Von hier bis ans Meer

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Inhaltsverzeichnis

Il est où?

Christophe Maé

 

 

 

 

 

Bin müde und leer,

Will nach Süden ans Meer.

Bin auf meinem Weg ohne Wiederkehr,

Schon so lang.

Hannes Wader: Schon so lang

Vorletztes Jahr wurde ich mit einer Handvoll anderer Menschen ausgewählt, bei Horst Lichters Fernsehsendung Auf der Suche nach dem Glück teilzunehmen. Horst Lichter reiste mit seinem Motorrad an der Côte d’Azur entlang, suchte wunderbare Plätze auf und traf sich mit unbekannten Menschen, die dort leben. Ist man hier glücklich? Oder glücklicher? Und warum? Das war die Frage, die er allen stellte.

Was für ein Glück! Ich dachte von nun an ständig an das Glück und vor allem, warum ich es nicht spüre. Denn stellen Sie sich vor, nach einem langen Gespräch mit Horst Lichter und Hardy Krüger, der ihn begleitete, einem Gespräch über das Leben und die Liebe, antwortete ich auf die abschließende Frage, ob ich glücklich sei, mit »Nein«. Bam. Das muss man sich mal vorstellen. Ich sagte in etwa »Ich lebe an der Côte d’Azur, habe einen lieben und guten Mann, ich schreibe und bin damit erfolgreich, das Meer ist eine Viertelstunde zu Fuß entfernt … und nein, ich kann nicht so pauschal sagen, dass ich glücklich bin, ich spüre es nicht, das Glück.« Und dann hielt einer der zwölf Herren, die sich bei den Dreharbeiten in dem engen Büro versteckt hatten, ein Schild hoch, auf dem »zum Ende kommen« stand. Und ich dachte, was? Und das wird mein letzter Satz? Dass ich nicht glücklich bin?! Gut, das wurde

 

»Was erwartest du denn noch?«, fragte mich meine Mutter fassungslos, als ich mich vor vielen Jahren von meinem langjährigen Freund getrennt hatte. »Das war doch so ein netter Mann. Seriös. Aufrichtig. Intelligent. Mit einem Doktortitel! Gut aussehend und sportlich war er auch. Was willst du denn noch?«, fragte sie. Mein damaliger Freund war wirklich ein guter Mann. Sanft und ruhig, seriös, und er liebte mich aufrichtig. Aber ich fand ihn nicht cool genug, nicht witzig genug, zu verträumt und zu langsam, und vor allem war ich nicht prickelnd verliebt in ihn. Ich spürte nicht das Glück durch meine Adern pulsen, wenn ich mit ihm zusammen war. Ich fühlte mich wohl mit ihm, wie man sich wohl in alten warmen Hausschuhen fühlt. Aber das sollte alles sein? So sollte es bleiben bis zum Ende meines Lebens? Dieses gemütliche Hausschuhgefühl zu zweit vor dem Fernseher? Und wo ist das Abenteuer? Das Glück? Die großen Gefühle? Die Leidenschaft? Hallo? Ich trennte mich, weil ich glaubte, dieser Mann mache mich nicht glücklich. Überraschenderweise fühlte ich mich nach der Trennung weder glücklich und befreit, noch stürzte ich mich in Abenteuer, das einzige Gefühl, das ich hatte, war, dass ich gerade meinen einzigen und besten Freund aus meinem Leben gekickt hatte. Und er fehlte mir. Ich war eher unglücklich. Ziemlich unglücklich, um

Aber dann begegnete mir tatsächlich ein neuer Mann. Er war so anders als die Männer, mit denen ich bisher zu tun gehabt hatte. Ein Franzose. Ich war hin- und hergerissen von ihm. Ich bewunderte ihn für seine freie Art und schämte mich gleichzeitig für ihn. Er war Holzfäller, aber nachdem er im deutschen Wald und in dem ihn umgebenden Land vor Einsamkeit fast verrückt geworden war, war er nach Köln gezogen und fuhr dort Pakete aus. Als er mich eines Tages in kariertem Hemd und unmodischer Hose, unrasiert und umwölkt von Patschuli-Öl, an meinem Arbeitsplatz aufsuchte, dachte ich, ich müsse im Erdboden versinken vor Scham. »Hier ist einer, der sagt, er ist dein Freund, Christiane, kannst du mal kommen, bitte?«, rief mich die Dame vom Empfang an. »Gutten Tack«, lachte der Franzose und küsste mich vor den Augen der Rezeptionistin. »Iesch ’atte in die Nähe zu tun und iesch dachte, iesch komme diesch mal besuchen!«, strahlte er. »Ja«, quälte ich mir gestelzt ab, »dann komm mal mit hoch.« In meinem Büro hätte ich ihn gern versteckt, aber die Kolleginnen waren hocherfreut über seine Anwesenheit. Er war auch so nett und lustig und charmant mit seinem drolligen Deutsch. Ich aber sah nur das Proletarische und wie schlecht er angezogen war.

Er war vollkommen frei und scherte sich nicht darum, was die anderen von ihm dachten. Er ließ sich auch weder kontrollieren noch von mir auf typisch deutsche Art verplanen. Wollte ich mit ihm zusammen sein, musste ich mich seinem Rhythmus und unterwegs seinem Fahrstil

Von dieser Trennung habe ich mich fast nicht mehr erholt. Sie kostete mich beinahe das Leben, das kann ich ganz ohne Übertreibung sagen. Ich konnte buchstäblich nicht mehr aufhören zu weinen. Ich heulte und heulte. Ich telefonierte und fuhr ihm hinterher, ich rief ihn an den absonderlichsten Orten an, obwohl ich sehr wohl spürte, ich interessierte ihn schon nicht mehr. Er war weg. Aber mir fehlte er so. Alles kam mir schal vor. Ich war nicht sicher, ob ich in Afrika hätte leben wollen, aber in Köln schien ich auch nicht mehr leben zu können. Dass ich mein eigenes Abenteuer leben musste und nicht das der anderen, das habe ich da noch nicht gespürt.

Ich hatte Unfälle und Fahrradunfälle angehäuft. War Kellertreppen hinuntergefallen und habe mich einmal so spektakulär mit dem Fahrrad überschlagen, dass mehrere Autos mit quietschenden Reifen nur knapp vor mir zum Stehen kamen und die Fahrer besorgt aus dem Wagen sprangen. Alles in Ordnung? Es sah so schlimm aus! Wie durch ein Wunder hatte ich außer blauen Flecken nie etwas abbekommen. Dabei wollte ich mich so gern rausziehen aus diesem Leben, wenigstens einen Moment in einem weißen Bett in einem Krankenhaus zu ruhen schien mir eine Wohltat. Ich konnte nicht mehr.

Erschöpft war ich. Zutiefst erschöpft. Ein Burn-out, gepaart mit einer tiefen Lebensunzufriedenheit, eine Midlife-Krise Anfang vierzig, eine Depression. Irgendwie war alles zusammengekommen. Mir war alles zu viel. Auch ein Jahr später weinte ich noch immer um den Franzosen. Niemand wollte es mehr hören. Ich fühlte mich einsam, aber wenn das Telefon klingelte, hob ich nicht ab, jeder Kontakt war mir zu viel. Post machte ich auch nicht mehr auf. Freunde, die versuchten, einfühlsame Worte zu finden, blaffte ich an: »Gar nichts wisst ihr. Gar nichts. Lasst mich nur alle in Ruhe.« Mir schien, ich müsse nur einmal richtig ausschlafen, aber wenn ich dann ausgeschlafen hatte, hatte

»Endlich«, sagte die Hausärztin, lächelte warm und schrieb mich krank.

»Wenn das mein Leben ist, dann will ich es nicht«, raunzte ich meinen Pfleger gleich am ersten Tag an.

Ungerührt drückte er mir ein kleines Büchlein mit Gedanken von Blaise Pascal in die Hand. »Lesen Sie mal«, sagte er, »das könnte etwas für Sie sein!« Ich hatte noch nie von Blaise Pascal gehört, blätterte blasiert und lustlos darin herum und blieb dann doch an einem Satz hängen: »Le cœur a ses raisons que la raison ne connaît point«. »Das Herz hat seine Gründe, die der Verstand nicht versteht Dieser oft zitierte Satz ist Ihnen vielleicht bekannt, für mich war er damals neu und die Idee dahinter auch. Mehr als neu. Unerhört geradezu. Kann das sein? Darf das sein? Ich hatte gelernt, dass man Entscheidungen mit dem Kopf trifft. Da hört man nicht auf seinen Bauch oder auf sein Herz. Auch

Mein Pfleger war ein Glücksgriff, auch wenn ich es nicht gleich erkannte. Wie ich mir mein Leben denn wünschen würde, fragte er mich eines Tages. Was würde ich machen, wenn ich ganz frei wäre? Frei von allem. Frei von Geldsorgen. Frei von Ängsten. Auch frei von Ängsten, einen Prestigeverlust zu erleiden. Wenn ich mich um nichts und niemanden kümmern müsste, was würde ich dann tun?

In meinem Kopf ratterte es. Was würde mein Herz sagen, wenn es entscheiden könnte, was ich gerne leben wollte? »Ein Jahr nach Frankreich«, flüsterte es mir zu. »Sag es!« Und nein, es hatte nicht nur mit dem Franzosen zu tun, wenn auch die Vorstellung, dass ich die gleiche Luft atmen könnte wie er, mir klammheimlich gefiel. Nach Frankreich hatte ich immer schon gewollt.

Frankreich war früh in mein Leben gekommen, schon als ich klein war und wir dort, ganz nah an der luxemburgischen Grenze, ein paarmal Freunde der Großeltern besuchten. Maria und Joseph. Sie dick und rund, er mager und kettenrauchend. Daran erinnere ich mich und an die Stallkaninchen hinter dem Haus. Ich erinnere mich an einen kleinen Lieferwagen, der direkt vor dem Haus hielt und in den man richtig hineingehen konnte, um einzukaufen. Und daran, dass ich in dem engen Wohnzimmer, wo alle laut redeten, aßen, tranken, rauchten und zusätzlich der Fernseher lief, auf dem Sofa selig schlief. Ich, das empfindliche Kind, das solche Probleme mit dem Einschlafen hatte.

Ich erinnere mich an eine riesige Sammlung von Schlüsselanhängern, eine sehr kleine, feine und besondere Schreibschrift auf Visitenkärtchen und für ein paar

In unserer Familie wurde mit Französisch ohne Mühe ziemlich mühevoll Französisch gelernt. Mir scheint im Nachhinein, die Schallplatte ist bei der Lektion »Wecken im Hotel« hängen geblieben. Ich kann sie immer noch aufsagen: »Levez-vous, Mademoiselle, il est l’heure«, sagt der Zimmerservice und klopft an die Tür. »Ah, je suis tellement fatiguée«, antwortet eine junge Dame und verschluckt gähnend die Endsilbe. »Schö sswieh tellmooh fohtig«, wiederholte mein Vater daher so oft, dass ich meiner Französischlehrerin Jahre später nicht glauben wollte, dass es eigentlich fatigué heißt, mit einem betonten accent aigu am Ende. Irgendwann verlor sich trotz all des erlernten Französisch der Kontakt dorthin, aber ich war schon ein bisschen süchtig geworden nach Frankreich.

Als Jugendliche entdeckte ich in einem kleinen Programmkino in Darmstadt die Filme von François Truffaut und war fasziniert von Fanny Ardant und Gérard Depardieu in La femme d’à côté. (Die Frau nebenan) oder noch einmal Fanny Ardant und Jean Louis Trintignant in Vivement Dimanche (Auf Liebe und Tod). Wie Großartig! Noch nachhaltiger hat mich aber Pourquoi pas? (Warum nicht?), ein Film von Coline Serreau, beeindruckt. Ich war so verliebt in Samy Frey und in die unerhörte Geschichte einer Liebe zu dritt in diesem Film. In diese freche Leichtigkeit. Ach, Frankreich!

Nach dem Abitur hätte ich gerne ein Jahr in Frankreich gelebt, in einem Dachkämmerchen in Paris vielleicht oder meinetwegen auch als Au-pair-Mädchen in Lyon. Ein

Herumgammeln hieß das damals. Und herumgammeln sollte ich nicht. Sondern was Vernünftiges lernen und arbeiten. Das habe ich dann auch gemacht. Ich habe vernünftig so allerhand gelernt und gearbeitet und studiert und wieder gearbeitet. Und nach Frankreich kam ich nur noch auf Zeit, im Urlaub.

Diese Sehnsucht, in Frankreich »richtig« zu leben, wurde wieder groß, als der Film Le Fabuleux Destin d’Amélie Poulain (Die fabelhafte Welt der Amélie) in die Kinos kam. Damals kam ich komplett deprimiert aus dem Kino, gerade hatte mich mein Franzose verlassen, und es schien mir, als könnte ich nicht mehr glücklich sein in Deutschland.

Ich suchte das Französische jetzt überall, kaufte mir morgens Croissants und trank abends französischen Wein, kochte mit Olivenöl und Kräutern der Provence und war begeistert, wenn ich irgendwo gesalzene französische Butter oder original Kekse aus der Bretagne fand. Ich hörte französische Musik: Benjamin Biolay zum Beispiel, als ihn noch kaum einer kannte. Und Carla Bruni. Ihr Liedchen Quelqu’un m’a dit fand ich erstaunlich tröstlich. Ich hörte die schmelzende Stimme von Henri Salvador, und ich hörte Jane Birkin, die die Chansons von Serge Gainsbourg interpretierte.

Und ich sah erneut französische Filme: Le bonheur est dans le pré (Das Glück liegt in der Wiese) oder Une hirondelle (Eine Schwalbe macht den Sommer). Dieser Film schien wie für mich gemacht zu sein: Eine Informatikerin steigt aus, macht eine Ausbildung in der Landwirtschaft und übernimmt einen Ziegenhof. Ich wollte auch raus und weg. Endlich weg. Nach Frankreich. Als mich der Krankenpfleger nun fragte, was ich gern machen würde, gab es darauf nur eine Antwort:

»Ein Jahr ins Ausland gehen«, sagte ich, ohne zu zögern. »Nach Frankreich.«

»Toll!«, sagte er. »Machen Sie das!«

»Was?« Ich sah ihn groß an. »Und meine Rente?«

Da lachte er, dieser etwas bieder aussehende Mann, der zu Hause eine kleine Familie hatte. Er war kein abgedrehter Guru mit linksgedrehtem Rastazopf, und deswegen trafen mich seine Worte noch viel stärker. »Ihre Rente«, sagte er. »Gute Frau! Wenn Sie jetzt schon an Ihre Rente denken, dann können Sie sich auch gleich umbringen. Leben Sie doch erst mal!«

Leben Sie doch erst mal! Leben. Wie geht das: »leben«? Wenn das mein Leben ist, dann will ich es nicht, hatte ich gesagt. Welches Leben wollte ich denn? Sollte ich wirklich nach Frankreich? »Ja!«, zischelte mein Herz. Aber zunächst versuchte ich wieder zu arbeiten, doch der Wiedereinstieg gelang nicht. Und als ich, buchstäblich am letzten Tag vor der endgültigen Rückkehr, den Job kündigte, war ich danach so erleichtert, dass ich wusste, ich war auf dem richtigen Weg. »Du bist frei!«, jubelte mein Herz. »Auf nach Frankreich!«

»Na, na!«, ließ sich die Vernunft hören. »Hör auf zu träumen! Ohne Geld geht gar nichts.« Daher meldete ich mich zunächst arbeitslos und verbrachte Stunden damit,

Weg wollte ich. Am liebsten ins Ausland. Die Idee, einmal ausgesprochen, hatte mich nicht losgelassen. Die Dame vom Arbeitsamt schüttelte den Kopf. Mit über vierzig gehe da nix mehr. Ich schrieb trotzdem Bewerbungen nach Rom und nach Paris in jämmerlichem Englisch und bekam nie eine Antwort. Einen Englischsprachkurs konnte ich immerhin bekommen, und dann ganz überraschend eine Möglichkeit, nach Birmingham zu gehen.

»Birmingham?« Ich sah die Dame vom Arbeitsamt zweifelnd an.

»Ja, Birmingham. Sie wollten doch ins Ausland?«

»Ja, aber …«

»Na also«, unterbrach sie mich, »dann füllen Sie mal so schnell wie möglich diesen Antrag aus …« Sie gab mir eine Internetadresse. Der Antrag war mehrseitig, sollte in Englisch ausgefüllt werden, online natürlich, und ich sollte darin begründen, warum ich so gerne nach Birmingham wollte.

Bei meiner Gesangslehrerin, die ich seit Kurzem hatte, weil mir das Singen in der Kur so gut getan hatte, bekam ich nachmittags keinen Ton raus. Sie fragte, was mich beschäftige, und ich erzählte von Birmingham.

Ich schüttelte den Kopf. »Ich will viel lieber nach Frankreich. Nach Südfrankreich am liebsten. Oder nach Italien.«

»Dann geh nach Südfrankreich. Da sehe ich dich auch. Ich sehe dich nicht in England, nicht in Birmingham. Geh nach Südfrankreich«, ermunterte sie mich.

»Aber es gibt nur Birmingham. Ich habe kein Geld, um in Südfrankreich einfach so zu leben«, wandte ich ein. »Birmingham ist vom Arbeitsamt unterstützt, das wird bezahlt.«

»Na und?! Du willst nach Birmingham gehen, wo es dir nicht gefällt, nur weil es bezahlt ist?!« Sie schüttelte entschieden den Kopf. »Such dir selbst einen Job in Südfrankreich! Warum suchst du dir nicht eine Au-pair-Stelle? Granny-Au-pair gibt es doch!«

So begann ich, Au-pair-Stellen in Frankreich zu suchen. Ich bewarb mich hier und da, obwohl es mir nicht so richtig zusagte. Ich hatte eigentlich keine Lust darauf, mich um Kinder zu kümmern, ich wusste nicht mal, wie man mit Kindern umgeht oder was ich mit ihnen anfangen sollte. Ich hatte selbst nie einen Kinderwunsch gehabt. Jahrelang dachte ich, das Bedürfnis würde sich eines Tages einstellen, mit dem richtigen Mann vielleicht, aber nein, als mein langjähriger Lebenspartner mir die Pistole auf die Brust setzte und sagte, er wolle Kinder, und zwar jetzt, war dies mit ein Trennungsgrund. Aber wenn die Kinderbetreuung eine Möglichkeit wäre, gegen Kost und Logis in Frankreich zu leben, dann wollte ich es versuchen. Natürlich hat es nicht geklappt. Aber ich habe dadurch den Radius erweitert für das, was ich tun könnte. Ich begann Kleinanzeigen für Jobangebote im Ausland zu lesen.

Das Leben auf dem Bauernhof in den französischen Seealpen aber war ein Schock. So klein und ärmlich hatte ich es mir nicht vorgestellt. Und all diese Gerüche. Die Fliegen. Der Kuhstall befand sich noch unter dem Haus, und die Hühner liefen frei auf dem Gelände herum, und wir warfen ihnen unsere Essensreste über die Holzveranda zu. Und so viele Menschen. Ich hatte mir eine einsame und idyllische Alm auf einer frischen grünen Bergwiese vorgestellt, alles bilderbuchmäßig wie im Heidi-Film. Gerüche gab es nicht in meiner Fantasie. Aber nein, hier war nichts romantisch. Hier war raues landwirtschaftliches Leben. Ich schluckte und verscheuchte mit einer Handbewegung die Vernunft, die spöttisch applaudierte und mit den Augen rollte. »Super, diese Herzentscheidung«, sagte sie verächtlich. »Das wird schon«, zischte ich ihr zu und stapfte die wackelige Holztreppe zu meinem Dachkämmerchen hinauf. Ich war in meinem eigenen Abenteuer angekommen.

Anfangs aber fühlte ich mich sehr verloren. Nicht nur der Hof war fremd, mit all den Tieren, den Geräuschen und Gerüchen. Die Sprache sowieso (zuzüglich des landwirtschaftlichen Vokabulars), aber es war vor allem diese alternative Welt, die mich befremdete. All die wild aussehenden Männer mit langen Bärten, verfilzten Rastalocken,

Es war sicher nicht das Paradies, das ich mir erhofft hatte. Keine Heidi-Idylle. Keine Stille und Einsamkeit auf Almwiesen. Es war sehr irdisch, sehr lärmig zwischen all den Menschen, die dort lebten und ein und aus gingen, es wurde geraucht und getrunken und laut erzählt. Es roch fremd nach Tieren und vergorener Milch, überall surrten Fliegen, und alles ging langsam in einem Rhythmus, den ich nicht verstand. Es war ein alternativer Aussteigerhof.

In den späten Sechzigerjahren hatte man hier eine Landkommune gegründet und versuchte sich mit Freunden und Gleichgesinnten in den unterschiedlichsten

All das aber machte, dass ich nicht im Paradies war, sondern mitten im Leben. Ich staunte, war abgestoßen und angezogen gleichzeitig. Ich liebte es, im Garten oder auf dem Feld alleine zu arbeiten, mit dem Blick auf die Berge und den blauen, wolkenlosen Himmel, aber alleine war ich selten. Zu neugierig waren alle, mich kennenzulernen. Erzähl mal, warum bist du hier? Was hast du gemacht? Was willst du machen? Es fiel mir schwer, mich mitzuteilen, nicht nur, weil mein Französisch so erschreckend rudimentär war. In mir war noch alles durcheinander; ich war so schnell abgereist und konnte es manchmal noch gar nicht glauben, dass ich es gewagt hatte.

Diese Zeit auf dem Hof war nicht voller Glück, und doch nenne ich sie meine Rettung. Weil sie mich mit dem Leben konfrontiert hat, im ursprünglichsten Sinn, mit Geburt und Tod von Tieren, mit Säen, Pflanzen, Wachsen und

Anfangs habe ich mich noch geschminkt, ich war es so gewohnt, ich ging in Deutschland nie ungeschminkt aus dem Haus. Man machte sich lustig über mich. »Wen willst

Und ich sah ebenso mit Staunen, dass alles, was mir in meinem früheren Leben so wichtig gewesen war, hier nicht nur unbekannt war, sondern absolut keinen Wert hatte. Wenn man zu einer gewissen Zeit den angesagtesten Bücherregalbauer nicht kannte, gehörte man damit in Köln oder in anderen Städten nicht »dazu«. Zu der kleinen schicken, intellektuellen Schicht, die wusste, was in ist, wo man essen ging, welche Ausstellung man gesehen haben musste.

Was ist wichtig? Was ist wirklich wichtig?

Ich habe in den fünf Jahren, die ich in den Bergen verbracht habe, so gut wie kein kulturelles Leben gehabt. Also zumindest nicht in dem Sinn, wie ich es kannte. Filme, Ausstellungen, Bücher, zumindest aus deutscher Sicht, kamen nur noch via Wochenzeitung zu mir, und auch wenn ich Kolumnen und Kritiken las, so drang alles nur merkwürdig unwirklich bis zu mir vor. Für die französische Kultur war mein Französisch noch viel zu rudimentär. Ich konnte den Radiosendungen auf France Culture oder France Inter nicht folgen, und die Stimmen rauschten nur als Geräusch an mir vorbei. Ich versuchte, Liedtexte zu verstehen. Die Sängerin Camille hatte ihr erstes Album veröffentlicht, und ihre fremd klingende Musik schallte über den Hof. Ich verstand Camilles poetische Texte nicht, aber dennoch hat mich dieses Album tief berührt. Poesie verstehe ich übrigens auch fünfzehn Jahre später immer noch nicht. Es wird mir erst in der fremden Sprache bewusst, welch verfeinerte Form von Sprache Poesie ist.

Wie wenig verstand ich anfangs. Und wie wenig konnte ich sagen. Ich überschätzte meine Fähigkeiten, und ich unterschätzte ganz klar, was für eine Herausforderung es ist,

Ich war froh, dass ich die banale Fernsehserie Plus belle la vie (eine Art Lindenstraße) verstand und der Handlung folgen konnte. Ich war in jeder Hinsicht weit entfernt von französischen Filmen, Literatur, französischer Kultur. Und ich brauchte sie auch nicht. Der Alltag war so prall gefüllt mit Aktivitäten, dass ich abends müde ins Bett fiel. Welches Buch Dennis Scheck in Deutschland gerade dramatisch in die Tonne gekloppt hatte, war mir hier auf dem Hof vollkommen egal.

 

Waren die Menschen auf dem Bauernhof glücklich? Es sah für mich so aus. Also versuchte ich, ihre Art, das Leben anzugehen, zu studieren. Vielleicht machte es mich auch glücklich. Ich habe niemanden und nichts kritisiert,

Einmal war ich an Ostern mit einem früheren Freund in den Süden gefahren. Wir wollten so weit fahren, bis es

Hier auf dem abgelegenen Hof schienen alle zufrieden zu sein. In einem mir unerklärlichen Rhythmus zu arbeiten, lange zu essen, ein Mittagsschläfchen zu machen, das

Wutschnaubend kam der Nachbar abends auf den Hof gestapft, die Hofleute mussten lange auf ihn und seine Frau einreden und sie letztlich als Wiedergutmachung in das teuerste Restaurant in der Gegend einladen. Auf mich aber war er noch wochenlang böse. »Warum hast du mich denn nicht gerufen?«, fragte der Patriarch des Hofs fassungslos, als er sah, was geschehen war. »Mais tu faisais la sieste«, erklärte ich kleinlaut.

»Das sind die Glücklichen«, dachte ich, als ich in Nizza auf dem Kieselstrand saß, in die Sonne blinzelte und nebenan, auf einer Terrasse eines Strandrestaurants, in elegantes Weiß gekleidete Menschen in offensichtlicher Feierlaune Champagnergläser klirren ließen.

Ich saß nur zehn Meter weiter, hatte denselben Blick auf das schmerzhaft schöne türkisblaue Mittelmeer, hörte die Möwen kreischen, spürte den leichten Wind, der nachmittags aufkommt, und genoss die schon warmen Strahlen der Frühlingssonne auf meinem Körper. Ich hatte mich entschieden, hierbleiben zu wollen. Nicht in Nizza, aber in Südfrankreich. In den Bergen, dort, wo ich bereits mehrere Monate auf dem kleinen Bauernhof verbracht hatte. Ich fühlte mich hier viel lebendiger als in Deutschland. Eine Freundin, die aus Köln zu mir in die Berge gereist war und die den ganzen großstädtischen Alltag und ihre Sorgen mitgebracht hatte, ließ mich diese bislang nur vage angedachte Idee nur noch viel deutlicher spüren. Ihr großstädtisches Tempo und all das, wovon sie so aufgeregt berichtete, und was vor ein paar Monaten auch noch mein Leben ausgemacht hatte, all das wollte ich nicht mehr. Ich fühlte mich in meiner Abgeschiedenheit in den Bergen wohl. Diese Ruhe, diese Ereignislosigkeit und das langsame

Warum war ich nicht glücklich?

Ich wollte so sehr anders leben als in Deutschland. Frei sein. Lockerer sein. Unkomplizierter sein. Und das ganze Jahr habe ich mich nicht wirklich frei und auch nicht locker oder unkompliziert gefühlt. Auch nicht wirklich glücklich. Alles war nur sehr fremd und sehr anders. Aber es zog mich an, und ich dachte, ich müsse noch ein bisschen mehr davon leben, um das Glück zu spüren. Zurück, da war ich sicher, zurück wollte ich auf keinen Fall, und da meine Untermieter in Köln ihrerseits ihren Vertrag verlängerten und in meiner Wohnung blieben, entschied ich mich hierzubleiben. Allerdings hätte ich mir mehr Glücksgefühl gewünscht, nachdem ich mich zu dieser Entscheidung durchgerungen hatte. Eine unbändige Freude, die mich innerlich bersten, mich vor Übermut springen ließe. Irgend so etwas. Nichts von alledem spürte ich. Das Glück, es war gerade auf der Restaurantterrasse nebenan, bei den anderen. Ich war vielleicht noch nicht ganz am richtigen Ort. Aber ich war auf dem Weg. Das zumindest sagte ich mir damals und fuhr wieder hoch in die Berge.