Westbam appears courtesy of low spirit rec.
»An der Straßenecke zu stehen und auf keinen zu warten, das ist Power.«
Gregory Corso
Bis vor drei Sekunden war ich extrem glücklich. Es war nicht bloß ein schönes Fest gestern abend, gestern nacht, ja sogar heute morgen noch, nein, es war viel mehr: endlich mal ein würdiger Silvesterabend mit netten Menschen, nicht zu fonduesaturiert, aber auch nicht allzu unübersichtlich. Die Hoffnung auf ein angenehmes Silvester hatte ich bislang immer als in etwa so aussichtsreich erlebt wie VIVA zu gucken und auf ein Lieblingslied zu warten. Das Warten selbst ist die Hölle, und wenn es dann kommt, das Lied, das Fest, ist man gerade auf dem Klo oder schon so blöd gelaunt, daß es eh nichts mehr nützt. Oder es wird von Werbung zerfetzt, das Lied – bzw. von frühmorgendlichen Beziehungsrochaden überschattet, das Silvesterfest.
Wir haben hier in dieser Badewannenfabrik gefeiert, und obwohl im Vorfeld jeder von uns diese gutklingende Aussicht mit Vorfreude und Illusionsballast zugeschaufelt hatte, war es keineswegs eine Enttäuschung. Zunächst sowieso erst mal die Freude darüber, daß ÜBERHAUPT etwas griffbereit war, und das so früh schon. Die letzten Jahre waren diesbezüglich gen Ende immer gleich verlaufen:
– Was machst’n du dieses Jahr an Silvester (an Silvester, wie das auch immer schon klingt, so wie »in Mode machen«, womit ja keineswegs, kleiner Scherz, und Achtung: Inkontinenz gemeint ist. Alle lachen, vielen Dank, danke)?
– Ach ja, Silvester, keine Ahnung. Wißt ihr was?
– Also dieses Jahr ist mir echt alles egal, muß nichts Großes sein, Hauptsache, wir müssen nicht wieder mittags am 31.12. wild durch die Gegend telefonieren, uns überall dazuladen und von den meisten den Satz »Wir haben auch noch nichts« anhören.
– Das kommt wirklich nicht in Frage diesmal. Horror. Dann von einer Feier zur nächsten, nirgends richtig sein, weil es ja noch irgendwo besser sein könnte, und um Punkt zwölf sitzt man ganz bestimmt gerade im Taxi, von einem schlechten Fest zu einem noch schlechteren nächsten.
– Jaja. Und dann die große Depression.
– Eigentlich bedeutet mir Silvester gar nichts.
– Mir doch auch nicht, aber wenn überall geböllert und gefeiert wird, dann muß man entweder mitmachen oder halt weit wegfahren, ganz weit weg.
So ging es jedes Jahr. Und dann – nach leicht variablem Mittelteil – der unvermeidliche Schlußakkord:
– Ein Haus mieten!
– JAAAA, ein Haus, in Dänemark, mit Freunden, nicht so viele, mal was Entspanntes.
– Ja, Dänemark, oder eine Berghütte. Eine Berghütte wäre super.
– Und alle würden ihre Uhren verstecken, und man würde einfach so eine nette Zeit haben und endlich anerkennen, daß es ja vollkommen egal ist, ob man sich jetzt um 0.00 Uhr küßt oder um 1:37 Uhr, oder ob man schon um halb elf müde ins Bett fällt.
Da sind sich alle immer einig gewesen, daß es das wäre. Im Grunde. Optimal wäre eigentlich: eine Berghütte IN Dänemark. Gemacht hat es aber noch nie jemand, den ich kenne. Ich hätte sonst auch den Kontakt abgebrochen, denke ich, denn das stelle ich mir ehrlich gesagt doch ziemlich schaurig vor. Am meisten Angst hätte ich vor dem Wort »besinnlich«. Und nicht nur vor dem Wort, viel mehr noch vor dem Zustand. Das Tolle an einem lauten Großstadtgebänge an Silvester ist ja, daß der dramaturgische Verlauf vollkommen festgezurrt ist – bis halb zwölf MUSS man einfach durch sein mit dem ganzen Schrott:
– Bleigießen (mit einem Superdeutungskatalog: etwa »Biene=schlaues Handeln führt zum Erfolg«. Erstens: Den möchte ich mal sehen, der eine Biene bleigießt, und zweitens, wo hat man so was schon gehört, daß schlaues Handeln zum Erfolg führt, bislang war man ja fest davon ausgegangen, daß zum Erfolg dummes Handeln dringend erforderlich ist.)
– »Dinner for one« gucken; wenn der Haushalt des Gastgebers verkabelt ist, dann gerne auch mehrmals, alle sprechen mit, kreischen & rufen ACHTUNG, bevor der Mann stolpert, vor allem, wenn er zum Schluß dann NICHT stolpert, und erzählen von früher. Beliebt sind auch Versuche, alle am Dinner Beteiligten aufzuführen. Kreisch, kreisch: Miss Sophie, James, Sir Toby, Admiral von Schneider, Mr. Pommeroy, Mr. Winterbottom.
Puh. Dann immer
– Fondue oder Raclette
Mindestens, sonst die Höchststrafe: Hawaii Toast
– Unerläßlich auch das zügellose Mampfen sogenannter Berliner Krapfen. Da essen normale Menschen an einem Silvesterabend gerne mal 6 Stück und keuchen dann immer noch gierig: »Ich hatte noch gar keinen mit Aprikose!« Mir wird immer schon beim ersten schlecht, meist noch ehe ich mir die Füllung auf die Hose gekleckert habe.
– Dieses Spiel, dessen Namen ich jetzt vergessen habe, der differiert auch regional sehr stark, ich glaube, in Nordrhein-Westfalen heißt es KIEKS oder so. Da gibt es ein Tablett mit lauter Schrottgeschenken drauf, die sich während eines Jahres angesammelt haben oder die man morgens noch schnell gekauft hat in der Wühlkiste des Warenhauses, in dem man Sekt und DOCH NOCH KNALLER gekauft hat.
Zu Knallern – auch hier fächert die Föderation sich auf in eine babylonische Begriffsvielfalt –, zu Knallern kann man ohne weiteres auch sagen:
– Böller
– Knallkörper
– Feuerwerkskörper (Fachterminus, wird sowohl von der herstellenden Industrie als auch vom BKA verwandt, wenn es mal zu laut gekracht hat.)
– Chinakracher und so
Und natürlich die Hitsingle aus deutschen Pädagogenhaushalten:
– Nein, bei uns immer nur Wunderkerzen.
Dieses Spiel also, ich habe es viele Jahre geduldig mitgespielt, weil mir erstens nichts Besseres einfiel, zweitens Leute blöd sind, die sich auf ein Fest einlassen und dann da rumsitzen und so tun, als sei dieser Feiermodus ihrer nicht würdig, dabei ist es ihre letzte Zuflucht, sonst wären sie ja woanders. Und drittens habe ich mitgespielt, weil es mir auch immer einleuchtend erschien, diese Zeit vor 0.00 Uhr, die zunächst zähflüssig bis gar nicht verstreicht und dann plötzlich zack bum geschafft ist auf den letzten Metern, wenn man schon gar nicht mehr damit rechnete (genau wie bei einer Sanduhr in der Sauna), diese Zeit also zumindest in Zitaten familiär zu gestalten. Und da ist ein Spiel doch eine gute Sache. Obwohl ich speziell dieses nie begriffen habe. Man braucht dazu Spielkarten, irgendwer muß dann rausgehen, und am Schluß hat jeder irgendeinen Quatsch in der Hand, so Taschenkalender von der Deutschen Bank mit 1 Quadratzentimeter Notizraum pro Tag oder Schlüsselanhänger oder Geduldsspiele oder ein sogenanntes Schreibset mit Anspitzer, Radiergummi und allem, obwohl ich seit 40 Jahren niemanden mehr mit Bleistift habe schreiben sehen. Mich zuletzt in der Schule, 40 Jahre sind also leicht übertrieben, aber damals hießen Radiergummis auch noch »Ratzefummel«, was eines meiner All-time-Lieblingswörter ist in der Rückschau. Trotzdem betone ich: Früher war beileibe nicht alles besser.
Denn früher (also bis gestern) waren sie meistens eine große Enttäuschung, die Jahresendfeiern. Jawohl: »Jahresendfeiern«, so hieß das in der DDR, glaube ich, und wenn es kommunikativ eng wird, erzählen sich Leute das zwischen »Dinner for one« und Bleigießen gerne, also beim Raclette. Ein anderer käut dann ziemlich sicher noch einen anderen Klassiker wieder:
Weintrauben, Spanien, Silvester, pro Glockenschlag eine Traube, wer nicht mag, kriegt Rosinen, und dann runter damit, wenn man es schafft = Glück, sonst = blöder Start ins neue Jahr, aber auch nicht so schlimm, nicht so schlimm jedenfalls wie zu sterben, was auch schon vorkam, einer hat sich mal daran verschluckt, und bums lag er da, das war, behaupten manche Interpreten dieser Geschichte, sogar ein Fernsehansager, live auf Sendung, der plötzlich zwischen zwei Trauben rumhustete und würgte, und dann war das Bild weg, und eine Minute später saß da ein anderer und moderierte weiter, weil nämlich der erste gestorben war, erstickt an dem Traubenkompott in der Mundhöhle. Live.
– Echt?
– Ja, kraß, ne?
– Oberkraß.
– Stell dir das mal vor!
– Ist ja echt der Hammer, sterben im Fernsehen an Silvester.
– Eigentlich ganz glamourös!
– Wie bist du denn drauf?
Mit Hilfe dieses jeopardyähnlichen Exkurses hat man schon wieder wertvolle Minuten rumgekriegt bis zum Countdown, zu dem man übrigens spätestens um viertel vor Knall Fernseher und Radio einschaltet.
Aus diesem Grund gibt es nur einer Person Stimme, die an sämtlichen Jahresendfeiern (→ DDR, s.o. → vielleicht trägt im Anschluß an die Belächelung dieses Begriffs noch jemand bei, daß Särge dort einst »Erdmöbel« hießen → lovely Zonies), an die ich mich erinnere, gegenwärtig war. Und zwar die von (erschütternd, jedoch die Wahrheit):
Incredible
good
old
– anschnallen, Herrschaften –
R-O-B-E-R-T-O -- B-L-A-N-C-O.
An dieser Stelle möchte ich die wunderbaren Manic Street Preachers zitieren:
»This is my truth – tell me yours.«
Aber wahrscheinlich werden alle Menschen dieses Landes nickend Herrn Blanco anführen. Denn:
Es ist, wie es ist.
Ja. Gestern war alles anders.
Back on plastic.
Bzw. Emaille. Silvester in der Badewannenfabrik. Klingt gut, war besser.
Ende November schon hatte uns Fabian eingeladen, auf die End-Dezember-Ziellosigkeit, dieses seit Jahren beständige Ja-was-denn-nun einmal zu verzichten. U.A.w.g.n.e.g. – um Antwort wurde gar nicht erst gebeten, denn da gab’s ja nichts zu überlegen. Fabians Onkel ist sehr reich, das wußten alle; warum er so reich war, wußten einige; daß man allein mit Badewannen so unfaßbar reich werden kann, bezweifelten wir alle. Bis gestern. Lang lebe die Badewannenfabrikation! Etwas erstaunlich (aber absolut sinnvoll!), daß der Onkel selbst gar nicht da war. Geschäftsreise.
3.14 Uhr:
– Sag mal, Fabian, eines interessiert mich jetzt wirklich mal. Weiß dein Onkel von dieser Feier?
– Pffffffff. Hm.
– Also nicht?
– Indirekt schon.
– Also nicht.
An dieser Stelle wurde die Sachlage nicht vertieft. Aber das Fest. Es rauschte: Das Fest, die Zapfhähne, die Stimmen, die Wasserhähne der Vorführwannen. All das in einer Art Wintergarten mit den Ausmaßen eines Zweitligastadions, der sich an die Betonplatten der Fertigungshallen kuschelt. Der Vorführraum: Hunderte verschiedener Wannen und Armaturen, Milliarden Spiegel und ein paar grotesk verschachtelte Handtuchtrocknergestänge. Duschvorhänge, Duschtüren, alle Farben, alle Materialien. Um Punkt zwölf – also null – standen ungefähr 70 Menschen unter je einer Dusche. Selbstverständlich nicht nackt, wo sind wir denn. Danach dann alle lenormenschartig umwickelt mit weichsten weißen Flausch-Handtüchern, die so neu noch waren, daß sie gar kein Wasser aufsaugen konnten. Aber um einer Erkältung vorzubeugen, reichte es allemal, und so sahen wir in den ersten Stunden des neuen Jahres aus wie eine fundamentalistische Splittergruppe einer dubiosen Sekte.
Apropos Sekte → Champagner! Mag man reiche Leute bloß nicht, weil man selbst nicht reich ist? Klar. Aber beim Reichsein kurz mal behilflich sein und dann wieder weg, heim, normalarm, das ist mir am sympathischsten. Ich habe keine Kopfschmerzen. Super. Ich habe keine Kopfschmerzen. //:Keine Kopfschmerzen!://
Haben reiche Menschen NIE Kopfschmerzen?
Ich möchte jetzt aber nach Hause. Ich bin nämlich der Rest vom Fest.
Den morgendlichen Konvoi habe ich verpaßt, bloß weil ich, als ich heute früh in einer runden, leeren Badewanne erwachte, kurz mal dachte, nun wollen wir das Rad zurückdrehen und mal wieder runterkommen und gesund werden, da sprang ich also aus der Wanne, stelzte zwischen all den Liegenden hindurch, griff irgend jemandes Moonboots und einen obszön angenehmen Pelzmantel, denn immer noch war ich ja bloß in Handtücher gewickelt. Hatte sogar einen Turban auf dem Kopf, erzählte mir ein großer Spiegel. Nun sah ich aus wie ein Kind, das Fasching spielt ohne elterliche Aufsicht, und irgendwie ist nichts Schlüssiges dabei herausgekommen, unter anderem deshalb, weil die Göre die Verkleidungskiste mit dem Altkleidersack verwechselt hat.
Derart gewandet spazierte ich aus der Vorführhalle heraus, zurück in die Welt. Die ist aber kalt, dachten meine Knie, weil sie weder von den Boots noch vom Mantel umhüllt waren.
Das Runterkommen war nicht so schwer wie befürchtet, schließlich – das hatte ich im nächtlichen Überschwang natürlich gar nicht registriert – steht diese Fabrik genau dort, wo eine solche Fabrik sinnvollerweise zu stehen hat, nämlich unter ihresgleichen, man nennt eine solche platte Bausiedlung auch INDUSTRIEGEBIET.
Alle deutschen Industriegebiete wurden entworfen von einem Mann, der nur Schallplatten der Gruppe Kraftwerk besaß. Seit seinem Tod vor drei Jahren gibt es keinen Nachfolger. Neue Industriegebiete gibt es trotzdem, sie werden einfach bereits bestehenden nachempfunden, dem größten Kraftwerk-Fan aller Zeiten zum Gedenken.
»Schnörkel waren NICHT sein Leben«, steht auf seinem Grabstein in der Nähe von Düsseldorf, und zwar in der Schrift »Courier«, die in jedem Computer bereitgehalten wird, von der aber mit Ausnahme einiger Grabsteinbeschrifter und Schülerzeitungslayouter selten jemand Gebrauch macht. In seinem Testament hatte er eigentlich auf einer Art Taschenrechnerschrift bestanden, die es jedoch leider nicht mehr gibt in der Grabinschrifts-Software der späten 90er.
Ich spazierte durchs Industriegebiet und fror. Ich versuchte, mich zu konzentrieren.
Wieso eigentlich war ich gerade so glücklich? Der erste Neujahrstag in meiner Vereinsgeschichte, an dem ich recht zufrieden war mit der vergangenen Nacht, mit dem Start ins neue Jahr.
Weiter durch die konsequente Architektur des Kraftwerk-Fanatikers. Mehrere Getränkegroßmärkte, Baumärkte, Renault-Vertragswerkstätten und Einrichtungshäuser, eine SB-Autowaschanlage und eine ganz besonders klotzige, gelb-grüne Giga-Supermarkt-Filiale von dieser Kette, die die Lindenstraße präsentiert, wo es diese schönen braunen Papiertüten gibt, zu denen – sobald eine Flasche drin ist – der Satz von Kassiererin oder Mutter gehört: – Achtung, schön drunterfassen!
Und dann endlich: Weite! Ein frostig versiegelter Acker, daneben noch einer, im Sommer blühen hier Raps und Mais, so ist es immer am Saum von Industriegebieten. Irgendwann gibt noch ein Landwirt auf, und dann wird aus dem nächsten angrenzenden Feld ein weiterer Supermarkt oder Parkplatz. Den Bürgerinitiativen ist das Dagegenbettlakenbemalen zu blöd geworden. Ich ging schneller, die Knie spürte ich nicht mehr, die klare Luft räumte auf im Kopf, schön war das. Warum also war ich gutgelaunt, was war passiert gestern abend?
Erstens war es wohl das erste Silvester ohne Roberto Blanco. Herrlich.
Nichts gegen Roberto Blanco, aber – doch. Eine Menge gegen Roberto Blanco. Egal, langweilig, weiter. Zweitens waren es viele nette Menschen, von denen ich einige kannte, aber nicht zuviele. Ein paar lernte ich neu kennen, und andere wiederum lachte ich nur ein paarmal an, und sie lachten zurück, alles sehr nett. Drittens, man kann es nicht oft genug sagen: keinerlei Kopfschmerzen. Und auch noch gar keine Neujahrsdepression.
Viertens habe ich was zum Erzählen für später, endlich mal auch ein erzählwürdiges Silvester: Badewannenfabrik. Nur dies Wort, und alle werden sich die Augen reiben.
Fünftens bis zehntens: immer so weiter. Lauter Mini-Aspekte, kein herausragendes Wunder, keine neue Liebe oder so. Aber eben auch kein Großschatten – keine peinsamen Wiedertreffen, keine schlechten Drogen, keine Scheißmusik, keine dramatischen Szenen, kein Generve.
KEIN ANDERES BIER.
So. Nun aber mal zurück zu den anderen, dachte ich und lief etwas übermütig durchs Maisfeld und da dann mitten rein in eine nur dünnvereiste Pfütze, krachplansch, da halfen auch die Moonboots nicht, nasse Füße, alles kalt, frisch erkältet ins neue Jahr, in Ordnung, aber vielleicht nicht gerade noch eine Lungenentzündung.
Ich könnte ja ein heißes Bad nehmen, dachte ich. Schnell zum Haus, zum Gebäude vielmehr, dem Gebäudekomplex, der Firma, dem Konzern.
Ich könnte, genaugenommen, ziemlich viele heiße Bäder nehmen. Dachte ich.
Ein viel zu ausgeschlafen dreinblickender Mann mit ganz neuer Rasierwunde im rosigen Gesicht räumte Getränkekisten in einen VW-Bus.
– Gehören Sie dazu? fragte er.
– Klar, sagte ich.
Es war sehr still im Foyer, die anderen schlafen sicherlich alle noch, dachte der Mann in den Moonboots, der ja ich war. Wäre dies eine große Wohnung, hätte ich nun den Part des Schwartau-Weck-Yuppies übernehmen, Kaffee kochen und damit von Bett zu Bett hüpfen müssen. Also, »Bett« ist gut – von Isomatte zu Badewanne.
Die Isomatten aber waren weg und die Badewannen leer. Kleiner Trick, lustiges Versteckspielchen zum 1. Januar? Na gut, gleich kommen sie hinter den Stellwänden hergesprungen und lachen mich aus. Ist doch ok.
D.A.C.H.T.E. I.C.H.!
– Haha, rief ich, damit ich nicht ganz so blöd dastand. Doch sie ließen mich noch ein bißchen zappeln. Noch mal etwas lauter:
– HAHA! Bitte rauskommen, sehr schöner Scherz, nun wollen wir aber alle frühstücken!
Superlaut dann, ich möchte fast sagen PANISCH:
– HALLO, HEEEEE!
Darauf, sehr leise:
– Verdammte Scheiße.
Hektische Gänge auf und ab, zur Seite, die ganze Halle durchmessend, Türen rüttelnd. Wie schon nachts durch die Kantine in die sogenannte Fertigungshalle. Völlig ausgeschlossen, daß sie dort sind. Vielleicht gehen sie auch gerade spazieren?
Aha, und dazu nehmen sie also mal alle schön ordentlich ihre Sachen mit, ja, ihre Taschen, ihre Schlafsäcke und so weiter, klar, für einen Neujahrsspaziergang sollte man das alles unterm Arm haben, genau. Also weg.
Hallo, Fertigungshalle. Stimmt, hier habe ich heute früh gelernt, Gabelstapler zu fahren. Irgendeinem ist eine Wanne vom Gabelstapler gefallen, eine Wanne kann zersplittern in richtig viele Teile, da reichen schon ein bis zwei Meter Fallhöhe. Bumsschepper. Auch das ist jetzt also bewiesen. Fabians Onkel wird es uns danken. Genauer gesagt: IHM, Fabian. An ihm bleibt es hängen, altes Feierlichkeitsgesetz.
– Ich bin dann weg! ruft jemand. Wer war das jetzt noch gleich? Aaaaah, der Getränkemann, hinterher, aber schnell, der muß mich doch mit in die Stadt nehmen. Ich verheddere mich in einem voluminösen Luftschlangenknäuel, haste durch Kantine und Vorführraum, BÄNG, gegen eine Stellwand.
Von hinten sehen VW-Busse nicht so schön aus.
Der umsichtige Mann hat mal besser zugeschlossen, denn ich gehöre ja dazu, hat er sich gedacht (habe ich ihm gesagt!), da habe ich dann ja auch einen Schlüssel.
Hat er gedacht.
Komm, Welt
Laß dich umarmen
Welch ein Tag
Ist ja nicht so schlimm. Ist es nicht? Fabian wird in zwei, höchstens drei Stunden antanzen und den Gesamtschaden kalkulieren wollen. Oder auch nicht, vielleicht erst morgen. Heute ist Feiertag. Morgen auch, nämlich Sonntag. Selten war ich so analytisch und klar. Ich könnte jetzt Verträge aushandeln, Einkommensteuerklärungen vornehmen für die ganze Schlagerbranche. Ich setze mich in die Badewanne »Ocean Dream« und überlege, wie es jetzt wohl weitergeht. Gehen könnte, denn in meiner Hand liegt es nicht.
1) Gleich kommt, s.o., Fabian.
2) Fabian kommt gleich nicht, statt dessen kommt irgendwann ein Angestellter eines Wachdienstes, dessen Hund mich totbeißt.
3) Ich finde irgendeine offene Tür, ein Fenster, das nicht bloß zu kippen geht, und dann schnell zur Bundesstraße und per Anhalter nach Hause.
Taxi? Telefon? Mal ganz kurz: Wo ist überhaupt mein Portemonnaie, mein Zeug, meine ganzen Sachen, meine Platten? Ich sitze in einer Badewanne namens »Ocean Dream«, direkt neben der Badewanne »Family Feeling«, in der wir gestern ungefähr zu siebt saßen. Asche im Seifenfach. Ich trage heute, am 1. Januar, einen Pelzmantel und Moonboots, darunter ein klammes Gewickel aus Handtüchern. Ich hätte da mal eine Frage:
Was trägt denn dann die Person, deren Moonboots ich trage?
Und darüber hinaus eine Zusatzfrage noch: Ist diese Person identisch mit der, deren Pelzmantel ich hier, in der Badewanne »Ocean Dream«, trage? Das sind doch mal Fragen.
4) Ich werde festgenommen und eingesperrt für mehrere Jahre. Der Gesamtschaden, den die gutaufgelegte, aber gerade in der Retrospektive etwas unübersichtliche Gesellschaft verursachte, geht, so wird Dagmar Berghoff übermorgen sachlich der Nation mitteilen, »in die Millionenhöhe«. Fabian wird bei einer Gegenüberstellung behaupten:
– Nein, ich kenne diesen Mann nicht, nie gesehen, tut mir leid.
Und da ich den Schaden selbstverständlich nicht begleichen kann, geht es ins Gefängnis. Für 1,37 Mark pro Stunde werde ich dort einer wenig erfüllenden Tätigkeit nachgehen. Um die Schulden zu bezahlen, werde ich dann mehrere hundert Jahre lang Tag und Nacht arbeiten müssen, für 1,37 Mark. Nach 175 Jahren werde ich zum Facharbeiter befördert, kriege eine eigene Abteilung unterstellt und fortan 2,56 Mark die Stunde. Erleichtert werde ich in mein Tagebuch schreiben:
Na also, mehr Licht wäre fast schon übertrieben.
5) Ja, fünftens. Und sechstens und fünfzehntens. Werden wir sehen. Werde ich sehen.
Erst mal raus aus dem Ozeantraum. Raus auch aus den Moonboots, die sind ja naß, und es ist überhaupt wahnsinnig kalt alles. Das heiße Bad, richtig. So viel Wanne war nie. Ene, mene, miste. Ja, rosafarben, dreieckig, sehr schön. Und direkt am Fenster, ausgestattet mit Sprudelvorrichtung, außerdem postiert in der Nähe dessen, was mal Büfett genannt wurde, letztes Jahr. Die rosa Dreieckswanne heißt tatsächlich »Flamingo Tune«. Guter Name. Nachdem ich ungefähr 19 Knöpfe gedrückt, gedreht und beklopft habe, um den Edelmetallstöpsel zu senken, macht es plötzlich »fump«, und tatsächlich: Wasser an – und es bleibt drin, die Wanne füllt sich und ich mich jetzt auch, das dauert hier noch ein bißchen, also mal zum Büfett. »Schlachtfeld« würden Omas sagen. Ich sage das auch:
– Schlachtfeld!
Hups: Meine Stimme, die sich gerade für das Wort »Schlachtfeld« erhob, scholl klein und heiser durch den Vorführraum. Angst. Hilfe. Gefängnis, Wachhunde, Milliardenschaden, Gabelstaplerunfall.
Ruhig jetzt. Mal was essen, nicht nervös werden, gleich geht es in die Badewanne, in der sitzen zu dürfen, das ist doch was. Ein bißchen Kuchen und Ananas, sieht noch gut erhalten aus, oh, nee, in die Ananas haben mehrere Menschen Zigaretten gesteckt. In den Kuchen aber offenbar nicht. Ich bräuchte Shampoo und vor allem ein neues Handtuch und am dringendsten neue Kleidung, denn ich sollte nicht unbedingt in nichts als einem Pelzmantel auf die Polizei warten. Äh, Quatsch, jetzt mal nicht so defätistisch, also auf Fabian warten, genau, der kommt ja gleich, genau, genau. Trotzdem würde ich ungern aus der Flamingowanne direkt wieder in diesen Pelzmantel steigen. Zum Glück haben die anderen gestern schon die Vitrine mit Badeutensilien aufgebrochen, sonst hätte ich das jetzt tun müssen. Also, bitte schön: Da haben wir einen schönen weißen Frotteebademantel, diverse Shampoosorten, ich gieße gleich eine ganze Flasche ins Wasser, es schäumt irrsinnig, und das macht schon mal wieder gute Laune. In der Vitrine fand ich sogar Badeschlappen. Keine Badelatschen, sondern Badeschlappen. Riesenunterschied.
Inzwischen kriecht aus dem rosafarbenen Dreieck ein bemerkenswerter Schaumberg. Bevor das Wasser hinterdreingeplätschert kommt, ich also strafverschärfend noch des Marktführers Gebäude FLUTE, stelle ich mal ganz schnell den Hahn aus und verbrühe mir daraufhin auch noch einen Fuß, den ich zum Temperaturtesten tollkühn durch den Schaum gen Wasser stieß. Aha. Noch mal den blauen Knopf, mit der Zusatzbrause, aus der ebenfalls Wasser kommt, ein bißchen rühren, so ist’s angenehm, schöne Temperatur, rein. Nasser Kuchen schmeckt nicht ganz so gut. Ich werfe ihn in ein Doppelwaschbecken und schreie, damit es nicht so still ist:
– Strike!
Das habe ich mal auf einem Basketballpatz gehört, nach erfolgreichem Korbwurf schrien die jungen Herren STRIKE und klatschten sich ab bzw. gaben sich fünf, so heißt das dann wiederum.
Wenn es nach mir ginge, könnte Fabian jetzt kommen. Ich gäbe ihm fünf, gerne auch zehn. Das Schönste am Baden ist leider der Moment des Eintauchens, danach wird es schnell langweilig, doch da ich sonst kaum etwas zu tun habe, hier im Vorführraum dieser Badewannenfabrik, heute am 1. Januar, bleibe ich so lange im Wasser, bis mir erstens dermaßen langweilig ist, daß ich gerne eine Zigarette hätte, obwohl ich beinahe nie rauche, und zweitens meine Haut so schrumpelig gewellt ist wie die Oberfläche eines Twix-Riegels.
Sehr langsam trockne ich mich ab, spiele auf Zeit. Irgendwas muß jetzt passieren, denn gebadet habe ich jetzt, und damit sind die Möglichkeiten, die ein Badewannenfabrikvorführareal so bietet, annähernd ausgereizt. Ganz langsam. Schön auch zwischen den Zehen abtrocknen, das bringt noch mal anderthalb Minuten und im Gegenzug keinen Fußpilz. Fairer Deal. Ein Frotteebademantel ist etwas sehr Angenehmes. Ebenfalls schön: Die Musikanlage ist noch da! Aber alle CDs sind weg,
POWER
OPEN/CLOSE
Aha, noch eine drin. Und zwar:
Bravo Hits Vol. 16 – CD 2.
Nun denn, bitte, liebe Backstreet Boys, singt euer Lied.
Eine Badewannenfabrik ist auch nur eine Badewannenfabrik, das ist mal klar.
Beschäftigungsprogramm! Herr Schröder! Ich will was zu tun!
Rumgehen, den schon in Gänze erkundeten Raum erneut durchforsten. An der Wand erzählen Tafeln die Firmengeschichte. Für das Silvestergefeier waren diese Tafeln mit weißen Tüchern verhängt worden, wohl weil das ziemlich unsexy Layout sie nicht gerade als Kulisse für ein schillerndes Fest prädestinierte – Bleiwüste mit wenigen Bildern, aber ich habe jetzt ja Zeit, oh ja, und lese mir das mal durch, runter mit den Tüchern. Familienunternehmen/Im Krieg vollkommen zerstört/Dann aber Trümmerfrauenpower/Exportweltmeister/Keine Entlassungen seit Jahrzehnten trotz Großbrand in den 70ern und weltweitem Badewannenabsatzrückgang/Weihnachtsgeld/Marktführer/Anbauten immer wieder, bald wird Fertigungshalle 6D eröffnet/Foto von der letzten Halleneröffnung, der Wirtschaftsminister durchtrennt ein rotes Band mit einer großen Schere, Menschen klatschen/Dann die letzte Tafel: UNSERE FIRMENPHILOSOPHIE. Und ausgerechnet da haben Menschen Torte gegengeworfen, nachts, die ganze Firmenphilosophie ist beschmiert.
Sie sind verhaftet. – Nein, noch nicht.
Sie sind allein. – Das stimmt.
Langsam verzweifeln Sie. – Korrekt auch das.
Gerne hätte ich Hunger, dann könnte ich das Rest-Büfett leer essen, aber Hunger habe ich nicht, nur Depressionen, ganz langsam breiten die sich aus, durchmischen sich mit Angst vor dem Wachhund, Fabian und seinem Onkel, der ganzen Welt eigentlich. Ist da nicht auch irgendwo ein bißchen lustiger Fatalismus? Hey, lustig sein jetzt! Nein, geht nicht. Schönes Fest hin und her, wenn es wirklich so nett gewesen wäre, hätten die doch bemerkt, daß ich fehle heute morgen! Also wie üblich, die obligatorische (ein Grund fand sich wirklich immer, mindestens einer!) Neujahrsdepression, dazu eingesperrt inmitten lauter Badevorrichtungen. Die Bravo Hits 16 helfen natürlich auch nicht. Blödes Gelärme. Ich möchte jetzt – alles eigentlich, nur nicht baden. Tja, sagt da der Vorführraum, das ist aber dumm.
Nun ist die CD durchgelaufen, draußen dämmert es schon wieder, richtig hell ist es heute auch gar nicht erst geworden. Man hört vereinzelte Krawumms, und plötzlich blitzen sogar ein paar Leuchtraketen auf, das sind die Restknallkörper aus dem Wohngebiet einige Kilometer entfernt, eine sogenannte Arbeitersiedlung, da wird immer besonders viel geknallt in sogenannten Arbeitersiedlungen. Kann sich jeder separat überlegen, warum das wohl so ist. Immerhin, da lebt noch jemand, draußen, zwischenzeitlich hatte ich hier drinnen das Gefühl, aus Versehen als einziger Mensch einen Atomkrieg überlebt zu haben. Heute wird also offenbar niemand mehr in die Fabrik kommen. Und morgen ist Sonntag.
Damit es nicht so still ist, drehe ich alle Wasserhähne auf. Eigentlich könnte ich jetzt mal in den Spiegel gucken. Habe ich nicht mehr gemacht, seit ich heute nacht mit irgend jemandem grausam erschrak, als wir gemeinsam in einen Vergrößerungsspiegel guckten, der mittels einer Teleskopvorrichtung wie ein Telefon in alten Kriminalfilmen aus einer Wand gezogen werden kann. Da sah das Gesicht aus wie eine karstige Mondlandschaft = sehr, sehr unschön. Nun aber ein normaler Spiegel. Ja, gut, für einen 1. Januar geht es.
Die Wasserhähne drehe ich jetzt wieder zu, das ist ja eine ganz schlimme Verschwendung. Aber nein, einen muß ich doch wieder anstellen, diese Stille ist zu beängstigend. In Extremsituationen hilft nur Selbstbetrug, also spiele ich ein Spiel, ein Rollenspiel, ganz allein. Ich darf mir ein Badezimmer zusammenstellen, weil ich in einem Preisausschreiben gewonnen habe. Also:
Die runde Badewanne hätte ich gerne, jene dort, die ganz runde. Gibt es die auch in weiß? Dann noch eine Dusche, eine schön große Dusche. Mit Glastür und einer abwegigen Anzahl Wasserdüsen, Wasser kommt von oben und auch von der Seite, wenn man will, von allen Seiten eigentlich. Intervallschaltung oder simpler Strahl.
Ungefähr eine Stunde lang bin ich mit diesem Spiel beschäftigt, na immerhin.
Dann kommt die Angst wieder, nein, sie, die Angst von vorhin, kommt nicht wieder, das vorhin waren kleine, weit überbewertete Sorgen im Vergleich. Jetzt liege ich auf einem blauen Wannenvorleger und zittere. Kalt ist mir nicht, das ist sicher, nein, eingehüllt in den Bademantel (Modellname »Admiral«, sagt die elegante kleine Informationskarte, die ich in der traurig zerborstenen Vitrine unter Scherben zurückließ), an den Füßen die anschmiegsamsten Badeschlappen Westeuropas, deren Modellnamen ich allerdings nicht mehr eruieren konnte. Hier wird auch am Wochenende geheizt, merke ich, vielleicht dürfen Badewannen nicht frieren. Das Zittern bleibt. Dann, sehe ich ein, ist es also tatsächlich schlichte Angst, auch mal interessant.
Lebensangst
Todesangst
Neujahrsangst
Angst, daß jemand kommt
Angst, daß niemand kommt
Angst vor Geräuschen
(klar, auch vor der Stille)
Badewannenfabriksvorführraumangst
Eines der Wörter beschreibt einen Zustand, den ich bislang nicht kannte. Die Badewannenfabriksvorführraumangst ist etwas Neues, ein einmaliges Amalgam aus den anderen Ängsten.
Fühlt sich scheiße an.
Es ist ganz dunkel jetzt draußen. Lockt es Einbrecher oder schreckt es sie ab, wenn ich hier die Festtagsbeleuchtung (alter Hausmeisterterminus für im Grunde nichts anderes als: Stromverschwendung) abfackele, auch tagsüber brannte hier heute jede kleine Vorführneonröhre. Das letzte Bad ist relativ lange her. Darf ich dann jetzt schon wieder? Was sagt denn die Haut? Die Haut ist wieder entschrumpelt, zwar auch nicht gerade ein Feuchtbiotop, das dringend dehydriert werden will, aber ein kurzes Bad müßte ok sein. Welche Wanne denn diesmal? Manchmal bestellen sich Leute im Restaurant extra keine simplen Sachen wie Spaghetti Napoli, weil sie finden, »daß man sich das auch zu Hause machen kann«. Der Gedanke, der meiner Wannenauswahl nun zugrunde liegt, ist derselbe:
Es muß eine sein, die der daheim maximal überlegen ist. Andere Farbe, andere Form, viele super Zusatzfunktionen.
Interessant wäre mal eine Forsa-Umfrage, ob verheiratete Männer, die in den Puff gehen, sich dort eine Frau aussuchen, die ihrer eigenen ähnelt, mit der sie nur ganz anders umspringen können und wollen, oder ob sie sich das genaue Gegenteil, also die positive Verkehrung, suchen.
Dort ist ein Spiegelkabinett, in dessen Mitte ebenerdig eine Wanne in den Marmorboden eingelassen wurde. Man muß eine kleine Treppe hinabsteigen! Die Wanne ist quadratisch angelegt, mit leicht abgerundeten Ecken, damit sich die Millionärsgattin nicht in einem unachtsamen Moment böse dran verletzt. Es ist beinahe ein Swimmingpool, auch richtig tief, bestimmt einen Meter fünfzig. Wird es Stunden dauern, bis da genügend Wasser drin ist? Nein, nein, denn einmal aufgedreht, strömt ein furioser Wasserstrahl los, und als dieses Monsterbecken zur Hälfte gefüllt ist – nach schon etwa zwei Minuten –, fängt es in der Mitte plötzlich zu sprudeln an, und es erhebt sich aus den Fluten eine kleine Fontäne. Wahrscheinlich, damit der Millionärsgattin nicht so langweilig wird, weil ja der Mann immerzu unterwegs ist, wegen der Millionen.
Tolle Wanne. Ich laufe zum Büfett, habe jetzt endlich wieder Hunger, und ich häufe eine exotische Vielfalt auf einen riesigen Teller. Damit hurtig zur Wanne, sonst läuft die über! Aber plötzlich steht der Feuerwehrschlauch still, ein paar Tropfen kommen noch raus, und auf einem Display leuchtet auf:
Maximale Füllhöhe erreicht.
Das ist ja wundervoll, eine mitdenkende Badewanne. Ob die auch in einer halben Stunde höflich mahnt:
Ihre Haut ist schon ziemlich schrumpelig, raus jetzt.
Fragezeichen. Nun aber mal rein. Der Teller bleibt am Rand, und ich paddel dann und wann dorthin und esse ein bißchen was, nicht ohne immer auch mal ein paar Brocken ins Wasser fliegen zu lassen, aus Versehen, schön sieht das nicht aus. Ein kleines Kuchenstück wird jetzt, Physik ist das!, angesogen von der Unterströmung der Fontäne. Oder so ähnlich, trudelt jedenfalls gen Mitte und wird dann zerhäckselt vom Gestrudel.
Das Display vermeldet bloß alle zwei Minuten ungefragt die aktuelle Raum-, Wasser- und sogar Außentemperatur. Wahrscheinlich ist es ein leichtes, auch Börsenkurse darüber zu empfangen. Den Hautschrumpelwarnhinweis jedoch erwarte ich vergeblich, und deshalb müssen die körpereigenen Sensoren ausreichen. Nun also raus, jedoch bloß nichts überstürzen. Noch mindestens eine Nacht. In der Arbeitersiedlung sind inzwischen sämtliche Restbestände an Knallkörpern verpulvert, Ruhe draußen, Ruhe hier drinnen.
Ich schlurfe schicksalsergeben in eine Sitzecke im Foyer und lege mich auf eine Ledercouch. Als Decke dient einfach ein zweiter Bademantel »Admiral« aus der Vitrine, oh Vorsicht, da sind Glasscherben in der Tasche. Plötzlich bin ich wahnsinnig müde. Ich fühle mich hier schon beinahe zu Hause, lösche einige der vielen vielen Flutlichter, und dann aber. Augen zu und – durch. Durchschlafen.
Poch poch. Ein Auge auf. Wo, ach ja, 2. Januar, Badewannenfabrik, Vorführraum, Besuchersofa, Sonntag, noch ein Tag alleine, noch einen Tag warten, dann kommen die …
WER POCHT DA?
Anderes Auge auf, ganz vorsichtig. Kinder und ein Hund stehen am Fenster, die Nasen sind bizarr ans Glas gequetscht, sie lachen sich kaputt, ziehen Grimassen, der Hund leckt an der Scheibe, die daraufhin beschlägt. Hoffentlich friert der Köter fest dort. Ich liege in einer Art Schaufenster.
Wenn ich so ein Kind wäre, ich würde auch lachen und gucken – gucken und lachen.
Ich springe auf, und da laufen sie ganz schnell weg, wahrscheinlich zurück in die sogenannte Arbeitersiedlung. Der Hund ist natürlich nicht festgefroren.
2. Januar. Also, lieber Fabian, jetzt komm doch mal zum Aufräumen, ich helfe auch mit. EHRLICH!
Wenn die Badewannenfabrik nun Betriebsferien hat, was dann? Skiurlaub für alle? Quatsch.
Alle Wannen, die mich interessieren, habe ich eigentlich durch. Zuckerbäcker, habe ich mal in einer Reportage auf Vox gesehen, essen auch überhaupt nicht gerne Torten.
Das gewöhne man sich sehr schnell ab, sagen sie. Genau wie mich nun angesichts dieses Überangebots die Aussicht auf ein sogenanntes heißes Bad überhaupt nicht zu begeistern vermag. Was dann?
Vielleicht mal wieder Menschen.
Eine andere Platte als Bravo Hits Vol. 16 – CD 2 (DJ Bobo war auch mal Zuckerbäcker, fällt mir da ein, vielleicht tut er uns irgendwann einen Gefallen und kehrt zurück zu diesen seinen Wurzeln).
Die Gewißheit, nicht ins Gefängnis zu müssen.
Einfach wieder das normale Leben, mit all dem Ärger, gerne doch, Hauptsache, das Jahr geht endlich los, ist dann einfach wieder eines von vielen, ein weiteres, und diese Zeitlupenouvertüre wird abgelöst von Bewegung und vor allem Abwechslung, die sich nicht in der Wahl der Badewanne erschöpft.
Ein Geräusch. Vor dem Einschlafen habe ich mehrere Tische vor die Tür zur Fertigungshalle gewuchtet, damit da nicht nachts plötzlich jemand hindurchkommt, ein Gabelstaplergespenst oder so. Woher jetzt dieses Geräusch, ein metallisches Klappern, was war das? Stille jetzt wieder. Da, ein Radfahrer. Ein Zeitungsbote. Ah! Er hat die Sonntagszeitung durch den Schlitz geworfen. Hat mich nicht gesehen. Wäre auch alles zu kompliziert geworden. Neben dem Briefschlitz steht eine Plastikwanne mit lauter Post drin. Ich öffne ein paar Briefe, sind aber bloß langweilige Bestellformulare, Rechnungen und Hunderte Weihnachts- und Neujahrsgrußkarten. In einem Umschlag finde ich einen kleinen Tannenzweig, den zünde ich an, das riecht immer so schön. Da geht es mir gleich besser. Die Sonntagszeitung, die sie hier in der Badewannenfabrik abonniert haben, ist leider die langweiligste Sonntagszeitung am Markt: Die Welt am Sonntag. Nein, SO langweilig ist mir dann doch nicht, daß ich die nun lese. Na ja, mal kurz reingucken: »Manche Eskimos benutzen Kühlschränke, um darin ihre Lebensmittel vor dem Erfrieren zu schützen.« Ah, ja. Nazis raus. Altpapier.
Ich setze mich wieder. Halt, da kommen sofort die Depressionen, schon wieder die, schnell bloß irgendwas machen. Ich nehme Einwegduschhauben aus einem Regal und fange an, Salatschüsseln und Puddingschüsseln damit zuzudecken.
Eine der schönsten Omagesten, die es gibt nach Partys. Meine Mutter hat mir mal erklärt, daß einige Frauen große Freude daran haben, weil sie so in aller Ruhe herausfinden können, wem welche Schüssel gehört. Und wessen mitgebrachter Salat oder Pudding nicht weitestgehend leer ist oder sogar noch beinahe unberührt, hat verloren! Derjenige, dem (allermeistens: diejenige, der) man die Schüssel dann mit Plastik abgedeckt (damit es nicht ganz verdirbt) in die Hand drückt, guckt dann ganz traurig, sagt aber tapfer: »Ach, schön, guck mal, dann muß ich morgen nicht kochen.« Aber in Wahrheit ist sie existentiell niedergeschlagen, und die anderen Hausfrauen waren viel besser, eins zu null für die.
Dann ist alles abgedeckt, und leider kann ich niemandem was in die Hand drücken. Ich selbst hatte nur Wein mitgebracht, meinen Lieblingswein, und der ist leer, kein Wunder, habe ihn ja selbst getrunken, was mancher unhöflich finden mag, aber wenn die Macher schlechter Salate ihre Salate selbst aufäßen, wäre das ja super. Einmal mehr Spaziergang zwischen den Wannen.
Vielleicht könnte man mal eine Boygroup am Markt etablieren, deren Entstehungslegende einfach so geht:
Sie waren mal gemeinsam in einer Badewannenfabrik eingeschlossen, ein paar Tage, und da haben sie dann mit Badewannenfabrikwerbekulis Songs geschrieben, auf einem verstimmten Klavier im Badewannenfabrikkeller herumprobiert, und plötzlich waren sie eine Boygroup.
The Marmor Boys.
Keine schlechte Idee. Die Moonboots sind jetzt wieder trocken. Ich schlüpfe rein. Sie sind etwas zu klein, aber es geht. Heute ist der 2. Januar, ich bin immer noch eingeschlossen, die Moonboots sind nicht meine, aber wieder trocken; ein bißchen zu klein, aber es geht.
Das ist die Lage.
Gleich kommt ein Raumschiff und holt mich hier raus. Nette grüne Männchen sagen:
– Genug gelitten jetzt.
Grüne Männchen. GRÜNE MÄNNCHEN.
WO
IST
EIGENTLICH
DER
NOTAUSGANG?
Muß es doch geben. Ja, schlauer Junge. Wahnsinnige Transferleistung, dieser Gedanke nach eineinhalb Tagen. Überall an der Decke hängen ja diese Leuchtrechtecke mit dem weißen Laufmännchen auf grün. Da entlang, den Pfeilen nach. Pelzmantel über den Admiralsmantel, Zehen anziehen, damit sie nicht so schmerzhaft gegen die Moonbootspitzen stoßen, und den Pfeilen nach. Schneller. Da: eine Stahltür.
Nur im Notfall öffnen. Ist ja Notfall. Sie geht auf, ganz einfach.
Ich spaziere durch den frühabendlich saukalten 2. Januar, durchs Industriegebiet.
Es fängt an zu schneien, dort drüben ist schon die Bundesstraße. Per Anhalter in die Stadt. Ich persönlich würde diesen Kerl in Moonboots, Bademantel und Pelz darüber NICHT mitnehmen. Aber: Sauber ist er, falls das eine Rolle spielen sollte. So sauber wie nie zuvor. Ich glaube, ich habe den Wasserhahn angelassen. Die Wasserhähne.
Ah, der Passat hält.
– In die Stadt? Du siehst ja durch aus! Ich heiße übrigens Tobias.
Und ich, unfähig, normal zu konversieren, sage einfach so, tatsächlich:
– Und ich bin der Roberto Blanco.
Tobias lacht. Ich dann auch.
Man fällt ja immer wieder drauf rein. Ob allein auf Reisen oder im Kollektiv die Woche krönen wollend mit dem Frönen eines Spießbürgerbrauchs to end all Spießbürgerbräuche – »schön im Hotel frühstücken, großes Büffet!«. Speziell der Sonntag wird zum großen Kampffrühstück genutzt – endlich mal in Ruhe den Tag begrüßen, sich verwöhnen lassen, diese ganze Scheiße. Formel-1-Rennen gucken ist nicht sinnloser.
Das Frühstücksbüffet erscheint unglaublich attraktiv: alles da, von jedem etwas, wir breakfasten nicht, wir lunchen nicht, sondern, genau – wir brunchen. Brunchen meint: Jeder belädt seinen Teller, als wäre er schwanger. Kaltes neben Heißem, süß neben salzig und dazu diverse Ei-Variationen, Säfte und hier ein Toast und da ein Obst, gerade so, als gelte es, Vorräte für den Luftschutzbunker zu hamstern. Psychologisch ist es vorteilhafter, einen großen Teller zu behäufen statt mehrerer kleiner, was nämlich immer so aussieht, wie es ist – schlicht gierig. Das Büffet ist eine gastronomische Pauschalreise, all inclusive, auch der Ärger.
Die Aussicht, ein bißchen Ei, dazu aber auch Obstsalat und trotzdem noch ein Brötchen und ein Nutella-Croissant essen zu können, erscheint gerade Insassen nachlässig geführter Single-Haushalte paradiesisch. Sonntagsfrühstücke daheim sind sinnvoll limitiert – mehr gibt es nicht, weil es mehr nicht gibt; Marmelade ist zwar noch da, aber der Toastvorrat erschöpft sich in Krumen am Tütenboden. Das macht zufrieden. Nach einem auswärtigen Frühstücksbüffet dagegen ist der Selbsthaß beträchtlich. Unsinnige Mischung und maßloses Hungerüberschätzen bewirken ein Calzonegefühl in der mehr denn je als Bauch empfundenen Magengegend.
Die dargebotene Fülle ist imposant, die Qualität der Einzelposten jedoch zumeist unterdurchschnittlich. Ein Käselappen, der von 10 bis 16 Uhr neben einem Dekorsalatblatt dahinoxidiert, kann ja gar nicht schmecken! Auch ist der Zugriff aller mit denselben sogenannten Auftulöffeln hygienisch bedenklich. Um es mit Günter Wallraff zu sagen: Irgendwas bleibt immer hängen. Manche Büffetteilnehmer greifen auch zwanglos freihändig in den Brötchenkorb und scheuen sich nicht, Einzelteile zurückzulegen, wenn der Teller wegen Fehlkalkulation überläuft.
Ästhetisch sind Büffets ohnedies eine Anfechtung. Das Rührei wird von Lampen warmgestrahlt, die Butter schwimmt in Eiswürfeln, der Verzierung zugedachte Gurken und Tomaten bleichen wässrig den Hartkäse. Und der Lachs, ja der Lachs! Der ja billiger ist als guter Käse, aber trotzdem noch das Image des Champagner unter den Aufschnittsorten innehat. Vom Rand her trocknet er bedächtig der Ungenießbarkeit entgegen, und auch die säumenden Zitronen waren schon besserer Zeiten ansichtig.
Der Büffetesser ist so kleinlich auf Preisleistungsschnäppchen bedacht wie eine Horde Vorstädter im Sommerschlußverkauf. Auch wenn man KEIN