Andreas Franz
Teuflische Versprechen /
Tödliches Lachen
Zwei Kriminalromane in einem Band
Knaur e-books
Andreas Franz’ große Leidenschaft war von jeher das Schreiben. Bereits mit seinem ersten Erfolgsroman »Jung, blond, tot« gelang es ihm, unzählige Krimileser in seinen Bann zu ziehen. Seitdem folgte Bestseller auf Bestseller, die ihn zu Deutschlands erfolgreichstem Krimiautor machten. Seinen ausgezeichneten Kontakten zu Polizei und anderen Dienststellen ist die große Authentizität seiner Kriminalromane zu verdanken.
Andreas Franz starb im März 2011. Er war verheiratet und Vater von fünf Kindern.
Teuflische Versprechen:
Dieser Titel erschien bereits als Knaur eBook unter der Nummer 55969
Tödliches Lachen:
Dieser Titel erschien bereits als Knaur eBook unter der Nummer 55972.
eBook-Sonderausgabe 2014
Knaur eBook
Teuflische Versprechen:
Copyright © 2005 bei Knaur Taschenbuch.
Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt
Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München
Tödliches Lachen:
Copyright © 2006 bei Knaur Taschenbuch.
Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt
Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit
Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Redaktion: Dr. Gisela Menza
Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München
Coverabbildung: FinePic®, München
ISBN 978-3-426-42868-9
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Für Natascha, Swetlana, Tatjana, Ivana …
und alle missbrauchten, misshandelten und versklavten Frauen dieser Welt.
Zlatko und Goran hatten ihre Schicht beendet und befanden sich auf dem Weg nach Hause zu ihrer kleinen, spartanisch eingerichteten Zweizimmerwohnung in Seckbach. Sie waren bei einem Busunternehmen in Höchst angestellt, holten morgens behinderte Kinder und Jugendliche ab, um sie zur Schule oder in die Behindertenwerkstätten zu fahren, unternahmen aber auch Ausflugstouren mit Senioren, Schulklassen und Firmen für Betriebsfeiern. Alles in allem ein Beruf, der für die beiden Männer aus Kroatien, die schon seit 1992 in Frankfurt lebten, wie ein Segen war. Sie hatten für dieses Jahr den letzten Arbeitstag hinter sich und würden morgen früh gemeinsam in die Heimat fahren, worauf sie sich schon seit Wochen freuten und auch vorbereitet hatten.
Als sie an diesem kalten Winterabend mit ihrem vierzehn Jahre alten Opel Kadett an einer Ampel standen und ein eisiger Wind durch die Straßen fegte, sagte Goran, den Blick nach rechts aus dem Fenster gerichtet: »Ich steige übrigens aus. Ich habe keine Lust mehr, da mitzumachen.«
»Wovon sprichst du?« Zlatko sah seinen Freund fragend von der Seite an.
»Du weißt genau, wovon ich spreche. Ich werde eine Familie gründen, und das kann ich nicht tun, so lange ich diesen Job mache. Ich habe schon mit dem Boss darüber gesprochen.«
»Und was hat er gesagt?«, fragte Zlatko misstrauisch.
»Nichts weiter. Er hat nur gemeint, dass es meine Entscheidung ist, und mir meinen Lohn gegeben. Und er hat mir viel Glück für die Zukunft gewünscht.«
»Was hat er?«, stieß Zlatko ungläubig hervor. »Das glaube ich dir nicht. So leicht lässt der dich doch nicht gehen. Der lässt niemanden einfach so gehen.«
Goran holte aus der Innentasche seiner Lederjacke einen Umschlag heraus und hielt ihn Zlatko hin. »Hier, zähl nach, zweitausendfünfhundert Mark. Wie vereinbart.«
»Warum hast du mir vorher nichts davon gesagt?«
»Weil du nur versucht hättest mich davon abzubringen. Es tut mir leid, aber ich kann das nicht mehr tun.«
»Ich verstehe dich nicht. Wir machen das jetzt schon, seit wir in Frankfurt sind. Wie stellst du dir deine Zukunft vor? Du wirst nicht einmal mehr die Hälfte verdienen.«
»Das ist mir egal. Ich werde auf jeden Fall nicht mehr so was machen. Wenn es sein muss, bleibe ich auch in Kroatien. Ich habe schon mit meinem Vetter gesprochen, er hat eventuell eine Arbeit für mich.«
»Du bist verrückt, das alles aufzugeben. Ich dachte immer, wir wären Freunde.«
»Wir sind Freunde, daran wird sich nie etwas ändern. Aber Sanya kann ich das nicht antun, ich könnte ihr nicht mehr in die Augen schauen. Ich kann es jetzt schon kaum noch. Ich will heiraten und Kinder haben. Vier oder fünf. Sanya will es auch.«
»Ich kann noch immer nicht glauben, dass der Boss dich einfach so hat gehen lassen. Wir müssen es immer zu zweit machen.«
»Er hat gesagt, ich brauche mir darüber keine Gedanken zu machen, er hätte schon einen Ersatz für mich. Hätte mich auch gewundert, wenn der keinen finden würde.«
»Es ist deine Entscheidung. Wenn du das Geld nicht brauchst, ich jedenfalls brauche es und werde weitermachen. Und solltest du in Kroatien bleiben, werden wir uns nur noch selten sehen, das weißt du.«
»Ich habe doch nur gesagt, vielleicht bleibe ich dort. Aber nicht gleich, sondern in einem halben oder einem Jahr, wenn überhaupt. Ich habe genug gespart, um für eine Weile über die Runden zu kommen.«
»Du bist verrückt. Aber gut, du musst wissen, was du tust.«
»Ich habe es mir lange überlegt.«
»Und das erzählst du mir einen Tag, bevor wir in die Heimat fahren«, sagte Zlatko beleidigt. »Du bist ein Idiot, wenn du auf das ganze Geld verzichtest!«
»Dann bin ich eben ein Idiot. Aber Sanya ist meine große Liebe, das musst du doch verstehen.«
»Es ist dein Leben.«
Sie kamen zu Hause an und gingen in ihre Wohnung im sechsten Stock des Hochhauses, wo man anonym lebte, weil kaum einer den andern kannte. Die Koffer hatten sie bereits am Abend zuvor gepackt. Sie holten sich jeder eine Flasche Bier aus dem Kasten, der neben der Spüle stand, und machten den Fernseher an. Während sie die erste Flasche leerten, unterhielten sie sich über den bevorstehenden Urlaub, den sie während der nächsten drei Wochen in dem vom Bürgerkrieg fast zerstörten Osijek verbringen würden, wo sie gemeinsam aufgewachsen und zur Schule gegangen waren. Mit Ausbruch des Kriegs waren sie nach Deutschland gekommen, doch wirklich heimisch hatten sie sich hier nie gefühlt. Es war eine andere Kultur, ein anderes Leben, sie hatten nur wenige Bekannte und lebten sehr zurückgezogen.
Sie machten sich drei Dosen Ravioli auf, erhitzten sie in einem alten Topf auf dem kleinen Herd, aßen Cabanossi und Weißbrot dazu, tranken Bier und Sliwowitz und rauchten und sahen sich eine Nachrichtensendung aus Kroatien an. Goran strich sich nach dem Essen über den Bauch und fragte: »Wollen wir noch rüber zu Milan gehen?«
»Wir müssen morgen sehr früh raus, denk dran«, sagte Zlatko mahnend.
»Nur auf ein oder zwei Bier. Nicht länger als bis zehn.«
»Von mir aus. Aber dann jetzt gleich.« Er stand auf und zog sich die Schuhe und seine Jacke an, während sein Freund noch einmal auf die Toilette ging.
Goran kam aus dem winzigen Bad und wollte sich gerade anziehen, als es klingelte. Er schaute verwundert seinen Freund an, denn nur sehr selten kam jemand zu Besuch. Zlatko betätigte die Sprechanlage, doch keiner meldete sich. Stattdessen klingelte es erneut. Er warf einen Blick durch den Spion, und als er das ihm bekannte Gesicht sah, öffnete er die Tür.
»Hallo«, sagte er. »Komm rein. Sliwowitz?«
»Gerne.«
»Setz dich. Willst du uns einen guten Urlaub wünschen?«
»Das auch«, antwortete der kleingewachsene, dunkelhaarige Mann mit den stechend braunen Augen und dem schwarzen Ledermantel und den schwarzen Lederhandschuhen, während er auf einem Stuhl Platz nahm. Zlatko und Goran zwängten sich auf den schmalen Zweisitzer und füllten drei Schnapsgläser mit Sliwowitz. »Aber ich soll euch auch vom Chef schöne Grüße ausrichten.« Er trank seinen Pflaumenschnaps und fuhr fort: »Und ich soll euch auch noch etwas für die Reise mitgeben, eine kleine Aufmerksamkeit für die gute Arbeit in diesem Jahr. Ein bisschen Geld könnt ihr doch immer gebrauchen, auch wenn Goran jetzt nicht mehr dabei ist. Aber der Chef ist nicht sauer, keiner versteht deine Entscheidung besser als er.« Er griff unter seine Jacke, Zlatko und Goran sahen ihn erwartungsvoll an.
Sie hatten nicht einmal mehr die Zeit, etwas zu erwidern, als die Kugeln erst blitzschnell zwischen ihre Augen und dann in die Brust drangen. Fast lautlos, leiser, viel leiser als das Plop eines Champagnerkorkens. Ihre Köpfe fielen nach hinten, die Augen weit aufgerissen.
Der kleine Mann sah mit unbeweglicher Miene auf Goran und Zlatko, durchsuchte ihre Sachen, fand den Umschlag mit dem Geld und ein Notizbuch, in dem mehrere Namen verzeichnet waren, die die Polizei besser nicht kennen sollte. Nachdem er alles durchsucht hatte und sicher war, auch nichts übersehen zu haben, warf er einen letzten Blick auf die Toten und sagte leise und höhnisch lächelnd: »Jetzt könnt ihr fahren, ihr werdet sogar sehr komfortabel reisen.«
Er verließ die Wohnung, bestieg den Aufzug und fuhr nach unten, wo sein Partner bereits im Auto auf ihn wartete. Sein Auftrag war erledigt.
Der Fall der beiden ermordeten Kroaten wurde von der Frankfurter Mordkommission K 11 bearbeitet. Julia Durant und ihre Kollegen Frank Hellmer, Peter Kullmer und Doris Seidel waren an diesen Ermittlungen nicht beteiligt, da sie sich auf den Fall eines seit zwei Monaten vermissten siebzehnjährigen Mädchens konzentrierten, von dem jedoch trotz Bildung einer zwanzig Mann starken Sonderkommission nach wie vor jede Spur fehlte. Allerdings verdichteten sich mit jedem Tag länger, den die Suche andauerte, die Anzeichen, dass Sabine einem Verbrechen zum Opfer gefallen war, denn zuletzt wurde sie gesehen, als sie nach einem Discobesuch in ein Auto mit einem ausländischen Nummernschild gestiegen war. Die weiteren Ermittlungen ergaben, dass das Mädchen bereits ein Jahr vor seinem Verschwinden begonnen hatte sich zu prostituieren, um damit seinen – von den Eltern anscheinend unbemerkt – aufwendigen Lebensstil zu finanzieren. Mehrere Zeugen behaupteten zwar, sie im Amsterdamer Rotlichtmilieu gesehen zu haben, doch auch diese Spur führte ins Nichts. Es konnte aber auch bedeuten, dass Sabine mittlerweile ihren Aufenthaltsort gewechselt hatte. So gibt es bis heute weder ein Lebenszeichen von Sabine noch ihre Leiche. Und solange es keine Leiche gibt, so lange wird, wenn auch in gedrosseltem Tempo, weiterermittelt, wobei die Abteilung von Julia Durant nicht länger in die Ermittlungen einbezogen ist, da das LKA diese weiterführt.
Auch ein Jahr nach den Morden an Zlatko und Goran fand sich trotz intensivster Recherchen nicht der geringste Hinweis auf einen oder mehrere Täter, alles, was man aufgrund des Tathergangs und eines von einem Polizeipsychologen erstellten Täterpsychogramms herausgefunden hatte, war, dass die beiden Männer ganz offensichtlich von einem Auftragskiller getötet wurden. Darauf deuteten die jeweils zwei Einschüsse in Kopf und Brust hin, die aus einer Entfernung von knapp einem Meter abgefeuert worden waren. Die von der Spurensicherung sichergestellten Fingerabdrücke konnten keiner in der Datei gespeicherten Person zugeordnet werden. Außer den Fingerabdrücken der Ermordeten fanden sich nur noch die Abdrücke einer anderen Person, die aber laut Aussage des Spezialisten für Daktyloskopie vom BKA von einer Frau stammten, woraufhin einer der Beamten lakonisch bemerkt hatte, dass die Ermordeten wohl des Öfteren einen flotten Dreier in ihrer kleinen Bude geschoben hätten. Ansonsten hatten die Männer zurückgezogen gelebt und offensichtlich wenig Kontakte zu anderen Personen gehabt. Sie gingen unauffällig ihrer regelmäßigen Arbeit als Busfahrer nach, galten im Betrieb als freundlich, hilfsbereit und äußerst zuverlässig und waren bei ihrem Chef und den Arbeitskollegen beliebt. Doch über ihr Privatleben konnte keiner von ihnen auch nur das Geringste sagen.
Lediglich in einer Kneipe, in der vorwiegend Kroaten verkehrten, wusste man etwas mehr über sie, doch sie erschienen dort grundsätzlich zu zweit und nie in Begleitung von Frauen oder Freunden, und über ein Geheimnis ihr Privatleben betreffend hatten sie mit keinem gesprochen. Alle von den Beamten verfolgten Spuren verliefen im Sand, und doch schien es – anders war ihre Ermordung nicht zu erklären – etwas in ihrem Leben gegeben zu haben, das sie für andere so gefährlich werden ließ, dass sie beseitigt werden mussten. Aber welche Spur die Polizei auch verfolgte, sie fand nichts, weshalb der Fall nach einem halben Jahr an andere Kollegen abgegeben wurde, die das Rätsel um den Tod von Goran und Zlatko auch nicht zu lösen vermochten. Und so wurden die Akten nach einem Jahr vorläufig geschlossen, gab es doch für die Männer und Frauen vom K 11 aktuellere Fälle, mit denen sie sich befassen mussten.
Vier innerhalb eines Monats vermisste Personen, darunter ein Kind, eine fast unkenntlich gemachte Leiche, die in unmittelbarer Nähe der Staustufe Griesheim gefunden worden war und dort laut Aussage der Rechtsmediziner bereits seit mindestens einem Jahr gelegen hatte.
Zwei offensichtlich unbescholtene Männer waren einem heimtückischen und geplanten Verbrechen zum Opfer gefallen, ohne ein ersichtliches Motiv. Dennoch würden die Akten eines Tages wieder geöffnet werden, denn niemand wird von einem Auftragskiller umgebracht, ohne dass es dafür einen triftigen Grund gibt. Doch welches dunkle Geheimnis trugen Goran und Zlatko mit sich herum und nahmen es mit ins Grab? Vielleicht wird dieses Geheimnis noch gelüftet. Irgendwann.
Maria Volescu, zwanzig Jahre alt, Moldawierin mit rumänischen Vorfahren, unterhielt sich mit drei anderen jungen Frauen. Sie war mittelgroß, sehr schlank, hatte eine ausgesprochen weibliche Figur mit sanften Rundungen, wo nichts zu viel und nichts zu wenig war, lange blonde Haare, grüne Augen und einen sinnlichen, erotischen Mund. Wenn sie lachte, was nicht sehr häufig vorkam, höchstens, wenn sie etwas zu viel getrunken hatte, entblößte sie makellos schöne und weiße Zähne, als hätte sie in einem Spot für Zahnpastawerbung Modell gestanden. Sie war von allen Mädchen und Frauen, mit denen sie zusammen in diesem Haus wohnte und arbeitete, die hübscheste und auch begehrteste, doch sie gehörte einem Mann fast ganz allein, nur wenigen anderen war es vorbehalten, sich mit ihr zu vergnügen. Maria hielt eine Zigarette in der Hand, als Carlos, ein knapp dreißigjähriger drahtiger und muskelbepackter Mann, sich zu ihnen stellte und in unmissverständlichem Befehlston sagte: »Mach die Zigarette aus, wir gehen einkaufen.«
Wortlos kam sie der Aufforderung nach, zog sich eine Lederjacke mit Pelzbesatz über den weißen Pulli, zu dem sie eine hellblaue, sehr körperbetonte Jeans und hellbraune Sneakers trug. Sie warf Carlos einen nichtssagenden Blick zu und folgte ihm bis zum Eingang, wo bereits ein zweiter Mann auf sie wartete, Mischa, der Chauffeur, und neben Carlos einer von drei weiteren Aufpassern. Sie gingen direkt zur Garage. Maria nahm auf der Hinterbank des Mercedes 300 SE Platz. Die hinteren Scheiben waren dunkel getönt, so dass keiner von außen hineinsehen konnte. Innen waren Vorhänge angebracht, die ihr die Sicht nach draußen verwehrten. Zwischen ihr und den beiden Männern war eine ebenfalls dunkle Trennscheibe, die von vorne bei Bedarf runtergelassen werden konnte und durch die Maria nur schemenhaft wahrnahm, wo sie entlangfuhren. Selbst nach zwei Jahren wusste sie noch nicht, wo in Frankfurt sie untergebracht war. Sie kannte die Stadt nur von dem Blick, den sie aus dem Fenster ihres Zimmers hatte, vor dem ein graues Eisengitter angebracht war, so grau, dass es praktisch mit der Farbe der Fassade des alten Hauses verschmolz, aber sie konnte in einiger Entfernung den Fluss sehen, und sie hatte sich oft gefragt, wo er wohl hinführte. Die Innenstadt, wo sie einmal im Monat hingefahren wurde, war von ihrem Haus in nur etwa zehn Minuten zu erreichen.
Einkaufen bedeutete Kleider, Dessous, Schuhe. Sie durfte sich stets das Beste und Schönste aussuchen, schließlich zahlten die Kunden horrende Summen, um mit ihr zusammen sein zu dürfen, doch von diesem Geld sah Maria nie etwas. Sie bekam zu essen, zu trinken, ihre Zigaretten und Schminkutensilien. Das Haus durfte sie nur selten verlassen, um im fast parkähnlichen Garten ein wenig spazieren zu gehen. Doch auch dann war immer einer ihrer Bewacher in der Nähe, obwohl auf der einen Seite ein hoher Zaun mit messerscharfen Spitzen und zur Straße hin eine Mauer das Grundstück umrahmten und jeder Millimeter selbst um das Grundstück herum bis auf die anderen Straßenseiten mit Videokameras überwacht wurde, die aber so klein und versteckt angebracht waren, dass nur ein sehr geübtes Auge sie sehen konnte.
Sie kauften immer in denselben drei Boutiquen ein, wo die Verkäuferinnen sehr höflich und zuvorkommend waren, schließlich gehörte sie mittlerweile zu den gern gesehenen Stammkundinnen. Das Einzige, was bei diesen Einkäufen störte, waren ihre beiden Begleiter, die sie auf Schritt und Tritt wie lauernde Raubtiere beobachteten. Begleiter, die nicht nur bei ihr dafür sorgten, dass sie keine Dummheiten machte, nicht mit Fremden redete und vor allem nicht versuchte abzuhauen. Maria war im Club etwas Besonderes, und Marco, der alles kontrollierte, hasste nichts mehr, als etwas, das ihm gehörte, zu verlieren. Carlos und Mischa wachten deshalb bei jedem Einkauf argwöhnisch darüber, dass Maria auch nichts Unbedachtes oder Verbotenes tat.
Sie hielten in der Goethestraße, Mischa zog einen Parkschein aus dem Automaten und legte ihn hinter die Windschutzscheibe. Es war fast dunkel, der Himmel bezogen, unzählige Menschen liefen und hetzten an ihnen vorbei, einige sahen sich die Auslagen der Geschäfte an, und manch einer träumte wohl davon, einmal so viel Geld zu besitzen, um dort einkaufen zu gehen. Maria betrat mit Carlos die erste Boutique, während Mischa scheinbar teilnahmslos und doch wachsam wie ein Hofhund davor stehen blieb. Außer der Inhaberin war wie meistens niemand sonst im Geschäft. Sie kam lächelnd auf sie zu, mit Abstand die freundlichste Frau, die Maria bisher getroffen hatte, eine Frau, die sie stets mit Respekt behandelte und die zumindest ahnte, was mit Maria war. Maria hatte ihr beim letzten Besuch, als sie ein Kleid anprobierte, in einem günstigen Augenblick schnell zugeflüstert: »Helfen Sie mir.«
»Guten Abend«, begrüßte sie das Pärchen. »Ich habe Sie bereits erwartet. Was kann ich heute für Sie tun?«
»Meine Freundin möchte sich mal wieder ein paar Kleider aussuchen und meine Kreditkarte entsprechend belasten«, sagte Carlos lachend.
»Mit Vergnügen. Wir haben gerade eine neue Kollektion hereinbekommen, ich werde sie Ihrer Freundin gerne zeigen.«
»Ich überlasse es Ihrem guten Geschmack«, erwiderte er nur.
Die elegant gekleidete Dame, die von Maria auf fünfunddreißig, maximal vierzig Jahre geschätzt wurde, führte sie zu einem Ständer, an dem genau zehn Kleider hingen, mit viel Platz zwischen den einzelnen, so dass sie sich nicht berührten. Die Inhaberin betrachtete Maria wie bei jedem Besuch eingehend und sagte schließlich: »Also, da hätten wir dieses wunderschöne bordeauxfarbene Kleid, das hervorragend zu Ihrer Figur und Ihrem Teint passen würde. Wollen Sie es gleich anprobieren?«
»Ja«, sagte Maria, nahm es und begab sich zur Umkleidekabine. Die Inhaberin machte unauffällig mit dem Kopf und den Augen ein Zeichen, das Maria sofort verstand, und wandte sich gleich darauf Carlos zu, der seine Finger über den edlen, glänzenden Stoff eines nachtblauen Kleides mit Spaghettiträgern gleiten ließ.
»Schön, nicht? Darf ich Ihnen etwas ganz Ausgefallenes zeigen? Es wurde gerade in Mailand vorgestellt, und es gibt bestimmt nur eine Hand voll Frauen auf der ganzen Welt, die es tragen. Hier in Frankfurt wäre Ihre Freundin …«
»Verlobte«, wurde sie von Carlos unterbrochen.
»Wäre Ihre Verlobte mit Sicherheit die Einzige«, sagte sie zu ihm, und ohne eine Erwiderung abzuwarten, ging sie auf einen anderen Ständer zu, der sich in einer Ecke befand, von der aus man keinen Blick auf die Umkleidekabinen hatte, und nahm ein nachtblaues Kleid mit unterschiedlichen Blaumusterungen in die Hand. »Hier, bitte schön. Fühlen Sie doch nur diesen Stoff, reine Seide. Und der Clou, es zeigt nicht zu viel und nicht zu wenig.« Als Carlos keine Anstalten machte, näher zu kommen, lächelte sie ihm aufmunternd zu. »Keine Scheu, es muss Ihnen doch schließlich auch gefallen. Wie gesagt, es ist praktisch ein Unikat.«
Zögernd begab er sich zu der Frau, den Blick noch einmal kurz zur Kabine hin gerichtet. Er berührte den Stoff, nickte anerkennend und fragte: »Und was kostet der Spaß?«
»Das Außergewöhnliche ist nie billig. Und für eine außergewöhnliche Frau sollte das Beste gerade gut genug sein, da werden Sie mir doch wohl zustimmen.«
»Da haben Sie völlig Recht. Wenn es meiner Verlobten gefällt, dann soll sie es haben. Wenn Sie es ihr bitte bringen würden.«
»Ich sehe, Sie haben Geschmack.« Sie begab sich zur Umkleidekabine, tat einen Moment, als würde sie stutzen, und sagte mit gerunzelter Stirn: »Wo ist Ihre Begleiterin?«
»Das müssen Sie doch wissen. Vielleicht auf der Toilette?«
»Kann sein. Ich schau mal nach, ihre Schuhe sind jedenfalls noch hier.«
Carlos folgte ihr bis zur Tür. Sie rief hinein, keine Antwort. »Merkwürdig«, sagte sie. »Ist sie vielleicht nach draußen gegangen?«
»Gibt es hier einen Hinterausgang?«, fuhr er die Inhaberin barsch und mit einem Mal nervös an.
»Natürlich, aber der ist mit einer Alarmanlage gesichert. Da kommt niemand raus, ohne dass der Alarm losgeht.«
»Maria?!«, rief er. Wieder keine Antwort. »Maria, verdammt noch mal, wo steckst du?«
Er ging nach draußen und fragte Mischa nervös, ob er Maria gesehen habe. Der schüttelte den Kopf. »An mir ist sie nicht vorbeigekommen.«
»Verdammte Scheiße, wo ist dieses Miststück?!« Er rannte zurück ins Geschäft und fragte aufgeregt: »Wo ist der Hinterausgang?«
»Moment, ich zeige es Ihnen.« Sie liefen mit schnellen Schritten nach hinten, Carlos stieß sie zur Seite und blieb vor der angelehnten Tür stehen.
»Wie kann sie da rausgekommen sein? Los, sagen Sie es mir! Ich denke, die Tür ist mit einer Alarmanlage gesichert. Das haben Sie mir doch selbst gerade gesagt.«
»Ich weiß es nicht, ich weiß es wirklich nicht«, erwiderte sie mit überzeugend gespieltem Erschüttern. »Das ist mir ein großes Rätsel. Hatten Sie Streit?«
»Nein, verdammt noch mal! Wohin kommt man von hier aus?«
»Rüber zur Freßgass oder zur Hauptwache oder …«
»Na toll! Sie sollten Ihre verdammte Alarmanlage überprüfen lassen! Hat sie irgendwas mitgenommen?«
»Nein, das Kleid hängt in der Kabine.«
»Okay, okay. Ich werde sie schon finden. Und ja, Sie hatten Recht, wir haben uns gestritten, weil sie mit einem Mal Angst vor der Hochzeit hat«, log Carlos. »Tut mir leid.«
»Mir auch, aber ich kann Ihnen leider nicht helfen. Ich habe keine Erklärung, warum die Anlage nicht losgegangen ist.«
»Lassen Sie sie schnellstens überprüfen, sonst kann ja jeder hier reinspazieren.«
»Werd ich machen, aber …«
Er hörte nicht mehr zu, rannte zu Mischa und sagte wütend: »Sie ist weg. Diese kleine gottverdammte Hure ist abgehauen. Los, wir müssen sie suchen. Sie kann nur rüber zur Freßgass gelaufen sein. Los jetzt!«
Es war nur ein kurzes Stück, aber um diese Zeit war diese Einkaufsstraße voller Menschen. Sie warfen einen Blick in jedes Geschäft, in Hauseingänge, suchten in drei Arztpraxen und bei einem Rechtsanwalt nach Maria. Schließlich gaben sie die Verfolgung nach einer Stunde auf.
»Die machen uns kalt«, sagte Carlos nervös und steckte sich mit zittrigen Fingern eine Zigarette an. »Wenn Marco das erfährt, sind wir tot.«
»Komm, reg dich ab. Die machen gar nichts. Aber was ist mit der Alten?«, fragte Mischa und deutete auf die Boutique.
»Gar nichts. Die denkt, dass Maria und ich uns gestritten haben. Wir dürfen nicht auffallen, klar? Wir fahren zurück, heute finden wir die sowieso nicht mehr. Wo zum Teufel kann die sich verstecken? Sie kennt doch keine Sau hier! Scheiß Weiber!«
Maria hatte sich die Schuhe ausgezogen. Sie trug keine Strumpfhose und auch keine Socken. Sie lauschte aus der Kabine, was draußen gesprochen wurde. Dann warf sie einen kurzen Blick durch einen Spalt des Vorhangs und sah, wie die Inhaberin Carlos in eine Ecke des Geschäfts lockte, um ihm ein Kleid zu zeigen. Sie atmete einmal tief durch, schlich blitzschnell und lautlos auf Zehenspitzen zur Hintertür, die sich beinahe geräuschlos öffnen ließ.
Und dann rannte sie. Sie rannte und rannte und rannte, schnell und immer schneller, als wäre der Teufel hinter ihr her. Der Boden war trocken, aber kalt, doch das spürte sie nicht. Sie wollte nur so schnell wie möglich weg von hier. Die Menschen, denen sie begegnete, an denen sie vorbeirannte, schienen gar nicht zu bemerken, dass sie barfuß war, sie selbst merkte es nicht einmal. Keiner schien Notiz von der jungen Frau zu nehmen, die um ihr Leben lief. Ihre Lungen schmerzten schon nach wenigen Minuten, aber sie würde diesen Schmerz ertragen, sie hatte schon ganz andere, schlimmere Schmerzen ertragen müssen. Maria wusste nicht, wo sie sich befand, sie kannte sich ja in Frankfurt nicht aus, alles war fremd, die Straßen, die Häuser, die Menschen. Sie befand sich inmitten einer breiten Einkaufsstraße mit vielen kleinen Geschäften, passierte ein Gebäude, das wie eine Oper aussah, und kam in eine um diese Zeit stark befahrene, nicht sehr breite Straße. Nachdem sie schier unendlich lange gerannt war, blieb sie erschöpft stehen, warf einen Blick auf ein silberfarbenes Schild, das neben einem Hauseingang angebracht war, auf dem »Verena Michel, Psychotherapeutin, alle Kassen« stand, trat durch die Tür und hastete in den ersten Stock. Sie hatte das Gefühl, ihre Beine nicht mehr zu spüren und gleich zusammenzubrechen. Sie klingelte Sturm, wartete und wollte schon einen Stock höher gehen, als sie Schritte hörte, die Tür aufgemacht wurde und eine Frau, die vielleicht doppelt so alt war wie sie, vor ihr stand. Diese wollte gerade etwas sagen, als sich Maria an ihr vorbeizwängte, sie am Arm packte und in den Raum zog. Sie machte leise die Tür zu, lehnte sich mit dem Rücken dagegen und schloss für einen Moment die Augen. Ihr Herz raste, das Blut pochte in ihren Schläfen, ihr Mund war wie ausgetrocknet, ihr Hals kratzte. Maria keuchte und hustete, bis die Frau sagte: »Was ist los mit Ihnen? Meine Praxis ist geschlossen.«
»Ich brauche Hilfe«, stieß Maria mit heiserer Stimme hervor. »Bitte, helfen Sie mir!«
»Kommen Sie mit nach hinten«, sagte die Frau, die instinktiv begriff, dass Maria nicht log. »Sie haben Glück, dass Sie mich noch antreffen, mein letzter Patient ist vor zwanzig Minuten gegangen.« Und nach einem weiteren Blick auf Maria: »Sie sind ja barfuß und völlig außer Atem. Setzen Sie sich erst einmal hin. Möchten Sie etwas zu trinken haben?«
»Nein. Wo bin ich hier?«
»In meiner Praxis, ich bin Psychotherapeutin. Sie brauchen keine Angst zu haben, hier kann Ihnen niemand etwas tun. Ich schließe aber sicherheitshalber vorne ab, damit wir ungestört sind.«
Maria sah ihr ängstlich nach und war erleichtert, als die ihr fremde Frau gleich darauf zurückkehrte.
»Ich möchte mich erst einmal vorstellen, mein Name ist Verena Michel.« Sie reichte Maria die Hand, die sie zögernd nahm. »Sie brauchen wirklich keine Angst zu haben, hier sind Sie sicher. Und jetzt hole ich uns etwas zu trinken.« Verena Michel kam mit einer Flasche Wasser und zwei Gläsern, schenkte ein und reichte eines davon Maria, die ihre Ellbogen auf die Oberschenkel gestützt hatte, die Beine eng geschlossen. Sie trank in langsamen Schlucken und hielt das Glas wie einen Rettungsanker umklammert. Ihr Gesicht war von der Anstrengung gerötet, sie sah Verena Michel an, die sich einen Stuhl herangezogen hatte und sich neben sie setzte.
»Erzählen Sie, was passiert ist. Sie können mir vertrauen, als Psychologin unterliege ich der Schweigepflicht. Verraten Sie mir bitte, wie Sie heißen?«
Maria holte noch ein paar Mal tief Luft und sagte mit leicht slawischem Akzent und flehendem Blick: »Ich will nicht zur Polizei, bitte, keine Polizei.«
»Jetzt beruhigen Sie sich erst mal. Wenn ich Ihren Akzent richtig deute, stammen Sie nicht aus Deutschland. Wo kommen Sie her?«
»Aus Moldawien.«
»Moldawien? Klären Sie mich bitte auf, ich bin in Geographie nicht sonderlich gut.«
»Es grenzt an Rumänien und die Ukraine.«
»Okay. Möchten Sie mir jetzt nicht doch wenigstens Ihren Vornamen verraten?«, fragte Verena Michel freundlich lächelnd, die die Angst, die Maria hatte, förmlich spürte. Angst davor, ihren Namen zu nennen und dadurch einen Teil ihrer Identität preiszugeben.
Schließlich überwand sie sich und antwortete zaghaft und schüchtern: »Maria.«
»Maria. Ein sehr schöner Name. Was machen Sie in Deutschland?«, fragte Verena Michel behutsam weiter.
»Das kann ich nicht sagen.«
»Hören Sie, wenn ich Ihnen helfen soll, müssen Sie mir vertrauen. Ich tue Ihnen nichts, ich werde die Polizei nicht einschalten, dafür müssen Sie mir aber auch alles erzählen. Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, dass alles, was hier besprochen wird, unter uns bleibt. Glauben Sie mir, ich werde nichts tun, was Sie nicht wollen.« Als Maria schwieg und Tränen über ihr Gesicht liefen, sagte Verena Michel: »Ich mache Ihnen einen Vorschlag. Ich nehme Sie mit zu mir nach Hause, dort erzählen Sie mir die ganze Geschichte. Ich lasse Ihnen ein heißes Bad ein, und dann bestelle ich uns etwas zu essen. Was halten Sie davon?«
Zum ersten Mal, seit sie in der Praxis war, lächelte Maria, auch wenn es eher gequält wirkte. »Aber keine Polizei.«
»Wie oft soll ich Ihnen noch versichern, dass ich nichts tun werde, was Sie nicht wollen. Es wird uns schon etwas einfallen. Aber erst einmal müssen Sie zur Ruhe kommen.«
»Und was ist mit Ihrem Mann?«
»Ich lebe allein. Und jetzt kommen Sie, mein Auto steht direkt vor der Tür.«
Maria Volescu erhob sich und musste sich gleich darauf am Tisch abstützen, weil sie Mühe hatte zu stehen.
»Das müssen Sie jetzt leider noch durchhalten, so stark bin ich nicht, dass ich Sie tragen könnte. Aber wir können ja langsam gehen, außerdem sind es nur ein paar Meter.«
Sie sah noch einmal nach, ob der PC auch ausgeschaltet war, löschte das Licht und schloss die Tür hinter sich ab. Maria setzte vorsichtig einen Fuß vor den andern. Sie musste sich vorhin beim Rennen irgendwo geschnitten haben und konnte sich auch erinnern, auf etwas Spitzes getreten zu sein. Sie stützte sich auf Verenas Schulter ab und setzte sich auf den Beifahrersitz.
»Ich wohne nicht sehr weit von hier.«
Verena Michel startete den Motor und fuhr los. Maria sah aus dem Seitenfenster. Auch wenn sie sich im Moment ein wenig sicherer fühlte, die Angst war noch immer da, als würde sie neben dem Auto herlaufen und sie verfolgen. Sie rieb ihre wunden, schmerzenden Füße aneinander, ihr Herzschlag hatte sich wieder normalisiert, ihre Lungen brannten nicht mehr. Sie bogen von einer großen, breiten Straße ab und kamen in ein Wohngebiet mit lauter hübschen Häusern, einige davon neu, andere etwas älter, so weit Maria das in der Dunkelheit erkennen konnte. Verena hielt vor einem älteren gelb gestrichenen Haus, stieg aus und machte das Tor auf, von wo aus sie den Wagen in die Garage fahren konnte, deren Tor sich wie von Geisterhand öffnete.
»So, wir sind da. Kommen Sie.«
Mit langsamen Schritten begaben sie sich direkt von der Garage ins Haus, Maria eher humpelnd, denn der rechte Fuß tat zunehmend weh.
»Ich werde mir Ihren Fuß gleich mal anschauen. Es ist bestimmt nichts Schlimmes, vielleicht nur ein Splitter.« Sie machte das Licht an. Maria blickte sich um und sah einen großen Flur mit hohen Wänden. Es erinnerte sie auf eine gewisse Weise an das Haus, in dem sie gefangen gehalten worden war, aber dieses Haus war freundlicher eingerichtet, auch wenn das andere, ihr Gefängnis, sehr luxuriös ausgestattet war, überall teure Bilder an den Wänden, Ledergarnituren und im Hauptaufenthaltsraum, wo sich alle trafen, bevor sie mit den Frauen auf die Zimmer gingen, zusätzlich eine Bar und ein mächtiger Kristalleuchter. Im Untergeschoss waren ein Schwimmbad und ein Whirlpool, eine Sauna und ein türkisches Bad und eine weitere Bar. Selbst die Zimmer der Frauen waren exklusiv eingerichtet, alles war auf die betuchte Klientel abgestimmt. Zimmer, in denen die Männer alles verlangen konnten und die Mädchen und Frauen zu gehorchen hatten. Widersetzten sie sich Befehlen, wurden sie bestraft.
Sie durchquerten den Flur und kamen in ein großes, gemütliches Zimmer.
»Nehmen Sie doch Platz, ich zieh mir nur schnell etwas anderes an.«
»Keine Polizei, bitte«, flehte Maria noch einmal, die fürchtete, Verena Michel könnte von einem Nebenraum aus zum Telefon greifen.
Verena, die bereits auf der ersten Treppenstufe stand, drehte sich wieder um und kam zurück und sah Maria einen Moment an, ohne etwas zu sagen, aber ihr Blick drückte mehr aus, als tausend Worte es vermocht hätten. Dann sagte sie ernst und doch fürsorglich: »Hören Sie mir jetzt bitte gut zu. Hätte ich Sie mit zu mir nach Hause genommen, wenn ich die Polizei rufen wollte? Ich hätte vorhin genauso gut an einem Revier anhalten können, wenn ich das vorgehabt hätte. Ich gehe nur nach oben ins Schlafzimmer und ziehe mich um. Wenn Sie möchten, können Sie mitkommen.«
»Ich würde mir gerne das Haus anschauen«, sagte Maria.
»Sicher, schauen Sie sich um«, entgegnete Verena verständnisvoll lächelnd. Sie ging vor ihr die Treppe hinauf. Maria hielt sich an dem Holzgeländer fest, die Stufen knarrten unter ihren Schritten.
»Das ist mein Schlafzimmer. Wir können Ihnen auch gleich etwas Bequemeres zum Anziehen raussuchen, wir haben zum Glück in etwa die gleiche Größe. Und danach steigen Sie in die Badewanne, und ich bestelle uns beim Italiener etwas zu essen. Und dann erzählen Sie mir alles. Einverstanden?«
»Ja.«
Verena Michel machte den Kleiderschrank auf, holte einen Hausanzug heraus, legte ihn aufs Bett und begann sich umzuziehen.
»Darf ich fragen, wie alt Sie sind?«
»Natürlich dürfen Sie das. Ich bin siebenunddreißig. Und Sie?«
»Zwanzig, fast einundzwanzig. Sie haben eine sehr gute Figur.«
»Danke. Das hat mir schon seit Ewigkeiten keiner mehr gesagt. Tja, so vergehen die Jahre. Aber ich treibe auch viel Sport, ich laufe sehr viel, ich habe sogar schon einmal an einem Marathonlauf teilgenommen.«
»Wer ist der Mann dort auf dem Foto?«, fragte Maria und deutete auf den Nachtschrank.
»Das ist mein Mann.«
»Sie haben aber vorhin gesagt, dass Sie allein leben.«
»Er ist vor drei Jahren gestorben. Krebs. Seitdem arbeite ich nur noch und wohne ganz allein in diesem viel zu großen Haus, das ich mir mehr aus Frust gekauft habe. Ich habe noch ein anderes Haus, von dem ich mich aber nicht trennen kann. Es hängen einfach zu viele Erinnerungen daran. Schöne Erinnerungen.«
»Das tut mir leid.«
»Wir haben uns seit unserer Kindheit gekannt, und ich habe ihn geheiratet, als ich achtzehn war. Und nach sechzehn Jahren war alles vorbei, weil die Krankheit stärker war.«
»Wollen Sie nicht wieder heiraten?«
»Nein. Ich glaube, es gibt keinen Mann, der Wolfgang ersetzen könnte. Ich komme auch so ganz gut zurecht.« Und nach einer kurzen Pause: »Suchen Sie sich etwas aus. Ich hätte noch einen Hausanzug in Blau, der würde Ihnen bestimmt sehr gut stehen. Übrigens, ich heiße Verena.«
Sie reichte Maria die Hand. Allmählich wurde sie zutraulicher, wie eine scheue Katze, die erst einmal aus angemessener Distanz einen fremden Menschen beschnuppern muss, bevor sie sich von ihm streicheln lässt. Sie spürte instinktiv, dass Verena eine einsame Frau war, froh, für eine Weile, ein paar Stunden, vielleicht auch ein paar Tage jemanden in diesem großen Haus zu haben, der ihr Gesellschaft leistete. Maria hatte im Laufe der letzten Jahre die Menschen kennen gelernt, Männer wie Frauen, und sie konnte sofort einschätzen, wer im Innern gut war und wer nicht. Sie hatte einige Kunden gehabt, unter ihnen auch Frauen, die ihre Bisexualität ausleben wollten, die keinen harten Sex verlangten, nur nach ein wenig Zärtlichkeit suchten, die sie offensichtlich nirgendwo sonst fanden und bekamen. Manche sprachen über ihre intimsten Dinge mit ihr und erzählten, dass sie am liebsten diesem Leben entfliehen würden, irgendwohin, wo sie keiner kannte. Auf der andern Seite gehörten sie aber auch zu jenen, die es duldeten, dass Frauen wie Maria ausgenutzt wurden.
Es hatte Zeiten gegeben, da hatte sie mit dem einen oder andern sogar so etwas wie Mitleid verspürt, auch wenn sie wie eine Sklavin gehalten wurde, aber irgendwann war es auch mit dieser Empfindung vorbei gewesen. Da dachte sie nur noch an sich und den Tag, an dem sie selbst endlich diesem Grauen entfliehen konnte. Jeder von den Menschen, die gekommen waren und Sex oder Gespräche verlangt hatten, konnte hinterher wieder nach Hause fahren und tun und lassen, was er wollte. Etwas, das Maria in den vergangenen beinahe vier Jahren verwehrt worden war, das sie härter und bitterer werden ließ. Was jedoch blieb und ihr keiner nehmen konnte, war dieser unbändige Überlebenswille, der sie davon abhielt, ihrem Leben ein Ende zu setzen oder sich einfach in ihr Schicksal zu ergeben, die Perversionen unterschiedlichster Art über sich ergehen zu lassen. Und irgendwann war in ihr der Gedanke gereift zu kämpfen. Und deshalb hatte sie ihren Fluchtplan seit längerem geschmiedet, ohne auch nur eine von den anderen gefangenen Frauen einzuweihen, auch wenn sie sich mit einigen von ihnen angefreundet hatte, weil sie alle das gleiche Schicksal teilten. Und heute war der entscheidende Tag gekommen, von dem sie vorher nicht wusste, wie er enden würde, aber es blieb ihr keine Wahl, als es zu versuchen, denn schlimmer als in den letzten Jahren konnte es nicht werden.
Sie war in einem religiösen Elternhaus groß geworden, auch wenn der Sozialismus vor allem ihre Eltern und Großeltern daran gehindert hatte, ihren Glauben so zu leben, wie sie es gerne gewollt hätten. Alles war bis zur Öffnung der Grenzen im Geheimen geschehen, und doch hatten sie diesen ihren Glauben nie verloren. Ihr Vater hatte einmal gesagt, was immer auch passiere, wie immer auch das Leben verlaufe, Gott habe einen Plan für jeden Einzelnen, und wenn man sich auf Gott verlasse, werde man nicht im Stich gelassen.
Sie hatte in den zurückliegenden Tagen und Wochen mehr denn je gebetet, hatte um Hilfe gefleht, und jetzt hier bei Verena glaubte sie allmählich, dass Gott ihr Flehen erhört hatte. Er hatte ihr diese Inhaberin der Boutique, die sie kaum kannte, geschickt, damit sie ihr half. Und wenn es ihr irgendwie möglich wäre, würde sie sich dafür revanchieren. Aber noch war längst nicht alles ausgestanden, noch lag eine lange Strecke vor ihr, bis sie endgültig frei war. Und frei sein bedeutet, zu Hause bei ihren Eltern und ihren Geschwistern zu sein.
»Ich zeige Ihnen das Bad und lasse dann auch gleich Wasser einlaufen«, sagte Verena. »Aber vorher werfe ich noch einen Blick auf Ihren Fuß. Setzen Sie sich aufs Bett.«
Nach einer kurzen Begutachtung meinte sie: »Das ist nicht weiter schlimm, wahrscheinlich nur eine Prellung oder Stauchung. Ich kann Ihnen nachher einen Verband drum machen, wenn Sie möchten.«
»Nein, das ist nicht nötig. Wenn ich nicht laufe, tut es auch nicht weh.«
Sie begaben sich ins Bad, das sich schräg gegenüber vom Schlafzimmer befand. Verena Michel drehte die beiden Wasserhähne auf, fühlte die Temperatur und gab etwas Schaumbad dazu.
»Kann ich Sie jetzt allein lassen?«
»Macht es Ihnen etwas aus, bei mir zu bleiben?«, fragte Maria.
»Sie haben noch immer Angst, ich könnte …«
»Nein. Ich möchte nur nicht allein sein, das ist alles.«
»Natürlich. Soll ich uns eine Flasche Rotwein aufmachen?«
»Gerne«, antwortete Maria, während sie sich auszog.
»Du meine Güte, Sie haben ja eine perfekte Figur«, sagte Verena anerkennend. »Ich glaube, darum beneiden Sie viele.«
»Das ist mir egal«, erwiderte Maria lapidar und stieg ins Wasser. »Manchmal habe ich meine Figur gehasst, sie hat mir viel Unglück gebracht.«
»Entschuldigen Sie. Ich hole schnell den Wein, wir unterhalten uns ein bisschen, und nachher bestelle ich das Essen.«
Maria drehte die Wasserhähne zu, lehnte sich zurück und schloss die Augen. Allmählich floss die Wärme des Wassers durch ihren ganzen Körper. Zum ersten Mal seit einer scheinbar unendlichen Zeit fühlte sie sich gelöst von den unerträglichen Fesseln der Gefangenschaft. Verena kehrte nach wenigen Minuten mit einer Flasche und zwei Gläsern zurück, zog den Sessel, der in dem großen Bad neben dem Schminkspiegel stand, zur Badewanne hin und setzte sich. Sie schenkte die Gläser halbvoll und stieß mit Maria an.
»Auf Ihr Wohl, und dass sich alles zum Guten wendet«, sagte Verena.
»Danke, dass Sie mir geholfen haben.« Maria nahm einen kleinen Schluck und stellte ihr Glas auf den Wannenrand.
»Keine Ursache. Hier ist übrigens die Karte von dem Italiener.« Verena zog das gefaltete Papier aus der Jackentasche ihres Hausanzugs und legte es neben das Glas.
»Was essen Sie denn am liebsten?«, fragte Maria, ohne in die Karte zu schauen.
»Ich bestelle mir meistens Spaghetti mit Knoblauchsauce. Aber nur, wenn ich am nächsten Tag nicht arbeiten muss«, antwortete Verena lachend. »Und natürlich einen Salat dazu.«
»Dann nehme ich das Gleiche.«
»Ich müsste eigentlich morgen arbeiten«, sagte Verena mit nachdenklicher Miene. »Es kann aber auch sein, dass ich meine Termine absage. Es kommt drauf an.«
»Auf was kommt es an?«, wollte Maria wissen.
»Wie es mit Ihnen weitergeht. Glauben Sie mir, ich will und werde Ihnen helfen. Sie haben mein Wort darauf.«
»Ich glaube Ihnen.«
Maria badete so ausführlich wie lange nicht mehr, wusch sich die Haare, trocknete sich ab, fönte die Haare und zog sich an, während Verena telefonisch die Bestellung aufgab. Als Maria fertig war, begaben sie sich nach unten ins Wohnzimmer. Verena legte eine CD ein, die leise im Hintergrund lief, und ließ die Rollläden herunter.
Nach dem Essen setzte sich Maria aufrecht hin, die Füße, die kaum noch schmerzten, unter ihrem Po. Verena sah sie an und sagte: »Und jetzt erzählen Sie mir von sich, ich will die ganze Geschichte hören, um mir ein Bild machen zu können.«
»Ich bin eine Prostituierte«, begann Maria leise, die Hände gefaltet, den Blick zu Boden gerichtet.
»Ich habe mir so etwas Ähnliches schon gedacht. Wo haben Sie gearbeitet?«
»Ich weiß es nicht. Irgendwo in Frankfurt.«
»Was heißt, Sie wissen es nicht? Sie müssen doch wissen, wo Sie gearbeitet haben.«
»Es war in einem Haus. Wir durften es nie verlassen, außer in Begleitung. Ich kenne mich in Frankfurt nicht aus. Ich weiß nicht einmal, wo ich jetzt bin.«
»In Eschersheim, das ist ein Stadtteil von Frankfurt. Wenn ich Sie eben richtig verstanden habe, waren Sie nicht freiwillig in diesem Haus. Wie haben Sie es geschafft zu fliehen?«
»Ich bin weggerannt, eine Frau hat mir geholfen.«
»Von wo sind Sie weggerannt?«
»Eine Boutique, ich weiß aber nicht, wie die Straße heißt. Wir sind einmal im Monat dort einkaufen gegangen.«
»Wer ist wir?«
»Carlos und Mischa. Mischa hat immer draußen gestanden und aufgepasst, dass ich nicht weglaufe, und Carlos hat so getan, als wäre er mein Freund.«
»Aber dieser Carlos ist nicht Ihr Freund, sondern Ihr Zuhälter, richtig?«
»Nein, er ist kein Zuhälter. Er, Mischa und noch zwei andere passen auf, dass keine von uns Dummheiten macht, wie er immer sagt. Sie führen die Befehle aus, die man ihnen gibt.«
»Wer gibt die Befehle?«
»Es sind drei Männer.«
»Und wie heißen diese Männer?«
»Marco, Rufus und Pietro. Doch das sind nicht ihre richtigen Namen, keiner dort benutzt seinen richtigen Namen. Aber eigentlich ist Marco derjenige, der der Taipan ist. So mussten wir ihn zumindest immer nennen.«
»Taipan? Was bedeutet das?«
»Er hat nur gesagt, dass er große Macht hat. Ich weiß aber nicht, was Taipan wirklich bedeutet.«
»Wie sind Sie überhaupt nach Deutschland gekommen?«
Maria sah Verena an. Mit einem Mal füllten sich ihre Augen mit Tränen. Verena schob wortlos ein Päckchen Papiertaschentücher über den Tisch, Maria putzte sich die Nase und berichtete mit stockender Stimme: »Ein Bekannter hat mich in meiner Heimatstadt Kagul angesprochen und gefragt, ob ich nicht gerne im Westen arbeiten würde. In Deutschland oder Frankreich oder der Schweiz. Sie würden dort immer Frauen suchen, die sich um die Kinder von reichen Leuten kümmern. Er hat mir gesagt, dass er mir eine solche Stelle als Aupairmädchen besorgen kann. Wissen Sie, wie es in Moldawien aussieht?«
»Nein, tut mir leid, das weiß ich nicht. Ich wusste ja bis vorhin nicht einmal, wo es liegt.«
»Es weiß fast keiner, weil es keinen interessiert«, sagte Maria bitter. »Die meisten Menschen dort sind sehr arm, weil es kaum Arbeit gibt. Und ich hätte wahrscheinlich auch nie eine Chance gehabt, eine Arbeit zu finden, obwohl ich nicht dumm bin. Ich dachte damals nur, ich will weg hier, und habe nicht lange überlegt. Ich war ja erst knapp siebzehn. Ich habe ja gesagt, es konnte schließlich alles nur besser werden, als in der Wohnung zu sitzen oder mit Freundinnen auf der Straße rumzustehen und immer nur über die gleichen Dinge zu reden. Ich wollte wirklich nur weg und meinen Eltern und Geschwistern jeden Monat Geld schicken, damit sie genug zu essen haben. Sie wohnen in einem kleinen Haus, und im Winter ist es dort meist sehr kalt und …« Sie hielt inne und fing wieder an leise zu weinen. Die Verzweiflung stand ihr deutlich ins Gesicht geschrieben.
»Ihre Eltern haben kein Geld, um das Haus zu heizen?«
Maria nickte nur.
»Und was haben Ihre Eltern zu Ihrem Entschluss gesagt?«
»Sie waren nicht sehr begeistert, aber ich konnte sie überzeugen, dass es besser für uns alle wäre. Mein Vater hat mir trotzdem seinen Segen gegeben und noch gesagt, ich solle gut auf mich aufpassen. Das Seltsame ist, als ich mich von ihnen verabschiedet habe, hatte ich das Gefühl, dass es ein Abschied für immer sein würde.«
»Sie werden Ihre Familie wiedersehen, das verspreche ich Ihnen …«