Als Ravensburger E-Book erschienen 2012

Die Print-Ausgabe erscheint in der Ravensburger Verlag GmbH.
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ISBN 978-3-473-47262-8

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Ferienpläne

Lehrer. Wenn es Wesen auf der Welt gab, die vom richtigen Leben keine Ahnung hatten, dann waren es Lehrer.

„Alle, die zwischen zwei Noten stehen, erarbeiten bitte ein Referat“, hatte Toris Geschichtslehrer Herr Pleger drei Tage vor den Osterferien verkündet. „Und damit ihr über die Ferien keine Langeweile bekommt, verteile ich jetzt schon mal die Themen.“

Tori, die zwischen Zwei und Drei stand, bekam ein Referat über das antike Griechenland aufs Auge gedrückt. „Aber ich komm in den Osterferien bestimmt nicht dazu, das vorzubereiten!“, protestierte sie.

„Fährst du weg?“ Herr Pleger musterte sie misstrauisch über den Rand seiner Lesebrille.

Nein, Tori fuhr nicht weg, sie würde beide Ferienwochen zu Hause verbringen.

„Na, dann hast du doch Zeit“, schlussfolgerte Herr Pleger.

So ein Idiot! Wenn Tori wie die anderen weggefahren wäre, in ein Ferienhaus nach Italien oder in einen Club auf Mallorca oder zu ihren Großeltern, dann hätte sie Zeit gehabt, sich mit den alten Griechen und ähnlichem Schwachsinn auseinanderzusetzen. Aber sie blieb zu Hause. Und das bedeutete, dass sie rund um die Uhr beschäftigt sein würde.

„So ein Mist!“ Sina, die neben Tori saß, hatte ein Referat über das Römische Reich abbekommen.

„Bitte, was?“, fragte Herr Pleger.

„Nichts“, sagte Sina.

„Dann ist es ja gut“, meinte Herr Pleger. Danach verteilte er die Termine, an denen die Referate gehalten werden sollten. Tori und Sina waren gleich am zweiten Schultag nach den Ferien dran.

„Der spinnt ja wohl“, murmelte Tori.

Sie hatte in den Osterferien wirklich Besseres vor, als im Internet und in der Bibliothek für die Schule zu recherchieren! Tori und Sina verbrachten nämlich jede freie Minute als Pferdemädchen auf der Sunshine Ranch, genau wie Myriam, Ayla, Juliana und Hannah aus ihrer Klasse. Als Pferdemädchen trug man die Verantwortung für ein Pflegepferd, man fütterte, putzte und ritt es, man mistete seine Box aus und führte es abends von der Weide in den Stall. Während der Schulzeit radelten die Mädchen jeden Nachmittag und am Wochenende auf die Ranch, in den Ferien trafen sie sich dort nach dem Frühstück und blieben bis zum Abendessen. Die anderen Mädchen aus ihrer Klasse gingen nachmittags zum Shoppen, ins Kino oder ins Freibad. Die sechs Pferdemädchen hatten keine Zeit für so etwas.

„Nervt dich das nicht manchmal?“, hatte Silvie Tori neulich gefragt.

„Quatsch!“, hatte Tori entgegnet. „Ich hab doch alles auf der Ranch. Freunde, Spaß, Abwechslung, sogar Sport. Was will man mehr?“

Silvie hatte nur den Kopf geschüttelt. Sie verstand Tori einfach nicht, ebenso wenig wie Herr Pleger, der immer noch vor Toris und Sinas Tisch stand.

„Ist alles klar bei euch?“, fragte er.

Tori und Sina nickten im Gleichtakt. Nichts war klar, aber es machte ja keinen Sinn zu widersprechen.

„Bin ich froh, dass ich auf einer glatten Drei stehe!“, meinte Hannah in der Pause. „Ein Referat vorzubereiten, darauf hätte ich in den Ferien echt überhaupt keinen Bock.“

„Danke für den Kommentar“, sagte Tori. „Genau das hat mir jetzt gefehlt!“

„Sorry“, murmelte Hannah und biss in ihren Apfel.

„Ich will auf jeden Fall eine Drei in Geschichte“, verkündete Sina. „Ich hab meiner Mutter versprochen, dass ich mich in den Nebenfächern verbessere.“

„Ach. Und was heißt das?“, fragte Tori. „Willst du die Ranch sausen lassen und dich ganz auf das blöde Referat konzentrieren?“

„Quatsch. Aber ich muss ein bisschen kürzertreten. Vielleicht kann eine von euch Janko mitversorgen. Hin und wieder mal.“

Tori verdrehte die Augen. „Wie stellst du dir das vor?“, fragte sie. „Wir haben doch schon genug zu tun. Und ich muss ja auch noch mein eigenes Referat vorbereiten.“

„Dich hab ich ja gar nicht gefragt“, fauchte Sina. „Und außerdem hab ich ‚hin und wieder mal‘ gesagt. Hörst du mir nicht zu?“

Typisch, dass Sina gleich in die Luft ging! Früher waren sie und Tori die besten Freundinnen und einfach unzertrennlich gewesen, aber in letzter Zeit lief es gar nicht mehr rund zwischen ihnen. Sie stritten sich wegen jeder Kleinigkeit. Vermutlich lag es daran, dass Sina seit ein paar Monaten mit Viktor zusammen war, der Tori nicht ausstehen konnte. Bestimmt hetzte Viktor Sina gegen Tori auf.

„Ich helf dir gerne, Sina“, sagte Hannah ruhig.

„Danke.“ Jetzt lächelte Sina. „Ich red auch mit Viktor. Der packt in den Ferien sicher mit an.“

„Vielleicht schreibt er dir auch gleich noch dein Referat“, stichelte Tori. „Dann musst du dir um deine Drei überhaupt keine Sorgen mehr machen.“

Sina antwortete nicht. Sie tat einfach so, als hätte sie nichts gehört.

That’s simply impossible!“, schrie Sue in ihr Mobiltelefon. „Do you hear me? Impossible!“ Sie legte auf, ohne sich zu verabschieden. Einen Moment lang schien sie versucht, das Handy im hohen Bogen in das Gehege zu werfen, in dem die beiden Hängebauchschweine Horst und Klothilde gerade ein Schlammbad nahmen. Aber stattdessen steckte sie es in ihre Jeans und seufzte resigniert.

„Alles in Ordnung, Sue?“, fragte Tori. Wenn die Ranchbesitzerin ausrastete, ließ man sie besser in Ruhe, das wussten die Pferdemädchen aus Erfahrung. Aber Sue schien auf einmal gar nicht mehr wütend, sie sah eher traurig aus.

„Das war meine Schwester“, sagte sie. „Ach, es ist zum Verrücktwerden.“

„Was ist denn passiert?“, erkundigte sich Hannah, die ebenfalls näher getreten war. „Schlechte Nachrichten von zu Hause?“

„Kann man wohl sagen.“ Sue fuhr sich mit beiden Händen durch die wilde, rotblonde Mähne. „Meine Mutter ist ziemlich krank.“

„Das tut mir leid“, sagte Tori.

„Und ausgerechnet jetzt fährt meine Schwester in Urlaub. Dabei hatten wir abgesprochen, dass sie so lange in Sacramento bleibt, bis ich hier einen Verwalter gefunden habe und rüberfliegen kann.“

Sue war Amerikanerin. Bevor sie die Sunshine Ranch vor einigen Jahren gekauft und nach ihren Vorstellungen umgebaut hatte, hatte sie in Los Angeles gelebt. Als erfolgreiche Hollywood-Schauspielerin war sie in vielen Filmen aufgetreten, aber dann hatte sie ihre Karriere von einem Tag auf den anderen an den Nagel gehängt. „Das Filmbusiness hat mich fertiggemacht“, hatte sie Tori kürzlich erst erklärt. „Vornerum tut jeder zuckersüß, aber sobald du dich umdrehst, stoßen sie dir ein Messer in den Rücken. Nee, ich hatte die Schnauze voll davon.“

„Was hat deine Mutter denn?“, fragte jetzt Sina, die inzwischen ebenfalls auf dem Hof angekommen war.

„Sie hat vor Kurzem eine neue Hüfte bekommen. Wenn sie aus der Reha nach Hause kommt, braucht sie natürlich noch eine Menge Hilfe im Haushalt. Das sollte am Anfang meine Schwester übernehmen, bis ich einspringen kann. Aber nun hat Sally plötzlich ihre Meinung geändert. Jetzt will sie unbedingt nach Hawaii. Montag geht ihr Flieger.“

„So ein Mist.“

„Das kannst du laut sagen. Dabei weiß Sally genau, dass ich hier nicht alles stehen und liegen lassen kann. Ich brauch doch jemanden, der mich auf der Ranch vertritt. Wenn wenigstens Robert hier wäre! Aber der muss ausgerechnet jetzt zu einem Fotoshooting nach Prag.“

„Montag, sagst du?“, fragte Tori. „Das ist doch perfekt.“

„Was ist daran perfekt?“ Sue wirkte genauso verständnislos wie Sina und Hannah.

„Am Samstag fangen die Osterferien an. Da können wir uns doch um alles kümmern.“

„Ihr?“, fragte Sue ungläubig. „Wie soll das denn gehen?“

„Das frage ich mich allerdings auch“, sagte Sina.

Auf diese Bemerkung hatte Tori nur gewartet. So war es nämlich immer: Wenn Tori eine Idee hatte oder einen Vorschlag machte, dann schoss Sina auf der Stelle quer. Das funktioniert doch nie im Leben, das ist viel zu kompliziert, das klappt bestimmt nicht. Aber Tori ließ sich schon lange nicht mehr auf Sinas Bedenken und Einwände ein. Im Gegenteil, inzwischen spornte sie Sinas Widerspruch richtig an.

„Wir sind zu sechst“, sagte sie. „Und jede von uns kennt sich hier aus. Das schaffen wir doch mit links.“

Das war übertrieben, das war ihr selbst klar. Die Sunshine Ranch zu managen, war alles andere als ein Kinderspiel. Aber was wäre das Leben ohne Herausforderungen? Total langweilig.

Sue war natürlich skeptisch. „Du darfst das alles hier nicht unterschätzen, Tori. Es sind ja nicht nur die Pferde, die versorgt werden müssen. Die übrigen Tiere machen auch eine Menge Arbeit.“

Die übrigen Tiere, das waren die beiden Hängebauchschweine, die Ziege Ilka, Esel Fritz und eine Unmenge an Gänsen, Enten und Hühnern. Und natürlich Washington, ein riesiger Neufundländer, der jeden Tag Berge von Hundefutter vertilgte und trotzdem ständig hungrig war.

„Ist schon klar.“ Tori nickte. „Aber wir haben doch Ferien. Und wenn wir alle mit anpacken, dann schaffen wir das auch.“

Sina öffnete den Mund, um zu widersprechen, aber jetzt fuhr ein schwarzer Mercedes mit verdunkelten Scheiben auf den Hof. Ein großer Mann im Anzug schob sich aus dem Fahrersitz und klappte sich dabei richtiggehend auseinander.

„Frau Mirador?“, fragte er, als er Sue erblickte.

„Herr Müller. Den hab ich ja vollkommen vergessen“, murmelte Sue. Ihr Gesicht verfinsterte sich. Während sie auf den Mann zuging, wurden ihre Lippen ganz schmal.

„Müller“, wiederholte Hannah, während Sue und der Fremde im Büro verschwanden. „Was ist das denn für ein Typ?“

„Vielleicht wieder ein Bewerber?“, mutmaßte Sina.

Sue suchte seit Monaten nach einem Verwalter für die Sunshine Ranch. Aber bisher hatte sie niemanden gefunden, der auch nur im Entferntesten ihren Vorstellungen entsprochen hätte.

„Weil du einfach Unmögliches erwartest“, sagte Robert, Sues Freund, der gleichzeitig auch ihr Exmann war. „Du suchst einen Superman, der sich mit Tieren auskennt, deine Buchhaltung macht und am besten auch noch auf der Ranch mit anpackt. So einen Typ gibt es nicht.“

„Na, der Kerl sieht nicht so aus, als hätte er schon mal einen Pferdestall von innen gesehen“, meinte Tori abfällig. „Der macht sich doch nicht mit Tieren die Finger schmutzig.“

„Muss er ja auch nicht als Verwalter“, sagte Sina. „Und man sollte nicht nach dem Äußeren gehen.“

Tori verdrehte die Augen. Egal was sie sagte, Sina war einfach immer anderer Meinung.

„Meintest du das wirklich ernst, dass wir uns alleine um die Ranch kümmern könnten?“, wechselte Hannah das Thema.

„Warum nicht? Sind doch nur zwei Wochen.“

„Hm.“ Hannah rieb nachdenklich ihre Stupsnase. „Ich würde Sue liebend gern helfen.“

„Sag ich doch.“

„Bevor wir irgendwas beschließen können, müssen wir erst mal mit den anderen reden“, bestimmte Sina.

Getönte Scheiben

„Es wird garantiert nicht einfach“, sagte Myriam. „Aber irgendwie kriegen wir das schon hin.“

Die sechs Pferdemädchen saßen in Albertos Eisdiele am Marktplatz und tranken Milkshakes. Auch Viktor, der in der Eisdiele jobbte, hatte sich für einen Moment zu ihnen an den Tisch gesetzt.

„Ich werd in den nächsten Wochen ziemlich viel im Eiscafé gebraucht“, sagte er. „Aber wenn es irgendwie geht, helf ich euch auf der Ranch.“

„Das ist nett“, antwortete Ayla. „Also, ich glaube, wenn wir alles gut organisieren und die Aufgaben verteilen, dann klappt das super.“

„Wir brauchen einen genauen Plan“, gab Myriam zu bedenken. „Wer übernimmt was? Also zusätzlich zum eigenen Pflegepferd.“

„Ich würde mich um die Hängebauchschweine kümmern“, bot Juliana an.

„Und ich mich um die Hühner und Gänse“, sagte Hannah.

„Ich kümmere mich um Ilka“, sagte Ayla.

„Und ich übernehme Washington“, meinte Tori.

„Toll“, sagte Sina. „Der macht ja nun wirklich keine Arbeit. Der schläft doch den ganzen Tag.“

„Und Becky und Fritz“, ergänzte Tori, ohne Sinas Einwurf zu beachten. Die Haflingerstute, die sich mit Esel Fritz einen Außenstall teilte, war trächtig und würde in den nächsten Wochen ihr Füllen zur Welt bringen. Die Geburt wurde von allen mit großer Spannung erwartet. Bisher hatte sich Becky wie eine Mutter um Fritz gekümmert, seit er als Eselsfüllen auf die Ranch gekommen war. Nun fragten sich natürlich alle, wie Fritz auf Beckys erstes eigenes Fohlen reagieren würde.

„Dann kümmere ich mich auch noch um Harlekin“, bot Myriam an.

„Und ich übernehme Maxim“, erklärte Viktor. „Ich schaff es vielleicht nicht jeden Tag, ihn auszureiten, aber ich tu mein Bestes.“

„Bleibt nur noch Dakota“, sagte Tori. „Wer versorgt Dakota, solange Sue weg ist?“

Alle sahen Sina an, die bisher als Einzige keine Aufgabe übernommen hatte.

„Nee“, meinte diese tonlos. „Nicht Dakota. Das geht auf keinen Fall.“

Die anderen nickten hastig. Vor einem halben Jahr war es auf der Ranch zu einem furchtbaren Zwischenfall gekommen, bei dem Sina von Sues nervösem Colorado Ranger fast zu Tode getrampelt worden wäre. Im allerletzten Moment war sie aus seiner Box befreit worden. Nun blieb sie immer auf Distanz zu dem großen Hengst.

„Vielleicht findet sich ja auch eine andere Lösung für Dakota“, überlegte Tori. „Ich meine, es gibt doch Höfe, die Pferde zur Pflege aufnehmen, während die Besitzer im Urlaub sind.“

„Wenn wir Dakota für zwei Wochen weggeben, ist er hinterher noch verstörter als jetzt“, gab Ayla zu bedenken.

„Wenn du dich um Maxim kümmerst, Sina, dann übernehme ich Dakota“, bot Viktor schließlich an. „Ich mach seine Box sauber und bring ihn auf die Weide und so weiter. Aber ich werde ihn nicht reiten, dass das klar ist.“

Sina legte dankbar ihre Hand auf die seine.

„Muss Liebe schön sein“, spottete Tori.

Kaum dass die Worte raus waren, ärgerte sie sich über sich selbst. Warum sagte sie so was, wo sie doch genau wusste, wie viel Überwindung dieses Angebot Viktor kostete? Auch er hatte schlimme Erfahrungen mit Sues Pferd gemacht. Im letzten Sommer hatte er einen schweren Reitunfall mit Dakota gehabt.

„Du bist doch nur neidisch“, gab Sina zurück. Ihre Finger umschlossen Viktors Hand noch fester.

„So ein Blödsinn.“ Tori warf den Kopf zurück und stand auf. „Die Rechnung bitte!“, rief sie laut in Richtung Theke. „Wo bleibt denn die Bedienung? Also, was ist das eigentlich für ein mieser Service hier!“

„Ihr seid einfach …“ Sue war sprachlos, als die Pferdemädchen ihr am nächsten Nachmittag den Plan überreichten. Vorne hatten sie genau aufgelistet, wer welche Aufgabe übernehmen wollte, auf der Rückseite hatten alle unterschrieben. „Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.“

„Sag nichts“, meinte Tori. „Buch lieber schnell den Flug und pack deinen Koffer. Um die Ranch musst du dir keine Gedanken machen. Wir schaukeln das Baby schon.“

That’s just wonderful“, sagte Sue. „Aber …“

„Nichts aber“, sagte Tori. „Du fliegst, wir kümmern uns um den Rest.“

Sue schüttelte den Kopf. Nachdenklich kringelte sie eine Strähne ihrer rotblonden Locken um den Zeigefinger. „Ich hätte überhaupt keine Bedenken, wenn nur Becky nicht trächtig wäre. Ihr Fohlen kann jeden Tag auf die Welt kommen. Ich kann sie doch jetzt nicht alleinlassen.“

„Ach komm!“, meinte Myriam. „Wenn es losgeht, rufen wir Dr. Knopfler. Der hat doch schon Hunderte von Fohlen auf die Welt gebracht.“

„Und wenn es nachts anfängt?“

Tori und die anderen wechselten einen schnellen Blick. Da hatte Sue Recht, dieses Problem hatten sie bisher übersehen.

„Es sind doch Ferien“, überlegte Tori. „Da kann immer eine von uns hier übernachten. Als eine Art Feuerwehr.“

„Hm.“ Sue ließ die Haarsträhne von ihrem Finger gleiten und kaute stattdessen an ihrem Zeigefingernagel. „Wenn ich wenigstens einen Verwalter hätte. Ich hätte nie gedacht, dass es so schwer ist, jemanden für den Job zu finden.“

„Was war das eigentlich gestern für ein Typ?“, wollte Ayla wissen. „Wieder ein Bewerber für die Stelle?“

„Nein“, sagte Sue. „Der wollte was anderes.“ Von einer Sekunde auf die andere verspannte sich ihr Körper und ihr Gesicht wurde streng und hart.

„Was denn?“, erkundigte sich Tori.

„Nichts. Also, jedenfalls hat er nicht bekommen, was er wollte. Ach, ist ja auch egal.“

Die Mädchen wechselten einen verwunderten Blick.

Normalerweise hätte Tori so lange weitergebohrt, bis sie alles über den Fremden in Erfahrung gebracht hätte, aber im Moment gab es Wichtigeres. „Verwalter hin oder her. Wir sind zu sechst, wir kennen uns mit Pferden aus, wir schmeißen den Laden hier“, sagte sie ein wenig ungeduldig.

Sue nagte an ihrer Unterlippe. „Erst müssen eure Eltern damit einverstanden sein. Außerdem müsst ihr mir versprechen, dass ihr Dr. Knopflers Nummer immer bei euch tragt. Jede von euch. Damit ihr ihn jederzeit erreichen könnt. Wenn die Geburt anfängt, müsst ihr Fritz sofort aus dem Außenstall nehmen. Wer weiß, wie er auf das Füllen reagiert. Vielleicht wird er eifersüchtig und versucht, dem Kleinen etwas anzutun. Es wäre am besten, wenn wir ihn jetzt schon umquartieren.“

„Aber das haben wir doch bereits versucht“, wandte Ayla ein.

Sue nickte nachdenklich. Vor einer Woche hatten sie Fritz schon einmal in den Stall zu den anderen Pferden gebracht. Der Esel war so unglücklich darüber gewesen, dass er ununterbrochen nach Becky geschrien hatte. Auch die trächtige Stute hatte aus Trauer über die Trennung kein Futter mehr angerührt und so gut wie nichts getrunken.

Irgendwann waren alle so zermürbt von Fritz’ Gebrüll, dass Sue ihn wieder in den Außenstall zurückgeführt hatte. Becky hatte ihr Ziehkind so überschwänglich begrüßt, als sei es gerade dem Metzger entkommen.

„Es wird alles gut gehen“, sagte Juliana. „Wirklich, Sue, du kannst dich auf uns verlassen.“

„Du wirst sehen, die Zeit in Amerika vergeht wie im Flug, und wenn du zurückkommst, ist hier alles ganz genau wie vorher“, versprach Sina.

„Oder besser“, sagte Tori.

Sina nickte euphorisch. Es war seit Langem das erste Mal, dass sie und Tori einer Meinung waren.

„Also gut“, sagte Sue. „Einverstanden.“

„Würde mich nicht wundern, wenn Sue doch nicht geflogen ist“, sagte Juliana, als die Mädchen und Viktor am Sonntagmorgen zusammen zur Ranch radelten.

Am Tag zuvor hatte Sue sie mit ihren Zweifeln und Bedenken fast zum Wahnsinn getrieben. „Und was ist eigentlich, wenn …“, hatte sie immer wieder aufs Neue angefangen. „Was macht ihr, falls …?“

„Wenn sie nicht weg ist, fessle und knebele ich sie und schlepp sie eigenhändig zum Flughafen“, drohte Tori.

Aber glücklicherweise erwartete sie nur Robert auf der Sunshine Ranch. „Meine Güte, ich dachte wirklich, sie kneift“, erklärte er. Unter seinen Augen lagen schwarze Schatten. Wahrscheinlich hatten Sue und er in der letzten Nacht kaum geschlafen. „Hier, das soll ich euch noch geben. Mit schönen Grüßen.“

Er reichte Ayla eine lange Liste mit Telefonnummern, den Namen von Ansprechpartnern und Verhaltensregeln.

„Notruf: 110. Feuerwehr: 112“, las Ayla laut vor. Empört ließ sie das Blatt sinken. „Wofür hält Sue uns? Jedes Kindergartenkind kennt die Nummern.“

„So ist sie eben.“ Robert seufzte und gähnte gleichzeitig. „Leute, ich muss nun leider los. Mein Flieger geht in drei Stunden. Seid ihr sicher, dass ihr hier zurechtkommt?“

„Nun fang du bloß auch noch damit an!“, sagte Tori finster. „Natürlich kommen wir zurecht. Worauf wartet ihr noch?“, wandte sie sich an die anderen. „An die Arbeit! Heute Nachmittag ist Kinderreiten, vorher müssen die Pferde auf die Weide und sämtliche Boxen sauber gemacht werden.“ Während sie redete, sah sie Washington über den Hof trotten, die Nase dicht am Boden. Vielleicht suchte er Sue. Oder etwas zu fressen. „Und Washington muss gefüttert werden.“ Als er seinen Namen hörte, änderte der Neufundländer sofort die Richtung und kam zu ihnen herüber. Direkt vor Toris Füßen ließ er sich auf den Boden fallen. „Seht ihr? Er ist schon ganz kraftlos vor Hunger.“

Die Mädchen kicherten.

Washington schloss gekränkt die Augen und vergrub die Schnauze zwischen den Vorderpfoten.

Um elf Uhr waren die Pferde auf der Weide und der Stall sauber. Selbst mit Dakota hatte es keine Probleme gegeben. Der Colorado Ranger hatte sich wie ein zahmes Schoßhündchen von Viktor aus der Box führen lassen.

„Das war ja einfacher als gedacht.“ Viktor lächelte erleichtert. „Und zur Belohnung reiten wir jetzt aus.“

Mit wir meinte er natürlich Sina und sich selbst, schon klar. Auf die Idee, Tori zu fragen, ob sie mitkommen wollte, kam er gar nicht.

„Und was ist mit dem Kinderreiten?“, fragte Tori empört. „Ich hab keine Lust, alles alleine …“

„Bis dahin sind wir doch längst zurück“, unterbrach Sina sie. „Reg dich nicht auf.“

Hand in Hand marschierte sie mit Viktor zur Sattelkammer, ohne sich noch einmal nach Tori umzudrehen. Kurz darauf galoppierten sie auf Janko und Maxim vom Hof.

Tori blickte auf ihre Uhr. Bis zum Kinderreiten am Nachmittag, bei dem man für zwei Euro ein paar Runden im Roundpen drehen konnte, war es tatsächlich noch eine Weile hin.

„Hat irgendjemand von euch Lust auf einen Ausritt?“, erkundigte sie sich beiläufig bei den anderen.

Aber Ayla musste noch Ilka füttern, Juliana wollte nach den Hängebauchschweinen sehen, Hannah hatte die Hühner noch nicht versorgt und Myriam musste nach Hause.

„Zum Kinderreiten bin ich wieder da. Aber wenn ich am Wochenende nicht pünktlich zum Mittagessen erscheine, rastet mein Vater aus.“