Als Ravensburger E-Book erschienen 2016
Die Print-Ausgabe erscheint in der Ravensburger Verlag GmbH
© 2016 Ravensburger Verlag GmbH
Titel der Originalausgabe: The School for Good and Evil. A World without Princes.
Textcopyright 2014 © Soman Chainani
Cover and map illustration copyright © 2013 Iacopo Bruno
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, Garbsen.
Übersetzung: Ilse Rothfuss
Lektorat: Ulrike Schuldes
Umschlag: Iacopo Bruno
Lettering: Raffaela Schütterle
Alle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg.
ISBN 978-3-473-47766-1
www.ravensburger.de
Für Maria Gonzalez
In einem tiefen, dunklen Tann
Liegt eine Schule wundersam.
Die Schule für Gut und Böse.
Zwei Türme wie Zwillingsköpfe,
Einer für die Reinen,
Einer für die Gemeinen.
Es gibt kein Entrinnen,
Der Wald ist ein Graus,
Nur durch ein Märchen
Find’st du hinaus.
Natürlich war es nicht spurlos an Agatha vorübergegangen, dass ihre beste Freundin versucht hatte, sie umzubringen.
Sie schaute auf die beiden goldenen Statuen von sich selbst und von Sophie, die über dem sonnenhellen Platz aufragten, und kämpfte gegen das flaue Gefühl in ihrem Magen an.
»Warum muss es unbedingt ein Musical sein?«, seufzte sie und nieste, denn die Nelken auf ihrem rosa Kleid kitzelten sie in der Nase.
»In den Kostümen wird nicht geschwitzt!«, herrschte Sophie einen Jungen an, der sich gerade mit einem grimmigen Hundekopf aus Gips abmühte. Der Junge war an einem Mädchen festgebunden, das ebenfalls einen Hundekopf trug, aber einen hübschen, niedlichen, mit dem sie hilflos herumstolperte. Dann fauchte Sophie zwei Jungen mit den Namensschildern »CHADDICK« und »RABAN« an, die ihre Kostüme tauschen wollten. »Und die Schulen werden auch nicht gewechselt!«
»Aber ich will ein Immer sein«, protestierte RABAN und zerrte an seiner Uniform, die wie ein schwarzer Sack an ihm herunterhing.
»Meine Perücke juckt«, jammerte BEATRIX, während sie an ihrem blonden Haarteil kratzte.
»Meine Mami wird mich nicht wiedererkennen«, sagte der Junge mit der glänzenden Silbermaske, der den Schulmeister darstellen sollte.
»UND ICH WILL AUCH KEIN GEJAMMER ÜBER EURE ROLLEN HÖREN!«, bellte Sophie. Ungeduldig klebte sie den Namen »DOT« auf die Tochter des Schmieds und steckte ihr in jede Hand einen Schoko-Eislutscher. »Du musst bis nächste Woche mindestens zehn Kilo zunehmen.«
»Du hast versprochen, dass es nichts Großes wird«, murrte Agatha. Ihr Blick ruhte auf einem Jungen, der auf einer Leiter herumwankte und zwei vertraute smaragdgrüne Augen auf das riesige Theaterzelt malte. »Nur eine kleine bescheidene Geburtstagsfeier.«
»Gibt es in diesem Kuhdorf denn nichts als Tenöre?«, stöhnte Sophie und funkelte die männlichen Darsteller mit ihren smaragdgrünen Augen an, so grün wie die auf der Zeltplane. »Ein paar von euch müssen doch im Stimmbruch sein? Und irgendeiner wird ja wohl den Tedros spielen können, den hübschesten, ritterlichsten Prinzen in der … Was?«
Sie drehte sich zu Radley um, der in einer engen Kniehose vor ihr stand und seine Hasenzähne bleckte, die Brust stolz vorgereckt. »Du nicht«, sagte sie schaudernd und klatschte »HORT« auf seine Brust.
»Also klein ist das hier nicht – und schon gar nicht bescheiden«, grummelte Agatha weiter, während zwei Mädchen einen Kartenverkaufsstand enthüllten, auf dem zwanzig neonfarbene Porträts von Sophie in Siebdruck abgebildet waren.
»Licht an!«, rief Sophie zwei Jungen zu, die an Seilen hingen.
Agatha warf sich herum, so grell war die Explosion. Vorsichtig spähte sie durch ihre Finger zu dem Samtvorhang hinter ihnen hinauf, der mit tausend weiß glühenden Lämpchen gesäumt war. Eine Schrift leuchtete auf:
Flüche! Das Musical
REGISSEURIN, PRODUZENTIN UND HAUPTDARSTELLERIN: SOPHIE
»Meinst du, das ist zu düster für das Finale?«, fragte Sophie, während sie sich in ihrem mitternachtsblauen Ballkleid mit den zarten goldenen Blättern zu Agatha umdrehte. Ein Rubinanhänger schmückte ihren Hals und auf ihrem Kopf funkelte ein Krönchen aus blauen Orchideen. »Ach ja, fast hätte ich es vergessen: Ich brauche noch Leute, die vom Blatt singen können.«
Agatha fuhr hoch. »Spinnst du, oder was? Ich dachte, das soll ein Stück zum Gedenken der entführten Kinder sein, und kein Jahrmarktsspektakel. Ich kann weder spielen noch singen, und jetzt machen wir eine Kostümprobe für diesen Affenzirkus, obwohl es nicht mal ein Drehbuch gibt – hey, was ist das denn?«
Agatha zeigte auf die Schärpe aus roten Kristallen, die quer über Sophies Brust funkelte.
Ballkönigin
Sophie starrte sie an. »Du glaubst doch nicht, dass ich unsere Geschichte so erzähle, wie sie wirklich passiert ist?«
Agatha verdrehte die Augen.
»Oh, Agatha, wenn wir unsere Heldentaten nicht selbst feiern, wer soll es sonst tun?«, seufzte Sophie und ließ ihren Blick über die riesige Zirkusarena schweifen. »Wir sind die Fluchbrecherinnen von Gavaldon, Agatha! Wir haben den Schulmeister getötet! Gibt es etwas Größeres? Wir sind Legenden! Aber wo ist unser Schloss? Wo sind unsere Sklaven? Am Jahrestag unserer Entführung aus diesem hässlichen Ort können wir wohl etwas Applaus erwarten! Die Leute sollten uns die Füße küssen, statt sich mit fetten Witwen in hässlichen Bauernkitteln einzulassen.«
Sophies Worte hallten über die leeren Holzbänke und sie schaute ihre Freundin Beifall heischend an.
»Der Ältestenrat hat ihm seinen Segen gegeben, oder nicht?«, sagte Agatha.
Sophies Gesicht verdüsterte sich. Beleidigt drehte sie sich um und verteilte Notenblätter an die Schauspieler.
»Wann ist überhaupt die Hochzeit?«, fragte Agatha, aber Sophie ließ sich Zeit mit der Antwort.
»Am Tag nach dem Musical«, murrte sie schließlich widerwillig und hängte die Girlanden an dem riesigen Bühnenaltar auf. »Aber vielleicht fällt sie ja aus, wenn sie die Zugabe gesehen haben.«
»Zugabe? Welche Zugabe?«
»Ehrlich, Aggie, für mich ist es okay. Ich habe mich damit abgefunden.«
»Ich will wissen, was in dieser Zugabe vorkommt, Sophie.«
»Er ist ein erwachsener Mann. Er kann machen, was er will.«
»He, warte mal – hast du dir diesen ganzen Rummel etwa nur ausgedacht, um deinem Vater die Hochzeit zu verderben?«
Sophie wirbelte herum. »Wie kommst du denn darauf?«
Agathas Blick fiel auf die dicke obdachlose alte Frau, die verschleiert unter dem Altar saß und verwirrt zu ihr hochschaute. »HONORA« stand auf ihrem Schild.
Sophie drückte Agatha ein Notenblatt in die Hand. »An deiner Stelle würde ich erst mal singen lernen.«
Ihre Rückkehr aus dem Endloswald neun Monate zuvor hatte ganz Gavaldon schrecklich in Aufruhr versetzt. Seit über zweihundert Jahren hatte der Schulmeister regelmäßig Kinder aus dem Dorf entführt und in seine Schule für Gut und Böse gebracht. Niemand hatte diese Kinder je wiedergesehen – ihre Eltern weinten sich vergeblich die Augen nach ihnen aus. Und plötzlich kehrten zwei Mädchen zurück! Das ganze Dorf stürzte sich auf sie, alle wollten sie umarmen, küssen, anfassen und ihnen ein Denkmal errichten, als wären sie vom Himmel gefallene Götter. Der Andrang war so groß, dass der Ältestenrat Sophie und Agatha nahelegte, nach dem Sonntagsgottesdienst überwachte Autogrammstunden zu geben. Die Fragen, die ihnen dabei gestellt wurden, waren immer dieselben: »Haben sie euch gefoltert?«, »Ist der Fluch auch wirklich gebrochen?«, und: »Habt ihr meinen Sohn gesehen?«
Sophie hätte diesen Promi-Rummel auch allein durchgestanden, aber wider Erwarten tauchte Agatha jedes Mal pünktlich auf. Anfangs gab sie sogar täglich Interviews, die auf dem Aushang am Dorfplatz veröffentlicht wurden. Sie ließ sich von Sophie aufstylen und mit Schminke zukleistern und ertrug geduldig die kleinen Kinder, um die ihre Freundin einen großen Bogen machte.
»Die reinsten Keimschleudern«, knurrte Sophie und betupfte ihre Nasenlöcher mit Eukalyptusöl, ehe sie das nächste Märchenbuch signierte. Als sie sah, wie Agatha einen kleinen Jungen anlächelte, der ihr ein Exemplar von »König Artus« hinhielt, fügte sie kopfschüttelnd hinzu: »Seit wann magst du Kinder?«
»Seit sie alle zu meiner Mutter kommen, wenn sie krank sind«, schoss Agatha zurück und ließ ihre mit Lippenstift verschmierten Zähne aufblitzen.
Aber nach und nach legte sich der Rummel, und als der Sommer ins Land zog, hatte der Andrang beträchtlich nachgelassen. Sophie ließ sich davon nicht beirren und hängte ein Plakat auf:
»Gratiskuss?«, kreischte Agatha und starrte fassungslos auf das Plakat an der Kirchentür.
»Auf ihre Märchenbücher natürlich«, sagte Sophie und lächelte verschmitzt, während sie ihre blutrot geschminkten Lippen in einem Handspiegel begutachtete.
»So hört es sich aber nicht an«, brummte Agatha und zupfte an dem engen grünen Kleid herum, das Sophie ihr geliehen hatte. Die Farbe Rosa war seit ihrer Rückkehr komplett aus Sophies Garderobe verschwunden, vielleicht weil sie unheilvolle Erinnerungen heraufbeschwor – an Sophies Zeit als zahnlose Hexe, die beinahe alles zerstört hätte.
»Wir sind keine Sensation mehr«, sagte Agatha energisch und zerrte erneut an ihren Spaghettiträgern. »Höchste Zeit, dass wir wieder ein normales Leben führen.«
»Vielleicht sollte ich diese Woche allein auftreten«, überlegte Sophie. »Die Leute spüren wahrscheinlich deine mangelnde Begeisterung.«
Aber an diesem Sonntag erschien niemand, außer dem müffelnden Radley mit seinem feuerroten Haarschopf. Auch am nächsten und übernächsten Sonntag ließ sich niemand blicken, obwohl Sophie eine »süße kleine Überraschung« und schließlich sogar ein »Dinner für zwei« in Aussicht gestellt hatte. Im Herbst verschwanden die Suchplakate vom Dorfplatz und Mr Deauville stellte ein Schild mit der Aufschrift »Wir schließen!« in sein Schaufenster, weil keine neuen Märchenbücher mehr eintrafen, die er verkaufen konnte. Der Fluch war inzwischen ein alter Hut und die beiden Heldinnen lockten keinen Hund mehr hinter dem Ofen hervor. Selbst Sophies Vater fasste seine Tochter nicht mehr mit Samthandschuhen an. An Halloween teilte er ihr kurzerhand mit, dass der Ältestenrat seine Heirat mit Honora genehmigt hatte. Sophie wurde gar nicht erst gefragt.
Jetzt rannte sie im strömenden Regen nach Hause und funkelte ihre verwitterte Statue an, die von oben bis unten mit Vogelmist zugekleistert war. Was hatte sie nicht alles dafür in Kauf nehmen müssen! Eine ganze Woche lang Schneckeneier-Gesichtsmasken und Gurkensaftfasten, damit der Steinmetz ihre Schönheit gebührend einfangen konnte. Und jetzt war ihre Statue zum Taubenklo verkommen.
Grimmig schaute sie zu ihrem aufgemalten Gesicht am fernen Theaterzelt zurück. Das Stück würde ihrem Vater die Augen öffnen, sodass er endlich einsah, wer hier die erste Geige spielte. Sophie würde es ihnen allen zeigen, diesen lächerlichen Bauerntrampeln.
Der Dorfplatz lag hinter ihr und sie platschte durch schlammige Gassen. Überall stieg Rauch aus den Schornsteinen auf und Sophie roch schon von Weitem, was es in den Häusern ringsum zu essen gab: Schweinefleisch im Teigmantel mit Pilzsoße bei Wilhelm, Rinderbraten und Kartoffelsuppe bei Bella, Linsen mit Speck und eingelegte Süßkartoffeln bei Sabrina … Deftige Hausmannskost, die ihr Vater so liebte, aber nie bekommen würde.
Gut. Meinetwegen kann er verhungern. Als sie in ihre Gasse einbog, streckte Sophie die Nase in die Luft, um den Geruch der kalten, leeren Küche zu Hause einzuatmen. Ein Geruch, der ihren Vater immer daran erinnern sollte, was er verloren hatte.
Aber komisch. Die Küche roch gar nicht leer und kalt. Sophie schnupperte erneut: Es roch nach Fleisch und Milch. Das letzte Stück bis zu ihrem Haus rannte sie, riss die Tür auf, und …
Honora stand am Küchentisch und zerhackte blutige Schweinerippchen. »Sophie«, keuchte sie und wischte sich die plumpen Hände ab. »Ich musste den Laden schließen – ich könnte etwas Hilfe gebrauchen …«
Sophie starrte an ihr vorbei. »Wo ist mein Vater?«
Honora zupfte an ihrem struppigen, mehlbestäubten Haar herum. »Ähm, draußen, bei meinen beiden Jungen. Sie stellen das Zelt auf. Er wollte, dass wir alle zusammen zu Abend essen.«
»Zelt?« Sophie stürzte zur Hintertür. »Jetzt schon?«, stieß sie hervor und stürmte in den Garten. Honoras Söhne standen auf der Wiese und hielten je einen mit Seilen fixierten Zeltpfosten fest, während Stefan die flatternde weiße Plane um einen dritten zu schlingen versuchte. Kaum hatte er es geschafft, riss der Wind das Zelt fort, sodass er mit den beiden Jungen darunter begraben wurde. Sophie hörte sie kichern, dann streckte ihr Vater seinen Kopf unter der Zeltplane hervor. »Du kommst genau richtig. Wir brauchen noch Hilfe, wie du siehst.«
»Warum stellt ihr das Zelt auf?«, fragte Sophie kalt. »Die Hochzeit ist erst nächste Woche.«
Stefan richtete sich auf und räusperte sich. »Nein, morgen.«
»Morgen?« Sophie wurde kreideweiß. »Du meinst morgen – den Tag nach heute?«
»So ist es. Honora wollte, dass wir das Fest noch vor deinem Theaterstück feiern«, sagte Stefan und fuhr mit der Hand durch den Bart, den er sich seit Kurzem wachsen ließ. »Wir wollten dir nicht die Schau stehlen.«
Sophie wurde speiübel. »Aber … wie … wie soll das …?«
»Mach dir keine Sorgen um uns. Es ist alles geregelt. Wir haben den neuen Hochzeitstermin in der Kirche angekündigt, und mit Jacobs und Adams Hilfe ist das Zelt hier im Nullkommanix aufgebaut. Wie war deine Theaterprobe?« Er zog den sechsjährigen Jacob an seine Seite. »Jacob hat die Lichter von der Veranda aus gesehen.«
»Ich auch!«, rief Adam, der bereits acht war und sich an Stefans andere Seite schmiegte.
Stefan drückte ihnen einen Kuss auf die Haare. »Ich kann es kaum glauben, dass ich auf meine alten Tage noch zwei so hübsche kleine Prinzen bekomme«, flüsterte er.
Sophies Herz krampfte sich zusammen.
»Was ist das eigentlich für ein Stück?«, fragte Stefan und lächelte sie an.
Aber das Musical war Sophie plötzlich ganz egal.
Zum Abendessen gab es einen saftigen Braten mit knackigem Brokkoli und Gurkensalat, und danach Blaubeerkuchen ohne Mehl. Aber Sophie rührte nichts davon an. Stocksteif saß sie an ihrem Platz und funkelte Honora über den vollgestellten Tisch hinweg an.
»Iss«, forderte Stefan sie auf, und das eifrige Besteckklappern um sie herum verstummte.
Die Witwe neben ihm rieb sich ihren speckigen Hals, ohne Sophie dabei anzusehen. »Wenn es ihr nicht schmeckt, dann …«
»Du hast alle ihre Lieblingsgerichte gekocht«, fiel Stefan ihr ins Wort, die Augen auf seine Tochter geheftet. »Iss jetzt, Sophie.«
Sophie rührte sich nicht. Wieder verstummte das Besteckklappern.
»Kann ich noch Braten haben?«, fragte Adam.
»Wart ihr wirklich mal Freundinnen, meine Mutter und du?«, wollte Sophie von Honora wissen.
Die Witwe erstickte fast an ihrem Braten. Stefan runzelte die Stirn und wollte etwas erwidern, aber Honora fasste ihn am Handgelenk. Umständlich betupfte sie ihre spröden Lippen mit einer schmutzigen Serviette.
»Ja, wir waren beste Freundinnen«, brachte sie lächelnd hervor und schluckte wieder. »Lange Zeit.«
Sophie erstarrte. »Ich will gar nicht erst wissen, warum ihr euch zerstritten habt.«
Honoras Lächeln erlosch und sie starrte auf ihren Teller. Sophie ließ sie nicht aus den Augen.
Schließlich knallte Stefan seine Gabel auf den Tisch. »Wie wäre es, wenn du Honora nach der Schule im Laden aushelfen würdest?«
Sophie fühlte sich nicht angesprochen und wartete darauf, dass Adam ihm antwortete. Aber Stefan sah weiter zu ihr hinüber.
»Ich?« Sophie wurde weiß. »Ich soll ihr … helfen?«
»Bartleby ist der Meinung, dass meine Frau etwas Unterstützung gut gebrauchen könnte«, fuhr Stefan fort.
Meine Frau. Die Worte hallten in Sophies Ohren wider. Er nannte diesen Bauerntrampel … diese Diebin … seine Frau!
»Natürlich erst nach der Hochzeit, und wenn dein Musical vorbei ist«, fügte Stefan hinzu. »Es wird Zeit, dass du in ein normales Leben zurückfindest.«
Sophie drehte sich zu Honora um, in der Erwartung, dass die Witwe protestieren würde. Sie war doch sicher genauso entsetzt wie Sophie? Aber Honora schaute nicht auf und schlabberte nur ängstlich ihren Gurkensalat in sich hinein.
»Das ist nicht dein Ernst, Vater. Du willst doch nicht etwa, dass ich …« Sophie brachte die Worte kaum über die Lippen. „… d-dass ich im L-Laden stehe und B-Butter stampfe?«
»Warum denn nicht? Kann nicht schaden, wenn du etwas mehr Kraft in den Armen bekommst«, erwiderte ihr Vater kauend, während Jacob und Adam ihre Armmuskeln miteinander verglichen.
»Aber ich bin ein Star! Ich habe Fans!«, kreischte Sophie. »Auf dem Dorfplatz steht eine Statue von mir! Ich kann doch nicht in einem Laden arbeiten. Und schon gar nicht mit ihr!«
»Dann wirst du dir wohl ein anderes Zuhause suchen müssen.« Stefan nagte einen Knochen ab. »Solange du hier wohnst, arbeitest du gefälligst mit. Und wenn dir das nicht passt … die Jungs übernehmen dein Zimmer liebend gerne.«
Sophie schnappte nach Luft.
»Und jetzt iss!«, zischte Stefan so schneidend, dass sie hastig gehorchte.
Schlitzer miaute misstrauisch, als Agatha ihren alten schwarzen Kittel überzog.
»Siehst du? Bin wieder ganz die Alte.« Agatha stopfte Sophies Kleider in ihre Truhe, knallte den Deckel zu, schob die Truhe gegen die Tür und kniete sich auf den Boden, um ihre kahle, runzlige Katze zu streicheln.
Schlitzer fauchte.
»Bin doch nur ich«, sagte Agatha beruhigend. »Hab mich kein bisschen verändert.«
Schlitzer fuhr ihr über den Arm und trottete davon.
Agatha rieb sich den frischen Kratzer zwischen den zahlreichen anderen, die noch kaum verheilt waren. Sie plumpste aufs Bett, während Schlitzer sich in einem modrigen, grünlich schimmernden Winkel zusammenrollte, so weit von ihr entfernt wie nur möglich.
Agatha wälzte sich herum und umarmte ihr Kissen.
Hey, mir geht’s gut!
Sie lauschte auf den Regen, der auf das Strohdach prasselte und durch ein Loch in den schwarzen Kessel ihrer Mutter spritzte.
So richtig schön ist es nur zu Hause.
Pling, pling, pling, machte der Regen.
Sophie und ich.
Gedankenverloren starrte sie auf die rissige weiße Wand. Pling, pling, pling … Ihr Herz begann zu rasen, ihr Blut kochte wie Lava, und sie wusste: Jetzt kommt es wieder. Pling, pling, pling. Der schwarze Kessel verwandelte sich in seine schwarzen Stiefel. Das Stroh an der Decke schimmerte wie gesponnenes Gold, genau wie seine Haare. Der Regenhimmel draußen lichtete sich und wurde strahlend blau … wie seine Augen. Und das Kissen unter ihr wurde lebendig, wie ein Wesen aus Fleisch und Blut mit sonnengebräunter Haut …
»Du bist mir eine schöne Hilfe, meine Liebe!«, trällerte eine Stimme vor der Tür draußen.
Agatha schreckte von ihrem schweißfleckigen Kissen auf. Sie sprang vom Bett und öffnete die Tür. Ihre Mutter kam mit zwei Körben im Arm herein. Der eine war mit stinkenden Blättern und Wurzeln gefüllt, der andere mit toten Kaulquappen, Kakerlaken und Eidechsen.
»Was zum Kuckuck …!«
»Damit du mir endlich ein paar Zaubertränke zeigen kannst, die ihr in eurer Schule gelernt habt«, zwitscherte Callis. Sie schaute Agatha mit ihren runden Glupschaugen an und drückte ihr einen der Körbe in die Hand. »Heute kommen kaum Kranke. Wir haben Zeit zum Brauen.«
»Ich will aber nichts mehr von Magie wissen! Wann begreifst du das endlich?«, fauchte Agatha. »Außerdem glühen unsere Fingerspitzen hier nicht.«
»Warum erzählst du mir nie, was passiert ist?«, sagte Callis und stocherte in ihrem fettigen schwarzen Haarschopf herum. »Zeig mir wenigstens einen Warzenzauber. Und Eidechsen müssen so frisch wie möglich verarbeitet werden, Herzchen. Was sollen wir mit denen machen?«
»Hör endlich auf!«
Callis erstarrte.
»Bitte«, flehte Agatha. »Ich will nicht über die Schule reden.«
Behutsam nahm ihr Callis den Korb ab. »Ich war so glücklich, als du zurückgekommen bist«, sagte sie und schaute ihrer Tochter in die Augen. »Dabei darf ich mir gar nicht vorstellen, was du vielleicht alles aufgegeben hast.«
Agatha starrte auf ihre schwarzen Klumpschuhe hinunter, während ihre Mutter die beiden Körbe in die Küche schleppte. »Du weißt, wie sehr ich Verschwendung hasse«, seufzte Callis. »Hoffentlich vertragen unsere Mägen Eidechseneintopf.«
Agatha hackte im Kerzenschein Zwiebeln und hörte ihrer Mutter zu, die grottenfalsch vor sich hin summte, wie jeden Abend. Früher hatte Agatha ihr Friedhofsparadies geliebt, ihre einsame Zufluchtsstätte fernab vom Dorf.
»Mutter, woher weiß man, ob man sein Happy End gefunden hat?«, fragte sie und legte ihr Messer weg.
»Hm?«, machte Callis, die gerade mit ihren knochigen Händen ein paar Kakerlaken in den Kessel streute.
»Ich meine, woher weiß man, ob man bis an sein Lebensende glücklich sein wird, wie es im Märchen heißt?«
»Ah, deshalb.« Callis nickte zu dem aufgeschlagenen Märchenbuch, das unter Agathas Bett hervorlugte.
Agatha starrte auf die letzte Seite. Ein blonder Prinz und eine schwarzhaarige Prinzessin waren darin abgebildet, die ihre Liebe mit einem Kuss besiegelten. Im Hintergrund stand ein verwunschenes Märchenschloss, und darunter stand …
ENDE
»Und was ist, wenn man sein Märchenbuch nicht zu sehen bekommt?«, bohrte Agatha weiter und starrte auf die Prinzessin, die in den Armen ihres Prinzen lag. »Woher weiß man dann, ob man glücklich ist?«
»Wer erst fragen muss, ob er glücklich ist oder nicht, der wird es wohl nicht sein«, schnaubte Callis und tippte eine Kakerlake an, die einfach nicht untergehen wollte.
Agatha konnte ihren Blick kaum von dem Prinzen abwenden. Schließlich knallte sie das Märchenbuch zu und warf es ins Feuer unter dem Kessel. »Wird Zeit, dass wir die loswerden, wie alle anderen auch.«
Dann hackte sie weiter Zwiebeln in ihrer Ecke, nur viel schneller als zuvor.
»Alles in Ordnung mit dir?«, fragte Callis, die ein verdächtiges Schniefen hörte.
»Ja, klar.« Agatha tupfte sich die Augen ab. »Das sind nur die Zwiebeln.«
Der Regen hatte aufgehört, aber ein rauer Herbstwind fegte über den Friedhof, der von zwei Fackeln über den Toren beleuchtet wurde. Die Flammen tanzten wild. Mit zitternden Beinen und klopfendem Herzen näherte sie sich dem Grab. Alles in ihr schrie: Bleib fort! Bleib zu Hause! Sie kniete in Gras und Schlamm, schweißüberströmt, die Augen geschlossen. Sie hatte noch nie hingeschaut. Noch nie.
Sophie holte tief Luft und öffnete die Augen. Sie konnte den verwitterten Schmetterling über der Grabinschrift kaum erkennen.
LIEBENDE EHEFRAU
&
MUTTER
Zwei kleinere, namenlose Grabsteine flankierten den ihrer Mutter wie ein Paar Flügel. Vorsichtig zupfte Sophie mit ihren weiß behandschuhten Fingern das Moos aus den Ritzen von einem der Grabsteine, der völlig überwuchert war. Unter der Moderschicht trafen ihre fleckigen Handschuhe auf tiefere Rillen im Stein, die glatt und regelmäßig wirkten. Da war etwas in den Stein geritzt. Sie sah genauer hin …
»Sophie?«
Agatha kam in einem zerfetzten schwarzen Umhang auf sie zu, eine tropfende Kerze in der Hand. »Meine Mutter hat dich vom Fenster aus gesehen.«
Agatha kniete neben Sophie nieder und stellte die Kerze vor die Gräber. Sophie schwieg lange.
»Er dachte, es sei ihre Schuld gewesen«, stieß sie endlich hervor, den Blick auf die beiden namenlosen Grabsteine geheftet. »Zwei Söhne, beide tot geboren. Wie sollte er es sich sonst erklären?« Ihre Augen folgten einem blauen Schmetterling, der aus der Dunkelheit herausflatterte und sich auf die Inschrift des verfallenen Grabsteins ihrer Mutter setzte.
»Alle Ärzte haben gesagt, dass sie keine Kinder mehr bekommen könne. Sogar deine Mutter.« Sophies Gesicht erhellte sich beim Anblick des blauen Schmetterlings. »Und eines Tages ist es doch passiert. Meiner Mutter war so schlecht, dass alle dachten, es würde niemals gut gehen, aber ihr Bauch wuchs und wuchs. Ein Wunder, sagten die Ältesten. Und Vater wollte das Kind Filip nennen.«
Sophie drehte sich zu Agatha um. »Aber ein Mädchen kann man leider nicht Filip nennen.« Ihre Lippen wurden schmal. »Meine Mutter hat mich geliebt, trotz der schweren Geburt. Und obwohl sie oft genug mit ansehen musste, wie er im Haus ihrer besten Freundin verschwand.« Sophie kämpfte mit den Tränen. »Ihrer besten Freundin, Agatha.« Sie schluchzte bitterlich in ihre schmutzigen Handschuhe.
Agatha senkte den Kopf und sagte kein Wort.
»Ich habe sie sterben sehen, Aggie. An gebrochenem Herzen.« Sophie wandte sich mit rot geweinten Augen vom Grab ab. »Jetzt hat er alles, was er sich immer gewünscht hat.«
»Du kannst es nicht ändern«, sagte Agatha und fasste sie an der Schulter.
Sophie zuckte zurück. »Ach ja? Du meinst, ich soll ihn einfach machen lassen? Pustekuchen. Diese Hochzeit wird niemals stattfinden.«
»Sophie!«
»Er sollte tot sein! Er und seine beiden kleinen Prinzen! Dafür würde ich gern ins Gefängnis gehen!«
Agatha wich vor ihrem hasserfüllten Gesicht zurück. Zum ersten Mal seit ihrer Rückkehr kam die tödliche Hexe zum Vorschein, die in Sophie schlummerte und mit Macht herausdrängte.
Sophie sah das Entsetzen in Agathas Augen. »T-tut mir leid«, stotterte sie. »I-ich weiß nicht, was mit mir los ist …« Sie errötete, und die Hexe war wieder verschwunden.
»Ich vermisse sie, Aggie«, wisperte Sophie zitternd. »Auch wenn wir unser Happy End bekommen haben. Ich vermisse meine Mutter so sehr …«
Zögernd berührte Agatha Sophies Schulter.
»Wenn ich sie nur ein Mal wiedersehen könnte«, schluchzte Sophie. »Ich würde alles dafür tun, alles.«
Die Uhr des schiefen Kirchturms schlug zehn Mal und das Läuten schallte laut den Hang hinunter – mit langen, unheilvollen Pausen dazwischen. Arm in Arm beobachteten die beiden Mädchen die gebeugte Gestalt des alten Mr Deauville, der einen Bollerwagen mit den Überresten aus seinem aufgegebenen Laden am Turm vorbeischob. Alle paar Schritte hielt er unter der Last der vergessenen Märchenbücher inne, bis sein Schatten aus ihrem Blickfeld verschwunden und die Uhr verstummt war.
»Ich will nicht wie meine Mutter enden – allein und … von allen vergessen«, wisperte Sophie und drehte sich zu Agatha um. »Aber sie hatte auch keine Freundin, wie du eine bist, stimmt’s, Aggie? Du hast auf deinen Prinzen verzichtet, nur damit wir für immer zusammenbleiben können. Wenn du wüsstest, wie viel es mir bedeutet, einem anderen Menschen so wichtig zu sein …« Sophies Augen schimmerten feucht. »Das hab ich nicht verdient, Aggie. Wirklich nicht. Nach allem, was ich getan habe.«
Agatha schwieg immer noch.
»Wenn ich gut wäre, würde ich mich nicht gegen diese Hochzeit stellen«, flüsterte Sophie. »Das denkst du doch auch, oder? Wenn ich so gut wäre wie du.«
Agatha stand auf und streckte ihre Hand aus. »Komm jetzt. Ist schon spät.«
Sophie ließ sich hochziehen. »Und ich muss noch ein Kleid für die Hochzeit auftreiben. Die Braut ausstechen ist das Mindeste, was ich tun kann.«
Agatha nahm schnaubend die Fackel vom Tor. »Warte, ich bring dich nach Hause.«
»Na großartig«, sagte Sophie, ohne stehen zu bleiben. »Damit ich die Zwiebelsuppe, die du zum Abendessen hattest, noch ein bisschen länger riechen kann …«
»Eidechsen-Zwiebelsuppe.«
»Wie komme ich nur zu so einer Freundin?«
Seite an Seite schlüpften die beiden Mädchen durch das quietschende Tor. Ihre lang gezogenen Schatten huschten im Fackelschein über die verwahrlosten Gräber. Als sie den smaragdgrünen Hügel hinunterstiegen, fegte ein Windstoß in den Friedhof zurück und ließ die Flamme der Kerze aufflackern, die vor dem Grabstein von Sophies Mutter stand. Die Flamme schien auf einen blauen Schmetterling, der sich neugierig darauf niedergelassen hatte, und schließlich brannte sie so hell, dass die Reliefs in den beiden namenlosen Grabsteinen daneben deutlich hervortraten. Auf jedem davon war ein Schwan zu erkennen. Ein weißer und ein schwarzer.
Der Wind fegte tosend zwischen ihnen hindurch und blies die Kerze aus.
Blut. Sie roch Blut.
Friss.
Die Bestie stürzte auf allen vieren durch den Wald und jagte mit triefendem Maul ihrem Geruch hinterher. Mit ihren scharfen Krallen hetzte sie über den Boden, schneller, immer schneller, zerfetzte Äste und Ranken, dann sprang sie über die Felsen, bis sie endlich den Atem der Jungen auffing und die rote Spur entdeckte. Einer von ihnen war verletzt.
Friss.
Die Bestie robbte durch einen umgestürzten hohlen Stamm und leckte das Blut auf, roch ihre Angst. Sie ließ sich Zeit, denn sie wusste, dass sie nirgends hinkonnten, und bald hörte sie ihr Winseln. Immer deutlicher zeichneten sie sich im Mondlicht ab, zwischen dem anderen Ende des Baumstamms und einem dichten Dorngestrüpp gefangen. Der ältere Junge, der verletzt und totenbleich war, drückte den kleineren an sich.
Die Bestie riss beide hoch und hielt sie fest, obwohl die Jungen vor Grauen schrien. Sanft schaukelte sie die blutenden, zerkratzten Jungen, die bald zu weinen aufhörten, denn nun wussten sie, dass die Bestie gut war. Bald atmeten die beiden ruhiger an der schwarzen Brust der Bestie, schmiegten sich enger in ihre Arme, die sie immer fester und fester drückten und immer knochiger und spitzer wurden … bis die Jungen hochschreckten …
Und Sophies blutiges Lächeln sahen.
Sophie fiel aus dem Bett und warf ihre Nachtkerze um, sodass Lavendelwachs über die Wand spritzte. Als sie zum Spiegel herumwirbelte, sah sie sich selbst darin, zahnlos, kahl und über und über mit Warzen bedeckt …
»Hilfe!«, würgte sie hervor und schloss die Augen. Nach einer Weile schaute sie wieder hin, und die Hexe war fort. Ihr eigenes schönes Gesicht blickte ihr entgegen.
Voller Panik suchte Sophie ihre bibbernde weiße Haut nach Warzen ab und wischte sich den kalten Schweiß von der Stirn.
Ich bin gut, dachte sie flehentlich, aber es half nichts.
Ihre Hände hörten nicht auf zu zittern, ihr Verstand raste. Sie konnte die Bestie nicht abschütteln, die Bestie, die sie in einer fernen Welt getötet hatte und die sie immer noch in ihren Träumen verfolgte. Sie dachte an ihren Wutausbruch auf dem Friedhof … und an Agathas versteinertes Gesicht …
Du wirst niemals gut sein, hatte der Schulmeister zu ihr gesagt.
Sophies Mund wurde trocken. Sie nahm sich vor, auf der Hochzeit ein lächelndes Gesicht zu zeigen. Und sogar in Bartlebys Laden zu arbeiten. Sie würde das Essen der Witwe hinunterwürgen und Spielsachen für ihre beiden Jungen kaufen. Sie würde in Gavaldon glücklich sein, so wie Agatha.
Hauptsache, die Hexe kam nicht wieder zum Vorschein.
Ich bin gut, wiederholte sie im Stillen.
Der Schulmeister hatte sich getäuscht. Sie hatte Agatha das Leben gerettet, und Agatha hatte sie gerettet.
Sie waren heil nach Hause zurückgekommen. Das Rätsel war gelöst und der Schulmeister tot. Ende der Geschichte. »Eindeutig gut«, flüsterte Sophie vor sich hin und schlüpfte wieder unter ihre Decke. Aber sie schmeckte immer noch Blut.
Nach der stürmischen, nebligen Nacht ging am nächsten Morgen eine strahlende Novembersonne auf. Der Tag war wie gemacht für die Liebe. Hochzeiten waren in Gavaldon immer ein großes Ereignis, aber an diesem Freitag blieben alle Läden geschlossen und der Dorfplatz lag verlassen da, denn Stefan war ein angesehener, beliebter Mann. Das ganze Dorf hatte sich unter dem weißen Zelt im Garten versammelt, die Leute tranken Kirschpunsch und Pflaumenwein, und drei Musikanten fiedelten fröhlich in einer Ecke, obwohl sie noch sehr erschöpft von einer Beerdigung am Vortag waren.
Agatha bezweifelte, ob ihr schwarzer Kittel die angemessene Kleidung für eine Hochzeit war, aber er passte zu ihrer Stimmung. Sie war am Morgen mit finsterer Laune aufgewacht, ohne zu wissen, warum. Sophie braucht dich, ermahnte sie sich, als sie den Hügel hinunterstampfte. Und trotzdem kam sie mit einem Gesicht wie drei Tage Regenwetter in Stefans Garten an. Reiß dich zusammen, sonst machst du Sophie noch unglücklicher!, dachte sie grimmig.
Dann schoss ein rosa Blitz aus der Menge, warf sich auf sie und umarmte sie so wild, dass Agatha ganz in dem bauschigen Rüschenkleid versank.
»Danke, dass du an diesem großen Tag gekommen bist«, gurrte Sophie.
Agatha räusperte sich.
»Ich freue mich ja so für die beiden«, schleimte Sophie weiter und tupfte sich ihre nicht vorhandenen Tränen ab. »Das wird so toll. Jetzt hab ich eine neue Mutter, zwei kleine Brüder und gehe jeden Morgen in den Laden, um … Butter zu stampfen«, würgte sie hervor. »Butter …«
Agatha starrte ihre Freundin an. »Du bist ja wieder in … Rosa!«
»Ja, passend zu meinem guten, liebenden Herzen«, hauchte Sophie und strich sich über die Zöpfe, die mit rosa Schleifen geschmückt waren.
Agatha blinzelte sie an. »Hat dir jemand Kröten in den Punsch getan?«
»Sophie!«
Die beiden Mädchen drehten sich um. Stefan und die zwei Jungen hängten gerade schiefe blaue Tulpengirlanden über dem Altar vor dem Zelt auf. Jacob und Adam standen jeder auf einem Kürbis und winkten Sophie zu sich.
»So niedlich, die beiden Zwerge!« Sophie lächelte zuckersüß. »Ich könnte sie auffressen vor …«
Sie verstummte und ihre Augen wurden starr vor Schreck, aber nur eine winzige Sekunde lang. Dann war es vorbei, und nur ihre tiefen Augenringe blieben zurück. Albtraumnarben. Die hatte Agatha schon einmal an Sophie gesehen.
»Du musst dich nicht verstellen, Sophie«, sagte sie. »Nicht vor mir.«
Sophie schüttelte den Kopf. »Du und ich, Aggie. Mehr brauche ich nicht, um gut zu sein«, stieß sie mit bebender Stimme hervor. Sie fasste Agatha am Arm und schaute ihr tief in die Augen. »Solange die Hexe in mir nicht zum Vorschein kommt … Alles andere kann ich ertragen.« Sie drehte sich zum Altar um. »Ich bin gleich bei euch, meine Süßen!«, rief sie und rauschte mit gekünsteltem Lächeln davon, um ihrer neuen Familie zu helfen.
Agathas Gesicht wurde noch finsterer. Was war nur los mit Sophie?
Dann trat Callis zu ihr und reichte ihr ein Glas Punsch, das Agatha auf einen Zug leerte.
»Hab ein paar Glühwürmchen druntergemischt«, sagte Callis. »Um dein saures Gesicht etwas aufzuhellen.«
Agatha spie einen roten Strahl ins Gras.
»Also wirklich, Schätzchen. Ich weiß, Hochzeiten sind ein Graus, aber du darfst es dir nicht so deutlich anmerken lassen.« Callis nickte nach vorn. »Die Ältesten verachten uns doch sowieso schon. Gib ihnen nicht noch mehr Grund dazu.«
Agatha schaute zum Ältestenrat, den drei bärtigen alten Männern mit ihren schwarzen Zylinderhüten und knielangen grauen Mänteln. Sie schlenderten zwischen den Sitzplätzen herum und begrüßten die Gäste. An der Länge ihrer Bärte konnte man ihr Alter ablesen – der des Ältesten reichte ihm bis weit über die Brust.
»Warum muss man sie um Erlaubnis bitten, wenn man heiraten will?«, fragte Agatha.
»Weil sie Frauen wie mir die Schuld zugeschoben haben, als die ersten Kinder entführt wurden«, antwortete Callis und zupfte Schuppen aus ihrem Haar. »Wenn man damals nicht gleich nach der Schule heiratete, galt man nämlich als Hexe. Deshalb haben die Ältesten alle Unverheirateten in eine Ehe hineingedrängt.« Mit schiefem Lächeln fügte sie hinzu: »Nur mich wollte keiner. Keine Macht der Welt konnte die Männer im Dorf dazu bringen, mir den Hof zu machen.«
Agatha wusste nur zu gut, wovon sie redete. Sie selbst war auch kein einziges Mal zum Ball in ihrer Schule aufgefordert worden. Bis …
»Als die Entführungen nicht aufhörten, lockerten sich die Gesetze, und die Ältesten begnügten sich damit, alle Hochzeiten zu ›genehmigen‹. Ich erinnere mich noch gut an diese schreckliche Zeit«, seufzte Callis und bohrte ihre Fingernägel in ihre Kopfhaut. »Der arme Stefan hat am meisten darunter gelitten.«
»Warum? Was war mit ihm?«
Callis’ Hand sank herunter, als habe sie vergessen, dass ihre Tochter zuhörte. »Nichts, mein Krötchen. Das ist jetzt nicht mehr wichtig.«
»Aber du hast gesagt …«, protestierte Agatha, doch im selben Moment rief Sophie ihren Namen und winkte ihr von der ersten Reihe aus zu.
»Es geht los, Aggie!«
Kurz darauf saßen die beiden Mädchen nebeneinander, nur wenige Schritte vom Altar entfernt. Agatha wartete darauf, dass Sophie die Fassung verlor und ausflippte. Aber ihre Freundin lächelte standhaft, selbst als ihr Vater nach vorn zum Priester schritt. Die Musikanten führten den Festzug an, und Jacob und Adam streuten Rosen auf den Weg, beide in weißen Anzügen. Sophie hatte monatelang gegen ihren Vater gekämpft, gegen die Realität, und vergeblich um Aufmerksamkeit gebettelt. Warum war sie auf einmal so verändert?
Du und ich, Aggie.
Früher war es Agathas sehnlichster Wunsch gewesen, für immer mit Sophie zusammen zu sein. Und sie hatte in der ständigen Angst gelebt, Sophie nicht zu genügen. Dabei hatte sie stets gehofft, dass Sophie sie genauso brauchte, wie sie selbst Sophie brauchte. Nun endlich hatte sie ihr Ziel erreicht. Ihr Happy End.
Aber glücklich war sie trotzdem nicht. Was störte sie nur an dieser Hochzeit? Ehe sie darüber nachdenken konnte, verstummte das Fiedeln und Honora watschelte den Gang entlang, während alle im Zelt sich erhoben. Agatha behielt ihre Freundin scharf im Auge, aber Sophie verzog keine Miene, nicht einmal, als sie die aufgeplusterte Frisur ihrer Stiefmutter sah, ihren dicken Hintern und ihr Hochzeitskleid, das wie eine Wolke aus Zuckerguss um sie herumwogte.
»Liebe Freunde und Anverwandte«, hob der Priester an. »Wir sind hier versammelt, um die Vereinigung dieser beiden Seelen …«
Stefan nahm Honoras Hand und Agatha wurde noch jämmerlicher zumute. Sie zog die Schultern ein und ihr Mund verzerrte sich …
Callis, die auf der anderen Gangseite stand, funkelte sie warnend an, und Agatha zwang sich zu einem gekünstelten Lächeln.
»… die Liebe zwischen Eheleuten beruht vor allem auf Ehrlichkeit und unverbrüchlicher Treue …«, fuhr der Priester fort.
Agatha spürte, wie Sophie sanft ihre Hand nahm, als hätten sie alles, was sie sich nur wünschen konnten.
»Möge eure Liebe wachsen und gedeihen, eine Liebe, die ewig währt …«
Agathas Hand wurde schweißnass.
»Denn ihr habt diese Liebe gewählt, um eurer Geschichte ein gutes Ende zu geben.«
Agathas Herz hämmerte, ihre Haut brannte.
»Und falls niemand unter den hier Versammelten etwas einzuwenden hat …«
Agatha warf sich vornüber und unterdrückte ein Würgen.
»… so erkläre ich euch hiermit …«
Du liebe Güte, was war das denn?
»Zu Mann und …«
Agathas Finger glühte golden und sie schrie erschrocken auf. Sophie warf ihr einen verwunderten Blick zu …
Dann sauste etwas zwischen ihnen hindurch und sie wurden beide zu Boden geschleudert. Agatha drehte sich blitzschnell um und entging nur um Haaresbreite dem nächsten Pfeil, der dicht an ihrer Kehle vorbeizischte. Kinder schrien, Stühle fielen um, alle rannten in Deckung, während unzählige goldene Pfeile über die Menge hinwegsausten und Löcher ins Zelt bohrten. Agatha wirbelte zu Sophie herum, aber das Zelt riss sich von seinen Pfosten los und begrub die kreischende Menge unter sich, es verschlang sie alle, bis nur noch dunkle Silhouetten unter der Zeltplane zappelten. Keuchend robbte Agatha über den zertrümmerten Altar und die zertrampelten Girlanden, während immer mehr Pfeile die Plane zerfetzten. Woher kam das nur? Wer in aller Welt steckte dahinter …?
Agatha erstarrte. Ihr Finger glühte noch heller als zuvor. Das kann doch nicht sein …
Weiter vorn schrie ein Mädchen. Schreie, die unverwechselbar waren. Sophie. Zitternd und schweißüberströmt kroch Agatha unter den umgestürzten Stühlen durch und zerrte den letzten Zipfel der Zeltplane von sich weg, bis ihr ein greller Sonnenstrahl ins Gesicht fiel. Sie raste in den Vorgarten hinaus, auf ein grässliches Blutbad gefasst …
Doch die Leute standen nur sprachlos und stocksteif da und starrten in den Pfeilhagel, der jetzt aus allen Richtungen kam.
Pfeile aus dem Wald.
Agatha riss entsetzt die Arme über den Kopf, bis ihr klar wurde, dass die Pfeile nicht auf sie zielten, genauso wenig wie auf die anderen Dorfbewohner. Egal, aus welcher Richtung sie auch kamen – in letzter Sekunde bogen die Pfeile ab und richteten sich auf ein einziges Ziel …
»Neeeiiiiiiiin!«
Sophie rannte zu ihrem Haus, duckte sich kreischend unter den Pfeilen weg und schlug wild mit ihren Glaspantöffelchen um sich.
»Agatha! Hilf mir, Agatha!«
Doch bevor Agatha eingreifen konnte, riss einer der Pfeile Sophie fast den Kopf ab und sie raste den Hügel hinunter, so schnell sie nur konnte. Die Pfeile jagten hinter ihr her.
»Wer in aller Welt will mich umbringen?«, heulte Sophie die Märtyrer in den Buntglasscheiben und die Heiligenstatuen an.
Agatha saß neben ihr in einer der leeren Bänke. Seit zwei Wochen verschanzte Sophie sich nun schon in der Kirche, dem einzigen Ort, den die Pfeile mieden. Immer wenn sie hinauswollte, begann der Pfeilhagel von Neuem, und jedes Mal schlimmer als zuvor. Jetzt wurden auch Speere, Äxte und Dolche aus dem Wald abgefeuert. Am dritten Tag war schon klar, dass es kein Entrinnen gab. Der unsichtbare Feind, der Sophie ans Leben wollte, würde nicht aufgeben, bis er sie zur Strecke gebracht hatte.
Anfangs fand Sophie ihr Kirchenasyl gar nicht so schlecht. Die Dorfleute brachten ihr Essen (wobei sie auf Sophies »tödliche Allergien« gegen Weizen, Zucker, Milchprodukte und rotes Fleisch Rücksicht nahmen). Agatha brachte ihr Kräuter und Wurzeln, mit denen sie ihre Cremes anrühren konnte. Und Stefan schwor seiner einzigen Tochter, dass die Hochzeit erst stattfinden würde, wenn Sophie heil nach Hause gekommen war. Die Männer durchkämmten den ganzen Wald nach den Mördern, ohne etwas zu finden, und auf dem Dorfplatz tauchte ein Plakat auf: »Für Sophie, unsere tapfere kleine Prinzessin«. Sophie war die Heldin, die diesen neuen Fluch selbstlos auf sich nahm, und der Ältestenrat ließ ihre Statue frisch vergolden. Die Kinder bettelten sie wieder um Autogramme an, und die Hymne von Gavaldon wurde in »Gesegnet sei unsere Sophie« umgeändert. Kräftige Männer hielten abwechselnd Wache vor Sophies Kirche. Und das Theater, so munkelten die Leute, würde in Zukunft nur noch ein einziges Stück zeigen, in dem Sophie natürlich die Hauptrolle spielte.
»Königin Sophie, ein dreistündiges Musical zu Ehren meines Martyriums«, schwärmte Sophie und schnupperte an den zahlreichen Blumensträußen im Gang. »Mit Zirkusnummern und Comedy-Einlagen, und zum Schluss das herzzerreißende Lied: ›Ich bin nur ein einfaches Mädchen‹. Ach, Agatha, ich habe mich so danach gesehnt, einen Platz in diesem langweiligen Dorf zu finden. Dabei brauche ich nur eine Rolle, die groß genug für mich ist, um sie auszufüllen.« Plötzlich hielt sie inne. »Hoffentlich schießen die noch eine Weile weiter. Das ist das Beste, was mir passieren konnte.«
Aber dann ging es erst richtig los.
Eines Nachts zischten Feuerbomben aus den Wäldern, setzten Belles Haus in Brand und machten ihre Familie obdachlos. Am folgenden Abend blubberte siedendes Öl aus den Bäumen und ergoss sich über eine gesamte Dorfgasse. Auf der verkohlten Erde zwischen den qualmenden Häuserruinen hatten die Angreifer immer wieder dieselbe Botschaft hinterlassen:
GEBT UNS SOPHIE!
Am nächsten Morgen, während die Ältesten die erboste Menge auf dem Dorfplatz zu beschwichtigen versuchten, tauchte Stefan in der Kirche auf.
»Die Ältesten sagen, dass wir dich nur auf diese Weise schützen können, Sophie«, verkündete er und hielt einen Hammer und mehrere Vorhängeschlösser hoch.
Agatha wollte Sophie nicht allein lassen, deshalb wurde sie mit ihr zusammen eingeschlossen.
»Ich dachte, unsere Geschichte wäre vorbei!«, schrie Sophie und lauschte auf das Johlen des Mobs draußen: »Schickt sie zurück! Schickt sie zurück!« Kreidebleich sank sie auf ihre Bank. »Warum wollen sie nicht dich, Agatha? Warum bin ich immer die Böse? Und warum werde ich ständig eingesperrt?«
Agatha, die neben ihr saß, betrachtete den Marmorheiligen im Fries über dem Altar. Er reckte sich nach einem Engel, als wollte er ihm bis ans Ende der Welt folgen.
»Aggie?«
Agatha schreckte aus ihren Gedanken und drehte sich um. »Warum? Weil du das einzigartige Talent hast, dir überall Feinde zu machen.«
»Ich wollte doch nur gut sein!«, verteidigte sich Sophie. »So wie du.«
In Agatha stieg wieder die Übelkeit auf, gegen die sie die ganze Zeit ankämpfen musste.
»Aggie, tu was!« Sophie packte sie am Arm. »Du bringst doch sonst immer alles in Ordnung.«
»Vielleicht bin ich gar nicht so gut, wie du glaubst«, murmelte Agatha und beugte sich über ihre Klumpschuhe.
Totenstille trat ein, während sie spürte, dass Sophie sie anstarrte.
»Aggie, warum hat dein Finger geglüht?«
Agatha erstarrte. »Was?«
»Ich hab’s gesehen«, flüsterte Sophie. »Auf der Hochzeit.«
Agatha warf ihr einen Blick zu. »Das muss am Licht gelegen haben. Magie funktioniert hier nicht.«
»Aber die Lehrer haben unsere Finger nie verschlossen, oder?«, wandte Sophie ein. »Und Magie folgt dem Gefühl, falls du dich erinnerst.«
»Ach ja?«
»Du warst nicht gerade fröhlich auf der Hochzeit«, beharrte Sophie. »Hat dich irgendwas aufgeregt? So sehr, dass dir ein Zauber entschlüpft ist?«
Agatha fing Sophies Blick auf, der sich tief in ihre Augen bohrte.
»Ich kenne dich, Agatha«, sagte Sophie. »Ich weiß, warum du traurig warst.«
»Ich wollte es nicht, Sophie«, stieß Agatha hervor.
»Du hast dich über meinen Vater geärgert«, sagte Sophie. »Weil er so gemein zu mir ist.«
Agatha starrte sie verblüfft an, fing sich aber schnell wieder und nickte. »Ja, genau. Du hast mich durchschaut.«
»Zuerst dachte ich, du hättest den Zauber bewirkt, um die Hochzeit zu verhindern. Aber das ergibt doch keinen Sinn, oder?« Sophie schnaubte. »Dann hätten die Pfeile doch nicht auf mich gezielt.«
Agatha lachte krächzend, ohne Sophie anzusehen.
»Also gut, dann war es eben doch das Licht«, seufzte Sophie.
Schweigend saßen sie da und lauschten auf die Sprechchöre draußen.
»Über meinen Vater brauchst du dich nicht aufzuregen. Wir beide kommen schon zurecht«, sagte Sophie. »Hauptsache, wir zwei bleiben Freundinnen, dann hat die Hexe in mir keine Chance.«
Agatha schaute überrascht auf.
»Du machst mich glücklich, Aggie«, fuhr Sophie fort. »Warum hab ich das nicht schon früher begriffen!«
Agatha versuchte ihrem Blick standzuhalten, aber ihre Augen huschten zu dem Heiligen über dem Altar, der seine Hand nach ihr ausstreckte, wie ein Prinz nach seiner Prinzessin.
»Wir finden schon eine Lösung. So wie immer.« Sophie gähnte ein paarmal und trug zwischendurch ihren rosa Lippenstift auf. »Einen Plan, Aggie. Aber erst mal ein kleines Nickerchen …«
Dann rollte sie sich auf der Bank zusammen wie eine Katze, ihr Lieblingskissen auf dem Bauch, mit einem Prinzen und einer Prinzessin darauf, Arm in Arm, und darunter die Worte: »Für immer und ewig«. Nur hatte Sophie Nadel und Faden genommen und den Prinzen umgestickt – jetzt hatte er schwarzes Zottelhaar und finstere Glupschaugen … und er trug einen unförmigen schwarzen Kittel.
Agatha betrachtete ihre Freundin, die bald selig schlummerte. Zum ersten Mal seit vielen Wochen ohne Albträume.
Das Geschrei vor der Kirche wurde immer lauter – »Schickt sie zurück! Schickt sie zurück!« –, und als Agatha auf Sophies Kissen starrte, überkam sie erneut Übelkeit.
So wie beim Anblick des Prinzen in ihrem Märchenbuch zu Hause. Oder auf der Hochzeit, als der Priester gesagt hatte: »… so erkläre ich euch hiermit zu Mann und Frau …« Oder als sie Sophies Hand gehalten hatte und ihr immer heißer geworden war, bis ihr Finger zu glühen begann – von einem Geheimnis, so schrecklich und unverzeihlich, dass sie damit ein Märchen zerstört hatte.
Denn in diesem Moment hatte Agatha sich etwas gewünscht, das sie nie für möglich gehalten hätte.
Ein neues Happy End für ihre eigene Geschichte.
Ein Happy End mit jemand anderem.
Genau in diesem Moment waren die Pfeile auf Sophie losgezischt.
Und sie würden nicht aufhören, sosehr sie ihren Wunsch auch rückgängig zu machen versuchte.