Thomas R.P. Mielke
Die Varus-Legende
Historischer Roman
Roman
Fischer e-books
Thomas R.P. Mielke arbeitete als Kreativdirektor in internationalen Werbeagenturen und ist seit Jahren für seine historischen Romane bekannt, Erfolge wie "Karl der Große", "Gilgamesch", "Inanna" oder "Die Kaiserin". Er lebt in Berlin. Seine historischen Romane »Die Brücke von Avignon« (Bd. 16331) und »Die Rose von Avignon« (Bd. 16332), »Der Palast von Avignon« (Bd. 16333) und »Gold für den Kaiser« (Bd. 16751) liegen im Fischer Taschenbuch Verlag vor.
Covergestaltung und -abbildung: HildenDesign, München
Unter Mitarbeit von Astrid Ann Jabusch
Kartenreliefe: Golden Section Graphics GmbH, Berlin
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main, 2008
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-400063-3
Ja, er bewunderte den Mann, der den Stein ins Rollen gebracht hatte. Einen Offizier des britischen Empire in Germanien, der hier in der Gegend von Kalkriese Tausende von römischen Münzen mit seinem Metalldetektor aufgespürt hatte: Spuren vom katastrophalen und mysteriösen Untergang von mehr als drei Legionen eines noch älteren Imperiums. Zweitausend Jahre war das her, fast auf den Tag genau zweitausend Jahre.
Ebi Hopmann fühlte sich nicht wie ein Eindringling im Museum Kalkriese, eher schon wie ein Rammsporn der Wahrheit. Ein graumelierter, kurzgelockter Pensionär von der Porta Westfalica, vom Leben und dem ständigen Kampf um ganze Schiffsladungen von altem Eisen, geschmiedet wie ein römischer Centurio nach zwanzig Dienstjahren – nicht aufzuhalten, wenn der Weg klar war.
Trotzdem fühlte er sich unbehaglich, als er die einst versilberte Eisenmaske hinter Glas im Schimmer des Notlichts betrachtete. Sie hatte seltsam abweisende, fast schon verächtliche Züge. Ein Offizier hatte sie vor gut zweitausend Jahren getragen, einer der vielen Toten vielleicht, aber wahrscheinlich kein einfacher Centurio, sondern ein Präfekt, Tribun, wenn nicht sogar ein Legat von Kaiser Augustus. Und ein anderer Besatzungsoffizier hatte sie zweitausend Jahre später wiedergefunden.
Als die letzten Besuchergruppen den hohen und inzwischen fast dunklen Ausstellungsraum verließen, hatte Hopmann sich wie vereinbart hinter den Stellwänden verborgen. Hier wollte er den Mann treffen, von dem er nur wusste, dass er etwas sehr Großes zum Höhepunkt der Zweitausendjahrfeiern um die Varus-Schlacht plante.
»Ich will gar nicht wissen, was Sie wissen«, hatte Gary H. Waldeck am Telefon mit seinem schweren Akzent gesagt. »Als PR-Manager und vice president bin ich für das Image der Sons of Hermann aus Texas zuständig. Ich zahle Ihnen hunderttausend auf ein Nummernkonto, damit Sie für den Rest des Jubiläumsjahres den Mund halten. Bucks oder Euro, wie Sie wollen. Dafür kein Wort mehr über den unseligen römischen Statthalter Varus, keine E-Mails und keine Interviews mit Zeitungen oder Fernsehsendern zum Thema Varus-Schatz.«
Hopmann kannte den Mann nicht, hatte ihn nie gesehen. Er wusste nur, dass er als Erkennungszeichen ein Büschel blonder Haare am Handgelenk tragen wollte. Und dass er ebenfalls das Buch des englischen Majors Tony Clunn über die Münzfunde nördlich von Osnabrück gelesen hatte.
»Ich glaube, ich weiß jetzt, was mit Varus’ Schatztruhen geschehen ist«, hieß es auf Seite 245, »und ich denke, ich weiß, wo sich einige von ihnen zu diesem Zeitpunkt befinden und wie sie dort hingekommen sind.«
Die Klimaanlage war längst abgestellt und es war schwül im großen Ausstellungssaal. Dennoch fröstelte Hopmann im unwirklichen Schimmer der Notbeleuchtung.
Er starrte auf die wenige Schritte entfernte Maske mit der strengen Mundöffnung und den herablassend wirkenden Augenschlitzen. Wenn diese Maske typisch für die römischen Kulturbringer gewesen war, hätten die Verehrer von Arminius sogar recht mit ihrem Loblied auf die heldenhafte Strategie und den Todesmut der damaligen Germanen.
Aber es stimmte nicht.
Das für Germanen wunderbare Märchen vom ahnungslos durch die Wälder Germaniens tappenden Dummkopf Varus und einem genialen, alle Stämme vereinigenden Cheruskerfürsten Arminius stimmte nicht. Die Katastrophe im Teutoburger Wald musste völlig anders verlaufen sein, als sie von der römischen Propaganda gleich nach dem Schock und auch noch Jahrzehnte später immer weiter ausgemalt worden war. Aber noch immer stritten sich die Wissenschaftler und Lokalpatrioten nur um den Ort der rätselhaften Schlacht. Und nur ein einziges Mal hatte der Chefreporter eines Boulevardblattes ebenfalls den Hinweis aus dem Buch von Major Tony Clunn aufgegriffen. Das war vor genau vier Wochen gewesen.
»Wo ist der Varus-Schatz?«, hatte die in Köln erscheinende CENT reißerisch getitelt. »Was weiß die Kanzlerin als Schirmherrin der Jubiläums-Veranstaltungen?«
Hopmann hatte ein Gespür für Geschäfte und Projekte, die aus dem Ruder liefen. Und er besaß etwas, von dem bisher kaum jemand sonst etwas wissen konnte. Er tastete nach dem großen Kieselstein in seiner Jackentasche. Er war wie vom Bachwasser glattgeschliffen und auf der gewölbten Seite ein wenig geriffelt. Es war dieser Stein, den er in einem verwilderten Hangwald bei Detmold gefunden hatte und der ihm längst den Schlaf raubte. Er hatte herausgefunden, von wem das alte, in Öl gemalte Bild der Villa mit dem quadratischen Turm und den paar Großbuchstaben darunter stammten. Die Spur führte von Rom nach Detmold.
Er hatte lange nachgedacht, viele Nächte recherchiert, ein Foto seines Steins verschickt und sogar in Berlin nachgefragt. Das Kanzleramt hatte ihn an das Bundespresseamt verwiesen. Dort hatte ihn keiner so recht ernst genommen. Ein Spinner, Römerfreund, einer der üblichen Verschwörungstheoretiker.
Trotzdem hatte ihm kurz darauf ein Oberst aus dem Pressestab per E-Mail mitgeteilt, dass man die Kanzlerin über seine Bedenken bezüglich der bevorstehenden Jubiläumsfeiern informiert habe. Jetzt wusste er, dass auch dort irgendetwas »klick« gemacht hatte.
Hopmann war nie in seinem Leben ein hitziger Fanatiker gewesen. Geduldig hatte er versucht, den Journalisten in Köln anzusprechen, von dem der CENT-Artikel stammte. Aber er war nicht an Dr.Thomas Vesting herangekommen. Schließlich hatte ihn eine fröhliche, stets etwas angeheiterte Assistentin namens Lara nicht länger abgewimmelt, sondern kichernd mit dem Chefredakteur verbunden. Aus irgendeinem Grund hatte ihm Jean Lammers nicht nur zugehört, sondern geduldig nachgefragt, was genau Hopmann herausgefunden hatte. Es schien, als hätte er eine Nase für mögliche Skandale. Doch dann, als alles abgeschöpft war, hatte Lammers von einem Moment auf den anderen geblockt.
»Also schön«, hatte er gesagt. »Klingt süffig, was Sie da über den Varus-Schatz, das Hermannsdenkmal und Gerüchte aus Rom, Berlin oder auch Texas herausgefunden haben. Aber zu politisch und zu heiß ... sogar für uns! Wollen Sie wissen, wie oft uns hier beim CENT tolle Verschwörungstheorien für eine Handvoll Euro angeboten werden? Versuchen Sie’s doch lieber bei einem Privatsender. Aber ich sage Ihnen gleich – ohne Beweise, action und scharfe Bilder können Sie auch da keinen Blumentopf gewinnen.«
All das besaß Ebi Hopmann nicht. Natürlich hatte er dem Zeitungsmann nicht alles erzählt. Aber wenn zutraf, was er immer mehr vermutete, dann gab es außer dem ehrenwerten und korrekten Schatzsucher Tony Clunn inzwischen andere, die schon viel weiter waren und sich gegenseitig tödliche Fallen stellten.
Der Brief, den er etwas später in seinem Briefkasten fand, trug keine Marke und keinen Poststempel. Der Umschlag enthielt mehrere Eintrittskarten für die letzten Jubiläumsveranstaltungen in den Museen von Kalkriese, Haltern und Detmold und eine Ansichtskarte des Hermannsdenkmals. Auf der Rückseite stand eine mit Füller geschriebene Aufforderung. Sie klang fast wie ein Befehl: »Donnerstag, letzte Führung Kalkriese: Bleiben Sie an der silbernen Maske hinter den Stellwänden zurück. Bringen Sie den Stein mit. Es geht um den Lohn für Ihr Schweigen.«
Noch am selben Tag hatte Ebi Hopmann herauszufinden versucht, welche Verbindung zwischen dem Texaner und der Organisation der Jubiläumsfeierlichkeiten bestand. Er rief ein Dutzend Leute an, doch niemand wollte ihm Auskunft geben – weder Museen noch Landesverbände, Landräte, Politiker.
»Ja, es stimmt«, war alles, was er von einer Sekretärin erfuhr. »Die Sons of Hermann aus Amerika sind gerngesehene und großzügige Sponsoren.«
Aber sie wussten etwas! Sie alle wussten viel mehr!
Drei Tage danach waren Gestalten in Lederkluft auf Motorräder gesprungen, sobald er sein Haus am Schnakenborn in Porta verließ. Sie hatten jede seiner Fahrten nach Haltern, Kalkriese und Detmold verfolgt. Ein paar Tage später steckte auf dem Parkplatz des Ausflugslokals »Obere Mühle« zwischen Detmold und dem Hermannsdenkmal eine Warnung an der Windschutzscheibe seines Wagens.
»STOP!«, stand in Großbuchstaben auf dem abgerissenen Quittungszettel eines Hotels. »Es gibt keinen Varus-Schatz in Kalkriese oder beim Hermann. Kein Geheimnis. Keine Legende.«
Hopmann hätte den Zettel weggeworfen, wenn er nicht über den Aufdruck gestolpert wäre.
»Varus-Restaurant im Hotel Römerhof« stand auf dem antik aussehenden Papier. Er selbst hatte die leerstehende Immobilie an der Auffahrtsstraße zum Denkmal mit Schäden am Dach vom Sturm Kyrill günstig erworben – zusammen mit einem verwahrlosten Stück des Waldhangs drei Kilometer entfernt in Richtung Detmold. Das Hotel hatte er längst weiterverkauft. Es war vor drei Wochen neu eröffnet worden.
Viel interessanter war für ihn inzwischen der wilde Waldhang oberhalb des Ausflugslokals. Dort hatte früher eine Villa mit einem hohen Turm als Bergfried gestanden. Nur noch die Stützmauer aus Felssteinen am Hang mit großen Brunnennischen existierte. Und genau dort, in einer halb durch Efeu zugewachsenen Mauernische, hatte er den Stein gefunden, der inzwischen sein ganzes Leben durcheinanderbrachte.
Ebi Hopmann lauschte den knackenden und leise säuselnden Geräuschen innerhalb des neuen Museumsbaus, dann verließ er sein Versteck und ging direkt auf die Vitrine mit der silbernen Gesichtsmaske zu. Erst jetzt sah er, dass die Maske nur ein geschickt ausgeschnittenes und gebogenes Foto war.
Irgendwo schnaubte jemand. Hopmann legte den Kopf zur Seite.
»Waldeck? Sind Sie es?«
Im selben Augenblick trat aus dem Dunkel eine männliche Gestalt mit der Maske hervor. Im bläulichen Schein der Notbeleuchtung sah sie wie ein Opferpriester bei einer nächtlichen Zeremonie aus.
Der andere hielt sich das glänzende Metallstück vor das Gesicht.
»Die echte Reitermaske«, klang es durch das hart und zugleich hohl wirkende Mundloch. »Vor mehr als zwei Jahrtausenden von Marcus Lollius weitergegeben an Augustus’ Enkel Gaius, verloren von Tiberius und wiedergefunden von Varus.«
Ebi Hopmann trat einen Schritt vor. Ihm schlug das Herz bis zum Hals. Wer war dieser Mann? Er sprach ganz anders als der Texaner am Telefon. Hopmann zwang sich zur Ruhe und sagte dann: »Das kann nicht sein. Varus war überhaupt nicht hier in Kalkriese ...«
»Wer weiß das wirklich?«, höhnte der andere. Im Zwielicht des hohen Raumes erkannte Ebi Hopmann den römischen Wurfspeer. Wie vereinbart, suchte er nach einem Büschel blonder Haare am Handgelenk des anderen. Er konnte nichts entdecken. Erst jetzt verkrampfte sich sein Magen. Er riss die Arme hoch, wollte sich schützen. Zu spät.
»Du redest nie mehr!«, zischte der Maskierte. Er schleuderte den Wurfspeer. Die lange eiserne Spitze des pilum fuhr Hopmann mitten in die Brust. Es krachte, aber schmerzte kaum. Das weichgeschmiedete Eisen bog sich durch das Gewicht des hölzernen Schaftes an seinem Ende nach unten. Hopmann wurde nach vorn gezogen. Er ließ den Kieselstein aus der Hand fallen, stolperte und verlor das Gleichgewicht. Genau so mussten die Opfer der römischen Legionäre gestürzt sein.
Oder die Römer, wenn ihre germanischen Verbündeten sie verrieten und auf geheimen Befehl die Speere umkehrten.
Die Luft war frisch und für Ende August ungewöhnlich kühl. Ein kurzes, heftiges Sommergewitter hatte den Staub vieler Wochen von den gepflasterten Straßen und den Terrassendächern der großen Stadt Antiochia am Fluss Orontes gewaschen. Auf den langgestreckten Rennbahnen des circus stand noch immer schaumiges Wasser, doch überall traten wieder Menschen aus ihren kleinen, würfelförmig verschachtelten Häusern der Unterstadt und den griechisch wirkenden Villen an den Uferbergen. Sie alle blickten zum Fluss, auf dem das Gewitter ein erhabenes Schauspiel unterbrochen hatte.
Dutzende von aufgeregt durcheinanderschreienden Menschen in kleinen Booten begleiteten das hochbordige und bereits betagt wirkende Kriegsschiff flussaufwärts. Es war die berühmte IUSTITIA, eine gepanzerte Trireme der Flotte, die schon vor mehr als dreißig Jahren in der Seeschlacht von Actium für Octavian und Agrippa über Kleopatra und Marcus Antonius mitgesiegt hatte. Inzwischen galt die dunkelbraun glänzende IUSTITIA mit ihren Schiffswänden aus geklammerten Balken und Platz für zweihundert Seesoldaten als ein Relikt aus der Zeit vor der Pax Romana – ebenso wie die längst ausgemusterten und abgewrackten Großkampfschiffe mit sieben oder gar zehn Männern an jedem Ruder. Sie wurden nicht mehr gebraucht. Und gegen Piraten oder Aufständische vor Africa, Sardinien und der dalmatischen Küste waren kleine wendige Triremen besser geeignet als die schwimmenden Festungen und Paläste.
Und doch erinnerten sich einige der Älteren in der Stadt Antiochia noch gut daran, wie Octavian, der inzwischen auch »erhabener Augustus« genannt wurde, nach der großen Seeschlacht vollkommen kampflos Hellas, Asia und Syria besetzt hatte. Damals war er mit einer waffenstarrenden IUSTITIA den Orontes herauf bis Antiochia gekommen. Inzwischen war der Princeps zu alt und zu kränklich geworden für Schlachten und Stürme auf See. Er musste weder Rom noch seine Villa auf dem Palatin verlassen, wenn er erfahrene Senatoren als persönliche Stellvertreter und Oberkommandierende in seine Provinzen des Imperium Romanum schickte. Einige der Auserwählten hatten bereits mehrfach die wichtigsten Ämter des Reiches übernommen. Einer von ihnen befand sich an Bord der IUSTITIA. Ein anderer erwartete ihn in der Uniform eines Oberbefehlshabers am Uferkai der Palastanlage mitten im Fluss. Rund um ihn hatten einige Dutzend Legionäre, Musikanten und weißgekleidete Beamte unter Arkaden Schutz gefunden.
Als die IUSTITIA auf Pfeilweite heran war, trat der Senator Publius Quinctilius Varus straff und beherrscht vor die Reihen der Stabsoffiziere und hohen Verwaltungsbeamten. Die Nachmittagssonne blitzte auf seinem goldenen Brustharnisch, und sein roter Wollumhang umwehte ihn wie züngelnde Flammen.
Senator Varus wusste, wie er auf andere wirkte. Er verstand sich als ein Mann, der in sich selber ruhte und die Gesetze achtete. Er hatte alles erreicht, was ein cursus honorum, die große, ehrenvolle Ämterlaufbahn im Imperium Romanum, bieten konnte. Zu seiner Herkunft aus altem Adel in den Albaner Bergen gehörte die Legende, dass seine Ahnen Romulus und Remus als Gründer Roms auf den Palatin begleitet hatten. Er selbst war knapp fünfhundert Jahre nach Iunius Brutus, dem legendären ersten Konsul Roms, zusammen mit dem siegreichen Tiberius in das höchste Amt des riesigen Weltreichs gewählt worden. Inzwischen war er nacheinander Statthalter von Augustus und Befehlshaber der römischen Legionen in den Provinzen Africa, Asia und Syria gewesen. Zudem war er durch die Ehemänner seiner Schwestern und seine eigenen Ehefrauen eng mit dem ersten Adel und der Familie des alle überstrahlenden Princeps verbunden.
Senator Varus zog den linken Fuß kaum merklich nach, als er zur Kaimauer ging. Man hätte annehmen können, er wäre in einen Dorn getreten. Doch Varus hatte die leichte Knochenverkrümmung in seinem Fuß seit seiner Geburt – ebenso wie sein Vater und sein Großvater.
Quintilius Varus verachtete anders als viele Senatoren in Rom die gerade modische Gesichtsblässe. Er war im Lauf seines bewegten Lebens mit so vielen Wassern gewaschen worden, dass er seine glattrasierte, natürlich gebräunte Gesichtshaut mit Stolz zeigte. Selbst gegen die beiden schrägen Stirnfalten über seiner markant geratenen Nase hatte er nie adstringierende Kamillensalbe oder sonstige Tinkturen zugelassen. Aber das Auffälligste in seinem wie gemeißelt wirkenden Gesicht waren die hellgrauen Augen unter dem lockigen, kurzgeschnittenen Grauhaar. Wer nicht auf sie vorbereitet war, dem konnte allein der Blick dieses Mannes Anklage und Urteil zugleich sein.
Nur wenig später zeigte der Rammsporn der Trireme nicht mehr flussaufwärts zum Stadthafen von Antiochia, sondern zum langen, flachen Kai am Palast des Statthalters. Vorsichtig senkten sich die Reihen der Ruder in das vom Regen angeschwollene Wasser, gerade kräftig genug, um gegen die Strömung anzukommen. Auch in der Takelage der Trireme zeigte sich Ungewöhnliches. Anders als üblich hingen noch immer einige der Segel nass und zerfetzt an den Masten. So war noch kein Stolz der Meere die zwanzig Meilen vom Seehafen Seleukia bis zur Hauptstadt der römischen Provinz Syria gebracht worden. Dennoch sahen alle am vexillum, der purpurroten Kommandostandarte, und am goldenen Adler auf einer Stange am Bug, dass hier ein Flaggschiff einlief.
Hinter Varus löste sich eine blonde, junge Frau aus der Mitte der Wartenden. Sie war in eine blaue Tunika und gelbe Seidenschleier gekleidet. Eigentlich hatte sie wie alle anderen warten sollen. Doch sie war neugierig, lief leichtfüßig um ein paar Pfützen herum und folgte ihrem Gemahl bis kurz vor die riesige Trireme.
»Ich weiß überhaupt nicht, ob ich mich freuen oder traurig sein soll«, beklagte sie sich scherzend, als sie ihn eingeholt hatte. Sie stammte aus der herrschenden Familie des Imperiums, und sie war stolz auf ihren Mann, der zu den einflussreichsten Befehlshabern des Imperium Romanum gehörte – auch wenn er offiziell nicht als Legat von Augustus in der östlichen Provinz unterwegs war, sondern ganz privat auf Hochzeitsreise. »Müssen wir wirklich schon nach Rom zurück, sobald Quirinius angekommen ist?«
Varus und seine schöne Ehefrau gingen zum hastig wieder aufgebauten Baldachin am Kai des Stadtpalastes. Das Gewitter hatte die halbe Dekoration abgerissen.
»Du solltest dir wenigstens eine Stola bringen lassen«, antwortete Varus, ohne auf ihre Frage einzugehen. Er blieb auf der Mitte des Kais stehen. Claudia trat so dicht hinter ihn, dass ihr langes, goldenes Haar in sein Gesicht wehte. Es war ihr eigenes Haar, und nicht wie bei vielen Römerinnen von germanischen Sugambrerweibern erbeutet und eingeflochten. Varus blickte über den Fluss hinweg zu den weißen Häuserwürfeln der Provinzhauptstadt und den wie Tempelchen am Berghang verstreuten Villen der reichen griechischen und judäischen Händler. »Ich habe lange genug in dieser Stadt gelebt«, sagte er mit befehlsgewohnt vollklingender Stimme. »Der Wind von den Bergen kann nach dem Regen sehr kalt werden. Außerdem musst du dich langsam daran gewöhnten, dass du jetzt eine verheiratete Frau bist und dich nicht mehr ohne Schleier im Freien zeigen kannst.«
»Ist das jetzt Fürsorge oder Vorschrift zum Ende unserer Hochzeitsreise?«, fragte sie mit einem fröhlichen Augenaufschlag.
Varus lächelte kaum merklich. Er war ein ernsthafter Mann, der bei allem, was er tat, nie die Beherrschung verlor. Natürlich lachte er auch, wenn ein Lachen in Gesellschaft oder bei Verhandlungen angebracht war, doch das war etwas anderes. Das Lächeln, das er ihr zeigte, galt nur Claudia selbst. Die schöne Großnichte des mächtigen Herrschers Augustus in Rom war in einem Umfeld aufgewachsen, in dem die weiblichen Angehörigen einer Familie mehr Rechte besaßen als die heranwachsenden Männer. Selbst Senatoren mussten das väterliche Einverständnis für bestimmte Entscheidungen und Geschäfte einholen, während die Frauen viel leichter emanzipiert und dadurch aus der väterlichen Gewalt entlassen werden konnten.
Claudia Pulchra wich zurück, als zuerst der eisenbeschlagene Rammsporn und dann der hohe Bug der Trireme mit den vergoldeten Buchstaben IUSTITIA an ihnen vorbeiglitt. Sie hatte inzwischen verstanden, was das bedeutete, denn ebenso wie das unverwüstliche Kriegsschiff hätte ihr Ehemann diesen Namen wie eine Auszeichnung tragen können. Was er öffentlich sagte, galt als Recht, und was er entschied, musste Gerechtigkeit sein. Claudia wusste sehr gut, wo ihr Platz war und wie sie Quintilius Varus als Herrn über Leben und Tod, Freiheit oder Sklaverei zu nehmen hatte. Sie war zum ersten Mal in ihrem achtzehnjährigen Leben auf eine so lange und weite Reise gegangen. Für den fast dreimal so alten Senator, ehemaligen Konsul und Statthalter in drei verschiedenen Provinzen war es bereits die dritte Hochzeitsreise. Und die zweite Ehe mit einer Großnichte des göttlichen Augustus.
»Du weißt, dass ich neben den angenehmen Seiten unserer Gemeinsamkeit auch noch andere und sehr wichtige Aufgaben habe«, sagte er sanft zu seiner Frau. »Du weißt auch, dass wir hier im Palast nur Gäste sind. Sobald der neue Statthalter sein Amt übernommen hat, werden wir zusammen mit der Delegation der Judäer und einem ungemein kostbaren, geheim zu haltenden Schatz nach Rom zurückkehren. Nur wenn mir das gelingt, kann ich Augustus und das Reich vor gefährlich auflodernden Bränden des Widerstandes in Palästina und dieser Provinz retten.«
Sie seufzte nur leise bedauernd, wie es sich für eine wohlerzogene Patrizierin gehörte. Aber ihre Augen verrieten, dass ihr Interesse geweckt war und sie mehr über die geheimnisvollen Verabredungen wissen wollte, die ihr Gemahl bisher nur angedeutet hatte.
Varus wandte sich wieder der großen Trireme zu. Bereits vor dem Gewitter war ein reitender Bote in der Hauptstadt der römischen Provinz Syria eingetroffen. Er hatte berichtet, dass die Galeere aus Rom mit dem neuen Statthalter Publius Sulpicius Quirinius sich nur mühsam aus einem Sturm rund um die Insel Cypern gerettet hatte. Er war bereits zwei Tage zu spät und hatte deshalb nicht mehr im syrischen Seehafen Seleukia angelegt.
Voller Spannung wartete Varus darauf, ob sein großer Plan trotz dieser Widrigkeiten gelungen war. Alles hing an der Frage, ob Quirinius unterwegs eine fünfzigköpfige Delegation aus Judäa und Samaria aufgefischt hatte. Was er und seine ungewöhnlichen Verschwörer unter größter Geheimhaltung aus dem Land schaffen wollten, befand sich nicht im Palast des Statthalters.
Was Varus »mein Unterpfand« nannte, lagerte seit dem brutalen Ende der judäischen Aufstände nach dem Tod von König Herodes dem Großen vor fast zehn Jahren in zwölf Kisten versiegelt und verpackt in einem Hain haushoher Lorbeerbäume. Nicht einmal die Legionäre Roms hatten Zugang zum Daphne-Tempel außerhalb von Antiochia. Und nur eine Handvoll Pharisäer und Schriftgelehrte in Jerusalem und Galiläa wusste davon.
Die ersten Seile flogen von der mächtigen Galeere zum Kai. Ein Dutzend Sklaven stürzte sich auf sie. Vor den Arkaden stellte sich eine Zenturie aus der ersten Kohorte der Legio III Gallica mitten in Pfützen auf. Zusammen mit der X Fretensis gehörte sie zur Stammbesatzung im Legionslager vor der Provinzhauptstadt. Zusätzlich konnte der eintreffende Statthalter über einige tausend hervorragende Kämpfer der VI Ferrata am neuen Hafen von Caesarea in Palästina verfügen. Dort hielt sich auch die für Jerusalem zuständige XII Fulminata auf.
Varus blickte nach oben. Noch vor dem neuen Statthalter für die Provinz Syria entdeckte er am Heck der Trireme Gestalten, die jeden Tribun in einer Legion wütend gemacht hätten. Varus dagegen schloss für einen langen Moment die Augen. Er holte tief Luft. Zugleich durchströmte ihn ein Glücksgefühl, wie es noch nie zuvor beim Anblick von Nichtrömern, Freigelassenen oder auch stinkenden Ziegenhirten gekannt hatte.
Die Trireme hatte die Männer der Delegation aus Judäern und Samariern an Bord – jene Ältesten und Abgesandten, die nichts Geringeres in Rom verlangen wollten als die Ablösung, Enteignung und Verbannung ihres seit zehn Jahren grausam und unfähig über sie herrschenden Herodessohns Archelaos. Noch kurz vor seinem Tod hatte König Herodes der Große den Achtzehnjährigen zum Alleinerben seines Reiches bestimmt. Nach seinem Testament sollten Archelaos als König und sein Bruder Herodes Antipas als Tetrarchen Volksfürsten über ein geteiltes Israel werden.
Doch genau diesem Plan hatte Varus nicht zugestimmt. Ebenso wie die Volksstämme in Palästina hatte Roms Statthalter den Fähigkeiten von Archelaos ebenso misstraut wie seinem Charakter. Auf Varus’ Rat hin hatte ihm Augustus die Königswürde und den Ring seines verstorbenen Vaters verweigert. Fast zehn Jahre lang war Archelaos nur Volksfürst gewesen, aber er hatte sich noch schlimmer benommen als sein grausamer königlicher Vater.
Varus hatte kaum einen Blick für die anderen Männer an Bord der Trireme – für Ruderer, Seesoldaten und das nautische Personal. Er sah nicht einmal Quirinius schräg über sich, den alten und erneut wieder eingesetzten Statthalter von Syria. Einige andere Männer auf dem großen Schiff hätte er vor zehn Jahren noch als gefährliche Aufrührer ans Kreuz binden oder als Sklaven auf den Märkten des Imperiums verkaufen können. Sie wussten es, und er wusste, dass sie es wussten. Trotz alledem hatten der bissigste aller römischen Schäferhunde und die Lämmer einen geheimen Vertrag geschlossen. Sie wollten gemeinsam den reißenden Wolf beseitigen, der ebenso wie seine beiden Brüder das Erbe des Vaters durch Habgier und Dummheit zerfleischte.
Die meisten Männer der Delegation sahen nicht besonders eindrucksvoll aus. Sie trugen vollkommen unterschiedliche Kleidung – manche aufgeputzt wie zu einer religiösen Zeremonie, andere beschämend ärmlich. Einige erschienen Varus noch viel zu jung für eine derart wichtige Mission. Es schien, als bereuten sie alle bereits, festen Boden verlassen zu haben, um sich in die ferne Hauptstadt des Römischen Reiches zu begeben. Und dann entdeckten Varus und Claudia hinter schäbigen, übereinandergestapelten Gepäckstücken am Heck auch noch lebende Schafe und Ziegen sowie Käfige mit Hühnern. Die vorgesehene Zeremonie zur Ankunft des neuen Statthalters drohte auf einmal zu einem Marktspektakel zu werden.
»Sie hätten lieber ihren unfähigen Herrscher Archelaos statt dieses Viehzeugs mitnehmen sollen«, knurrte Varus.
»Ihren König wollen sie nur schlachten, aber nicht essen«, meinte Claudia Pulchra scharf. Die unverständlichen Ereignisse störten ihre Vorstellungen von einer Hochzeitsreise.
Ihre sehr junge, erst vor drei Monaten in Africa erworbene Sklavin trat hinter Claudia und legte ihr eine orangefarbene Stola um Kopf und Schultern. Sie stammte noch von der Ausstattung zu ihrer Hochzeit, die sie im Schicksalstag der Fortuna am 25.Mai gefeiert hatten.
Claudia dachte daran, dass an jenem Tag fünfhundert Gäste aus senatorischen Kreisen, ritterlichem Adel und angesehener nobilitas aus Rom und Latium zum Fest im großen Anwesen ihres Gemahls östlich von Rom gekommen waren. Sogar Augustus hatte sich dort am Vorabend zusammen mit seiner weithin gefürchteten Gattin Livia Drusilla gezeigt. Er hatte ihnen die legendäre IUSTITIA für ihre Hochzeitsreise zu den Stätten früheren Wirkens ihres Gemahls zur Verfügung gestellt. Von Ostia aus waren sie ohne Zwischenfälle mit den gefürchteten sardischen Piraten nach Karthago gereist. Dort hatte ihr Varus die kostbar wie poliertes Ebenholz glänzende junge Sklavin gekauft. Anschließend waren sie mit gutem Westwind am Peloponnes und vielen der griechischen Inseln vorbei bis in die Provinz Asia gesegelt. Sie waren eine Woche in der beeindruckenden Hauptstadt Ephesus und beim wiedererrichteten Artemistempel geblieben.
Ziel ihrer Schiffsreise war offiziell der von Herodes errichtete Seehafen Caesarea mit seinen Uferpalästen gewesen. Von dort aus hatten sie auch das hochgelegene Jerusalem, die Burg Antonia mit ihren unterschiedlichen Türmen und den großen Tempel bewundert, den Herodes erbauen ließ und für den ihm das Volk Israel niemals gedankt hatte.
Sechs Wochen lang hatten sie sich in den Kleopatragärten mit den neuen Herodespalästen von Jericho erholt. Sie hatten im Salzwasser des Toten Meeres gebadet und die gewaltige Totenburg von Herodes dem Großen ein paar Meilen südlich von Bethlehem erkundet. Die IUSTITIA war während dieser unbeschwerten Zeit nach Rom zurückgekehrt, um Senator Quirinius abzuholen und als Statthalter nach Syria zu bringen.
Claudia selbst, ihre Bediensteten und Varus samt ihren Sklaven und bewaffneten Begleitern waren erst in der vergangenen Woche in Antiochia angekommen. Während der ganzen Zeit hatte ihr Varus nichts von seinen eigentlichen Plänen und Absichten verraten. Obwohl sie ihn mehrmals und sogar in seinen Armen liegend darauf angesprochen hatte, war er zu keiner Erklärung bereit gewesen. Nicht einmal für jene Nachmittage und Abende, an denen er fortritt und sie allein zurückließ oder sich mit vermummten Gästen in abgeschirmte Räume zurückzog, hatte er irgendeine Entschuldigung vorgebracht.
»Später vielleicht einmal«, hatte er mit fast schon kränkender Gelassenheit an ihrem letzten Abend im Hafenpalast von Caesarea gesagt. Sie hatten an der Kante der felsigen Uferterrasse des Palastes gesessen und bei Wein aus Nablos und gegrilltem Fisch mit Sesamsoße einem Sonnenuntergang zugesehen. Obwohl es doch ihre Hochzeitsreise war, hatten sie während der vielen Tage und Abende kaum eine Stunde allein verbringen können.
»Was beschäftigt deine Gedanken und Gefühle seit unserer Abreise mehr als ich?«, hatte sie an jenem Sommerabend am Mare nostrum gefragt. Er aber hatte sie nur erstaunt und beinahe väterlich verzeihend angesehen.
»Du bist noch jung und musst dich nicht mit den Problemen des Imperiums belasten. Wir werden morgen mit einem kleineren Schiff an der Küste von Samaria entlang bis zur syrischen Hafenstadt Seleukia reisen. Von dort fahren wir den Orontes hinauf zu meinem alten Palast als Statthalter. In Antiochia warten wir, bis die IUSTITIA einen neuen Statthalter für die Provinz Syria bringt – einen alten Bekannten. Und falls der Orontes genug Wasser führt, kann uns die Trireme direkt am Palast abholen.«
In dieser Nacht des Abschieds von Samaria hatte Claudia zum ersten Mal in ihrer Ehe geweint. Als Varus ihren Kummer bemerkte, war er versöhnlicher geworden. »Ich habe dich nicht nur geheiratet, um mich zum zweiten Mal in die Familie des göttlichen Augustus einzufügen. Gewiss, das ist mir wichtig, aber ich liebe dich, Claudia, wenn auch nicht ganz so feurig wie die jungen Offiziere, die erst wenige Schlachten geschlagen haben.«
Claudia lächelte, als sie an jene Nacht zurückdachte. Sie war so versunken in die Erinnerungen an die vergangenen Wochen, dass sie zusammenschrak, als alle Rojer der gewaltigen Trireme gleichzeitig die Ruder an den Seitenkanten der Öffnungen in der Bordwand anschlugen.
Laute Kommandos schwirrten über die Köpfe der Wartenden hinweg. Hanfseile flogen hin und her, erst leichtere, dann die schweren, die das Kriegsschiff sicher an Pollern und Ösen in eingemauerten, mannshohen Steinblöcken festmachten.
Für die Ruderer war erst jetzt die lange Seereise beendet – so hart und schwer, dass nur Freiwillige und keine Sklaven dafür geeignet waren. Buntbemalte hölzerne Brücken wurden herangerollt. Weitere Sklaven legten Teppiche auf der noch immer feuchten Kaimauer aus. Dann streuten junge Mädchen in weißen Tuniken Orangenblüten und Lorbeerblätter auf die Steinplatten. Neben den in drei Linien aufgestellten Legionären schmetterten Fanfaren und Pauken fast so laut wie das gerade vorübergezogene Gewitter.
Der neue Statthalter Quirinius zeigte sich, als ein Hornist an Bord der Trireme ebenfalls Signal gab. Der Legat des Princeps in Rom trug eine weiße Toga mit den breiten Purpurstreifen der Senatoren am Rand.
»Zeig ihm, dass hier die Pax Romana herrscht«, drängte Claudia Pulchra. »Eine Provinz ohne große Probleme ...«
Sie hat gut reden, dachte Varus, als er auf Publius Sulpicius Quirinius zuging. Sie ahnt ja nicht, wie brüchig Frieden an den Rändern eines Weltreichs sein kann.
Die beiden hohen Repräsentanten des Imperiums schätzten sich seit vielen Jahren. Sie blieben stehen, sahen sich lächelnd an und grüßten, indem sie nur ein wenig ihre Köpfe neigten. Dann streckten sie die Hände aus und umfassten einander an den Handgelenken.
Jubel erscholl von allen Seiten. Die Pauken der Abordnungen von allen vier Legionen in Syria und Palästina dröhnten wie zum Sturm auf eine Stadt. In diesen Augenblicken erinnerte sich Varus wieder an die Geschichten von brechenden Mauern, die er vor vielen Jahren in Jerusalem gehört hatte, als er selbst Statthalter von Syria und Berater des grausamen Königs Herodes gewesen war. Ihren Überlieferungen zufolge hatten die Israeliten nach langen Irrwegen durch die Wüste Sinai das stark befestigte Jericho am Jordan allein durch den Schall ihrer Kriegstrompeten erobert. Varus hatte in seiner Amtszeit in Ephesus miterlebt, zu welchen Zerstörungen unerwartete Erdstöße in der Lage waren – auch ohne Trompetenlärm. Schon deshalb glaubte er nicht an derartige Legenden.
Die beiden Senatoren nickten einander zu. Inmitten des Lärms blickte der erneut zum Statthalter über Syria eingesetzte Quirinius auf die Ehrenzeichen an der Rüstung des anderen. Wie zufällig tippte er dabei auf eine Brustscheibe, die zu den ersten Orden gehörte, die Varus von Augustus erhalten hatte.
»Für deine Teilnahme am Zug gegen die Parther von hier aus«, rief er ihm zu. »Ihr habt gut zusammengearbeitet, Augustus, Tiberius und du.«
Varus presste kurz die Lippen zusammen. »Der Ruhm, die durch Cassius im Orient verlorengegangenen Legionsadler zurückgeholt zu haben, gebührt allein Augustus und Tiberius«, sagte er dann.
Quirinius hob die Brauen, lachte und winkte ab. Er war einer der wenigen Männer, die wussten, dass es damals Varus gewesen war, der die entscheidenden Verhandlungen mit den sternkundigen Beratern des Partherkönigs geführt hatte.
Offiziere aus den verschiedenen Legionen, Beamte des Palastes, der Stadt Antiochia und der Provinzverwaltung, wichtige Händler und Abgesandte arabischer Stämme, dazu Schauspieler und Musikanten, Freigelassene und Sklaven säumten den Weg der beiden Senatoren. Einige der Älteren kannten ihn bereits von seinem vorangegangenen Amt in der Provinz.
Quirinius grüßte knapp nach allen Seiten. Die beiden Männer hielten sich nicht lange in den Säulengängen der Eingangshalle auf. Sie schritten an den Feuerschalen mit aufwallendem Würzrauch vorbei direkt auf den Gebäudeflügel zu, in dem sich das triclinium befand.
»Welche Verschwendung von teurem und den Geist vernebelndem Weihrauch«, sagte Quirinius tadelnd. Varus blieb gelassen. Er neigte dankend den Kopf wie für ein Lob aus dem Mund des anderen.
»Warte nur ab, bis die dienstbaren Geister des Palastes uns mit Nardenöl gesalbt und dem Duft von Minzblättern erfrischt haben!«
Während die ersten Seeleute und Ruderer bereits die Trireme verließen, um sich in die Vergnügungen der großen Stadt Antiochia zu stürzen, glich der Landgang für die seltsame judäische Delegation einem bewachten Sklaventransport.
Einer nach dem anderen musste durch ein Spalier von misstrauischen Römern gehen. Einige saßen mit kurzer Tunika an wackligen Klapptischen, andere standen unwillig in voller Ausrüstung mit Brustschild und Helm zwischen der Trireme und den flachen Hafengebäuden.
Die unterwegs Aufgenommenen sahen noch immer verwirrt aus und wirkten voller Furcht. Es war, als würden sie sich wie beim Gang zum Opferaltar in ihr Schicksal ergeben. Sie hielten die Köpfe gesenkt und blickten nicht auf. Einige der Priester murmelten etwas von Abraham und seinem Sohn Isaak, andere beteten um die Hilfe eines Engels, der sie retten sollte. Keiner hatte mit einem Umweg über den Orontes und Antiochia gerechnet. Und keiner wusste, warum sie jetzt auf einen Lastkahn steigen sollten. Nur einer der Älteren wagte Widerspruch:
»Wir hatten eine Vereinbarung mit dem Senator ...«
Die Beamten an den Klapptischen lachten abfällig
»Mit welchem der Senatoren? Ihr glaubt doch nicht, dass einer der beiden mit verlumptem Pack wie euch redet!«
»Schluss jetzt!«, rief der Mann dazwischen, der alles überwachte. Er hieß Paullus Aelius Bassus und war bisher der oberste Quartiermeister im Palast des Statthalters in Antiochia gewesen. »Seid froh, dass der neue Statthalter Quirinius euch überhaupt aufgefischt und mitgenommen hat.«
Eigentlich hatte der vogelköpfige und ein wenig geschrumpft wirkende praefectus castrorum damit gerechnet, bereits mit Varus zurück nach Rom zu segeln. Der Sturm bei Cypern hatte seinen schon lange ersehnten Abschied aus allen öffentlichen Ämtern verzögert. Und ebenso wie Quinctilius Varus träumte er von einem beschaulichen Landleben irgendwo in der campania, nicht allzu weit entfernt von der Ewigen Stadt Rom. Missgelaunt drehte er sich zu den anderen um. »Ich hätte euch Diebe einfach absaufen lassen sollen. Denn ich war dabei, als Burschen wie ihr unseren Weizentransport für die legio Ferrata bei Samaria überfielen und die gesamte berittene Eskorte umbrachten. Eine komplette ala quingenaria mit mehr als fünfhundert Mann!«
»Das ist fast zehn Jahre her, Bassus«, wandte einer der Verwaltungsbeamten ein. »Kannst du denn nie vergessen?«
»Niemals! Und ich habe keinen größeren Wunsch, als einen Judäer nach dem anderen die ganze Straße entlang lang ans Kreuz zu hängen ... jedes Judäernest mit Aufständischen abzubrennen ... ganz so, wie Varus es damals vollkommen richtig gemacht hat!«
»Wir sind hier in Syria und nicht zwischen Jerusalem und Sephoria mit wilden Aufständischen«, mischte sich ein anderer ein. Er hatte seinen Helm mit dem quergestellten roten Helmbusch zur Seite gelegt. Obwohl sein kurzgeschnittenes Haar hellblond, fast schon rötlich war, trug er die mehrfach dekorierte Uniform eines ersten Centurio und anstelle des üblichen Rebstocks als Zeichen seiner Befehlsgewalt ein ähnlich aussehendes, knorriges Wurzelende eines Olivenbaums. Unter orienterfahrenen Offizieren hatten die viele Jahrhunderte alten, salzigen Wurzelreste aus dem Toten Meer einen höheren Wert als die Auszeichnung eines Armrings.
»Ach, Vennemar«, winkte Bassus ab. »Wie viele Jahre sollen wir uns noch darüber streiten, wie Rom mit Barbaren, Rebellen und Aufständischen umgehen muss? Wie lange haben wir beide in den Legionen gedient, ohne Rom jemals zu sehen? Du als gebürtiger Germane und ich als Italer. Waren es zwanzig Jahre? Oder schon fünfundzwanzig? Erst jetzt, als Veteranen, wollten wir mit Varus in die Ewige Stadt zurückkehren. Doch was geschieht? Die Götter und die Sturmdämonen proben den Aufstand gegen uns. Ebenso wie diese kläglichen Gestalten dort gegen ihren von Rom eingesetzten Volksfürsten rebellieren. Was ist das nur für eine Welt geworden, in der schon Krämer und Ziegenhirten vom Rand des Reiches gegen die Ratschlüsse des Senats und des göttlichen Augustus protestieren dürfen?«
»Hör auf, Bassus, es hat keinen Zweck! Du holst dir nur die Galle in den Gaumen! Ich kenne dich, und du hast recht: Wer unsere großartige Art zu leben und unsere Kultur verschmäht, der soll noch tiefer in den Dreck, aus dem er kommt, und unseren Fuß im Nacken spüren. Das weiß selbst ich als Veteran und geborener Barbar.«
Der praefectus castrorum stutzte, dann lachte er trocken. »Auf jeden Fall dürfen sie nicht hier im Palastbereich bleiben. Von mir aus können sie ein paar alten Legionärszelten im Amphitheater drüben in der Stadt haben – soll Varus entscheiden, was weiter mit ihnen geschieht.«
»Werft sie doch einfach in den Fluss«, forderte einer der jüngeren Beamten, »der wird sie schon wegspülen.«
Ein paar andere lachten. Nur den Judäern und Samariern war nicht zum Lachen zumute. Fast die Hälfte sahen aus wie Priester, Rabbis oder Schriftgelehrte, andere wie Pharisäer, Saduzäer oder Fernhändler mit fremdartiger Kleidung, wie sie in Arabien und Mesopotamien üblich war. Einige trugen Messer, Dolche und andere Utensilien an geknüpften Gürteln. Der Quartiermeister und der germanische Centurio gingen zum ersten der Klapptische mit Schreibern.
»Woher kommst du?«, fragte Bassus einen älteren Mann mit Dutzenden von Falten um die tiefliegenden Augen.
»Ich bin Aaron, Goldschmied aus Jericho«, antwortete der Judäer.
»Arzt aus Bethel«, sagte der Nächste. Bassus und Vennemar ging an der wartenden Reihe entlang.
»Gewürzhändler und Palastlieferant am Hafen von Caesarea ...«
»Rabbi im Herodes-Tempel von Jerusalem.«
»Joseph aus Bethlehem ... Tekton.«
»Joseph aus Bethlehem«, wiederholte der Quartiermeister. Auch der Centurio neben ihm hob die Brauen. »Bist du vielleicht der ...«
»Ja, der bin ich, wenn du diese alte Geschichte meinst«, unterbrach ihn der andere. Er war etwa Mitte vierzig, hager, und sein sonnenverbranntes Gesicht hatte etwas von der strengen Würde einer ägyptischen Mumie. »Seit dem Tod von König Herodes wird nicht mehr nach mir und meiner Familie gesucht. Das steht auch in euren Akten.«
»Ich werde das nachprüfen lassen.« Der Präfekt deutete auf die beiden Jungen neben dem Tekton. »Und die da? Wie alt sind sie?«
Der kräftige Baumeister richtete sich noch mehr auf. Er legte die Arme um die beiden Jungen, die, ohne ihren Blick zu senken, vor den Römern standen. Anders als die Erwachsenen der Gruppe waren sie barfuß. Sie trugen kurze Umhänge aus Kamelhaar mit breiten Gürteln, wie sie in einigen Gegenden für Büßer üblich waren.
»Der Dreizehnjährige hier ist Jochanan, Sohn des Rabbi Zacharias aus Kerem.«
»Sagt mir nichts. Wo liegt das?«, fragte Bassus.
»Im Bergland von Judäa, kurz vor Jerusalem«, sprang der Centurio ein. »Ich war damals dabei, als wir auf Befehl von König Herodes die drei Sternkundigen aus dem Zweistromland verfolgten. Wir haben sogar die Hochtäler und die Höhlen der Hirten abgesucht.«
»Ohne Erfolg, wie man weiß«, meinte der Quartiermeister leicht süffisant. Er wandte sich wieder an den Tekton. »Und weiter? Was macht der Bursche?«
»Er ist mein Gehilfe. Ich bilde ihn zum Baumeister aus, ebenso wie meinen Sohn hier.«
»Name?«
»Jeshua, zwölf Jahre alt und ebenfalls in Bethlehem geboren.«
Einer der Schreiber zerbrach seinen Schreibstift, mit dem er sich auf einer Wachstafel Notizen machte. Er suchte nach einem neuen.
»Was denn nun?«, schimpfte der Quartiermeister ungeduldig. »Könnt ihr nicht endlich lernen, was Ordnung und eine ordentliche Herkunft heißen? Seid ihr nun Judäer, Freigelassene oder was?«
»Mein Onkel Joseph stammt von König David ab«, sagte Jochanan stolz. »So wie wir alle irgendwie ...«
Der Quartiermeister erstarrte. Zornesröte flammte über sein Gesicht. Er holte aus, dann schlug er dem Jungen mit dem Handrücken ins Gesicht.
Von einem Augenblick zum anderen verstummten die Rufe und der Lärm an der Anlegestelle. Es war, als hätten alle nur darauf gewartet, dass so etwas geschah. Bassus hob nochmals die Hand. Vollkommen unerwartet sprang der andere Junge dazwischen und fing den Schlag mit seiner eigenen Wange ab. Der praefectus castrorum wusste für einen Augenblick nicht, ob er zornig oder beeindruckt vom Mut des jungen Mannes sein sollte.
»Ich würde an deiner Stelle aufhören«, raunte der Centurio dem verstimmten Quartiermeister zu. »Das hier ist eine Angelegenheit, bei der man sich leicht zwischen sämtliche Stühle setzen kann.«
Der Quartiermeister blickte zur Seite. »Was willst du damit andeuten?«, knurrte er. Der Centurio zog den anderen zur Seite.
»Ich weiß nur, dass Varus mich gefragt hat, ob ich meine bereits abgelaufene Dienstzeit noch ein paar Wochen verlängern könnte.«
Der Quartiermeister war nicht überrascht. Derartige Vereinbarungen kamen häufig vor. Allerdings wusste er, dass Publius Quinctilius Varus offiziell weder als Legat von Augustus noch als Statthalter, Senator oder Feldherr unterwegs war.
»Mich hat er ebenfalls gefragt«, sagte er nachdenklich. Die beiden ungleichen Männer sahen sich an.
»Und?«, meinte der Quartiermeister. »Hast du eine Idee, wofür er uns braucht?«
»Vielleicht«, antwortete Vennemar geheimnisvoll. »Nein, ziemlich sicher sogar.«
Am nächsten Tag erfuhr Varus beim Frühstück mit Claudia Pulchra, dass der neue Statthalter die Nacht friedlich verbracht hatte. Quirinius bat darum, noch etwas ruhen zu dürfen, ohne unhöflich zu erscheinen. Zugleich ließ er den Wunsch anmelden, beim höchsten Stand der Sonne mit Varus in den Thermen des Palastes über bestimmte, sehr vertrauliche Dinge zu reden.
»Ich habe noch so viel zu tun bis zu unserer Abreise«, klagte Claudia Pulchra kurz darauf. Sie hatte ihren Ehemann bereits beim ersten Sonnenstrahl mit einem kleinen, selbstgedichteten Liebeslied zur Kithara geweckt. Varus lächelte und nickte. Nachdem sie gegangen war, blieb er noch eine Weile allein. Er dachte daran, wie riskant das Unternehmen war, auf das er sich in den vergangenen Monaten eingelassen hatte. Jetzt, da er kurz vor der Vollendung des Planes stand, schweiften seine Gedanken in die Vergangenheit. Er dachte an das Erbe, das ein Leben lang wie eine schwere Last auf seinen Schultern gelegen hatte.
Er war erst zwei Jahre alt gewesen, als einige der besten Männer Roms endgültig genug vom Größenwahn des Diktators Gaius Julius Caesar hatten. Erst sehr viel später hatte Varus verstanden, dass die Verteidiger der Republik, zu denen auch sein Vater gehört hatte, zwar an ein Ende, nicht aber an Mord gedacht hatten. Doch was als Warnsignal im Senat und für das Volk von Rom gedacht gewesen war, hatte sich durch einen kleinen, unvorhersehbaren Zufall zu einer Katastrophe ausgeweitet. Agrippa, der zusammen mit seinem Bruder und Freund von Octavian einem kleinen Denkzettel für Caesar zugestimmt hatte, war in der Vorhalle des Capitols aufgehalten worden. Nur dadurch hatte er den Eingeweihten unter Cassius und Brutus nicht mehr wie vorgesehen in den Arm fallen können. Das angebliche Attentat sollte nur Warnung für den gerade erst auf Lebenszeit zum Diktator Ernannten sein. Doch der Plan war den überzeugten Anhängern der Republik vollkommen aus dem Ruder gelaufen.
Was dann, nach der Verfolgung und Vernichtung der Caesarenmörder, unter der Dreimännerherrschaft von Caesars Adoptivsohn Octavian, seinem Freund Marcus Antonius und dem Feldherrn Marcus Aemilius Lepidus an brutaler Rache, Listen mit Todeskandidaten und Enteignungen durch die brutalen Proskriptionen geschehen war, hatte auch Varus’ Familie fast völlig ausgelöscht.
Durch den neu aufgeflammten Bürgerkrieg des gnadenlosen Triumvirats war Varus arm wie der letzte Haussklave aufgewachsen. Seine gesamte Kindheit bei Fremden und Verwandten war ihm vorgekommen, als wäre er selbst an der Ermordung des furchtbaren Gaius Julius Caesar mitschuldig gewesen. Erst im Alter von fünfzehn Jahren hatte ihm ein etwas jüngerer Mitschüler namens Publius Ovidius Naso verraten, was er von ihrem Lehrer, dem berühmten Vergil, gehört hatte.
»Du kannst nur einen sicheren Platz finden, wenn du die Namen deines Vaters und deines Großvaters nie wieder erwähnst.«
»Aber sie waren glühende Verteidiger der Republik.«
»Das sagen alle anderen auch, die heute um die Macht im Reich kämpfen – auch wenn ihr Weg mit großer Sicherheit die Republik beerdigt und zu Alleinherrschaft und Monarchie führt.«
Varus hatte jahrelang mit sich gerungen. Schließlich hatte er sich nach außen hin gegen seine eigenen Wurzeln und die Schatten der Vergangenheit entschieden. Für ihn galt fortan nur noch eins: die Sicherheit und Zukunft des Imperium Romanum. Und doch war eine Flamme ganz tief in seinem Inneren niemals erloschen: Es war das Licht von Wahrheit und Gerechtigkeit.
Bereits mit zweiundzwanzig Jahren war er Quästor in Westgriechenland geworden, obwohl dafür eigentlich ein Alter von achtundzwanzig Jahren erforderlich war. Trotzdem blieb noch ein Makel an ihm haften. Als Finanzprüfer in Patros, Verhandlungsführer bei den Orientzügen von Augustus gegen die Parther und dann als Konsul war er stets unbestechlich gewesen. Genau deshalb hatte er niemals über die Mittel verfügen können, mit denen andere sich freigebig Freunde, Achtung und Ämter kauften.
Im Gegensatz zu vielen Senatoren beherrschte er die Sprache der Hellenen wie seine eigene. Zu seinen Lieblingswerken gehörte der Bericht über den großen Krieg zwischen den Spartanern und Athenern. Ganz anders als ein Vierteljahrtausend später der Römer Julius Caesar hatte der Athener Thukydides seine strategischen Fehler mit keinem Wort beschönigt. Die Wahrheit, auch beim Eingeständnis des Versagens, hatte ihn für Varus zu einem vorbildlichen Feldherren und Politiker gemacht.
Soweit es dem Imperium und ihm selbst nicht mehr als nötig schadete, schob er deshalb eigene Irrtümer oder falsche Entscheidungen nicht auf das Wetter, unfähige Mitarbeiter, den alternden Augustus, die Götter oder andere widrige Umstände. Das betraf auch die Zeit, in der er dem grausamen König Herodes viel freie Hand gelassen hatte. Zu viel, wie er sich inzwischen eingestand. Auch über das, was nach dem Tod von Herodes geschehen war, konnte er weder Stolz noch Freude empfinden. Aber es war notwendig gewesen wie jede schmerzhafte Amputation, ohne die ein größerer Organismus zugrunde gehen konnte.