Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, April 2017
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ISBN Printausgabe 978-3-499-63203-7 (1. Auflage 2017)
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Die Seitenzahlen im Bildnachweis beziehen sich auf die Seitenzahlen der Printausgabe.
ISBN 978-3-644-57501-1
«Warum hast du das bloß gesagt?», wiederholt Kai, dieses Mal lauter.
«Ich sag es noch mal: Es schien mir in dem Moment eine gute Idee!», antwortet Kais Gehirn. Es ist überhaupt nicht glücklich. Genauso wenig wie Kai.
Gemeinsam stolpern sie gerade die Treppe zu der Wohnung hinunter, aus der Susanne sie nach einem längeren Streitgespräch hinausbefördert hat.
«Eine gute Idee? Susanne fragt, woran ich denke, und du soufflierst mir: ‹Die Eurokrise›?»
«Es war nur wenig Zeit, eine gute Antwort zu formulieren. Das war eine spontane Eingebung», erklärt Kais Gehirn sachlich. «Es sollte intellektuell wirken.»
«Intellektuell wirken? Wir lagen im Bett!»
«Das habe ich in dem Moment nicht bedacht … Ich habe unter erschwerten Bedingungen gearbeitet: Du warst abgelenkt, da kann ich nicht alles richtig machen», fügt Kais Gehirn verschnupft hinzu.
Kai flucht: «Es würde reichen, wenn du etwas richtig machen würdest!!»
Sein Gehirn redet für den Rest der Woche nicht mehr mit ihm. Genauso wenig wie Susanne.
Wenn Sie Ihr Gehirn besser kennen würden, hätten Sie sehr viel mehr Geduld mit ihm. Das Gleiche gilt für Kai. Und die alltäglichen Probleme des menschlichen Zusammenlebens. Wir meistern sie besser, wenn wir unser Gehirn verstehen. Das sollte eigentlich nicht so schwer sein. Schließlich kennen wir unser Gehirn schon ziemlich lange und arbeiten tagein, tagaus eng mit ihm zusammen. Doch am Ende ist es wie mit dem Smartphone: Wir können es den ganzen Tag mit uns herumtragen, aber wenn uns jemand fragt, was dadrin vor sich geht, antworten wir: «Apps, Silizium … Zeugs?» Und dann wundern wir uns, wenn der Akku dauernd leer ist oder im Kino der Alarm losgeht.
Wenn Sie Ihr Smartphone durchschauen würden, wüssten Sie, was Ihren Akku aufbraucht oder Ihren Speicher füllt. Sie könnten die Phishingsoftware identifizieren, die Ihre Bankdaten ausspäht, oder Sie würden verstehen, warum Ihre Autokorrektur offensichtlich eine Meuterei plant.
Das Gleiche gilt für Ihr Gehirn. Sie hätten mehr Verständnis dafür, dass es zwar weiß, dass Sie etwas vergessen haben, aber nicht mehr was. Oder warum ihm die tollen Antworten immer erst einfallen, wenn Sie längst zu Hause sind und unter der Dusche stehen. Und warum es immer noch diese peinliche Erinnerung heraufbeschwört, die Sie längst vergessen wollten – vorzugsweise nachts um drei.
Sie könnten Ihr Gehirn auch ein bisschen mehr wertschätzen, seine Lernfähigkeit, die Flexibilität, die Dutzenden Rechenoperationen, die es jeden Tag vollzieht. Vor allem im Sozialleben. Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass Susanne noch mal mit Kai essen geht? Wenn man bedenkt, dass er – neben dem Fauxpas mit der Eurokrise – vorhin im Bett die Strümpfe angelassen hat? Was, wenn man beachtet, dass die beiden zu diesem Zeitpunkt schon seit einigen Monaten eine überwiegend glückliche Beziehung führen? Ihr Gehirn findet es leichter, diese Fragen zu beantworten als die, wann sich zwei Züge treffen, die mit jeweils 80 beziehungsweise 160 Stundenkilometern aus 100 Kilometer voneinander entfernten Städten losfahren. Dabei lässt sich letztere Aufgabe mit einer einfachen Formel lösen, während erstere bis heute kein Computer der Welt beantworten kann.
Menschen sind so unberechenbar, dass es jeden Service-Provider lahmlegen würde, das Gehirn aber offenbar nicht. Doch wie kommt das? Wie kann ein Organ Schlüsse über die Gedanken und Gefühle anderer Menschen ziehen, darauf eine einigermaßen passende Antwort formulieren, und das alles, bevor Ihr Gegenüber das Licht ausschaltet und entnervt ins Bett geht? Obwohl ihm über Ihre Sinnesorgane nur erschreckend wenige Informationen zur Verfügung stehen. Wie löst es diese Aufgabe? Was machen unsere 86 Milliarden Nervenzellen eigentlich den ganzen Tag?
Wenn wir das besser verstehen, verstehen wir vielleicht auch alles andere ein bisschen besser. Schließlich entspringen die meisten großen und kleinen Herausforderungen unseres Alltags alle irgendwann mal einem Kopf. Ziemlich häufig unserem eigenen. Ob Sie sich peinlich berührt fühlen, glücklich sind, leicht gereizt oder überbordend vor Energie – das koordiniert vor allem Ihr Gehirn. Es bestimmt auch mit, was Sie antreibt, ob Begeisterung oder hartnäckige Starrköpfigkeit, Konkurrenzkampf oder doch eine heimliche Anziehung. Immer mit dabei: Ihre gesammelten Erfahrungen, Moralvorstellungen und Erinnerungen, kurz: alles, was Sie eigentlich gerne mal entrümpeln würden. Daraus sollen Sie sich jetzt eine objektive Weltsicht basteln?
Und als ob es in Ihrem eigenen Kopf nicht schon verwirrend genug zuginge, muss Ihr Gehirn den ganzen Tag auch noch mit anderen auskommen. Mit den Eltern, dem Partner, Kollegen und dem nervigen Typ in der S-Bahn, der seine Musik auf voller Lautstärke lässt. Während unsere Vorfahren lediglich über Feuermachen, Bären oder harte Winter nachdenken mussten, leben wir in einer hochkomplexen Gesellschaft. Wenn man bedenkt, dass diese Gesellschaft von Menschen für Menschen gestaltet wurde, ist es eigentlich überraschend, dass uns das Zusammenleben in dieser Welt so schwerfällt. Ständig geraten wir aneinander, diskutieren oder schmollen. Auf globaler Ebene sind die Konsequenzen gravierend und manchmal sogar lebensbedrohlich. Mit den Worten des Schriftstellers Douglas Adams: Wir Menschen sind bis jetzt nicht ausgestorben, aber es ist nicht so, dass wir es nicht versucht hätten.
Wussten Sie, dass 1958 ein amerikanisches Flugzeug versehentlich eine Atombombe über South Carolina abwarf? Glücklicherweise ist sie nicht explodiert. Das ist nur ein Beispiel unter vielen für menschliche Doofheit und Zerstörungswut. (Es sei denn, der Weltfrieden ist mittlerweile eingetreten. In dem Fall: Glückwunsch, lesen Sie ruhig etwas anderes. Vielleicht was mit Pferden.) Eigentlich ist es gar kein Wunder. Unser Gehirn konnte ja nicht ahnen, wie sich diese Gesellschaft mal verselbständigt. Die Koordination von ein paar Denkorganen leistet es ziemlich meisterhaft, aber 80 Millionen? Oder sieben Milliarden? Mit Internetverbindungen? Da steht unser Gehirn nun also vor den Geistern, die es rief, und soll über Leute nachdenken, die es nie gesehen hat. Oder aus einer Kurznachricht einen emotionalen Ton herausfiltern. Ständig soll es sich um irgendeine Deadline sorgen und all die Konsequenzen seiner Handlungen bedenken. Obwohl die mittlerweile wirklich unübersichtlich geworden sind. Wie soll es all das durchblicken? Das Problem ist Zeit. Die Welt verändert sich rasend schnell, und unser Gehirn hatte einfach nicht genug Zeit, sich anzupassen. Jetzt ist es überfordert, gerät ins Stolpern, und wir kommen gar nicht hinterher damit, die Scherben aufzukehren.
Aber hier kommt die gute Nachricht: Dank der Neurowissenschaft haben wir in den vergangenen Jahrzehnten eine ganze Menge über unser Gehirn gelernt. Wie es funktioniert, was es braucht und wie wir ihm unter die Arme greifen können, um uns selbst und andere besser zu verstehen.
Soziale Neurowissenschaftler beobachten Menschen, mal in freier Wildbahn, mal im Labor, aber fast immer im Zwiegespräch mit anderen. Vor allem gucken sie, was währenddessen im Kopf der Beteiligten passiert. Sie versuchen, zwei Gehirne zu verstehen, die versuchen, sich gegenseitig zu verstehen. Das verkompliziert die Gleichung natürlich: Ich weiß, dass ich nichts weiß. Aber weißt du, dass ich nichts weiß? Und weißt du, dass ich weiß, dass du das weißt? Und fällt das überhaupt auf? So geht jeder Gedanke hin und her, wie eine stille Post. Ein menschliches Gehirn ist ein Labyrinth. Zwei davon sind ein Spiegelkabinett. Doch die Frage, wie die beiden miteinander umgehen, ist genau die, die wir für das Zusammenleben beantworten müssen.
Aber wenn die Forschung bis dato noch nicht einmal ein Gehirn richtig versteht, ergibt es da überhaupt Sinn, dass wir uns direkt mit mehreren befassen? Die Frage ist berechtigt. Trotzdem lohnt sich der Blick aufs soziale Gehirn.
Denn unser Gehirn arbeitet nicht still für sich in einem Vakuum. Und im Gegensatz zu Physikern können die Neurowissenschaften nicht mal so tun, als ob. Es interagiert mit der Außenwelt und passt sich ständig an. Die anderen sind das Topthema unserer Gedanken. Überlegen Sie nur mal, wie oft Sie selbst an Menschen denken. Wie könnten wir also verstehen, was unser Gehirn den ganzen Tag so tut, wenn wir es immer nur allein betrachten?
Dann also Gehirne im Plural. Fangen wir mit zweien an.
Was passiert, wenn zwei Menschen aufeinandertreffen, und warum wird das oft so schnell kompliziert? Um das zu beantworten, schauen wir uns im ersten Teil des Buches Situationen an, in denen zwei Gehirne zusammenkommen, und versuchen nachzuvollziehen, was dabei in ihnen vorgeht. Wie verstehen wir, was der andere tut, was er fühlt und was er überlegt? Wie überlebt das Gehirn ein Arbeitsessen oder ein Paargespräch? Und wie schafft es das, dabei so selten mit Gegenständen um sich zu werfen? Wie funktioniert das in unserem Kopf? Wann und von wem haben wir das gelernt? Und vor allem: Was kann dabei schieflaufen? Beziehungsweise was können wir daran verbessern? Lieber mehr oder weniger auf die Hormone hören? Redet unser Verstand eigentlich mit unseren Gefühlen? Und wenn wir jetzt ein Trainingsprogramm bestellen, kriegen wir dann noch ein Gratis-Messerset dazu?
Fragen über Fragen, und die Suche nach Antworten führt uns auf eine Reise durch die sozialen Neurowissenschaften, vorbei an diversen Kleinkindern, irrationalen Ängsten, ein paar Abgründen, romantischen Gefühlen und dem ein oder anderen Primaten.
Im zweiten Teil vervielfachen wir die Anzahl der beteiligten Gehirne. Was mussten wir lernen, um in Gruppen klarzukommen? Einem Großraumbüro, einer Stadt, einem Land. Und wie gut können wir das? Woran scheitert Zusammenarbeit? Und wäre eine einsame Insel nicht auch eine Option?
Es wird um Vertrauen und Rache gehen, um Hilfsbereitschaft und Bußgelder, um Mitläufer und um die Frage: Wo kämen wir denn dahin, wenn das jeder täte? Moralisch sehr hügeliges Gelände. Inklusive Trittbrettfahrer und unklarer Verhältnisse. Das reinste Chaos. Aber finden wir heraus, was die Denkmuster sind, die Zusammenleben so schwermachen! Wer weiß, vielleicht können wir die umtauschen? Wie also funktioniert Gesellschaft, was können wir ändern, und warum tun wir uns das Ganze überhaupt an? Oder anders gefragt: Für welche Gesellschaft sind wir gemacht? Und warum leben wir dann nicht dadrin?
Am Ende der Reise können wir die Aussicht genießen und noch mal einen Ausblick wagen mit der Frage: Geht das noch besser? Ist unser Gehirn sozial lernfähig? Schließlich ist es grundsätzlich plastisch. Das heißt, es kann sich abhängig von seiner Verwendung und den Geschehnissen um sich herum verändern. Und das tut es auch ständig – nur nicht unbedingt so, wie wir das gern hätten. Aber vielleicht können uns die sozialen Neurowissenschaften ja etwas dazu sagen: Können wir unser Wissen nutzen, um den Menschen ein bisschen besser zu machen? Wer könnte dieser bessere Mensch überhaupt sein? Und ist er eine gute Gesellschaft?
«Ich hab eine Stunde an der U-Bahn gestanden, ist dir das klar?», regt Jan sich auf.
«Aber das ist doch nicht mein Problem, ich hab drei Uhr gesagt!», erwidert Torsten.
«Du hast zwei Uhr gesagt! Eine ganze Stunde … Und ich hatte nicht mal mein Handy dabei.»
«Ja, schön blöd, sonst hättest du einfach anrufen können!»
Das ist ein ziemlich gutes Argument. In Ermangelung einer schlagfertigen Antwort verlegt sich Jan auf Schmollen und Grummeln. «Ist ja jetzt auch egal, dann gehen wir halt in die nächste Vorstellung.»
Immerhin kriegen sie noch Kinokarten für halb vier. Das Licht geht aus, der Film beginnt. James Bond fährt durchs schottische Hochland. Zwei Autos verfolgen ihn. Bond drückt das Gaspedal durch. Aber vorne ist ein Laster, gleich wird er da reinrasen, o Gott, er … Jan beugt sich langsam zu Torsten und flüstert: «Ich bin mir ganz sicher, du hast zwei gesagt.»
In dieser Situation kann nur einer von beiden recht haben. Und Ihr Gehirn weiß sehr genau, dass Sie es sind. Obwohl es im Alltag weit mehr Fehlerquellen gibt, als es das wahrhaben möchte. Dank seiner Vorarbeit wird die Welt klar und übersichtlich.
Wenn wir verstehen wollen, was passiert, wenn zwei Gehirne aufeinandertreffen, und warum das nicht immer gleich gut funktioniert, ist der erste Schritt einzusehen, dass es diese Fehlerquellen gibt. Entgegen allen Beteuerungen. Mit dieser Geisteshaltung im Gepäck, können wir viele der Stolperfallen auf unserer Reise besser vorhersehen. Wie kommen die Fehler also in den Kopf?
Dafür müssen wir uns das Rohmaterial genauer angucken, mit dem unser Gehirn arbeitet, uns klarmachen, wie abstrakt die Informationen sind, die dort ankommen. Ein Kinosaal ist dafür keine schlechte Metapher. Auch Ihr Gehirn arbeitet ohne Licht. Es hat nicht mal eine Leinwand. Keinen Lautsprecher. Das einzige Signal, das es erhält, ist das Feuern von Nervenzellen. Feuern/Still. Ein/Aus. Das sind die Informationen, die unserem Gehirn zur Verfügung stehen. Unsere Selbstwahrnehmung, die Kontraktion unserer Muskeln, Druck, Schmerz. Dazu kommen die Informationen, die die Sinnesorgane übermitteln: Schallwellen, Licht, Wärme, Geschmack, Berührung, Geruch … Doch gerade mit Letzterem kann ein modernes Säugetier, wie wir es sind, ohnehin nicht mehr allzu viel anfangen.
In dieser Welt aus Dunkelheit und kurz aufflammenden Blitzen versteht es sich nicht von selbst, was ein Stuhl ist oder ein Mensch oder ein Lächeln oder ein sarkastischer Unterton. Und dennoch müssen wir mit all diesen Dingen umgehen und ständig adäquate Reaktionen generieren. Irgendwer will immer irgendwas von uns. Das Gehirn lebt gewissermaßen im Dunkeln, aber allein ist es nie. Deshalb muss es verdammt hart arbeiten. Und wo gehobelt wird, fallen Späne. Und manchmal passieren Fehler.
Wenn Torstens Gehirn wissen will, wie nah sich Jan gerade im Kinosaal zu ihm herüberbeugt, dann vergleicht es, wann und wie laut die Nervenzellen des rechten und die des linken Ohres ihn gehört haben. Daraus ermittelt es die Differenz und den Standpunkt. Räumliches Hören nennt man das, und wir verdanken es zum Großteil der Tatsache, dass wir uns auf die Informationen von zwei Ohren verlassen können, also binaural hören.
Die Rechenoperationen, die dabei ablaufen, ähneln denen eines Computerprogramms, das auch nur Einsen und Nullen nutzt und es damit trotzdem schafft, Wegbeschreibungen, Spracherkennung und Google-Suchen nach Expartnern durchzuführen. Wo Torsten eine Benutzeroberfläche braucht, reichen dem Programm zwei Zeichen. Genau wie seinem Denkorgan. Praktisch heißt das, dass Torstens Gehirn weitaus komplexere Programmiersprachen versteht als er selbst. Es heißt aber auch, dass dieses Gehirn sehr umständliche Verarbeitungsprozesse zur Wahrnehmung einfacher Zusammenhänge braucht. Von den Milliarden Nervenzellen oder auch Neuronen und den Tausenden von Arbeitsschritten, die dafür nötig sind, merken wir fast nichts. Warum auch? Das System funktioniert ja relativ verlässlich.
Visuelle Wahrnehmung zum Beispiel gibt es seit Millionen Jahren, auch bei Lebewesen, die sonst eher doof sind. Und bis jetzt hat sie uns ziemlich erfolgreich davon abgehalten, gegen Bäume zu laufen. Das weckt Vertrauen. Doch an dem Bild, das Sie jetzt gerade sehen, wurde eifrig vom Gehirn herumgebastelt, bevor es Ihr Bewusstsein erreicht hat. Das Abbild der Wirklichkeit, das Ihr Gehirn bekommt, ist nur in der Mitte scharf und farbig und ansonsten verwischt und schwarzweiß. Dreidimensional ist es sowieso nicht. Die Tiefe muss aus zwei Einzelbildern mühselig konstruiert werden. Und dann steht auch noch alles auf dem Kopf, wenn es auf die Netzhaut trifft.
Aber Ihr Gehirn erledigt das perfekt, glaubt es zumindest. Es dreht das Bild, färbt die Ränder und konstruiert die dritte Dimension. Das, was Sie in diesem Moment sehen, wurde stärker gephotoshopt als die letzte Bikinimoden-Werbekampagne für H&M. Wenn Sie sich jemals einer Sache im Leben sehr sicher sind, denken Sie einfach daran. Einen Großteil von dem, was Sie sehen, hat Ihr Gehirn freundlicherweise selbst beigesteuert.
Blättern Sie einmal um: Welchen Gesichtsausdruck hat Margaret Thatcher auf dem Foto?
Die Thatcher-Illusion zeigt, was mit unserer außergewöhnlichen Gesichtserkennungsfähigkeit passiert, wenn man sie ein kleines bisschen durcheinanderbringt – und vielleicht auch, wie unser Gehirn mit Einzelheiten verfährt, wenn es erst mal einen Gesamteindruck hat. Entdeckt und hier freundlicherweise zur Verfügung gestellt wurde die mittlerweile weltberühmte Illusion von Prof. Peter Thompson von der University of York.
Es steht auf dem Kopf, genauso wie jedes Bild, das Ihr Gehirn wahrnimmt. Sollte also nicht so schwer sein. Aber drehen Sie das Buch mal um. Sieht es so aus, wie Sie dachten? «Die Einzelteile kenn ich», hat sich Ihr Gehirn gedacht. Was braucht man mehr?
In allem, was wir wahrnehmen, steckt eine ganze Menge Eigenleistung. Oder eigene Interpretation. Oder Missverständnis. Oder maßlose Übertreibung. Kein Wunder, wenn es dabei mal etwas durcheinanderbringt.
Zugegebenermaßen begegnen Ihnen Gesichter aus dieser Perspektive eher selten (außer Sie küssen Spiderman). Doch verschiedene Informationen müssen Sie ziemlich häufig integrieren. Erst recht, wenn mehr als ein Sinnesorgan involviert ist. Und dann wird Ihr Gehirn wirklich kreativ.
Erhält es zum Beispiel unterschiedliche Informationen aus dem Gleichgewichtsorgan und dem visuellen Cortex, liefert es Ihnen keine Fehlermeldung. Stattdessen ist es lieber drei Stunden seekrank wie ein Matrose in der Probezeit. Oder ganze fünf Jahre lang wie Charles Darwin auf seiner Reise mit der HMS Beagle.
Auch beim Hören ist das so. Der Buchstabe, den Sie wahrnehmen, wird zusammengesetzt aus der Lippenbewegung, die Sie sehen, und dem Ton, den Sie hören. Die Neuronen, die dafür verantwortlich sind, heißen bimodale Neuronen und helfen uns, ein Maximum an Information aus unserer Wahrnehmung herauszuziehen. Oder uns komplett zu verwirren. Und damit sind wir auch schon in der Welt des Sozialen angekommen. Um sein Gegenüber zu verstehen, greift das Gehirn auf so gut wie alle Informationskanäle und Integrationsmöglichkeiten zurück, die ihm zur Verfügung stehen.
Konfrontiert man Versuchspersonen mit Videoaufnahmen eines Menschen, der mit seinen Lippen ein «ga» formt und legt eine Tonspur von einem «ba» darüber, entscheidet das Gehirn sich für den kleinsten gemeinsamen Nenner: Sie glauben, ein «da» zu hören1. Ja, ein «da», ganz eindeutig. Doch, das hat er gesagt. Da kann am Telefon schon einmal eine zwei für eine drei durchgehen. Immerhin fehlen 50 Prozent der Information. Oder denken Sie erst an eine ruckelige Skype-Verbindung. Deshalb machen Sie manchmal das Bild aus, um besser hören zu können. Merke: Lieber weniger Informationen als missverständliche. Ansonsten greift Ihr Gehirn zur kreativen Problemlösung.
Positiv gesagt: Es zieht so viele Informationen zu Rate, wie es nur kann, um seine sozialen Aufgaben zu bewältigen. Konfrontiert mit einer komplexen Welt, greift es tief in die Trickkiste, um Sie sicher durch den Tag zu bringen. Meistens mit Erfolg. Es erkennt Gesichtsausdrücke unabhängig von Geschlecht, Gewicht, Kultur, Alter oder Bärtigkeitsgrad des Gegenübers. Es kann sogar ein echtes Lächeln von einem falschen unterscheiden. Negativ gesagt: Ihr Gehirn braucht dafür jede Menge Vereinfachungen, Kurzschlüsse und ein paar Grundannahmen, die es gerade vergessen hat, Ihnen mitzuteilen. Und wenn es auf Schwierigkeiten stößt, behelligt es uns damit nur ungern. Das alles tut es schon, um zu verstehen, was sich direkt vor unseren Augen abspielt. Wie soll es erst werden, wenn es versucht zu interpretieren, was unsichtbar in einer der kompliziertesten Strukturen der Welt vor sich geht: einem anderen menschlichen Gehirn, in diesem Fall dem von Jan. Denn die problematischen Verhaltensmuster unseres Gehirns begegnen uns nicht nur bei Wahrnehmungsaufgaben, sondern auch in der sozialen Kognition.
Genau darum geht es jetzt im ersten Teil: Was genau läuft in Ihrem Kopf ab, wenn Sie einer anderen Person gegenüberstehen? Fangen wir einfach an, nehmen wir nicht gleich Ihren Partner. Nehmen wir eine unbekannte Person. Schon die brauchen wir dringend genug. Wie würden wir durchs Leben kommen ohne unsere Hausärztin, den Sachverständigen vom Wasserwerk, die Kassiererin von Edeka oder unseren Heiztechniker? Schon bei diesen unpersönlichen Interaktionen muss Ihr Gehirn jede Menge Fragen beantworten. Wie begrüße ich den Gesprächspartner, wie viel Abstand halte ich, möchte er sich unterhalten oder nicht, ist er Freund oder Feind – und gibt man eigentlich einem Heizungsmechaniker Trinkgeld? Was genau passiert also, wenn in der Schaltzentrale plötzlich das charakteristische Feuern erscheint, das uns ankündigt: «Achtung, ein Mensch!». Wie generieren wir Sinn aus Bildern und Tönen und formen dann eine Antwort, die der Situation angemessen ist?
Also alles auf Anfang: Zwei Gehirne treffen aufeinander. Sehen Sie die Szene vor sich? Ein Raum, weiße Wände. Vielleicht zwei Stühle. Ein Tisch. Zwei Unbekannte, die sich gegenübersitzen und nicht genau wissen, was sie machen sollen. Im Dunkeln zwei Gehirne, die auf ein Zeichen warten. Ein Feuern. Ein Wort, einen Blick. Das ist der Ausgangspunkt unserer Reise. Was passiert jetzt?
Kennen Sie das? Sie sind gerade im Meeting, alle gucken sehr ernst, und es ist echt kein guter Zeitpunkt zum Lachen, aber dann macht die Chefin diese Sache mit ihren Haaren, die sie immer macht. Diese Geste, die Barbara aus der Buchhaltung so gut nachmachen kann. Und alle müssen kichern, aber Sie dürfen jetzt nicht loslachen. Nein. Lippen zukneifen. Und … O Gott … Bloß. Niemanden. Angucken. Sie verbringen die nächste Viertelstunde damit, angeregt auf Ihre Kaffeetasse zu starren.
Lachen ist ansteckend. So wie vieles andere auch. Menschen sind die geborenen Nachahmer. Das ist die erste Beobachtung, die wir machen können, wenn unsere zwei Unbekannten aufeinandertreffen. Sie machen die Bewegungen des anderen nach. Verschränkt Person eins die Arme, tut das auch Person zwei. Gleiches gilt für das Kopfabstützen, Vorbeugen oder Beineüberkreuzen. Gähnen macht sofort die Runde. Und lacht der eine, lacht der andere lauter.
Diesen Chamäleon-Effekt2, auch soziale Ansteckung genannt, kann man nutzen, um ein Großereignis zu provozieren. Es braucht zum Beispiel ungefähr 17 Menschen, um die halbe Fußgängerzone nach oben schauen zu lassen und 30 für eine La-Ola-Welle im Stadion.3, 4 Probieren Sie’s aus. Und die Teilnehmer, genauso wie unsere zwei Versuchsobjekte, haben guten Grund zum Imitieren: Spiegeln ist eine tolle Strategie, um sich beliebt zu machen2. Person zwei wird später sagen, sein Gesprächspartner hätte sehr gute Ideen gehabt und informiert gewirkt. Menschen, die stärker spiegeln, werden als intelligenter, offener, wacher und allgemein liebenswerter wahrgenommen. Schüler, die ihre Lehrer spiegeln, haben bessere Karten bei der Notenvergabe, das Gleiche gilt für den Chef und die neue Partybekanntschaft.
Würde Person eins nicht spiegeln, würde der andere ihn auch gegenteilig wahrnehmen. Besonders überraschend ist es, wenn wir erwarten, dass uns jemand ähnelt5, und dann schlägt er plötzlich nicht die Beine übereinander, wenn wir das tun. Wir reagieren verwirrt und irgendwie verärgert. So wie wir immer schwer perplex sind, wenn der Partner ganz plötzlich eine andere Meinung hat.
Die allererste Antwort auf die Frage «Was passiert, wenn zwei Menschen aufeinandertreffen?» ist also: Sie beginnen einander nachzumachen. Das ist das erste Verhalten, das wir erklären müssen.
Spiegeln wir denn bewusst? Angesichts der Vorteile, die es bringt, liegt es nahe (man spricht auch vom Effekt der Sozialen Erwünschtheit). Zugegebenermaßen kommt es ziemlich selten vor, dass wir uns spontan einem Stadiongesang anschließen, ohne etwas davon mitzukriegen, à la «Huch, eigentlich bin ich doch für Dortmund». Auch den Tipp, dass man sich vorbeugen soll, wenn sich das Gegenüber vorbeugt, haben Sie bestimmt schon mal im Bewerbertraining bekommen. Oder von Dr. Sommer.
Doch wir spiegeln auch, wenn das Gegenüber unfreundlich wirkt6. Und oft behalten wir das bei, wenn es schon längst weg ist7. Vieles passiert unbewusst. Sie passen Ihre Stimmlage der des anderen an, die Weite der Pupillen8, sogar der Atemrhythmus9 gehen in Einklang über. Am Ende der Unterhaltung sind Sie zwar keine Meile in seinen Schuhen gelaufen, aber annähernd in seinem Körper.
Wenn sich zwei Menschen begegnen, verfallen sie also quasi automatisch in einen merkwürdigen Einklang. Ist dieses Verhalten natürlich oder erlernt? In solchen «Nature versus Nurture»-Debatten streitet man üblicherweise jahrzehntelang erbittert darüber, ob ein Phänomen angeboren oder antrainiert ist, um am Ende herauszufinden, dass irgendwie beides zutrifft. Generell gilt: Auch automatisches Verhalten kann sozial geprägt sein. So wie Sie auch Ihr Gähnen oder Lachen dem Kontext anpassen.
Es fällt leicht, sich vorzustellen, warum sich das Spiegeln evolutionär durchgesetzt hat. Ansteckungsmechanismen ergeben besonders in Gruppen Sinn. Sich kratzen zum Beispiel. Wenn Ihr Sitznachbar nicht damit aufhören kann, ist es praktisch, dass es Ihnen jetzt auch so geht. Lieber alle Flöhe gleich zum Nachbarn zurückschicken, als zu Hause eine Pension aufzumachen. Oder Gähnen. Stellen Sie sich vor, Sie wollen als Gruppe auf eine Völkerwanderung gehen und einer bleibt die ganze Nacht wach und liest Krimis. Am nächsten Morgen ist er müde und hält die anderen auf, und das war’s mit Ihrem evolutionären Vorteil. Lieber ordentlich gähnen, bis alle müde sind. Aber es könnte auch gut sein, dass wir einfach im Laufe unseres Lebens lernen, welches Verhalten bei den anderen gut ankommt und bei welchem sie eher wegrennen.
Wenn sie nicht wissen, wie etwas angefangen hat, schauen sich Wissenschaftler gerne kleine Kinder an. Das ist tröstlich. Da geht es einem gleich besser. Außerdem ist es informativ. Erst mal weil Kleinkinder den Vorfahren vor sechs Millionen Jahren wahrscheinlich ähnlicher sind als die durchschnittliche Psychologiestudentin, die sich sonst in wissenschaftliche Studien verirrt.
Denn die Entwicklung einer Spezies ähnelt der ihrer Individuen. Es ist ein bisschen so, als würde jeder Einzelne von uns die komplette Evolution noch mal im Schnelldurchlauf vollziehen («Was bisher geschah …»). Außerdem haben Kinder noch nicht so viel Zeit unter Menschen verbracht und sind weniger kulturell beeinflusst. Damit hatten sie auch weniger Möglichkeit, das Spiegeln zu lernen. Die beste Art, ganz sicher zu sein, woher das Spiegeln kommt, wäre darum gewesen, quasi direkt mit der gebärenden Mutter ins Krankenhaus zu fahren, ihr das Baby zu entreißen und ihm dann eine halbe Stunde Grimassen zu schneiden, um zu schauen, wie es reagiert.
Gut, dass jemand genau das getan hat. Nämlich die Psychologen Andrew Meltzoff und Keith Moore 1977.10 Natürlich mit Einverständnis der Eltern. Das jüngste Neugeborene, das an diesen Experimenten teilnahm, war zarte 42 Minuten alt. Eines der ersten Dinge, die es in dieser Welt zu sehen bekam, war … nun ja … das da:
Was das Kind sich dabei gedacht hat, ist leider nicht überliefert. Wohl aber was es tut. Unabhängige Beobachter, die nur das Gesicht des Kindes sehen konnten, bestätigten: Es imitierte, streckte die Zunge heraus, öffnete den Mund. Oder etwas anschaulicher:
Damit war geklärt: Imitieren liegt in unserer Natur. Jedenfalls solange niemand vorbeischaut und sich eine bessere Erklärung einfallen lässt. Das ist ziemlich beeindruckend, wenn man bedenkt, dass das Baby noch nie einen Spiegel gesehen hat. Fast noch nie einen Menschen. Es weiß nicht, wie seine Zunge aussieht. Vielleicht nicht einmal, dass es eine hat. Und doch: Wenn ihm die Zunge herausgestreckt wird, streckt es zurück. Das haben mittlerweile mehr als 20 weitere Studien bestätigt. Neugeborene können schon vier Dinge imitieren: Mund- und Handbewegungen, Zungenstrecken und Schmollmünder. Dabei kommen sie nie mit den Körperteilen durcheinander. Sie bewegen nicht aus Versehen den Fuß oder machen einen Schmollmund. Menschen spiegeln sich also von Geburt an und zum Teil unbewusst. Das macht die Antwort auf die Frage, was dabei in ihrem Kopf vor sich geht, fast noch schwieriger.
Wenn Sie schon imitiert haben, als Sie sonst fast nichts konnten, dann heißt das, wir suchen nach einem Mechanismus, der simpel genug ist, dass Babys ihn hinbekommen, aber komplex genug, damit er dutzende verschiedene Wahrnehmungen in Bewegungen umsetzt. Wie machen Sie das? Woher weiß Ihr Gehirn, was Sie nicht wissen?
Es ist an der Zeit, unsere zwei Versuchspersonen in den Scanner zu legen – metaphorisch, denn in Wirklichkeit wollen wir natürlich wissen, welche Bilder uns die Tausende von Studien zeigen, die es bis jetzt zu dem Thema gibt. Also: Was geht in ihren Köpfen vor, wenn sie andere Leute beobachten? Gucken wir Menschen zu, die Menschen zugucken!
Heutzutage ist das menschliche Gehirn keine Black Box mehr. Wir Neurowissenschaftler haben freie Sicht in den Kopf unserer Versuchspersonen. Oder so etwas Ähnliches. Denn was wir sehen, ist leider längst nicht so klar, wie es auf den schönen bunten Bildern immer aussieht. Es ist so wie mit der visuellen Wahrnehmung, bei der wir uns auch vorgenommen hatten, etwas skeptischer zu sein mit dem, was wir sehen.
Darum sollten wir uns mal kurz im Labor umschauen. Mit welchen Werkzeugen arbeiten wir? Was können sie uns mit Sicherheit zeigen und was nur vielleicht oder gar nicht? Also einmal kurz Neurowissenschaften in der Nussschale, bevor wir die Maschinen anwerfen.
Vor der Erfindung der Elektroenzephalographie (kurz: EEG) und der funktionellen Magnetresonanztomographie (kurz: fMRT) war beinahe die einzige Möglichkeit, das Gehirn am Menschen zu erforschen, in Fallstudien interessante Menschen zu beobachten und zu warten, bis sie eines Tages starben. Danach guckte man sich ihr Gehirn an, um herauszufinden, was man vergessen hatte, sie zu fragen. Einige dieser Erkenntnisse haben tatsächlich die Zeit überdauert.
Der französische Arzt Paul Broca zum Beispiel behandelte im 19. Jahrhundert mehrere Patienten, die ihre Sprache verloren hatten. Nach ihrem Tod untersuchte er ihre Gehirne und stellte bei allen Schädigungen in einer bestimmten Region fest. Dieses Areal wird auch heute mit Sprachproduktion in Verbindung gebracht und trägt inzwischen seinen Namen: das Broca-Areal.
Andere posthume Untersuchungen, wie die von Einsteins Gehirn – der er übrigens nie zugestimmt hat –, führten zu ziemlich spekulativen Ergebnissen. Das Einzige, was sich dabei mit Sicherheit feststellen ließ: Es kommt nicht auf die Größe an. Einsteins Gehirn war etwas kleiner und leichter als das des Durchschnittsmenschen. Man braucht eben in der Regel mehr als ein Gehirn, um allgemeingültige Erkenntnisse zu gewinnen. Und Stephen Hawking lebt noch.
Dann kamen neue Techniken, die erlaubten zu verstehen, welche Gehirnregionen in welchem Moment aktiv sind beziehungsweise wie viel Sauerstoff in welchem Moment an welche Stelle des Gehirns transportiert wird – die Hämodynamik des Gehirns – und wo es gerade besonders viele Schwankungen in der elektrischen Ladung der Zellen gibt.
Beide Maßnahmen, fMRT und EEG, sind ziemlich indirekt. fMRT, die Methode, bei der Menschen in eine Röhre geschoben werden, macht es sich zunutze, dass Blut, das besonders stark mit Sauerstoff angereichert ist, andere magnetische Eigenschaften hat als jenes, in dem wenig Sauerstoff enthalten ist. Ist ein Teil des Gehirns besonders aktiv, wird dort mehr Sauerstoff verbraucht. Also muss Nachschub geliefert werden, und den daraus resultierenden Sauerstoffanstieg kann der Magnetscanner erfassen.
Weil dieser Effekt aber erst mit Verzögerung eintritt, ist fMRT zeitlich sehr ungenau. Es ist schwer zu sagen, was zuerst passiert und für welche Neuronen genau der Sauerstoffschwall bestimmt ist, den das Blut zu den Zellen transportiert. Einer meiner Professoren hat es mal so beschrieben: Man läuft einem Rasensprenger hinterher und guckt, auf welche Tulpe er zielt. Immerhin sagt uns fMRT aber, welches Beet bewässert wird, also welches Areal aktiv ist. Und das ist schon eine ganze Menge. Zumal es dabei nicht stört, wenn die Versuchsperson noch lebt.
EEG, die Methode mit den Elektrodenkappen, misst Spannungsschwankungen an der Schädeloberfläche und ist dabei zeitlich sehr akkurat, die räumlichen Informationen sind aber noch gröber, denn sie erfasst überlappend alle Signale, die die Oberfläche erreichen. Um die Aktivität einzelner Nervenzellen aufzunehmen, müsste man Elektroden direkt im Gehirn anbringen. Beim Menschen wird solch ein invasives EEG aus Sicherheitsgründen nur angewandt, wenn es dafür zwingende medizinische Gründe gibt, zum Beispiel das Zentrum epileptischer Anfälle lokalisiert werden soll. In solchen Fällen dürfen die Neurowissenschaftler mit Einwilligung des Patienten ein paar Daten mitsammeln. Das ist als solches übrigens ganz schmerzlos. Das Gehirn selbst besitzt keine Schmerzsensoren. Es ist nicht in der Lage zu fühlen, wenn daran operiert wird.
Mit diesen zwei Methoden haben wir schon eine Menge von dem verstanden, was Neurowissenschaftler so umtreibt. Ein typisches, zeitgenössisches Laborgespräch gefällig?
«Es war eine ziemlich große Studie, n = 176 2 x 2 Design. Wir mussten ständig den 3-Tesla-Scanner besetzen, und die Datenanalyse hat den ganzen Monat gedauert. Vier Mal den Server gecrasht.»
«Nur vier Mal, nicht schlecht!»
«Die IT gesagt, wenn ich noch einen Endlos-Loop einbaue, redet sie nicht mehr mit mir. Und da hatten wir nur das Preprocessing fertig.»
«Und welche Analyse hast du für die Konnektivität genommen? PPI oder DCM?»
«DCM, weil wir effective connectivity brauchten. Und die hat dann das Model ausgespuckt, wo AI den TPJ hemmt. Und der T-Test gegen null meinte, der Unterschied ist signifikant.»
«Spannend! Eine Frage: Auf deiner Folie, das ‹L› neben der Gehirnhälfte, heißt das links von mir oder vom Gehirn aus gesehen?»
«Das muss ich nachschauen.»
Abseits von diesen Verfahren, fMRT und EEG, bleiben fast nur gröbere Methoden und die Möglichkeit, Experimente so oft zu wiederholen, dass möglichst viele Fehlerquellen herausgerechnet werden können. Und jedes Mal nutzen wir dabei definitiv mehr als zwei Versuchspersonen. Auf diese Weise konnten in den letzten zwanzig Jahren Dutzende Erkenntnisse zusammengetragen, verglichen, verworfen und diskutiert werden. Manches bezieht sich auf Einzelstudien und ist mit Vorsicht zu genießen, anderes wurde schon so oft gefunden, dass wir es mit etwas mehr Selbstbewusstsein behaupten können. In der Gesamtheit bringt uns hoffentlich beides dem Verständnis ein Stück näher. Immerhin haben einige dieser Erkenntnisse die sozialen Neurowissenschaften revolutioniert. Ein solcher Riesenschritt war auch die Entdeckung der Spiegelneuronen.
Schon der erste Blick auf das Scannerbild hält eine Überraschung bereit. Unsere Versuchsperson zeigt Aktivierung im motorischen Cortex. Wir sehen Bewegungsmuster im Gehirn eines Probanden, der gerade flach und regungslos auf dem Rücken liegt. Bei der ersten Sichtung eine Sensation.
Dieses Phänomen ist inzwischen Pop. Jeder spricht über Spiegelneuronen. Um ihre Entdeckung ranken sich Legenden, und wie bei den meisten guten Geschichten hat jeder eine andere Version zu erzählen. Aber alle haben mit Essen zu tun. Es beginnt in den Neunzigern mit einem Experiment des italienischen Neurophysiologen Giacomo Rizzolatti (äußerlich Typ Mark Twain), der die Gehirnaktivierung von Affen untersuchen wollte, während sie nach etwas greifen. Als Messmethode wurde invasives EEG genutzt. Den Affen wurden also Elektroden eingesetzt, die die Reaktion einzelner Nervenzellen aufnahmen.
Was dann passierte, ist unklar. Hat ein Hiwi in der Mittagspause den Obstkorb geplündert, hat der Doktorand dem Affen Erdnüsse geklaut? Auf jeden Fall beobachtete der Affe wohl jemanden beim Essen, während er schon für das Experiment verkabelt war. Und damit hatte man plötzlich eine Aufnahme davon, was in seinem Kopf passiert, wenn nicht er, sondern ein anderer nach etwas greift. Die beeindruckende Erkenntnis: Die Aktivierung war in einigen Zellen fast dieselbe. Spätere Studien bestätigten dieses Ergebnis im menschlichen Gehirn, und zwar nicht nur für einzelne Neuronen, sondern ganze Gruppen.
Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen: In unserem Hirn sind zum Teil dieselben Neuronen aktiv, unabhängig davon, ob wir selbst etwas tun oder ob wir andere dabei beobachten. Wahrnehmung und Ausführung einer Bewegung teilen sich ähnliche Netzwerke. Das passiert also im Kopf unserer Versuchspersonen, wenn sie dem anderen gegenüberstehen: Sie reflektieren seine Bewegungen. Wenn die eine Person die Hand hebt, dann feuern im Kopf der anderen viele Neuronen, die auch aktiv wären, wenn sie die Bewegung selbst ausführen würde. Besonders im prämotorischen Cortex und in bestimmten temporalen und frontalen Gyri (das sind die Erhebungen auf der Gehirnoberfläche). Das Gehirn verarbeitet die Bewegungen des anderen auf dem gleichen Weg, auf dem es auch die eigene Bewegung codiert. Die Verbindung, die so zwischen Wahrnehmung und Ausführung besteht, bezeichnet man in der Forschung als Perception-Action-Link. Die Neuronen, die dafür verantwortlich sind, heißen Spiegelneuronen oder, aus gegebenem Anlass, auch «Monkey-see-Monkey-do»-Neuronen. In gewisser Weise sind sie die Verbindung zwischen uns und der Welt um uns herum. Was wir bei anderen beobachten, läuft auch in uns selbst ab.
So erkennen wir Bewegungen aus allen möglichen Blickwinkeln. Je nachdem, ob wir jemanden von vorne, hinten oder der Seite sehen, bekommen wir von unserem visuellen Cortex immer andere Informationen. Aber die Spiegelneuronen sagen uns jedes Mal: «Der schnappt sich meine Erdnuss!» Und wir gehen in Angriffshaltung.
Doch wenn die Aktivierungsmechanismen sich derart ähneln: Woher wissen unsere Testpersonen nun, dass ihr Gegenüber nach der Erdnuss greift und nicht sie selbst? Aus demselben Grund, aus dem Sie wissen, dass Sie gerade sitzen, ohne dafür extra nachschauen zu müssen. Ihr Gehirn hat eine Selbstwahrnehmung des Körpers, die Ihnen sagt, wann Ihre Muskeln tatsächlich angespannt sind, ob Sie Schmerzen haben oder aufrecht sitzen. Es verlässt sich auf Signale Ihrer Muskeln, Ihrer Haut und Ihres Gleichgewichtsorgans. In gewisser Weise sind diese Signale das Einzige, was Sie von anderen Menschen trennt, denn ohne sie wäre es tatsächlich schwer zu sagen, wo Ihre eigene Wahrnehmung aufhört und die der anderen beginnt.
Wir lernen also, dass der Gleichklang mit unserem Gegenüber noch tiefer geht, als wir das von außen sehen konnten. Nicht nur Körperhaltung und Physiologie unserer Versuchspersonen bewegen sich synchron, sondern auch die Gehirnaktivierung wird zum Spiegelbild des anderen. Aber wie funktioniert das genau?
Um zu begreifen, wie die Verbindung funktioniert, die es uns erlaubt den Körper eines anderen zu spiegeln und ihn zu verstehen, muss man wissen, wie in unserem Gehirn Informationen verarbeitet werden. Mit diesem Wissen können wir später wiederum gucken, wo unsere eigene Wahrnehmung uns hinters Licht führt und wie wir das verhindern können. Also erst mal ein kleiner Exkurs in die Welt der Neuronen.
Es ist ganz einfach: Unsere Nervenzellen wechseln zwischen «an» und «aus». Jede Nervenzelle kann entweder feuern oder nicht feuern. Dazwischen gibt es nichts. Mehr Informationen bekommt das Gehirn nicht. In ihrem Ruhezustand hat die Membran einer Nervenzelle eine ziemlich unveränderliche negative Ladung, das Ruhepotenzial. Draußen gibt es zwar eine ganze Menge positiv geladene Natriumionen, die sich davon angezogen fühlen und die Zelle gerne stürmen würden, aber die kommen nicht rein.
Feuern bedeutet, dass sich plötzlich Ionenkanäle in der Zellmembran öffnen und all die Natriumionen mit Schwung ins Zellinnere stürzen. So entsteht eine positive Ladung, ein elektrisches Signal, das wiederum die nächsten Kanäle in der Zellwand öffnet. Das Aktionspotenzial erreicht den Zellkern und wird von dort aus an die anderen Zellen weitergeleitet. Die Kanalöffnung wird von den umliegenden Zellen eingeleitet, die an den Verbindungen (auch Synapsen genannt) chemische Signale in Form von Neurotransmittern ausschütten. Diese Signale können die verbundene Zelle erregen (Exzitatorische Postsynaptische Potenziale) oder hemmen (Inhibitorische Potenziale). Beide Informationen summieren sich bis zum kritischen Schwellenwert, an dem ein Aktionspotenzial losgetreten wird. Und nur wenn deren Signale tatsächlich eine gewisse Stärke erreichen, wird der Prozess in Gang gesetzt. Es gibt kein «Wir feuern ein bisschen».
Das heißt, nur die wenigsten Zellen reagieren direkt auf Signale von außen, wie das zum Beispiel die Zellen in Ihrem Auge tun. Die meisten Zellsignale entstehen aus der Interaktion von Netzwerken.
Man kann sich das vorstellen wie bei einer Schulklasse: Irgendwo draußen rennt ein Eichhörnchen durch die Gegend. Der erste Schüler zeigt darauf. Ein paar Mitschüler gucken zum Fenster, das Murmeln erreicht eine gewisse Lautstärke, aber erst wenn der Pegelstand kritisch wird, ruft es von vorne «Was ist denn dahinten los!?». Die Lehrerin hat gefeuert. Ein Signal wurde übertragen, von den Schülern zur Lehrerin. Alles, was wir wahrnehmen, denken oder fühlen, beruht auf dieser Signalübertragung – quasi unser Selbst und unsere gesamte Realität.
Was uns übrigens nicht daran hindert, sie täglich zu manipulieren (Stichwort fehlbares Gehirn). Je nach persönlicher Gewohnheit und Präferenz wahlweise mit Kaffee, Alkohol, Zigaretten, Paracetamol oder Kokain. Alle diese Stoffe setzen an der Signalübertragung an. Sie sorgen dafür, dass sich die Kanäle in bestimmten Zellen des Gehirns nicht mehr öffnen beziehungsweise permanent offen stehen. Die Zelle feuert entweder nicht mehr oder nonstop, unabhängig davon, welche Signale sie von den Nachbarzellen erhält.
Unsere Lehrerin bekommt also entweder Ohropax oder ein Burnout-Syndrom. Auf die Schüler reagiert sie nicht mehr. Solche Manipulation kann dauerhaft unser Stresslevel, unsere körperliche Erregung oder unsere Schmerztoleranz verändern. Mit Manipulation unseres Gehirns beschäftigen wir uns zwar erst ganz am Ende des Buches, doch auch ohne solche äußere Einwirkung reagieren unsere Neuronen nicht immer gleich, sondern variieren zwischen Individuen und Situationen.
Um die Arbeit der Spiegelneuronen in unserem Alltag zu verstehen, müssen wir uns darum anschauen, wie Neuronen Verbindungen aufbauen. Das funktioniert nach dem Hebb’schen Gesetz. Der Biologe Donald Hebb hat 1949 als einer der Ersten die Lernprozesse zwischen Zellen beschrieben. Seine Regel ist kompliziert, kann aber ganz prima zusammengefasst werden unter der Überschrift: Neurons that fire together, wire together. Soll heißen, um bei unserer Schulklasse zu bleiben: Wenn Leon und Michel aus der letzten Reihe immer auf die gleichen Signale reagieren («Boah, guck mal, ein Eichhörnchen!», oder: «Haha, sie hat Titicaca gesagt!»), steigt die Wahrscheinlichkeit, dass sie auch nach der Schule gemeinsam zu McDonald’s gehen. Sie bauen eine Verbindung auf.
Auf zellulärer Ebene heißt das nichts anderes, als dass an der Schnittstelle zwischen den Zellen mehr Kanäle eingebaut werden. Wenn die eine Zelle feuert, wird es wahrscheinlicher, dass die andere das auch tut. Wenn Leon Mist baut, dann kann Michel nicht weit sein. Die Lehrerin kann ihn gleich mit ermahnen und beide Eltern gemeinsam zum Elternsprechtag in die Schule zitieren. Das Gehirn wiederum nutzt die Information, welche Zellen gerade gleichzeitig feuern, um verschiedene Informationen zu codieren. Genau wie ein Computer ganze Bilder übermitteln kann über Muster aus Einsen und Nullen.
Wenn das Gehirn gleichzeitig ein Signal bekommt von Michel, Leon und der Lehrerin, aktiviert das die Emotionen, die mit dieser Konstellation immer aktiv sind. In diesem Fall Ärger und Frustration. Feuert die Lehrerin schnell nacheinander, gibt es wahrscheinlich viel Ärger. Feuert sie lange Zeit immer wieder, vielleicht viel Frustration. Wenn dagegen der visuelle Cortex gleichzeitig Signale bekommt von der Lehrerin, dem Hausmeister und dem Referendar, aktiviert das im Sprachzentrum das dazu passende Wort: Raucherpause.
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Und damit wären wir jetzt beim letzten Teil der Frage: Was kann schiefgehen beim Spiegeln?