Ulf Schiewe

Die Hure Babylon

Roman

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Über Ulf Schiewe

Ulf Schiewe wurde 1947 geboren. Eigentlich wollte er Kunstmaler werden, doch statt der »brotlosen Kunst« machte er Karriere in der Industrie und lebte lange Jahre im Ausland, darunter in Frankreich, Schweden und Brasilien. Seit frühester Jugend liebt Ulf Schiewe historische Romane und spannende Geschichten in exotischer Umgebung. Ulf Schiewe ist verheiratet, hat drei erwachsene Kinder und lebt in München

Impressum

eBook-Ausgabe 2012

Knaur eBook

© 2012 Droemer Verlag

Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Redaktion: Kerstin von Dobschütz

Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Coverabbildung: © akg-images / British Library

Landkarte: Computerkartographie Carrle/Heike Boschmann

ISBN 978-3-426-42928-0

Hinweise des Verlags

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Buch IV

Januar, Anno Domini 1148

 

Die Christenheit jubelt. Lissabon ist den Mauren entrissen, und für die Wenden an der Elbe heißt es, Bekehrung oder Tod. Zehntausende dieser Heiden sterben in den brennenden Dörfern. Doch im Osten warten schwere Zeiten auf die frommen Pilger.

Ermengarda und der Ketzer

Genug für heute.«

Müde schob ich die Dokumente beiseite, die Raimon mir zur Durchsicht überlassen hatte. Spenden an Kirchen und Hospize, Stiftungsurkunden, Auflistungen von Pachterträgen, Zolleinnahmen und Salzsteuern. Die winzigen, in enge Zeilen gefassten Schriftzeichen schwammen mir schon vor Augen.

»Perdona me, Ermengarda.« Raimon lächelte mir verständnisvoll zu. »Es hatte sich so einiges angehäuft …«

»Wird schon alles seine Richtigkeit haben, mein Lieber. Bitte schenk mir etwas Wein ein, aber verdünnt. Vielleicht hilft das gegen meine Kopfschmerzen.«

Raimon war in der Tat die Verlässlichkeit in persona. Tag für Tag, oft bis spät in die Nacht, kümmerte er sich unermüdlich um die Verwaltung der Vizegrafschaft und um die verschiedenen Besitztümer, Einnahmen und Ausgaben. Da Bruder Aimar nicht mehr da war, ihm zu helfen, hatte er sich noch mehr Arbeit aufgebürdet. Dabei sollte ich mich schämen, seine heimliche Schwärmerei für mich so eigensüchtig auszunutzen.

»Wird es nicht Zeit, Raimon, dass du dir eine Frau suchst?«, fragte ich wie beiläufig, nachdem er mir einen Kelch gereicht hatte.

»Eine Frau?« Er machte ein verdutztes Gesicht, als wäre die Frage abwegig. Dann lachte er verlegen. »Dafür habe ich doch gar keine Zeit.«

»Willst du keine Kinder?«

»Mein Bruder hat schon einen Stall voll. Und meine Schwester auch. An Erben wird es in unserer Familie nicht mangeln.«

»Darin ähneln wir uns, du und ich«, sagte ich niedergeschlagen. »Keine Kinder.«

»Du bist jung, Ermengarda«, versuchte er, mich aufzumuntern. »Du hast noch viel Zeit.«

Er hatte taktvoll vermieden, von Arnaut und seiner möglichen Rückkehr zu sprechen.

Ich schüttelte den Kopf. »Die alte Hebamme … du erinnerst dich an sie? Sie hat gesagt, da sei zu viel in meinem Leib zerrissen.«

Wochenlang war ich wie zerstört gewesen. Keine Kinder mehr? Dann hatte ich gedacht, wie wollte die Alte das überhaupt wissen. Konnte sie mir in den Bauch sehen? Doch irgendwie fühlte ich, dass sie recht hatte. Ich würde keine Kinder mehr gebären können. Seltsam, dass ich mit einem Mann darüber sprechen konnte. Aber Raimon war wie ein Bruder. Man sagt das so leicht dahin, aber bei ihm empfand ich es wirklich so. Ihm konnte ich alles sagen.

»Das ist bitter«, erwiderte er und seufzte.

»Ach, ich habe mich damit abgefunden.«

Er warf mir einen zweifelnden Blick zu. »Aber Narbona braucht einen Erben.«

»Keine Sorge. Meine Schwester Nina hat geschworen, mir ihren Erstgeborenen zu schicken, wenn er sechzehn wird. Bis dahin sind es noch viele Jahre, aber wenn er kommt, wirst du ihm alles beibringen, was er braucht, um ein kluger Herrscher zu werden.«

»Ein Spanier?« In seiner Stimme lagen Zweifel.

»Er ist von meinem Blut, Raimon. Nina hat ihm den stolzen Namen meiner Vorfahren gegeben … Aimeric. Und sie redet nur in unserer lenga romana mit ihm. Du musst dir keine Sorgen machen. Er wird ein guter Narbonenser Fürst.«

»Und ich soll ihn ausbilden, meinst du?«

»Wer sonst?«

Er lachte. »Nun, ein wenig Übung im Vatersein bekomme ich ja schon jetzt, seit Felipe fort ist.«

Ja, Felipe, sein Schwager, hatte uns verlassen, um sich ebenfalls auf diesen vermaledeiten Pilgerzug zu begeben. Seit dem Tag unseres Streits hatte er mich gemieden und sich dann vor Monaten nach Antiochia eingeschifft. Auch er ein Dickkopf wie die anderen. Ach, wie ich diesen Papst hasse, seine verdammte, kriegshetzerische Bulle und all seine elenden Lakaien, von Erzbischöfen bis Kardinälen. Am meisten diesen Clairvaux, den alle anhimmeln.

»Und wie lebt deine Schwester damit?«

»Dass Felipe fort ist?« Er zuckte mit den Schultern. »Sie hat ihre Kinder, weißt du. Und die Familie. Sie sagt nicht viel.«

»Hält ihre Gefühle unter Verschluss. Wie du.«

Er lächelte etwas unsicher, sammelte die Dokumente ein und erhob sich. »Ich lass dich jetzt besser mit meinen Angelegenheiten in Frieden.«

An der Tür wandte er sich noch einmal um. »Bevor ich es vergesse, Ermengarda, was machen wir mit diesem Prediger?«

»Was ist dein Rat?«

»Er wiegelt das Volk mit seinen Lehren auf. Das heißt, die eine Hälfte der Stadt spuckt auf ihn, und die Übrigen vergöttern den Kerl, weil er gegen die Pfaffen wettert. Es könnte zu Unruhen kommen. Wir sollten ihm die Stadt verbieten.«

»Wie heißt er?«

»Henri de Lausanne.«

»Zieht der nicht schon seit Jahren durch die Lande?«

»So ist es. Und bekommt immer mehr Zulauf.«

»Ein Gutes hat es wenigstens. Diese Wanderprediger sorgen bei der hohen Geistlichkeit für Aufregung«, erwiderte ich schadenfroh, denn alles, was unseren guten Erzbischof ärgerte, machte mir kindisches Vergnügen. »Ich würde brennend gern hören, was so ein Mann zu sagen hat. Sollen wir ihn holen lassen?«

»Um Gottes willen. Du kannst doch keinen Ketzer in den Palast laden. Das käme ja einer Zustimmung gleich.«

»Leider hast du recht. Versuch aber, mehr über ihn herauszufinden.«

Raimon nickte und verließ den Raum. Ich nahm einen Schluck Wein und aß ein wenig von dem Honiggebäck, das Jamila mir hingestellt hatte.

Nein, ich war nicht aufrichtig mit Raimon gewesen, denn dass ich keine Kinder mehr haben sollte, damit hatte ich mich noch überhaupt nicht abgefunden. Ein schrecklicher Fluch, wenn es stimmte. War es Gottes Strafe, wie Arnaut behauptete? Aber was war das für ein Gott, der etwas gegen Kinder der Liebe haben sollte? Außerdem ist die Welt doch voller Bastarde, die sich bester Gesundheit erfreuen. Ach, Arnaut, warum bist du nur so verbohrt?

»Aus dem Weg, gute Frau«, hörte ich hinter mir eine rauhe Stimme keuchen, und eine Hand schob mich unsanft zur Seite. Ich trat zurück und ließ einen Arbeiter an mir vorbei, der ein schweres Fass auf der Schulter trug.

Es war ein Gedränge in der dunklen Gasse, und es stank nach Pferdekot und Pisse. Handwerker, Marktfrauen, Bürgerinnen, alles strömte der caularia zu, dem großen Marktplatz vor dem Palast, wo der Prediger heute reden sollte. Ich fragte mich, ob ich noch recht bei Trost war, mich unerkannt unters Volk zu mischen.

Nachdem mir Raimon weiteres über den Mann berichtet hatte, war ich noch viel neugieriger geworden und wollte nun selbst hören, was er zu sagen hatte. Und so hatte ich mich zu Raimons Entsetzen als einfache Magd verkleidet und aus einem Hinterausgang des Palastes geschlichen. Ich warf mir einen langen Umhang über Kopf und Schultern, aus dem nur meine Nasenspitze hervorschaute. Bei der Kälte der Jahreszeit sah ich nicht anders aus als die meisten Frauen.

Die Menge schob mich auf den Marktplatz. Hier war es heller, man konnte freier atmen. Ich drängelte mich vor und sah ihn schon bald aus der Nähe, diesen Henri de Lausanne. Er redete gerade mit einer Gruppe Frauen, die darauf bestanden, sich von ihm segnen zu lassen.

Der Mann sah aus, wie Raimon ihn beschrieben hatte. Ein hochgewachsener, erschreckend hagerer Kerl mit verfilztem Bart und Haar. Am Leib trug er nichts als eine grobe Mönchskutte, geflickt und dreckig. Angeblich lebte er von Almosen, schlief auf dem nackten Boden und lief selbst im Winter barfuß herum. Alles in allem eine erbärmliche Gestalt, auf die man die Hunde gehetzt hätte, wäre da nicht die klangvolle Stimme, die klugen grauen Augen und sein freundliches Lächeln gewesen. Und natürlich sein Ruf und seine Beliebtheit beim einfachen Volk.

Er war weit herumgekommen. Ob er wirklich aus Lausanne stammte, konnte niemand sagen. Jedenfalls war er ein petrobrusianus. So nannten die Geistlichen die Schüler jenes Peire de Bruis, der vor seinem Tod vor siebzehn Jahren im ganzen Süden Ketzerlehren verbreitet hatte. Auch hier in Narbona gab es viele Anhänger. Nach ihm hatten auch andere Prediger in seinem Sinne gewirkt, aber keiner so überzeugend wie dieser Henri, so versicherte mir Raimon.

Inzwischen waren die Umstehenden ungeduldig geworden. Sie wollten ihn endlich hören.

»Liebe Brüder und Schwestern in Christus«, begann er mit ruhiger Stimme. »Gestern sprachen wir vom Opfer, das Jesus gebracht hat. Und darüber, was dies für jeden von uns bedeutet.«

Sie lauschten aufmerksam, fast begierig. Einfache Bürger beiderlei Geschlechts, Handwerker, Fischer, Seeleute. Seine Stimme trug über den ganzen Platz.

»Heute aber wollen wir darüber reden, was aus seinem Opfer geworden ist.«

Er sah einen Augenblick zu Boden, als würde er sich sammeln, dann blickte er den Menschen um ihn herum in die Augen. »Gestorben ist ein einfacher Mann, der die Liebe predigte, der nichts besaß, der barfuß wandelte, den kein Ehrgeiz trieb. Und doch konnte er, und kann es noch immer, unsere Herzen rühren und Wunder vollbringen.«

»Amen«, murmelten viele und bekreuzigten sich.

»Aber was haben sie daraus gemacht«, rief er nun lauter. »Anstatt seinem Beispiel zu folgen, haben sie auf seinem Grab ein gewaltiges Gebäude des Pomps und des Ehrgeizes errichtet. Es ist die Kirche Roms, mit der sie die ganze Welt beherrschen wollen. Aber wer sind denn diese Priester, die sich über uns erheben? Ich sage euch, hört nicht auf sie, denn sie sind nicht von Jesus gesandt. Sie sind nichts als die Hunde Roms, euch zu knechten und zu schröpfen. Den Bischöfen und Kardinälen in ihren purpurnen Gewändern geht es nicht um euch. Ihnen geht es nur um Geld, um ihre Pfründe und um Macht. Selbst mit Königen und Prinzen ringen sie, um auch über sie zu herrschen. Das hat nichts mehr mit einem Christus zu tun, der die Geldwechsler aus dem Tempel verbannte.«

Ein beifälliges Raunen ging durch die Menge. Solche Worte kamen bei den einfachen Leuten an. Aber aus den hinteren Reihen ließen sich auch Zischen und vereinzelte Schmährufe vernehmen.

»Braucht ein Mensch überhaupt einen Priester, um mit seinem Gott zu reden?«, fragte Henri die Menge. »Ist Gott nicht allmächtig? Versteht er nicht jede Sprache, auch die des einfachen Mannes? Wozu dann aber Kirchen und Paläste wie dieses herrliche Haus des Erzbischofs, vor dem wir stehen? Gewaltige Ländereien besitzt der Mann, Burgen und Klöster. Seine Truhen bersten vor Gold. Doch in den Straßen sieht es anders aus. Da verrecken die Armen, erfrieren Bettler in der Winterkälte, und es weinen Mütter, weil sie für ihre Kinder nichts zu essen haben. Ein Hirte will der Mann sein? Ich frage euch, braucht ihr einen solchen Hirten? Wem nützt er außer sich selbst?«

Die Leute sahen sich an und murrten untereinander. Eine junge Frau neben mir, ärmlich gekleidet und mit drei kleinen Kindern am Rock, nickte heftig. »Eine Schande ist das«, ließ sie lautstark vernehmen. Andere stimmten zu.

»Nein, Gott hört uns auch ohne Kirchen, wenn wir zu ihm beten«, rief Henri. »Er braucht keinen Mittler, Er hört uns überall, auf dem Feld oder in der Werkstatt. Und es muss auch nicht auf Lateinisch sein. Er freut sich über jeden, der aus freien Stücken und aus tiefem Glauben zu Ihm kommt. Der Ihm sein Herz öffnet.«

Er hielt einen Augenblick inne, um die Worte wirken zu lassen.

»Aus freien Stücken«, wiederholte er dann. »Denn was nutzt Ihm einer, der gezwungen wurde, Christ zu sein? Den die Eltern zum Christen bestimmt haben, als sie ihn taufen ließen. Ist der aus freien Stücken gekommen? Was weiß ein Säugling schon von Christus? Und warum sollte ein Kind in der Hölle schmoren, nur weil es zufällig vor der Taufe verstorben ist? Wird unser lieber Heiland es wirklich in die Hölle schicken? Natürlich nicht, denn Christus liebt besonders die Kinder in ihrer Unschuld. Er selbst aber ließ sich erst als Erwachsener taufen, als er wusste, was das bedeutet. Und so, meine Brüder und Schwestern, sollen auch wir es halten.«

Predigte der Mann etwa die Abschaffung der Kindstaufe, der Kirchen und des Priestertums? Selbst ich war erschrocken. Das ging zu weit. Und doch ließen seine Worte mich nicht unberührt.

»Aus diesem Grund ist es ebenso unsinnig, die Heiden mit dem Schwert bekehren zu wollen«, fuhr er fort. »Wollen wir erzwungene Christen, die nur aus Furcht den seidenen Saum des Kirchenfürsten küssen? Das kann nicht im Sinne Gottes sein. Nein, sage ich. Statt sie zu töten, sollten wir sie christlicher Liebe teilhaftig werden lassen, damit sie die Glorie des Herrn in sich selbst verspüren. Aber was tun wir? Wir schicken Krieger in ihr Land, um ihre Städte und Dörfer zu verheeren. Das soll gottgefällig sein? Werden sie so etwa zum Glauben bekehrt? Was hat das noch mit der Botschaft der Nächstenliebe zu tun, die Jesus von Nazareth uns gesandt hat?«

Henri hatte sich mächtig in Eifer geredet und die letzten Worte fast gebrüllt. Mon Dieu. Das war eine ganz andere Predigt als die des Abtes Clairvaux. Viele in der Menge hatten Väter, Söhne oder Brüder in der militia christi. Und sie sorgten sich um sie. Nach mehr als sechs Monaten ohne Kunde von ihren Lieben war die Begeisterung für diese Pilgerfahrt des Papstes umgeschlagen, wie Brot, das verschimmelt, oder Wein, der zu Essig wird. Die Männer fehlten überall, wo sie gebraucht wurden. Frauen mussten allein für ihre Familien kämpfen und verfluchten den Tag, an dem ihre Kerle mit den Soldaten gezogen waren. Wie ich auch.

Aber nicht allen, die auf dem Marktplatz standen, gefiel, was Henri sagte. Sie versuchten, ihn mit Pfiffen und Gebrüll zu übertönen. Einer bewarf ihn mit Pferdekot, der ihn an der Schulter traf. Es kam zu Rempeleien und Handgreiflichkeiten. Ich bekam Angst, wollte nicht in eine Rauferei verwickelt werden und begann, mich langsam zurückzuziehen.

Der Prediger ließ sich nicht entmutigen. Sein Gesicht war rot vor Zorn, die Adern auf seiner Stirn traten hervor. »Aber im Grunde geht es doch gar nicht um die Botschaft Jesu. Denn Rom genügt schon lange nicht mehr, was es besitzt. In Outremer, in Spanien, überall sollen Ungläubige vernichtet und ihr Land geraubt werden. Und Rom bedient sich der Prinzen und Könige, um seine Gier nach Herrschaft in fremde Welten zu tragen. Aber gebt acht, ihr guten Leute, denn alles, was in diesen Tagen geschieht, ist schon in der Bibel offenbart.«

Einen Augenblick herrschte Stille. In der Bibel?

»Ja, in der Bibel«, schrie Henri. »Aber das ist die Stelle, die sie euch verschweigen. Denn dort steht geschrieben von der großen Hure Babylon, die nicht ruht, bis sie alles verschlungen hat. Von der sich die Könige auf Erden verführen lassen, trunken vom Wein ihrer Hurerei. Wir alle wissen, wer gemeint ist. In Purpur und Scharlach ist sie gekleidet, mit Gold und edlen Steinen bedeckt, in ihrer Hand der Becher voll der Greuel auf Erden. Sie ist trunken vom Blut der Heiligen …«

Weiter kam er nicht.

Kriegsknechte des Erzbischofs hatten sich rüde durch die Menge gedrängt, packten ihn nun und schlugen auf ihn ein. Er stürzte auf die Knie, Blut rann ihm aus Mund und Nase. Ein Aufschrei der Entrüstung ging durch die Menge, andere johlten Beifall. Mit blanken Schwertern in der Faust verschafften sich die Soldaten Platz. Dann zerrten sie die ausgemergelte Gestalt des Predigers mit sich fort und verschwanden im Palast des Erzbischofs.

Ich war immer noch wie gebannt von seinen Worten. Einen Augenblick lang fürchtete ich, es würde zu Unruhen kommen, aber nach einigem Gerangel und Gebrüll löste sich die Menge auf, und ich konnte mich unbemerkt in den Palast zurückschleichen.

Der ersten Wache, der ich begegnete, warf ich meinen Umhang zu und befahl ihm, mir Raimon zu schicken.

»Der Erzbischof hat ihn gefangen gesetzt«, sagte ich zornig, als er erschien.

»Das habe ich beobachtet. Wenigstens hat er einen Tumult verhindert.«

»Verstehst du nicht? Er hat kein Recht dazu. Der Marktplatz ist meine Domäne, und überhaupt die Gerichtsbarkeit in solchen Dingen liegt bei mir, nicht bei der Kirche.«

Er sah mich erstaunt an. »Ich weiß. Er missbraucht sein Amt. Aber was kümmert dich ein zerlumpter Prediger?«

»Zerlumpt mag er sein, aber was er sagt, ist nicht dumm. Vielleicht in manchem übertrieben, trotzdem …«

»Geht es dir um den Prediger oder um einen Streit mit dem Erzbischof?«

»Ganz gleich. Geh sofort zu Leveson und verlange, dass man den Mann an mich übergibt. Und wenn nicht, dann wird er es bedauern, das kannst du ihm ausrichten.«

Drei Stunden blieb er fort. Es musste ein zähes Ringen gewesen sein, aber es war ihm nicht gelungen, meinen Wunsch durchzusetzen. Dabei ist Raimon ein äußerst geschickter Unterhändler. Der Kerl habe die Kirche beleidigt, so Levesons Antwort. Peire de Bruis habe vor Jahren schon genug Aufruhr gestiftet, man wünsche keine Wiederholung. Überhaupt sei man nicht länger gewillt, solche Lästerungen der heiligen Kirche straflos hinzunehmen.

»Aber er hat nicht das Recht dazu.«

»In diesem Fall pfeift er auf deine Gerichtsbarkeit, Ermengarda. Vergiss nicht, er herrscht auch als Fürst über halb Narbona. Was willst du tun? Den Palast des Erzbischofs stürmen? Der Kerl gehöre ins Loch, sagt er, und zwar endgültig, um darin zu verfaulen. Leveson ist sogar ziemlich ausfällig geworden. Ich wage kaum, seine Worte zu wiederholen.«

»Was hat er gesagt?«

Raimon war sichtlich verlegen und wand sich, bis ich ihn drängte. »Wenn hier schon von babylonischen Huren geredet würde, so sagte er, dann könne er bei der nächsten Sonntagsmesse gern auch von einer anderen Hure berichten, einer hier in Narbona, die mit ihren Rittern Unzucht treibt.«

Mir blieb die Luft weg. »Das wagt er nicht.«

»Verlass dich nicht darauf. Er war ziemlich aufgebracht.«

Ich ließ mich auf einen Stuhl sinken. Eine unverschämte Drohung. Überhaupt war ich des ewigen Gerangels mit diesem Kirchenmann müde. Es war wirklich Zeit, ihn in die Schranken zu weisen.

»Das werden wir so nicht hinnehmen«, sagte ich entschlossen. »Wir werden uns etwas ausdenken.«

Aber bevor wir die Angelegenheit weiter besprechen konnten, sprang die Tür auf, und Domna Anhes kam hereingestürmt.