hemingway erzählt: »Herr Walter Lent, einer der ersten Hochgebirgsskiläufer, der eine Zeitlang der Partner von Hannes Schneider, dem großen Arlbergskiläufer, gewesen war und mit diesem Skiwachs fürs Aufsteigen und für alle Arten von Schneebeschaffenheit hergestellt hatte, gründete eine Schule für alpines Skilaufen, in der wir uns beide anmeldeten.«
Dass Hemingway und andere damals im Winter nach Österreich fuhren, hatte durchaus auch praktische Gründe. Wegen der Geldentwertung war der Urlaub hier besonders günstig, für knapp dreißig Dollar ließ sich eine Woche lang gut leben. In seinem ersten Brief aus Schruns schrieb Hemingway am 20. Januar 1925 an Gertrude Stein und Alice B. Toklas: »Wir verbringen eine schöne Zeit und sparen Geld.«
Das hatten zuvor schon andere Skitouristen aus dem Pariser Kunstleben genützt. Die Foto-Szenerie ist die gleiche. Sie zeigt zwei Männer im Schnee, mit weißen Pullovern, dunklen Hosen und Handschuhen; zwischen ihnen steht eine Frau im langen dunklen Rock. Alle drei auf Skiern, hinter ihnen das Gelände im Weiß, der verschneite Wald: Tarrenz bei Imst 1922, Paul Éluard und seine Ehefrau Gala, mit ihnen Max Ernst, der im Sommer nach Tirol gekommen war. Tristan Tzara folgte, später stießen André Breton und Hans Arp dazu. Schließlich traf sich fast die gesamte Dada-Bewegung in der Bergluft. »Dada au grand air«, schrieben sie, erstellten ein Tirol-Manifest, dazu einen Aufruf zu einer letzten Alpenvergletscherung mit den ersten Worten »Brieflicher Alpengruß nebst Brunnenvergiftung durch Jodeln«.
Konsequenterweise betrieben sie das Skifahren weniger ernsthaft als die amerikanischen und englischen Besucher an Silvretta und Arlberg.
Kurz bevor Hemingway 1925 im Montafon weilte, hatte gerade die Phase starker medialer Aufmerksamkeit für Wintersport-Wettkämpfe begonnen. Der Presse war zu entnehmen, dass man Mitte Januar in Innsbruck die österreichischen Meisterschaften im Eiskunstlauf für Paare durchführte, in Hamburg die Europameisterschaften, am Semmering unweit von Wien die Bobmeisterschaft. Im Februar verzeichneten die österreichischen und deutschen Skimeisterschaften in Kitzbühel über dreihundert Teilnehmer; die Zeitungen berichteten weniger davon, sie widmeten sich auf ihren Sportseiten vielmehr dem Eishockey. Und warben für heimische Wintersportplätze, für den Film Berg des Schicksals mit Hannes Schneider und Luis Trenker, er sei »das hohe Lied des ewigen Menschheitstraumes, die Natur zu besiegen«. Zahlreich war die Reklame für das nötige Material, zwei Meter lange Eschenski kosteten in Wien mindestens zweihunderttausend Kronen, Skischuhe über fünfhunderttausend Kronen, Norwegerhosen für Herren 370000, der Preis eines Abonnements des Vorarlberger Tagblatts betrug für den Januar 25000 Kronen. Am 1. März 1925 kam der Schilling, einer für zehntausend Kronen.
Die Bewegung in den Bergen, im winterlichen Gelände war im Ersten Weltkrieg militärisch intensiviert worden. Von alpiner Technik, von der Kenntnis dieser Umwelt hing das Überleben ab. Soldaten mühten sich nicht nur selbst, sondern auch ihr Kriegsgerät in steile Höhen. Mit Skiern mussten sie umgehen können. In Eis und Schnee legten sie Schützengräben an, ganze Berggipfel mit Besatzung wurden in die Luft gesprengt.
Den Schrecken dieser Kämpfe oberhalb der Baumgrenze, wo es monatelang um einige Meter eines Abhangs oder um eine Felsnase blutig hin und her ging, erfuhr Hemingway als Berichterstatter an der Isonzo-Front. Hier waren die Menschen rundum feindlichen Elementen ausgesetzt, diese »Berge in Flammen« radierten die Freuden des Alpinismus gründlich aus.
Im großen Schlachten wurden die Körper von den Auswüchsen der Technik besiegt und vernichtet: Der beste Skifahrer hatte keine Chance gegen einen Gasangriff, der gewandteste Kletterer war einem Geschütz hilflos ausgesetzt. Nach Kriegsende suchte man umso stärker, dem Körper wieder Erfolge zu verschaffen. Der immense Aufschwung des Sports in den zwanziger Jahren beruhte sowohl auf dem sozialen Drang zur Freizeit und der Entwicklung der Massenmedien als auch auf einer Art Revanche der Körperlichkeit.
Nach dem Grauen der Bergfront am Isonzo vermochte Hemingway in Vorarlberg die Freude an der Bewegung im Schnee zu finden. Er ließ sich einen Bart wachsen, da er meinte, dadurch sein Gesicht bei Stürzen schützen zu können. So ging er auch auf längere Skitouren, in drei Tagen über die Berge bis nach Zürs und Lech am Arlberg, und einmal war er in einem Schutzhaus auf zweitausend Metern Höhe eine Woche lang eingeschneit.
Die Eindrücke der beiden Winteraufenthalte 1924/25 und 1925/26 im Montafon verarbeitete er in der Novelle Schnee am Kilimandscharo, während John Dos Passos sich in seinem Buch Die schönen Zeiten erinnerte. Im Gegensatz zu Hemingway fand er sich beim Skifahren »viel zu unbeholfen«: »Schwitzend und schnaufend arbeitete ich mich auf meinen Seehundfellen bergauf und genoss die Aussicht. Es war nicht allzu kalt, und wenn die Sonne schien, sogar ziemlich heiß. Blaue und purpurne Schatten lagen in Wellen auf den schneebedeckten Gipfeln.« Da er es nicht und nicht schaffte, mit seinen Skiern einen Bogen zu fahren, behalf er sich bergab auf eine wenig elegante Art: »Wenn die Hänge zu steil wurden, hockte ich mich auf meine Skier und verwandelte sie in eine Art Schlitten. Ich wurde mächtig aufgezogen, als sich bei der Ankunft herausstellte, dass ich mir ein Loch in den Hosenboden gescheuert hatte.«
In Hemingways Erzählband Men without women findet sich die Short Story An Alpine Idyll (Ein Gebirgsidyll), 1927 unter dem Titel The Fifth Column and the First Forty-Nine Stories publiziert. »We had been skiing in the Silvretta for a month«, heißt es hier. Es folgt die Schilderung eines Skiausflugs im einsetzenden Frühling, als der Schnee auf den Brettern zu schmelzen beginnt.
Vom Sport in der Bergluft fühlte sich Ernest Hemingway offenbar auch geistig angeregt. In Paris, ein Fest fürs Leben betont er: »Schruns war ein guter Platz zum Arbeiten. Ich weiß es, denn dort hatte ich im Winter 1924/25 das Schwierigste an Umschreiben vor, das ich je gemacht habe, als ich die erste Fassung von ›The sun also rises‹, die ich in einem Lauf in sechs Wochen geschrieben hatte, zu einem Roman umarbeitete.«
Im folgenden Winter quartierte er sich mit Frau und Baby im Rössle in Gaschurn ein, das Kindermädchen fuhr mit dem kleinen John leichte Hänge im Schlitten hinunter.
Der zweite Aufenthalt im Schnee zeitigte weitreichende Folgen für Hemingway. Dos Passos, der inzwischen durch Manhattan Transfer berühmt geworden war, kam aus Paris und brachte Besuch mit. Zu diesen Wintertouristen gehörte Pauline Pfeiffer, Model und Redakteurin der Zeitschrift Vogue. In der Bergwelt begann ihre Affäre mit Hemingway, der sich kurz darauf scheiden ließ und dann Pauline ehelichte.
Nach dem Skifahren sah man Hemingway im Gastzimmer, beim Pokern, am Billardtisch, bei der Theateraufführung – den Bericht für die Vorarlberger Landes-Zeitung hatte der Wirt ins Deutsche übersetzt. Vom Eislaufen hielt der sportliche Schriftsteller aus Amerika weniger, aber der Schuldirektor soll ihm zwischen zwei Kartenrunden ein Gedicht rezitiert und übertragen haben, das August Graf von Platen 1820 verfasst hatte: »Auf Gewässern, welche ruhen, / Weil gebändiget vom Eise, / Zieht die Jugend leichte Kreise, / Wandelnd auf den Flügelschuhen.« Damals, habe der Direktor bemerkt, vergnügten sich eben die Menschen auf den Eisflächen, hingegen noch gar nicht auf den Skihängen. Mit der Geistesbewegung der Aufklärung sind eine Naturaneignung und somit ein neues Naturgefühl einhergegangen. Die Berge hat man nicht mehr nur als unwirtliche Zone verstanden.
So könnte sich das Gespräch im Gastzimmer abgespielt haben. Der Wirt hätte eine Runde Bier und Whisky auf den klobigen Tisch gestellt. Das Licht im Raum flackerte kaum merklich, die Stromversorgung litt bisweilen noch unter den Wetterschwankungen. Wenn man die bestickten Vorhänge zurückzog, sah man durch das kleine Fenster im Schein der Eingangslaterne den Schnee in leichten Flocken fallen.
Die Körperertüchtigung auf zugefrorenen Wasserläufen sei aus Holland gekommen, hätte der Schuldirektor gesagt, der Dichter Klopstock verfasste darüber die Ode Der Eislauf, auch Lessing und Goethe sprachen von den Freuden hurtigen Gleitens auf dem Eis. Ja, der große Weimarer verwendete anstelle des damals üblichen »Schrittschuh« – der Direktor schwenkte ins Deutsche über –, also statt »Schrittschuh« das neue Wort »Schlittschuh«.
Hemingway bat um Übersetzung, trank einen großen Schluck und blickte anerkennend auf. Den Whisky habe ihm ein englischer Gast vermittelt, erklärte der Wirt. Vom Stammtisch schauten die Honoratioren der Gemeinde her, die Serviertochter legte Holz im dunkelgrünen Kachelofen nach. Der Rauch von Zigarren hing in der Wirtsstube, von nebenan klang lautes Gelächter. Zu übersetzen vermöge er das nicht, sagte der Direktor. Kürzlich hat er in Lessings Korrespondenz geschmökert, da ist ein Brief an die Verlobte abgedruckt, 1771, wenn er sich nicht täusche: Klopstock weile in Hamburg und gebe sich sehr mit Damen ab. »Ich weiß nicht wie viel Frauen und Mädchen er schon beredet haben soll, auf den Schlittschuhen laufen zu lernen.«
Klopstock?, fragte Hemingway. Der Direktor nickte: Und Goethe beschrieb seine Erfahrungen beim Schlittschuhlauf in Dichtung und Wahrheit, in den Distychen Vier Jahreszeiten heißt es: »Stürzt der rüstigste Läufer der Bahn, so lacht man am Ufer.« Immerhin sind die »Flügelschuhe« nunmehr olympisch, im Vorjahr hat sich das große Publikum bei den Spielen in Chamonix für den Schnell- und Kunstlauf auf dem Eis begeistert.
Er habe davon gehört, sagte Hemingway am Gästetisch. In Paris hat man bei den Sommerspielen den großen Nurmi aus Finnland siegen gesehen. Natürlich sind die Skandinavier in ihrer ureigenen Domäne, im Ausdauerlauf auf Skiern, noch deutlicher überlegen. Das haben die »Olympics« im Schatten des Mont Blanc in Chamonix bestätigt, hätte Hemingway betont, sich sodann nach der nächsten Skitour erkundigt.
Die Höhepunkte der skandinavischen Wettkämpfe waren jene am Holmenkollen und der Wasalauf, den das Radio 1925 erstmals übertrug. Seit 1922 wurden die neunzig Kilometer zwischen zwei schwedischen Orten gelaufen. Die Idee stammte von einem Journalisten – in diesen Zeiten betätigten sich Medienleute oft in der sportlichen Organisation, um ihrem Publikum Neuigkeiten aus erster Hand bieten zu können und das Interesse weiter zu schüren.
Ebenso wie der Marathon hat der Wasalauf über 85,5 Kilometer mit der athletischen eine kulturelle Bedeutung, auch er im militärischen Zusammenhang. Im Jahre 1521 floh König Gustav I. Wasa auf Skiern vor den dänischen Truppen. Er hatte zum Widerstand gegen die Besatzer aufgerufen, die ihn deswegen gefangen nahmen. Wasa aber konnte entkommen. In Mora erreichte ihn die Nachricht, dass beim Stockholmer Blutbad Anhänger und Familienmitglieder geköpft worden seien. Da er von der Landbevölkerung zunächst wenig Hilfe zu erwarten meinte, eilte er weiter. Man schickte ihm die zwei schnellsten Skiläufer mit der Nachricht vom Stockholmer Aufstand nach, er kehrte um, führte Krieg und erlangte die Unabhängigkeit Schwedens. Über der Ziellinie des Wasalaufs steht: »In der Spur der Väter, für die Siege der Zukunft.«
1925 gewann Sven Utterström, er brauchte sechs Stunden (heute steht der Rekord bei drei Stunden und achtunddreißig Minuten). Sieben Jahre später holte Utterström im amerikanischen Lake Placid olympisches Gold über 18 Kilometer, 1936 engagierte ihn das Team der USA für die Spiele von Garmisch-Partenkirchen als technischen Berater.
Am Holmenkollen, am Rande von Oslo, wo seit 1892 jährlich das Skifestival ausgetragen wird, sahen Anfang März 1925 Zehntausende und das norwegische Königspaar den heimischen Sprungstar Jacob Thullin Thams zum zweiten Mal auf der klassischen Schanze triumphieren.
Der alpine Skisport kannte diese Popularität noch nicht.
Im Jahr von Hemingways erstem Montafon-Aufenthalt war im schweizerischen Mürren der Kandahar-Club zur Ausbreitung des alpinen Skisports gegründet worden. Arnold Lunn hatte ihn ins Leben gerufen und nach dem Earl of Kandahar benannt, dem ehemaligen Oberbefehlshaber der britischen Armee, der 1911 beim wohl frühesten Abfahrtslauf der Skigeschichte in Crans Montana den Siegerpokal gestiftet hatte. Lunn konnte auf bekannte Landsleute verweisen, die als Vorbilder dienten. So war Rudyard Kipling vor dem Weltkrieg regelmäßig ins schweizerische Engelberg gereist, um dort stundenlang Curling zu spielen, sich beim Eislaufen und auf Skiern zu vergnügen, während sein Sohn im heimischen Eishockeyteam stand. Wie es in Englands Oberschicht und im ganzen Empire Sitte war, gab Lunn der individuellen Betätigung den kollektiven Rahmen eines Clubs.
Arnold Lunn, dessen Vater ein Reisebüro betrieb und so um die Segnungen des Wintertourismus Bescheid wusste, hatte in Oxford studiert. Offenbar lag ihm das Organisatorische: An der Universität hatte er einen Bergsteigerclub gegründet. Und als das väterliche Unternehmen Reisen in den Schweizer Schnee anbot, stellte er Regeln für Abfahrt und Slalom auf. Erstmals galten sie 1921 bei der britischen Meisterschaft – in Mürren im Berner Oberland.
In dem Arlberger Skipionier Hannes Schneider, der so bekannt war, dass auch Hemingway von seiner Bedeutung wusste, fand Lunn einen kongenialen Partner. 1928 riefen die beiden die Arlberg-Kandahar-Rennen ins Leben, eine Kombination aus Abfahrt und Slalom. Dem lag die Vorstellung zugrunde, dass der ganzheitliche Sportler sowohl schnell als auch gewandt sein solle. Kurz darauf übernahm der Internationale Skiverband die Regeln, der die alpinen Wettbewerbe Abfahrt, Slalom und Kombination nun offiziell anerkannte.
Hannes Schneider und Arnold Lunn.
Schneiders weitreichende Popularität beruhte vor allem darauf, dass er bei zahlreichen Skifilmen mitgemacht hatte. Die Streifen, die in den Stummfilmkinos jener Jahre großen Zulauf fanden, verdeutlichen den enormen Aufschwung des Wintersports mit der medialen Entwicklung nach dem Weltkrieg. Die Rennen, über die ab Ende der zwanziger Jahre regelmäßig in der Presse zu lesen war, und das Kino trugen dazu bei, dass der Skilauf das Image des Elitären verlor. Über den Film Das Wunder des Schneeschuhs schrieb Siegfried Kracauer am 16. Juni 1921 in der Frankfurter Zeitung: »In Bildern von seltener Schönheit enthüllt er dem Beschauer die Wunder des winterlichen Hochgebirges.« Ehe man kühne »Bergfahrer« begleite, mache man bei Hannes Schneider einen regelrechten Skikurs mit, »in dem die dem Laien ein wenig unheimlichen Künste des Telemark- und Christianiaschwungs und vor allem des Skisprungs methodisch eingeübt werden«.
Mit Hannes Schneider drehte Arnold Fanck 1931 Der weiße Rausch, einen der frühen Tonfilme. Der Regisseur hatte drei Jahre zuvor in St. Moritz den ersten Dokumentarstreifen über Olympische Winterspiele geschaffen.
Beim »Anschluss« Österreichs an Hitlerdeutschland verhafteten die Nazis 1938 Hannes Schneider, seine Skischule konfiszierten sie. Ein paarmal hatte er mit Leni Riefenstahl, der Regisseurin der Olympiafilme von 1936, gearbeitet – nicht ohne Konflikte. Im Weißen Rausch war sie in einer Hauptrolle zu sehen, Schneider hatte ihr am Arlberg das Skifahren beigebracht. Nachdem er in Japan seine Skitechnik vorgeführt und darüber ein Buch publiziert hatte, sollte er es im Rahmen der Olympischen Winterspiele von Garmisch-Partenkirchen präsentieren. Riefenstahl gelang es jedoch, Schneider aus dem Programm streichen zu lassen. Die NS-Propagandisten waren ihm ohnehin nicht sonderlich gewogen, sein unabhängiger Geist störte. In St. Anton am Arlberg betrieb er mit Rudolf Gomperz die Entwicklung des Skitourismus. 1938 entließ der Verkehrsverein Gomperz, den Ehrenobmann des Skiclubs Arlberg, da er Jude war; 1942 wurde er im KZ ermordet. Hannes Schneider wanderte im Januar 1939 in die USA aus, am Mount Cranmore in New Hampshire baute er ein Skigebiet auf.
In den Monaten vor seinem Freitod nannte Ernest Hemingway das Montafon mehrmals sein »privates Paradies«. Schruns war ihm ein Signal der glücklichen alten Zeit. Am 15. Dezember 1925 hatte er an Scott Fitzgerald geschrieben: »Es ist verdammt schön, die Berge wiederzusehen.«
Im Mai dieses Jahres 1925 berichteten die Zeitungen über die Vorbereitungen für den Kongress des Internationalen Olympischen Komitees, des IOC, der in Prag stattfand. Dort gab der Begründer der Olympischen Bewegung, der französische Baron Pierre de Coubertin, die Präsidentschaft zurück. Seit 1896 hatte er an der Spitze des elitären Zirkels von Aristokraten, Generälen und Großunternehmern gestanden. Die hehre Versammlung beschloss, die »Wintersportwoche«, die in Chamonix Ende Januar 1924 eigentlich im Rahmen der Spiele von Paris abgehalten worden war, offiziell als erste Winterspiele unter den fünf Ringen zu bezeichnen. Als eigene Veranstaltungen seien sie nunmehr wie die Sommerspiele im ersten Jahr einer Olympiade durchzuführen. Den Skandinaviern, die zu ihren eigenen Nordischen Spielen keine Konkurrenz akzeptieren wollten, antwortete der neue IOC-Präsident, der belgische Graf Henri de Baillet-Latour, der Olympische Gedanke sehe nicht regionale, sondern weltweite Spiele vor.
Das moderne Olympia plante Pierre de Coubertin als umfassendes Ertüchtigungsprogramm, als Zusammenspiel verschiedener Disziplinen. Er, ein Mann der Ebene und der Großstadt, schätzte allerdings den Sport im Schnee und in den Bergen wenig. Dennoch konnten die Herren der fünf Ringe nicht auf Dauer davon absehen. Wintersport und Berge waren in den zwanziger Jahren in den Ländern der meisten IOC-Mitglieder, in Europa und in Nordamerika, zum festen Bestandteil des mondänen Lebens, der Freizeitgestaltung und des medial unübersehbaren Leistungsvergleichs geworden.
In der Zeit vor 1924, dem Jahr der Veranstaltung in Chamonix und des ersten Aufenthalts von Ernest Hemingway im Montafon, hatte das Image der Alpen eine bis heute anhaltende Veränderung erfahren. In der Bergwelt vermöge man sich aus dem Alltag der Industriegesellschaft zu befreien und seinen Erlebnishunger zu stillen. Die Ober- und Mittelschichten hatten sich seit Mitte des 18. Jahrhunderts, seit Aufklärung und Romantik, mehr und mehr in die Natur begeben. In der warmen Jahreszeit gingen sie auf Sommerfrische, nach und nach hatten sich Hoteliers und Wirte auch für die Wintersaison eingerichtet. Die Bergwelt erschien nun weniger als Natur- und Kulturraum für landwirtschaftliche Produktion oder kontemplatives Wandern. Vielmehr verkaufte man sie zunehmend als Ort eines Erlebnisgeschäfts für Städter auf der Suche nach dem »Echten« und »Unberührten« – meist vor Folklore-Kulissen.
Heute ist der europäische Wintertourismus zu achtzig Prozent Skitourismus. Im Slogan der Österreich-Werbung hieß es: »Fremdenverkehr ist, wenn aus Alpen Dollars werden.«
In den zwanziger Jahren hatte sich die Erfindung der Berge als Aktionsraum bei einem breiten Publikum gefestigt und wurde zugleich mit dem Heimatimage versehen. Auf den symbolträchtigen Bildern der Alpenländer, auf Briefmarken und in repräsentativen Fotobänden waren nunmehr oft Bergsteiger, Skiläufer oder Schlittenfahrer zu sehen. Und in der Folgezeit von Hemingways Montafon-Erlebnissen wurde der Aufschwung des Wintertourismus intensiv betrieben. Zwischen 1926 und 1937 errichtete man in Österreich zwölf Seilbahnen, eine von Kitzbühel auf den Hahnenkamm. Der technische Fortschritt im Gebirge, vor allem Staudämme, Speicherkraftwerke und Höhenstraßen, galten in Österreich als Sinnbild für den nationalen Aufstieg.
Die Olympischen Spiele standen von Beginn an in enger Verbindung mit dem Tourismus. Und der Sport entwickelte sich mit den Phänomenen der Moderne, mit Internationalisierung und Motorisierung, mit Intensivierung und Organisation der Freizeit, mit einerseits Urbanisierung und andererseits Urlaub von den Großstädten, nicht zuletzt mit den Massenmedien und den reproduzierbaren Bildern, der Fotografie und dem Film.
In den Schweizer Bergen erschien eine Zeitung auf Englisch. The St. Moritz Post schrieb am 14. Dezember 1886, der künftige Tourist sei in London oft mit der Frage konfrontiert, ob es nicht beängstigend langweilig sei, wenn man im Winter – »Was!! Im Winter!!« – ins Oberengadin reise: »Was um Himmels willen kann man dort mit sich anfangen?« Um sodann den Aufenthalt im Schnee als gesellschaftliches und sportliches Ereignis zu preisen.
Bis weit in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hinein herrschte verbreitet der Eindruck, der Winter in den Bergen bedeute Kälte, ja Schrecken, jedenfalls Abgeschiedenheit, Langeweile und Mangel an Komfort. Den Städtern, den Eliten und Geistesmenschen war die alpine Umgebung zu dieser Jahreszeit wenig bekannt. Sie war, wie es heute mit der Sprachformel der Tourismuswirtschaft heißt, »nicht erschlossen«.
Eines der frühen intellektuellen Bergerlebnisse europäischer Kultur war die Ersteigung des Mont Ventoux durch Francesco Petrarca im April 1336. Der italienische Dichter vermittelte seine Wanderung als Gleichnis des Daseins. »Auf dem Gipfel ist das Ende und Ziel unseres Lebens«, schrieb er. Nach dem Gang in die Natur vermöge der Mensch erneut, wenn nicht gar erneuert in sich zu gehen: »Sattsam zufrieden, den Berg gesehen zu haben, wandte ich den inneren Blick in mich selbst zurück.«
Der andere Blick auf die mächtig aufragende Natur kam später in der Aufklärung zum Tragen, am bekanntesten im Langgedicht Die Alpen, das Albrecht von Haller nach einer Wanderung 1729 verfasste. Der Schweizer Gelehrte besingt die bislang ängstlich gemiedene Gebirgsszenerie nicht als mythische Sphäre, sondern als Teil einer rational ergründbaren und dann auch beherrschbaren Umwelt. So mag sie für den Betrachter an Schönheit gewinnen: Man »grüßt den Berg mit Freuden«.
Der Fremdenverkehr im Winter begann in der Schweiz als Verlängerung des Kurtourismus. Nach Davos kamen im Februar 1865 die ersten Wintergäste. Im Ort erzählten sich später die Leute, es seien zwei Deutsche gewesen, die an der Lunge litten; zunächst habe man gar nicht gewusst, wo sie unterzubringen wären.
Die größte Bekanntheit erlangte schnell St. Moritz, wo frühzeitig mondäne Hotels entstanden. Sie waren bald nach 1878, nachdem Thomas Alva Edison seine Erfindung bei der Pariser Weltausstellung präsentiert hatte, mit elektrischem Licht ausgestattet. Der Ort in Graubünden war als erste Skistation elektrifiziert – kaum später als Großstädte. Vor allem aber: St. Moritz schätzten die Gäste wegen seiner Sonnenlage, hier waren statistisch dreimal mehr Sonnenstunden zu erwarten als in anderen Orten mittlerer Höhenlage. Früher sprach man von der »toten Wintersaison«, nun begrüßte man mehr Touristen als in den Sommermonaten. Das Gros stammte aus dem britischen Empire, 1870 riefen Engländer in St. Moritz einen Skating Club ins Leben.
Die ersten Anreize für die Entwicklung des Alpinismus lieferten die Engländer, die den exzentrischen Erlebnisdrang des Gentlemans gleich auf ihre Art in Clubs organisierten. Mit dem »Alpine Club« wurde 1857 die erste Bergsteigervereinigung der Welt gegründet – Frauen waren nicht zugelassen, man feierte die Männlichkeit. Freizeit und ihre Gestaltung bezeugten eine Klassenzugehörigkeit, verstärkten die Vorstellungen der Geschlechterrollen. Die Gentlemen betrieben das Empire und führten vor, dass sie über sich selbst und ihre Zeit auf eigene Art zu verfügen vermochten, wodurch sie zugleich ihr Prestige zur Schau stellten.
Die Höhen und Hänge erhielten eine neue Funktion zugewiesen, sie wurden ein Austragungsort sportlicher Herausforderung. Entsprechend sah Leslie Stephen, der Vater von Virginia Woolf, das Bergsteigen als eine Disziplin, »die es verdiente, neben dem Rudersport und dem Cricketspiel in den Kanon der altehrwürdigen Traditionssportarten der Engländer aufgenommen zu werden« – in einem Land, in dem der höchste Gipfel nicht einmal tausend Meter misst.
Das Viktorianische Zeitalter der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als das britische Empire die größte Weltmacht war, sah eine Reihe sportlicher Neuerungen. Im Kampf um die Vorrangstellung hieß es nicht nur, immer neue Grenzen auszuloten, sondern auch mittels Körperertüchtigung für ein »survival of the fittest« im Sinne des Sozialdarwinismus zu sorgen. Die renommierten Hochschulen trainierten Willenskraft, Körperstärke und Teamgeist; der Gentleman hielt sich fit, um dem Empire dienen und seine latente Langeweile des Seins überwinden zu können.
Der Sport in den Alpen passte gut in dieses Programm. Er erfordere, wie es hieß, die »Knechtung der Körperkraft bis an den Rand des Kollabierens«; der Mann möge nicht länger nur als bedächtiger Wanderer durch die Naturlandschaft ziehen. Allein aus ökonomischen Gründen konnten zunächst breite Schichten der Bevölkerung nicht mitmachen, die Elite blieb meist unter sich. Es entstand jedoch bald bei einem großen Teil des Medienpublikums ein immenses Interesse für die Eroberung der Höhen und Hänge, für Gefahr und Geschwindigkeit in den Bergen. 1861 erzielte das Buch Peaks, Passes and Glaciers, das Mitglieder des Alpine Club geschrieben hatten, innerhalb eines Jahres fünf Auflagen, und ab 1863 erschien die Zeitschrift Alpine Journal. Die Briten schienen vom Drang beseelt, als Erste auf allen hohen Gipfeln in aller Welt zu stehen. Später lief dies auf eine britisch-deutsche Konkurrenz hinaus, die sich in Bezeichnungen wie »Nanga Parbat, Schicksalsberg der Deutschen« und als Thema von Luis-Trenker-Filmen niederschlug.
Von Anfang an hatten britische Alpinsportler sich mit lokalen Kennern, mit Bergführern und Skipionieren zusammengetan. Die Engländer sorgten in der Schweiz, wo viele von ihnen in Internatsschulen gewesen waren, für die Einführung des Wintersports. Besonders geschätzt war das »Schlitteln«: Skeleton und Bob, für das es in der Saison 1910/11 in der gesamten Eidgenossenschaft schon sechzig Bahnen gab, wenn auch nur entsprechend hergerichtete Straßen und Wege.
In Deutschland und Österreich hingegen standen die heimischen Eliten am Beginn des Wintersports, hier verlegte man sich besonders auf Eislaufen und Skifahren. Anders als in Skandinavien, wo sich breite Schichten der Bevölkerung seit Jahrhunderten auf Skiern bewegten, wurde dies in Zentraleuropa erst in den 1920er Jahren einigermaßen populär betrieben und berichtet.
Für den Wintersport braucht es Berge, Eis und Schnee. Je nach Umfeld, Material und Ziel wurden im Laufe der Zeit verschiedene Bewegungsarten herausgebildet.
Bei Ausgrabungen fanden Archäologen Knochen aus der Urzeit, die zum Gleiten auf dem Eis gedient hatten. Davon wissen auch Sagas der alten Nordländer, die zunächst einzig den Göttern das Privileg zugeschrieben hatten, auf glatten gefrorenen Flächen voranzukommen, indem sie sich mit dem Speer abstießen. In der Edda steht, »auf dem Eise laufe Schlittschuh«. Und in der Fridtjof-Saga aus dem 14. Jahrhundert zeichnet der Held »mit stählernem Fuße« Runen aufs Eis.
Ab dem ausgehenden 15. Jahrhundert zeigen einige Gemälde flämischer Meister ein buntes Gewusel auf dem Eis, ein Gleiten und Tanzen, ein Eilen und Verweilen. Das Land war von Kanälen durchzogen; da das Wasser langsam floss, froren sie schnell zu. So wurden sie auch im Winter als Verkehrswege genutzt, dienten Männern und Frauen als soziale Orte der Vergnügung. Die holländischen Gemälde veranschaulichen, wie populär dieses Treiben war, und Dokumente bezeugen erstmals Wettläufe im 14. Jahrhundert.
Der erste Eislaufverein der Welt wurde – man möchte sagen: natürlich – in Großbritannien gegründet, im Jahre 1742: The Edinburgh Skating Society. Dreißig Jahre danach erschien in England das früheste Werk über das Eislaufen: A Treatise on Skating von Robert Jones.
In der Edinburgh National Gallery ist ein eislaufender Pastor im Bild zu sehen. »Reverend Robert Walker skating on Duddingston Loch« steht unter dem Gemälde, das Sir Henry Raeburn um 1795 gemalt haben soll. Die Zuschreibung ist umstritten, die Bedeutung keineswegs. Es ist eines der bekanntesten Gemälde des Landes, ein Ausdruck der kulturellen Blüte der schottischen Aufklärung. Reverend Walker war Mitglied der Edinburgh Skating Society. Um ihr anzugehören, musste man auf einem Bein einen Kreis fahren können. Eine, wie es hieß, schwierige Übung. Dennoch sieht man im Bild einen Schwarzgewandeten mit Zylinder elegant mit dem rechten Bein nach hinten ausholend gleiten, locker und leicht und beschwingt.
»Reverend Robert Walker skating on Duddingston Loch«.
Mitte des 19. Jahrhunderts war das Eislaufen auf eigens abgegrenzten Arealen weit verbreitet, vor allem von Ober- und Mittelschicht als Form der feinen Geselligkeit verstanden, als winterliches Promenieren und Tanzen. So vermöge der Mensch sich in graziöser Haltung zu üben. Auch eine medizinische Wohltat gab es zu vermelden: Der Schlittschuhlauf, hieß es, trage zur Heilung »leichter weiblicher Nervosität« bei. In Berlin kam der Sport in der feinen Gesellschaft in Mode, als ihn eine Prinzessin Pückler um 1840 propagierte; in Paris wurde er geradezu zur Manie, nachdem Kaiserin Eugénie 1862 eisgelaufen war. Mitte der 1880er Jahre fand hier ein internationaler Wettbewerb mit Athletinnen aus England und den USA statt.
Dort, in den USA, wo 1849 der Philadelphia Skating Club gegründet worden war, brachte die Entwicklung von Ganzmetallschlittschuhen einen wesentlichen technischen Fortschritt, da man dadurch die Standfestigkeit deutlich verbesserte.
In Frankfurt am Main wurde 1861 ein Schlittschuhclub ins Leben gerufen, der zwanzig Jahre später die erste deutsche Kunsteisbahn errichten ließ. Zur selben Zeit griff dieser Sport als soziales Phänomen auf die Habsburgermonarchie über, einen gewichtigen Impuls setzte 1868 Jackson Haines aus Chicago mit seiner Schaudarbietung auf dem Platz des Wiener Eislaufvereins. Er war beim Ballett gewesen, in der Eislaufszene in Giacomo Meyerbeers Oper Der Prophet hatte er auf Rollschuhen geglänzt. Seinem Wiener Auftritt wohnte huldvoll Seine k.u.k. apostolische Majestät, der Kaiser Franz Joseph, bei. Es sei sehr schön gewesen, es habe ihn sehr gefreut. Das Publikum zeigte sich besonders begeistert von den Walzerschritten, die Haines vollführte.
Dieses Schaulaufen erwies sich als Anreiz für eine »Wiener Schule«, die dann – wie auch Schulen in Russland, Skandinavien, Großbritannien und den USA – neuartige Figuren aufs Eis zu bringen begann. Man veranstaltete recht unterschiedliche Wettkämpfe, den Schnell- und den Kunstlauf, das Rückwärts- und das Hürdenlaufen, ja sogar Hindernisrennen.
Damals, um die Jahrhundertwende, bemühten sich viele Sportarten um Internationalität und Messbarkeit, damit sie gesellschaftlich sichtbar und für die mediale Verbreitung vergleichbar wurden. Wettbewerb war ein Hauptwort des Zeitgeists, Siege und Rekorde beeindruckten.
Folglich strebten die Organisatoren nach verbindlicher Reglementierung. Ab den 1880er Jahren wurden Weltmeisterschaften im Eislaufen abgehalten, 1892 begann die International Skating Union ISU Wettkampfordnungen vorzulegen. Als Pierre de Coubertin 1894 zum Olympischen Kongress an die Pariser Sorbonne und zur Gründung des Olympischen Komitees einlud, war die ISU dabei.
Von Beginn der modernen Spiele an galt den hohen Herren das Eislaufen als olympiawürdig. Mit Matches und Toren auf glatter Fläche wussten sie weniger anzufangen.
Nachweislich wurde im England des 11. Jahrhunderts mit einem kleinen runden Ball auf dem Eis gespielt. Mit einem Krummstab galt es, ihn voranzutreiben und im gegnerischen Ziel, einem kleinen Tor, unterzubringen. Bandy nannte man diesen Wettkampf.
In Nordamerika gab es ab dem 18. Jahrhundert das Ice-Polo mit einem Hartgummiball. Als dann – der industriellen und der gesellschaftlichen Entwicklung entsprechend – das Sportgeschehen zunehmend organisierter gestaltet wurde, führten zu Weihnachten 1855 im kanadischen Kingston die Royal Canadian Rifles ein Match durch, das als wesentliche Veränderung des Bandy und als Geburtsstunde des Eishockeys gilt. Ein genaues Regelwerk vereinbarte man fünfundzwanzig Jahre später in Montreal. Man begab sich auf ein kleineres Feld in einer Halle, verwendete eine Puck genannte Hartholzscheibe und bessere Schläger, reduzierte die Anzahl der Spieler von sieben auf sechs. Das dadurch ungemein schnelle Eishockey fand in Kanada und den USA bald sehr viele Anhänger, auch in Schulen und Universitäten. In der Saison 1885/86 startete eine Liga, nach kaum zwei Jahrzehnten mit Profis, und 1917 wurde die NHL, die National Hockey League, geschaffen.
In Nordeuropa war der Skilauf entwickelt worden. Von Skandinavien hatten ihn rührige Männer aus der gehobenen Schicht um 1890 in den Alpen übernommen. Im soziokulturellen und technischen Kontext des ausgehenden 19. Jahrhunderts förderten sie ihn als Freizeitgestaltung; im Sinne des modernen Augenmerks auf Leistung und Wettbewerb betrieben sie ihn als Sport. Das zunächst verwendete Wort »Schneeschuh« ersetzten sie durch das norwegische »Ski«, von dort bezogen sie auch das Material.
Im Klima des europäischen Nordens war die Fortbewegung mit Schneeschuhen eine praktische, alltägliche Tätigkeit, zugleich Bestandteil des Brauchtums gewesen. Ein schwedischer Bischof berichtete 1555, Bauern hätten sich in der norwegischen Provinz Telemark im Rennen und Springen gemessen. Im 18. Jahrhundert begann die Armee in Schweden, Skier zu verwenden, ein organisiertes ziviles Kollektiv entstand in Skandinavien gut hundert Jahre später: In Kristiania, dem heutigen Oslo, gründeten 1861 einige Bürger den ersten Skiclub, hier hatten bald auch Frauen Zugang. 1901 fanden in Stockholm erstmals Nordische Spiele statt, wegen der landschaftlichen Gegebenheiten beschränkten sie sich auf Langlauf und Schanzenspringen.
Da waren Skier schon in Mitteleuropa bekannt. 1873 kam ein Paar ins schweizerische Graubünden, ein Arzt hatte sie nach Davos gebracht. Mit solchen Brettern vollführte dann Philipp Mark, der spätere Präsident des Kurvereins, auf einem Abhang bei St. Moritz Sprünge von einer kleinen Schanze aus.
Nach Wien soll Julius Payer von der schwierigen, gescheiterten k.u.k. Nordpolexpedition 1872–74 Skier mitgebracht haben. Über deren Verwendung habe man keine Informationen gehabt, sie seien im Museum gelandet, heißt es. Fünfzehn Jahre später habe sich der Präsident des Eislaufvereins ein Paar aus Kristiania kommen lassen, sie auf dem Eisplatz seines Clubs ausprobiert und schließlich auf dem Dachboden verstaut. Bald jedoch waren die ersten Skier in Tirol und Vorarlberg in Verwendung, in München sah man 1886 einen Mann im Englischen Garten mit solchen Brettern gleiten.
Für die sodann schnelle Verbreitung sorgte das »Nansenfieber«. 1888 hatte Fridtjof Nansen seine Grönlandexpedition auf Skiern durchgeführt, den Erfolg in einem wirkmächtigen Buch beschrieben. Dass diese Bretter zur Fortbewegung, auch in Extremsituationen, taugten, fand sich nunmehr erwiesen.
Im folgenden Jahr begab sich Arthur Conan Doyle nach Davos, um dort mit einigen Freunden dem Abenteuer des Bergabsausens auf derartigem Material zu frönen. Skifahren sei eine Symbiose aus tollkühner Nervenstärke und standhaftem Willen zur Balance, erklärte der spätere Autor der Sherlock-Holmes-Bücher. Man brauche wohl auch ein Quäntchen Glück, stets auf die nötige Schneeverwehung zu treffen, um allzu großen Geschwindigkeitsrausch unverletzt abbremsen zu können. Von ausgefeilter Technik der Bewegung war offenbar damals keine Rede.
Bis zur genaueren Beschäftigung mit diesem Sport und zur Einführung von Skischulen blieb es nicht wenigen Adepten unklar, wie diese Holzlatten zu verwenden seien. Oft stieg man auf ihnen den Berg hinan, legte sie oben auf die Schultern, schritt so die Hänge hinunter zu Tal, wo man sie wieder anschnallte und die letzte Strecke dahinglitt. In der Zeitschrift Der Schneeschuh hieß es 1893: »Jeder von uns, welcher diesen Sport betreibt, wird zugeben müssen, daß er anfangs sehr enttäuscht war, wenn er sich vorstellte, wie ein Vogel über Berg und Tal zu fliegen, und dann mühselig im Schnee herumrutschte.«
Das anhaltende »Nansenfieber« erreichte Mathias Zdarsky im niederösterreichischen Lilienfeld. Er veröffentlicht 1896 eine Schrift über die Technik des Skifahrens. Seine Schule führte zu heftigen Kontroversen der »Lilienfelder« und der »Norweger«, die bis zur Duellforderung gingen. Zdarsky gründete einen Verein und veranstaltete 1905 den ersten Slalom der Skigeschichte, eine Wettfahrt mit fünfundachtzig »Fahrmalen«. Zuvor galt es nur, möglichst schnell eine bestimmte Strecke zu bewältigen.
In diesen Jahren wurden in einigen Bergregionen Wintersportveranstaltungen durchgeführt. Die Nordischen Spiele wirkten als Vorbild, etwa für die Ende Januar, Anfang Februar 1904 im steirischen Mürzzuschlag organisierten Wettbewerbe. Sie waren international besetzt, in Sonderzügen kamen die Gäste von Wien über den Semmering. Neben dem Skirennen standen Eislauf, Schlittenfahren und zum Abschluss ein Hockeymatch auf dem Programm. Der Star war ein Norweger, der einen Sprung auf nur einem Ski meisterte. Zwei Jahre später sollten die Wintersporttage wiederholt werden. Da man sie wegen Schlechtwetters verschieben musste, blieben sie diesmal ohne ausländische Beteiligung. 1907 fanden dann die ersten österreichischen Staatsmeisterschaften in Kitzbühel statt.
Für diese Belustigungen der Oberschicht hatte die Landbevölkerung oft nur Staunen übrig, wenn sie sich nicht gar dagegen verwahrte. Der Winter, eine »Illustrierte Zeitschrift für den Wintersport«, berichtete 1910 in seiner Nummer 26: »Mit Kopfschütteln, offenem Maul« und einem deftigen Ausdruck seien »die ersten Skiläufer bewundert oder bemitleidet« worden. Dass es sich um die Tätigkeit der höheren Gesellschaft handelte, zeigte damals die Kleidung. Die Herren waren wie zur Jagd angezogen, die Frauen im maßgeschneiderten Kostüm zur Landpartie. Sie trugen schwere lange Röcke, darunter hohe Stiefelchen, den Hut hielten Nadeln im Haar. Aus Schweizer Dörfern kamen Berichte, dass die Einheimischen dort ihr starkes Missfallen äußerten, als sie Engländerinnen in Reithosen auf Skiern sahen.
In Frankreich erzählt man von der Einführung des Skilaufs eine Geschichte mit Umwegen. Henry Duhamel stammte aus einem wohlhabenden Pariser Bürgerhaus, wegen gesundheitlicher Probleme übersiedelte er in ein Dorf bei Grenoble und gründete in der Region mit Freunden eine Sektion des französischen Alpenvereins.
Bei der Weltausstellung 1878 fallen ihm Skier auf, er versteht jedoch nicht, wie sie zu verwenden wären. Als er zwei Jahre später eine Ausstellung über Finnland besucht, findet er dort eine Broschüre über den Skilauf, die ein in Helsingfors lebender Franzose herausgegeben hat. Duhamel tritt mit ihm in Briefkontakt, erhält Erklärungen und Fotos. Daraufhin bestellt er aus Skandinavien vierzehn Paar Skier. Auf den Hängen von Chamrousse übt er mit seinen Freunden, darunter sind einige Offiziere. Alsbald wollen sie die neue Fortbewegungstechnik im Schnee militärisch genützt sehen. Die Armee ist zunächst skeptisch, dann testet sie, 1903 richtet sie die École Normale de Ski ein.
Der in Tunesien ausgetragene Konflikt mit Italien bewirkte eine Veränderung der Perspektive im französischen Generalstab. Nach der Niederlage von 1870 richtete er sein Augenmerk auf Deutschland, nun nahm er auch die Grenze zu Italien in den Blick, musste sich folglich für die Bergwelt interessieren. Den italienischen Militärs erging es nicht anders. Auf beiden Seiten wurden alpine Truppen aufgestellt, 1902 begannen norwegische Instrukteure in Briançon, einem Regiment das Skifahren beizubringen.
In der angespannten internationalen Lage trat der militärische Hintergedanke der Körperertüchtigung in den Vordergrund, führten die Generalstäbe den Sport vom Freizeitvergnügen und Wettkampfernst in ihr todernstes Terrain über. Man bereitete sich dort und da auf einen Waffengang vor, den man auch in den Bergen und auf Schnee zu führen hätte. 1905 waren im Krieg zwischen Russland und Japan Truppen auf Skiern unterwegs.