Blatt mit den Aderlaßzeiten
Ein Pseudonym
Kleinkind/Bastard
Man sollte dem psychischen Schutzmechanismus der Leugnung in Zukunft besondere Aufmerksamkeit widmen
Pseudonym
Das heißt, mein Patient klammert sich an Instanzen, die sein Vor-Ich verinnerlicht hat: Gottesfurcht und Tabu.
Unbewußt macht er mich zu einem Teil der Instanzen, die Beistand und Schutz bieten.
Seine Genugtuung ist eine doppelte. Sie entspricht den zwei Ichs, die er in sich vereint. Melchior B. muß es schmeicheln, sich um seine heutige Heimat Verdienste erworben zu haben. Sein Vor-Ich bewahrte den christlichen Kaiser vor einer verheerenden Kriegsniederlage – bei dieser Melchior B. mit seinem Vor-Ich verbindenden Harmonie wird es nicht bleiben …
Junger, großgewachsener Mann
Berberland
Wellen
Es waren Fische um uns (unser Schiff) herum.
Mit Absicht zitiere ich an diesem Punkt Melchior B. mit seinem Mischmasch aus zweierlei Deutsch, unserem heutigen Deutsch und dem Deutsch, das sein Vor-Ich sprach. Nicht schwer zu erraten, warum mein Patient wiederholt in die Sprache der Luther-Zeit abgleitet: Sein Vor-Ich schiebt sich in den psychischen Vordergrund. Andererseits muß man festhalten, daß dieses Lutherdeutsch »unrein« bleibt. Teilweise liegt das an mir, der beim Mitschreiben Fehler macht, teilweise an Melchior B., der beim Sprechen irrt – oder sich seinem vorigen Ich unbewußt widersetzt.
Eine Spitze kann sich Melchior B. nicht verkneifen: »Wissen Sie, zwischen den Weibern, die mich an meinen Stricken zum Vorsteherhaus zogen, wo ich mein Ende erwartete, dachte ich an Christi Leiden umringt von den schimpflichen Juden …« Anscheinend entwickelt sich unsere Beziehung. Neben Zutrauen und Dankbarkeit meldet sich Abwehr – die im Laufe der kommenden Sitzungen zunehmen wird –, das bedeutet: Wir sind auf dem richtigen Weg zum empfindlichen Punkt seines Lebens.
»Sie sind zu beneiden um dieses Zusammenspiel von Schlauheit und Zufall«, bemerke ich nebenbei, eine Aussage, die meinen Patienten in Wallung bringt: Es sei sein aufrechter Glaube gewesen, dem er diese Wendung der Dinge verdankt habe. Andererseits legt er auf seine Schlauheit wert, die er den barbarischen Wilden voraushat – er kann sich besser verstellen als sie. Dieser Widerspruch reicht umso tiefer, als mein Patient und sein Vor-Ich nicht unmittelbar einen Sinnes sind. In Charakter und Wesen, Ideen und Lebensvorstellungen liegen sie weit auseinander.
Wenn mein Patient auf dem Kissen und ich uns vor allem am friedlichen Ausgang erfreuen, erfreut sich das Vor-Ich von Melchior B. in erster Linie an seinem erfolgreichen Schachzug, den er, wieder in Demut verfallend, seinem Glauben zuschreibt: »Auf diese Weise befreite mich Gott, unser Herr, der Gott Abrahams, Jakobs und Isaaks, aus der Gewalt dieser grausamen Wilden!«
Jmd. anschmieren, beschwindeln
Ab dieser 80. Donnerstagnachmittagssitzung beginnt mein Patient, von der 1. zur 3. und wieder zur 1. Person zu springen. Mehr und mehr grenzt er sich von seinem Vor-Ich ab. Auch gegen mich nimmt sein Widerstand zu (vgl. zu diesem Punkt Fußnote 14): Ich bin der Geburtshelfer schlimmer Erinnerungen, die er von sich fernhalten will.
»Er hat diese Legenden in Wahrheit erfunden, um sich bei dem Mann unersetzlich zu machen«, sagt mein Patient.
aushorchen
Mein Patient ist erregt und will mir erst nicht sagen, was sein Vor-Ich dem Oberbefehlshaber riet. Ich bleibe beharrlich und mache mich unbeliebt.
(Vgl. Fußnote 18) Ab diesem Zeitpunkt spricht mein Patient von seinem Vor-Ich nur noch in der 3. Person.
Was der Antrieb zu diesem Verbrechen gewesen sei, will ich von meinem Patienten erfahren. Er braucht eine Weile: »Es ist seine Lieblingsfrau … um sie in alle Ewigkeit an sich zu binden …« Das ist keine Antwort, mit der ich zufrieden bin. Außer der Gottgleichheit, die er sich einbildet, scheint Melchior B. das Verbrechen berechnet zu haben, denn es zwingt Balduin, an seiner Seite zu fliehen …
Die Arbeit des Autors an dem vorliegenden Buch wurde durch den Deutschen Literaturfonds e.V. gefördert.
Lehrjahre
Caracas, Rom, Bamberg
(zirka 1780–1850)
Von meinem Leben vor der Zeit, als ich reine Anschauung bin, und dem Tag, mit dem meine Geschichte beginnt; erste Schreibzimmererinnungen an mein Erwachen bei Don Francisco Ramirez in Caracas, zwischen seinen Kindern und Pepitos Tieren; der sprechende Blauara Cayo und El Pequeño
… nichts weiter als innerer Frieden und Feuchtigkeit … ein Teppich, der bis zur entferntesten Grenze reicht, diesem abwechselnd gelben und lackroten Streifen … in Sonne und Wasserdunst flimmernde Baumwipfel … es ist der schwarzblaue Wollball mit dolchscharfem Schnabel, der aus der Vergangenheit wischt und mir krabbelndes Leben aus Haaren und Falten hackt … Echsen, die sich mit erhobenem Kopf und halboffenem Maul von der Hitze durchrinnen lassen … ein Tier, das sich an einen Zweig krallt, wo es seine sperrigen Lederhautschirme zusammenklappt … ein atmender Moosklumpen an seinem Ast, dem ein Guß seine sprießenden Fellalgen auffrischt …
Es melden sich wieder in mir die bei nachtklarer Finsternis flammenden Myriaden von Sonnen, orangene Riesen und sandbraune Zwerge, weißblaue Spiralen und neblige Schlieren … erinnern sich wieder in mir die am schachtschwarzen Himmel verbrennenden Sternschnuppenschauer und Tausende Kugeln, die feurig zur Erde fielen, Meteore und flackernde Erdbebenlichter … und es melden sich wieder die anschwellenden Tierstimmen, wenn schlagartig Dunkelheit einkehrte: Aus dem endlosen Wald, der sich vor mir erstreckte, stieg als erstes das tosende Grollen eines Raubtiers auf, dem das Geschrei seines Beutetiers folgte, ein Tumult, der den Dschungel in Aufruhr versetzte; es erwiderten kehliges Schmettern und Pfeifen. Bald war es Bellen, bald Schmatzen und Seufzen, das in Wellen aus dem Dickicht zu mir an die Klippe drang – und das Tier mit dem faltigen, blauschwarzem Bartgesicht, das an ellenlangem Schwanz in der Baumkrone hing, ahmte mit seiner Trommel im Kehlkopf das Grollen und Schreien und Trompeten der anderen nach.
Es tauchen in mir wieder baumhohe Farne im schummrig verhangenen Walddunkel auf; wegschnellende Steine, die bucklige Nager sind; Laub, das Beine bekommt, und der Geist eines Falters, lavendelgrau taumelnd und groß wie ein Vogel; Lianen, wie Holzketten bis in die Wipfel, und ananasschuppige schillernde Pflanzen. Ein Strom roter Tiere, dreiteilig und sechsbeinig, erreichte den Fleck, an dem ich mich aufhielt, kroch in meine Ohren und krimmelte auf meinen Augen.
Wo ich meinen Wachtraum verbrachte, war roter Stein, zeitweise mit moosigen Flechten bewachsen. Es war eine Mulde im Fels, die mir Schutz bot. Bei Gewitter und Wolkenbruch lief sie mit Wasser voll, das mir zur Nase, wenn nicht bis zum Haaransatz reichte … es wiegte mich von einer Seite zur anderen, ohne mich in die Tiefe zu schwemmen, die sich vor mir auftat … das Wasser verdunstete wieder in sengender und meine Lederhaut trocknender Sonne …
Nichts als Feuchtigkeit, Frieden und Seelenruhe … bis zu dem Tag, der mein Schicksal besiegelte und mit dem meine Geschichte beginnt. Es ist eine Erinnerung, schattenhaft und verwischt – mehr eine Schwingung, die sich in mir meldet –, an Stimmen, die vom Wald hoch zu mir an den Felsen drangen, anders beschaffene Stimmen, als die mir vertrauten, nicht schnatternd, nicht kreischend, nicht gellend, nicht keckernd … selbst dem rotbraunen Pelztier mit blauschwarzem Bartgesicht, das an ellenlangem Schwanz im Lapachobaum hing, und das sonst alles nachahmte, Wind in den Palmenzweigen, tuckerndes Felshuhn und schimpfende Papageien, schienen diese Stimmen in der Tiefe zu unheimlich, um sie trotz seiner Echolust nachzuahmen … und sie nahten beim Aufstieg zu mir auf den Felsen …
In dieser verschwommenen Erinnerung kam es zu einer Bewegung, die ich zuvor niemals erlebt hatte, als es mich aus meiner Mulde im Felsen hob und hoch in der Luft vor die brennende Sonne hielt … ich blinzelte blind in einen Kranz gelber Strahlen … ich weiß nichts von einem Gesicht, das mich angaffte … nichts von einem Palmenblatt, in das man mich wickelte, oder einem Korb, in dem man mich verstaute … ich versank in einem Dunkel, das ich nicht gewohnt war, in dem es nicht schimmerte, blinkte und blitzte … ich schwebte in ewiger Leere und Finsternis …
Was sich als Erinnerung anschließt, ist klarer: Bei Dunkelheit schwebe ich in einem Zimmer mit schmiedeeisern verschlungen vergitterten Fenstern … Geckos kleben an Mauern und Decke und Nachtfalter flattern um eine Gestalt, die mit kratzender Feder bei Kerzenschein schreibt, werfen raschelnde und sich vermengende Schatten und fallen als winzig aufflackernde Fackeln zu Boden …
Eine Erinnerung aus diesem Zimmer, bei Tage … mir steht der vor Hitze erzitternde Innenhof mit seinem Brunnen in der Mitte vor Augen … um seine Schale weht hauchfeiner Dunst, und er sprengt diamantweiße Perlen in die Luft … Dohlen, die Brotkanten stehlen und am Brunnenrand einweichen … oder Wespen, die zum Nestbau verwendete Lehmkugeln im Fluge anfeuchten … Schattierungen, Umrisse, Treiben und Trubel …
Wieder eine Erinnerung an diesen Hof, den ich aus einer anderen Ecke betrachte … mein Platz ist nicht mehr zwischen Landkartenrollen, Votivgaben, Rosenkranzketten und Bibel, zwei Klapperschlangenklappern und einem seine Schwingen aufspannenden Flugvampir, der an einem Kreuz steckt, nicht ohne sein Maul zu einem Schrei aufzureißen, beim Schreibtisch im zimmerhohen, bauchigen Glasschrank … ich schwinge beim Lesepult, mit einer Kordel am Balken der niedrigen Decke befestigt, von wo aus ich bessere Sicht auf den Patio habe …
An drei Seiten des Hofs mit seinem Pflaster aus weißem, von Schuhen und Fersen poliertem Naturstein, verlief eine Holzgalerie. Auf dem Arkadengang wippte der Schwefeltyrann, der bei Sonnenaufgang seinen Morgengruß schmetterte, aus voller Kehle, mit goldener Brust, falls das Holzdach nicht gerade vor Sittichen wimmelte oder Schwalbengeschwader im Himmelsloch flitzten. Vom Eingangstor, ausreichend groß, um mit Waren beladene Karren in den Innenhof zu ziehen, war von meiner Ecke aus nichts zu erkennen. Was ich erkennen konnte, war eine Pforte, verschluckt von den Rosen, die sich an der Mauer kanariengelb bis zur Krone hochrankten, an Tagen mit Meereswind klappte und klapperte sie; linker Hand wiederum kletterten Coralitas vom Dach des Arkadenumlaufs in den ersten Stock, in dem die Familienmitglieder schliefen …
Andere Aussichten kannte ich nicht, meine Stelle beim Lesepult wechselte nicht mehr … eines der Fenster, bei dem es sich mehr um ein Loch in der Wand handelt oder einen Spalt ohne Fensterglas oder Papierbezug, nur mit besagtem verschlungenen Muster vergittert, geht auf die Gasse, von der aus mich Schritte, I-Ah-Schreie, Hufschlag und Wagenradknirschen erreichen … im breiteren Fenster der Wand auf der anderen Seite zeigt sich eine Bergkette, khaki- und schiefergrau, vor der sich verdorrendes Grasland ausbreitet, auf dem in der Nacht eine Unzahl von Feuern brennt, die einem Lavastrom gleichen …
In dieser Anfangszeit sind es Gestalten und Namen, die in mich einwandern, bis ich sie wiedererkennen kann. Der entscheidende Name ist der Don Franciscos, der mir wiederholt alle Tage zu Ohren kommt. Don Francisco Ramirez, der mit mir das Zimmer teilt, wenn er ein Schreiben aufsetzen muß oder Besucher hat, ist ein kurzer, kompakter und rundlicher Mann. Er hat fleischige Wangen, ein Kinn, weich und vorstehend, und Lippen, die beides sind: schmal und korallenrot. In seinem Gesicht mit den kindlichen Augen, dem Bogen der schwarzen harmonischen Brauen und einer als Knolle auslaufenden Nase scheint er zu vereinbaren, was sonst unvereinbar ist, Strenge mit Sinnlichkeit, Rachsucht mit Unreife und kindische Neugier mit Unbeherrschtheit – Charakterisierungen, die ich erst treffen kann, als sich in mir ein Bewußtsein entwickelt hat, was eine (beachtliche und von mir nicht zu ermessende) Weile in Anspruch nehmen wird.
Der zweite entscheidende Name ist der eines Tiers, das, nicht anders als ich, Teil des Schreibzimmers ist. Es wippt unweit vom Lesepult auf einer Stange, heißt Cayo und ist ein Regenwaldpapagei. Aus seinem Schnabel, der meistens halboffen steht, quillt seine Zunge, ein Pfropfen mit Reibehaut. Beeindruckend wirkt sein saphirblaues Federkleid, selbst wenn es vom Alter halb stumpf, halb zerzaust ist. Dieser Ara, der mich bis zum Schluß nicht beachtet, kann sprechen, und seine besondere Leidenschaft ist es, sich mit Don Francisco zu streiten. Dauernd kommt es im Zimmer zu Krach und Krawall. Der am Schreibtisch Papiere studierende oder bekritzelnde Mann zischt und schimpft mit dem Cayo, der mit ohrenzerreißendem Kreischen erwidert und ganz außer sich um seine Stange rotiert: »Nux míssima míssima árax úxutl u!«
Zwei weitere Wesen im Haus sind Julietta, die Franciscos korallenrote Lippen geerbt hat und seine harmonischen Bogen von Brauen … und vor allem Pepito, das kleinere Kind, seines Vaters Cariño und Chiquitito, dem er von den Lippen abliest, was sein Herz begehrt.
Pepito, das Kind, hat nichts lieber als Tiere, weshalb sie im Haushalt zu Unmengen vorkommen, ein Jungesel von zwergenartiger Rasse mit silbrigem Fell, willig, zutraulich, anschmiegsam, auf dem der jauchzende Junge den Springbrunnen umrundet; oder es zwitschert und tschilpt, pfeift und trillert, als aus in den Llanos und am Orinoko verstreuten Missionen Vogellieferungen eintreffen, Exemplare von aufsehenerregender Pracht, purpurrot, aprikosenorange und aurikelgelb, mit Streifen und Sprenkeln an Bauch oder Schwanzfedern, im Hof schwanken Bauer aus Palmblattstielen, Bast oder Eisendraht, bis der Junge den Aufruhr der Vogelstimmen leid ist, und sein Vater den Hausangestellten befiehlt, sich die Bauer zu schnappen und aufzusperren und alle Insassen fliegen zu lassen; die meisten entfernen sich schleunigst ins Freie und hocken verwirrt auf dem Brunnenrand; andere bekriegen sich schreiend auf dem Dach, und ein Regen aus Federn geht nieder, aurikelgelb, purpurrot und aprisenkosenorange, sie treiben im Meereswind zu uns ins Zimmer und segeln um mich und den schimpfenden Blauara: »Nux míssima míssima árax úxutl u!«, ein schillernder Wirbel, der mir unvergeßlich ist.
Und unvergeßlich ist mir Don Franciscos Sohn, Pepito, das Engelchen, mit seinem schmollenden kleinen Mund, den großen und kindlichen Augen des Herrn Papa samt dessen harmonischem Bogen der Brauen, die beim Cariño ein Flaum oder Hauch feinsten Blondhaars sind, und dem ab der Stirn in die Breite anschwellenden Kinderkopf, der eine melonenhafte Rundung aufweist und von einem Helm blonder Haare bedeckt ist … nichts kann das Engelchen heiterer stimmen, als die von Don Francisco erworbenen Affen, die das Haus Tag und Nacht auf den Kopf stellen: Sie stehlen Schuhwerk und Leibbinden, Schleier und Haarteile, die sie an entlegensten Stellen verstecken, zur Verzweiflung des Hausherrn und seiner Tochter, wenn sich beide beeilen, zur Messe zu kommen oder Essenseinladungen Folge zu leisten; sie setzen sich Don Franciscos vom Zambo entleerten und mit einem Palmenblatt gereinigten Nachttopf auf; springen verbotenerweise ins Schreibzimmer, verwirren seine Papiere, beschmieren sie mit roter Tinte, die aus dem Tintenfaß fließt, das sie umkippen; sie spielen mit Rosenkranzketten, Votivgaben, Klapperschlangenklappern, die sie aus dem Glasschrank holen; sie lassen auch Schließen und Armreifen mitgehen, die Julietta im Ankleidezimmer vergessen hat, und ich kann den Macavahu erkennen, der im Innenhof die goldene Schließe erforscht, die im Sonnenschein blendende Blitze versendet, was den Blauara an meiner Seite in Wallung bringt: »Cunucunúmu nux míssima«, zetert er.
Nein, nichts kann das Engelchen heiterer stimmen, als das von seinen sechs Affen verursachte Aufsehen, an dem, als siebter im Bunde, der Tukan beteiligt ist, der aus der Piepmatzperiode Pepitos stammt, sich vom Haus Don Franciscos nie weiter entfernen wollte und mit den Sechsen aufs Lustigste streitet (und seinerseits einheimst, was nicht niet- und nagelfest ist).
Einer der Affen – das Kind nennt das Tier El Pequeño, der Kleine – ist auffallend scheu. Nie vergreift er sich an Don Franciscos Papieren oder fegt seine Landkartenrollen aus dem Schrank. Wenn die andern um Schreibtisch und Lesepult springen und den Blauara an seinen Schwanzfedern ziehen – vergeblich hackt er mit dem Krummschnabel in die Luft, sie sind zu flink und zu wendig, um sich in Gefahr zu bringen –, hangelt der Kleine sich zu mir ans Lesepult, wickelt den Schwanz um sich, kreuzt seine Arme, als friere er, und mustert mich mit einer Mischung aus Neugier und Wachsamkeit.
Ich erinnere das in verschwommener Ferne. El Pequeño hockt vor mir und mustert mich eindringlich. Oh, es dauert, es dauert, bis ich seine Aufmerksamkeit und Beklommenheit auf mich beziehen kann. Ich kann Bewegungen erkennen, Gestalten und Dinge, und mit der Zeit werden Stimmen und Namen vertrauter, ich weiß, wer »Pepito« und wer »Don Francisco« ist, zwei Namen, die in mir ein Echo erzeugen, bis es zu einer unklaren ersten Empfindung wird, als sei es ein Lufthauch, der lau um die Haut streicht … man kann sagen, ich bin ein erkennender Spiegel, und kein Spiegel bezieht, was er spiegelt, auf sich.
Mir geht es nicht anders beim Schreibzimmerspiegel mit feuervergoldetem Bronzerahmen an der Wand, wenn ich an windigen Tagen weit ausschwinge und ein zottiger, faustgroßer Schrumpfkopf erscheint, ist das eine Entdeckung, die mich nicht beeindruckt, ich bemerke nichts als einen pendelnden Gegenstand, und bis er zu mir wird, vergeht eine Ewigkeit.
Von der mitleidigen Erkenntnis eines Totenkopfaffen, der Eifersucht Pepitos und dem Tigre im Raubtiergehege; und von dem gemeinen Verbrechen, das Don Franciscos Sohn an seinem Liebling begeht
Meine Erinnerung an diese erste Zeit, die ich im Haus Don Franciscos verbringe, versinkt wieder und wieder in milchigem Nebel. Aus dem weißen Nichts taucht eine Brise vom Bergkamm auf, die in Palmwedel und Coralitablatt raschelt, ein Gitarrenakkord aus dem Patio bei Nacht auf aus Muskeln der Boa verfertigten Saiten, eine Menschengestalt oder Cayos schmirgelnde Stimme … ich meine, man sollte sie nicht auf die Goldwaage legen.
Ein reines Gewissen bereiten mir nur meine Schilderungen von El Pequeños Besuchen, der ins Schreibzimmer kommt, wenn der Herr außer Haus ist, und aufs Lesepult klettert, um mich zu betrachten. Nichts steht mir klarer vor Augen als sein Gesicht, weiß, mit der Schnauze, die blauschwarz betupft ist, dem kappenhaft wirkenden Scheitel aus weichem und schwarzem Haar, goldgelben Fell und orangegelben Pfoten, den drollig mit Wolle bewachsenen Ohren, diese Maske, in der mir mehr Ausdruck begegnet, als im sich vor Grimm oder Heuchelei, Schmerz oder Kummer verziehenden Gesicht Don Franciscos.
Im Hof zankt der Tukan mit dem Macavahu, und Cayo wippt auf der Stange und knottert – nichts kann El Pequeño von seinen Erkundungen ablenken. Ich bin anders, das hat er bemerkt, das beansprucht den Affen und seine begrenzte Verstandeskraft. Ich bin zu ledrig und klein, als es seiner Erfahrung entspricht, und der faustgroße Kopf mit dem Zottelhaar steckt auf keinem menschlichen Rumpf, das befremdet und reizt El Pequeño.
Ich denke, er ahnte, was in mir war. Er merkte, ich war keine leblose Sache, das steigerte seine Verunsicherung … El Pequeño hebt seine Affenhand, faltig, orangengelb, die er in Zeitlupe gegen mich ausstreckt. Er ist auf der Hut, und es braucht eine Weile, bis er mir mit seinen Fingern um Augen und Lippen streicht. Ob er mich streichelt, kann ich nicht beurteilen, von seinen Fingern auf Stirn oder Wangen nehme ich nichts wahr. Er kann mich kratzen, es tut mir nicht weh. Meine mit siedendem Wasser und heißem Sand behandelte Haut ist vollkommen empfindungslos.
Andererseits ist der Affe ein Ausbund an Sanftmut. Er geht mit den Dingen, die er anfaßt, behutsam um. Mehr als das: Was den Liebling Pepitos veranlaßt, sich zu mir zu setzen, ist nicht nur sein Wissensdrang. Es ist Mitleid, das sich in seinen Forschungstrieb mischt. El Pequeño hat Mitleid mit mir, einer Kreatur, halb tot, halb lebendig, empfindungs- und willenlos, mit einer Seele, von Asche bedeckt, die anscheinend nicht vollends erstarrt und erkaltet ist. Wenn er am letzten erhaltenen Bambuspflock spielt, der meine Lippen verschließt – an den Durchstichen ablesbar, sind es sechs Nadeln gewesen –, legt er mit einem Fiepen den Kopf auf die Seite, Wasser sammelt sich in seinen Augen und kullert zum Kinn.
Es ist El Pequeños Mitleid mit mir, das mich auf die Dauer zur Welt in Beziehung setzt und mir erlaubt, wieder zu mir zu kommen. Es ist der erste Schritt zu einem Ich, das wollen, empfinden und Anteil nehmen kann, eine Formung, die er unabsichtlich beschleunigt, als mir sein grausamer Tod einen Schock erteilt.
Ich muß ausholen, um dieses Verbrechen zu schildern, das ich bereits wacher erlebte als Dinge, die sich vor El Pequeños Besuchen ereigneten … und Pepito ist nicht mehr das Engelchen, das auf dem Zwergesel jauchzend den Brunnen umrundet, wenn ich mich richtig erinnere, ist er im Stimmbruch. Trotzdem muß ich mir Vieles von dem, was im Vorfeld passierte und sich meinem Wissen entzieht, aus Erlebnis- und Wahrnehmungsfetzen zusammenreimen.
El Pequeño stellte es heimlich an, zu mir zu kommen. Erstens wollte er nicht auf den Hausherrn treffen, sonst warf Don Francisco mit Sachen vom Schreibtisch, dem Elfenbeintintenabroller zum Beispiel oder seiner Bedienstetenglocke aus Messing, die mehr Wirkung erzielte als anderer Schreibtischkram – es war schmerzhaft, wenn sie El Pequeño ins Kreuz traf. Zweitens war es von Vorteil, den Sohn Don Franciscos von diesen Besuchen nichts merken zu lassen. Er wollte den Affen, in den er begreiflicherweise verliebt war, mit niemandem teilen. Kein Affengesicht konnte kindlicher sein und der Schalk, den es zeigte, war unwiderstehlich. El Pequeño haschte nach Heuschrecken, Wespen und Spinnen, die sein Leib- und Magengericht waren, auf einer Naturgeschichtstafel Pepitos. Diese Tafel der Elementaren Naturlehre, die der spanische Hauslehrer bei seinem Unterricht einsetzte, war aus Kupfer und nicht koloriert. Trotzdem fiel es dem Totenkopfaffen beileibe nicht schwer, seine Lieblingsmahlzeit zu erkennen. Und wenn er umsonst seine Finger ausstreckte, einen Einschlag von Unernst und Pfiffigkeit im Gesicht, warf sich Pepito im Hof auf den Boden und strampelte jauchzend mit Armen und Beinen.
Ansteckend wirkte die von El Pequeño im Haus Don Franciscos verbreitete Heiterkeit – und sein Schmerz, der den Jungen beileibe nicht kaltließ. In der Regel passierte es mitten im Spiel, unvermittelt und ohne ersichtliche Ursache, daß der Liebling Pepitos in Kummer verfiel. Er bekam feuchte Augen und schlang seine Arme um sich. »Nicht weinen, El Pequeño!« flehte das Kind, das den Affen umhalste und an seine Brust preßte.
»Warum bist du traurig, warum nur?« verlangte Pepito mit bettelnder Stimme zu wissen und brachte es fertig, den Affen zu knuffen, wenn er sich aus Pepitos Umarmung befreien wollte, um auf das Dach der Arkaden zu fliehen oder, falls er im Haus war, zum Pater zu springen, Pater Ignacio, dem Freund Don Franciscos, und sich im Priestergewand zu verstecken, wo er sich vor Pepito in Sicherheit wußte. Pepito blieb atemlos vorm Sacerdote stehen, der aufrecht und hager im Schreibzimmer hockte und seine Gewandfalten saumselig glattstrich. Im Priesterrock hatte der Affe ausreichend Platz: Zum einen war Ignacio nur noch Haut und Knochen und sein Priestergewand mittlerweile zu weit, zum anderen maß El Pequeño keinen halben Meter.
Unbeherrscht knirschte Pepito mit seinem Gebiß. Er durfte den geistlichen Rock, der den Erdboden fegte und an seinem Saum stark verschmutzt war, nicht kurzerhand anheben, das war dem Bengel klar, und der Priester beeilte sich nicht, es dem Kind zu erlauben. »Es tut dir weh, wenn dein Freund voller Kummer ist«, sagte Ignacio und legte dem unmutig nickenden Jungen eine Hand auf den Scheitel. »Ah, er ist nur ein Tier, dessen Seele verdammt ist, bei aller Begabung, mit der er uns blendet. Ja, anders als Seekuh und Tigre, Gallitos und Geier ahnt es seine Gottlosigkeit und das Schicksal, zu dem alle Tiere verurteilt sind«, sang Pater Ignacio mit einer Stimme, die mehr an ein Stimmchen am seidenen Faden erinnerte, heiser und hoch, ohne piepsig zu sein, »und um ein anderes nicht zu vergessen, Chiquitito, das habe ich in der Mission Pararuma mit meinen Indianern erlebt, die im Benehmen mit den Affen vergleichbar sind. Wenn sie den Urwald verlassen, ergreift sie der Kummer. El Pequeño ist ein empfindsames Wesen, es leidet besonders an Schwermut und Heimweh …«
Das wollte der Sohn Don Franciscos nicht dulden, selbst wenn El Pequeños Verworfenheit unwiderruflich war. Nein, was Pepito nicht billigen konnte, war das Heimweh, von dem sich sein Liebling zerfressen ließ. Er war nicht bereit, auf das Tier zu verzichten, und das mußte er, wenn es nicht eingehen sollte. Er befreite sich von seinem schlechten Gewissen, indem er Verzweiflung und Niedergeschlagenheit, in die der sonst schelmische Affe verfiel, als verratene Liebe empfand. Und das hatte Auswirkungen auf seine Zuneigung, die bis zur Verbitterung mißtrauisch blieb.
Pepito war nie mehr allein. Er strich mit dem Totenkopfaffen im Arm oder auf seiner Schulter von Zimmer zu Zimmer. Sie hockten zusammen auf dem Springbrunnenrand, wo der Kleine den Jungen mit Hingabe lauste, und streiften im Umkreis von ein- oder zweihundert Metern ums vornehme Haus seines Vaters. Pepito war heiter und leichtsinnig und seine Stimme schwang silbrig und frei in der Luft. Das erfreute den Vater, zerstreute Julietta und belustigte das Personal Don Franciscos beim Leinentuchbleichen und Fußbodenwischen.
Wie gesagt, es war eine befangene Heiterkeit. Es durfte kein Schatten von Eifersucht auf sie fallen. Wenn er El Pequeño im Spiel mit dem Zambo entdeckte, sperrte Pepito sein Lieblingstier kurzerhand ein. Stundenlang hockte es in einem Bretterverschlag bei der Treppe zur Holzgalerie, oder in einer stickigen Schreibzimmertruhe.
El Pequeño nahm sich in Acht, wenn er zu mir kam, er hatte begriffen, was den Unmut des Jungen erregte, selbst wenn er nicht wußte, warum. Zwar war ich ein Ding und kein menschliches Wesen. Trotzdem mißtraute Pepito der Neugier und Sturheit, mit der mich sein Liebling studierte. Oh, Pepito war freigebig mit seiner Eifersucht. Auch Anibal war ja kein richtiger Mensch. Auf der Schulter des Zambo, in dem sich das Blut eines Negers mit dem einer Chaymas vermischt hatte, am glutroten Schein seiner Ebenholzhaut zu erkennen, prangte das Brandzeichen seines Besitzers Ramirez. Er war ein Sklave, ein Arbeits- und Lasttier, und konnte in Liebesdingen niemals ein ernsthafter Gegner sein. Andererseits schwante dem Jungen, daß diese Ideen seines Vaters und Pater Ignacios, die allgemein anerkannt, Recht und Gesetz waren, El Pequeño nicht im Geringsten beeindruckten.
In der Vergangenheit hatte Pepito halsstarrig vom Vater einen Tigre verlangt. Mit dem Pecarischwein, das auf den Tisch kam, als es nicht mehr fraß und sein Wille zum Leben versiegt war, schien diese Idee in Pepito erwacht zu sein. Meine Erinnerung an das Pecarischwein, dem man einen Koben im Innenhof baute, wo es grunzte und stank, ist beileibe nicht klar. Am schlechten Geruch war der Junge nicht unschuldig. Er hatte vom Pater erfahren, daß das Tier seine Feinde mit einem Sekret in die Flucht trieb, einem widerlich stechenden Moschusgeruch.
Und das war Pepitos besonderer Spaß, den ich von meinem Lesepultplatz aus verfolgte: Er reizte das Schwein mit einem Stock, bis es vor Raserei sein Sekret in den Innenhof spritzte. Und der Bengel, der wußte, was er seinem Vater, der Schwester und allen Bediensteten antat, nahm mit teuflischer Freude Reißaus. Ich bekam nur die Brechreizaufwallungen Juliettas mit, die sich von Zimmer zu Zimmer fortpflanzenden Ekelausrufe des Dienstpersonals, und selbst der Blauara an meiner Seite beschwerte sich: »Mimíssi alcaras mai!« zeterte Cayo – mir bleibt der Gestank aus dem Patio erspart, mein Geruchssinn ist taub oder hat sich verschoben, und ich kann einen schmutzigen Schleier im Hof erkennen, eine sandbraune Wolke, die aufsteigt und sich zerstreut …
Pepito verlor alle Lust am Pecarischwein, als sich das Tier nicht mehr piesacken ließ. Es preßte sich an eine Wand, um dem Kind zu entgehen, das es mit seinem Stecken mißhandelte, und war zu kraftlos, um seinen Gestank zu verbreiten. Es schien krank zu sein, was Don Francisco veranlaßte, es in aller Heimlichkeit schlachten zu lassen, und vor Pepito behauptete er, das Pecarischwein sei in der Nacht aus dem Koben entlaufen. Er ließ es als Braten ins Eßzimmer bringen, wo seine Sonntagsgesellschaft das lockere Fleisch lobte, der Junge sich auf seinen Teller erbrach und als Schadenersatz einen Tigre verlangte.
Erst auf der Schwelle zu Stimmbruch und Barthaarflaum trotzte er seinem Vater einen Jaguar ab, der im vom Zambo und anderen Sklaven errichteten Raubtiergehege im Hof voller Spannung und Rastlosigkeit auf und ab trabte; im goldgelben Fell mit den dunkelbraunen Ringflecken spielten beachtliche Muskeln. Alle anderen scheuenden, wiehernden, bebenden, kreischenden Tiere im Hof mußten weichen, teils ins Stockwerk und teils auf den Vorplatz verbannt werden, was sie und den Jaguar halbwegs beruhigte, der sein Grollen nicht mehr dauerhaft anstimmte. Er verbreitete mit diesem Grollen bei Julietta, den Dienern und Affen und allen Besuchern, außer bei Pater Ignacio, schieres Entsetzen. Wer dem Fauchen und Grollen mit Hingabe lauschte, war Vaters Cariño, der es sich zur Aufgabe machte, den Tigre mit Fleisch zu versorgen, mit blutigen Batzen, die er ins Gehege warf, oder mit einem lebenden Huhn.
Bald mußte der Junge auf seine Schar Affen verzichten, die im ersten Stock nichts als Unsinn anstellte. Nur El Pequeño verweigerte er seinem Vater, der beim Totenkopfaffen ein Einsehen hatte. Pepito verbrachte zwar Stunden um Stunden mit fiebriger Andacht vorm Raubtiergehege und lud in der Nachbarschaft lungerndes Jungvolk ein, um mit seinem Jaguar Eindruck zu schinden. Trotzdem ließ er den Totenkopfaffen nicht außer Acht, der heimwehkrank auf einem Fenstersims hockte. Pepito umarmte den Kleinen mit Leidenschaft und rannte, das Tier auf der Schulter, ins Freie, wo er es zerstreuen und von seiner Schwermut befreien wollte. Seinen Liebling ablenken zu wollen, war aussichtslos. El Pequeño hatte das Herz von Pepito am Anfang mit drolligen Launen erobert, diese Launen waren dem Affen vergangen. Er war nicht mehr wechselhaft in seinen Stimmungen, er war von Verzweiflung und Schwermut beherrscht. Von dieser Entwicklung verletzt und verbittert, konnte Pepito seinen Haß nicht mehr bremsen.
Es ist an einem Mittag, als Vater und Tochter ruhen und Pepito seinen Liebling im Schreibzimmer findet. Der auf dem Lesepult sitzende Affe spielt wieder am Bambusstock in meinen Lippen, zu schmerzhaft vertieft, um den lauernden und sich verschwiegen anschleichenden Jungen zu bemerken, der El Pequeño mit beiden Armen umschlingt. Ausnahmsweise benimmt er sich liebevoll, und El Pequeño hat keinen Anlaß, Reißaus zu nehmen. Als Pepito den Kleinen vom Lesepult hebt, zieht dieser versehentlich den letzten verbliebenen Bambusstab aus meinen Lippen.
Sie verlassen das Schreibzimmer nicht in den Flur, um zusammen den Vordereingang aus dem Haus zu nehmen oder ins obere Stockwerk zu steigen, nein, Pepito beeilt sich, schnurstracks in den Hof zu kommen, in dem eine Wolke aus Schmetterlingen taumelt, ein Wirbel aus Kornblumenblau, Zink und Safrangelb, der sich vor dem Paar, Kind und Affe, zerteilt, das sich, bei aller Unruhe, die es beschleicht, an den Jungen vertrauensvoll schmiegende Tier, und den mit klatschenden Sohlen um den Springbrunnen aufs Raubtiergehege zueilenden Chico. El Pequeño verbirgt das Gesicht in der Halsbeuge seines Besitzers, als ob er sich auf diese Weise vorm Jaguar unsichtbar mache.
Ach Pepito, er reißt sich den Kleinen vom Hals. Er schwenkt seinen Affen vor dem sich am Gitter behaglich und zutraulich reibenden Tigre, und holt am Ende weit aus, um sein Lieblingstier mit einem Schrei ins Gehege zu schleudern. Ob El Pequeño zu schicksalsergeben ist, zu krank an der Seele, ich kann es nicht sagen. Er springt nicht zum Gitter, um sich an den Stangen ins Freie zu hangeln, er bleibt, wo er ist. Nicht anders der Tigre, der weiter am Zaun auf und ab streicht, sei es aus Begriffsstutzigkeit oder Falschheit, mit der er seine Beute in Sicherheit wiegen will. Voller Anspannung stiert Don Franciscos Muchacho ins Raubtiergehege, in dem sich nichts tut. »Hol dir den Affen, du faule verfressene Katze! Mach Schluß mit meinem Liebling! Hast du keine Hoden, du feiges Biest?«
An diesem Punkt mischt sich der von der Gasse den Innenhof betretende Anibal ein. Er muß das Gehege von Tag zu Tag reinigen, im Morgengrauen schwemmt er mit Wasser aus Bottichen Wildkatzenkot und zu stinken beginnende Fleischreste vom Pflaster zur Steinrinne neben der Mauer; mit einem extralangen Besen aus Nabelschweinborsten kratzt Anibal Schmutz von den Steinen, ein den Tigre in Weißglut versetzender Vorgang, er hat bereits mehrere Stiele zerbrochen und mit einem Prankenschlag gegen das Gitter den Sklaven am Nacken verletzt.
Der El Pequeño im Raubtiergehege entdeckende Anibal geht von einem Mißgeschick aus, das dem Affen beim Spielen passiert ist. Keuchend rennt er zu einem seiner randvollen Eimer beim Pumpschwengel und schwenkt den Zuber im Lauf, um den Wasserschwall gegen den Tigre zu kippen, der sich zum Sprung auf die Beute bereitmacht. »Drecksnigger verdammter! Was soll das, was machst du? Bleib stehen! Oder soll ich dich auspeitschen lassen? Bleib stehen, sage ich!« schreit der Junge wie von Sinnen und macht einen Schritt auf den keuchenden Zambo zu, der verwirrt und mit rollenden Augen zum Stehen kommt. »Querido Señor!« bettelt Anibal stammelnd, »El Pequeño ist in Gefahr, ich muß helfen!«
Pepito, aufs Schauspiel im Raubtiergehege versessen, verliert keine Silbe an Anibal und wendet sich fiebrig dem Jaguar zu, der El Pequeño ausgiebig studiert hat, seine Muskeln anspannt und vom Erdboden abhebt, in einer Bewegung von schwindelnder Leichtigkeit, als sei er ein fließender Bogen in Wasser- und Mittagsdunst. Mit einem Biss in die Kehle erlegt er den Affen und streckt sich bequem auf dem Hofpflaster aus, wo er seinen Fang mit der auf dem Kadaver verharrenden Pranke bewacht. Pepito mit Blutspritzern in seinen Haaren stimmt vorm Raubtiergehege einen schaurigen Singsang an, und der seinen Bottich umklammernde Anibal geht in die Knie und bewegt seine Lippen, als bete er.
Ich hatte das alles vom Schreibzimmer aus verfolgt, und es ist eine der klarsten Erinnerungen an meine Erlebnisse bei Don Francisco. Vor allem den Schock habe ich nicht vergessen, den mir El Pequeños Ende bereitete, und der mit einer Stichflamme Mitleid verbunden war, dieser mir erst vom Affen vertrauten Empfindung, die ich durch seinen grausamen Tod auf das Tier bezog. Von heute an war ich ein Spiegel, der mitempfand und sich selbst in der Ding-, Tier- und Menschenwelt spiegelte.
Cayo gibt mir unwissentlich Sprachunterricht; Anibals Bestrafung und andere Mißhandlungen; Señor, por favor, no lo haga!; von qualvollen Trieben und Satan im Bett; meine Ausritte mit Don Francisco nach Cumaná
»Kádumi ása dimí pássi í?« – »Chicú.« – »Pepito é úldi de Zambo a é íssa …« – »Orém ittí issíma.« – »Así kei aoté … aní ké íne ú era ú néo í? Tér El Pequeño a ú é ísse?« Das ist im Groben der Wortwechsel, den ich verstehe. Erst in der Erinnerung kann ich zusammensetzen, was Cayo und mein Besitzer verhandelten, als der Tigre den Affen im Raubtiergehege erlegt hatte …
»Kannst du mir sagen«, verlangt Don Francisco zu wissen, »was an diesem Mittag passiert ist?« – »Chirimba cucúlu«, erwidert der Papagei. »Pepito beschuldigt den Zambo, das weißt du ja …« – »Morémbu ixítel i míssima chala.« – »Das ist keine Antwort«, beschwert sich der Hausherr, »kann ich meinem Jungen vertrauen oder nicht? Wer hat El Pequeño auf dem Gewissen?« – »Magára«, sagt Cayo und flattert mit seinen Schwingen. »Magára … magára … was heißt das, du Mißgeburt?« – »Magára magára«, entgegnet der Blauara, als wolle er mit dem Besitzer seinen Spott treiben. »Ich warne dich …«, knirscht Don Francisco und greift zur Machete, die an einem Schreibtischbein lehnt, und zerteilt mit der Schneide den Sonnenschein im Zimmer. »Pepito verlangt, Anibal zu bestrafen … und er will den Zambo zur Rechenschaft ziehen, er will Anibal auspeitschen. Ist das gerecht, Cayo?« – »Ixitel tu tabaraí. Triba ba túmulu. Túmulu míssima míssima maligaí. Maligaí maligaí maligaí maligaí …« – »Du wiederholst dich, Mann, mit deinem maligaí!« – »Maligaí!« bleibt der keifende Blauara halsstarrig, »maligaí maligaí xáttel xá xáttel xá kruxkrú!« – »Und das heißt, du stimmst zu, Cayo«, sagt Don Francisco, »Anibal muß bestraft werden … von meinem Engelchen … mit dem Seekuhhautriemen … du empfiehlst zwanzig Hiebe … ja, El Pequeño ist zwanzig Hiebe wert.«
In Wahrheit versteht Don Francisco den Vogel nicht besser, als ich alle beide zusammen. Sein Papagei spricht ein totes Indianeridiom aus der Gegend von Ataruipe. Selbst Pater Ignacio, ansonsten vertraut mit entlegensten Urwaldbewohneridiomen, verzweifelt an Cayos Sprache. Trotzdem steht Don Francisco vom Schreibtischstuhl auf und marschiert bis zur Stange mit dem Papageienvogel, der hoheitsvoll schweigt und sein Federkleid spreitet, stemmt rechte und linke Hand in seine Seiten, um mit seinem Ara politisch zu streiten: »In Cariaco verehren sie Franklin und Washington!« – »Cunucunúmu«, entgegnet das Tier. »Das meldet mir der Korregidor aus Cumaná.« – »Cunucunúmu mimíssi nasáli u«, antwortet der Cayo mit raspelnder Stimme. »Was du nicht sagst! Sie wollen Freihandel treiben und von den Verboten des Hofes befreit werden, um mit Tabak und Kakao bessere Einnahmen zu erzielen.« – »Mamúlu alcáras maí«, schmirgelt der Papagei. »Nein«, widerspricht Don Francisco, »das stimmt nicht. Es steht mehr auf dem Spiel als Begrenzungen und Zollschranken. Selbst wenn wir sie teilweise aufheben sollten – es wird diesen Leuten nie reichen. Sie stehen mit dem Ausland in lebhaftem Austausch, aus dem sie Ideen beziehen, die vergiftet sind. Sie berauschen sich an den Vereinigten Staaten!« Don Francisco bekreuzigt sich vor seinem Papagei. »Diese Leute haben vor, sich vom Mutterland abzutrennen, Venezuela soll eine Nation werden! Und wo endet das? In einer Revolution!« – »Missíma missíma arax uxutl u!« – »Du verteidigst sie«, tobt Don Francisco, »du Mißgeburt! Míssima míssima arax …« – »… uxutl u!« kommt Cayo seinem Besitzer zu Hilfe. »Das meinte ich ja«, schimpft der Spanier, »uxutl u! Ich dulde keinen Anwalt der republikanischen Sache in meinem Haus, merk dir das, Quatschhans!« – »Arax uxutl u!« regt sich der Ara auf, bis sich Don Francisco zu seiner Machete beugt …
»Freihandel« oder »Vereinigte Staaten«, »Tabak und Kakao« oder »Revolution« – im Schreibzimmer fallen diese Worte andauernd. Und »missíma missíma arax uxutl u« ist Cayos sich wiederholende Antwort. Mit der Zeit lerne ich bei meinem Herrn und seinem Ara, die alles notwendigerweise falsch auffassen, das Wesen der Sprache im Nichtverstehen kennen, diesem bis an den Horizont reichenden und das Verstehen, eine Insel, umschließenden Wasser.
Trotzdem ist es ein anderer Satz, der sich in meinen Ohren und in meiner Seele verhaken wird und nicht aus dem Sprachschatz des Cayo stammt: »Ah Señor! Por favor, no lo haga! Tun Sie es nicht!« In meiner Erinnerung verbindet er sich mit dem Tag, an dem alle Bewohner des Hauses verpflichtet sind, an der Bestrafung des Anibal teilzunehmen, die Pepito dem Sklaven im Innenhof verabreicht.
Außer vom Blauara hatte der Hausherr sich Pater Ignacios Ratschlag erbeten. »Pater, was denken Sie in dieser Sache?« Eine der Dienerinnen steckte sechs Kerzen an, als mit der beim Silla versunkenen Sonne die Schreibzimmermauern in Nachtschatten badeten. »Sollte mein Kind seine Untat nicht beichten? Belohne ich nicht seine Unehrlichkeit, wenn ich den Zambo vom Engelchen auspeitschen lasse?« Sein zierlich und mager im Sessel vorm Fensterloch hockender Seelsorger blieb eine Weile stumm. »Vergeßt nicht, mein Lieber«, versetzte Ignacio mit seinem Stimmchen am seidenen Faden, »wilde Seelen zu bekehren, geht nur mit Gewalt. Indianer und Neger, die niemals den Knall unseres Pulvers vernahmen, sind taub gegen Gottes Wort. Es sind Kinder, die nichts außer Knute und Zucht verstehen.« – »Sprechen Sie von meinem Jungen?« erkundigte sich Don Francisco mit ratlosem Stirnrunzeln, »oder von Anibal, der nichts verbrochen hat …« – »Denken Sie nur an den Sklavenaufstand in Barinas«, erwiderte Pater Ignacio, wiederum scheinbar zusammenhanglos, »der uns allen als ernste Ermahnung dienen sollte. Wenn man diese Kinder nicht strengstens behandelt, vergelten sie uns unsere Lehre und Liebe aufs Schlimmste. Ein Atemzug Freiheit – und sie ziehen los, um zu stehlen, zu morden und Feuer zu legen.« Endlich begriff mein Besitzer und nickte erleichtert: »Es reicht, einen Stein aus der Mauer zu ziehen, um das Haus unserer Ordnung zum Einsturz zu bringen. Ich darf Pepito nicht bloßstellen. Wenn er behauptet, der Sklave sei schuld, muß der Sklave bestraft werden. Danke Pater, ich will Euren Ratschlag beherzigen.«
Diese Dinge belebe ich aus der Erinnerung und meinem Wissen um Pater Ignacios Ansichten, die er in seinen Erbaulichen Briefen vertritt. Ansonsten blieb alles ein Nebel aus Silben, der zwischen meinem Herrn und seinem Seelsorger waberte: »Até as ensi sa? Sómeiki nunn tatten? Oh ne inní ainú ehe ik íten in Zambo omm englíen asu eitsch asse?« Und Pater Ignacios Stimmchen sang faserig: »Il eelehn u ehen eht nurrit it alt!« Bis zu dem Vormittag, als man den Zambo halbnackt an einen Pfosten der Holzgalerie bindet, und es beim ersten Hieb mit dem Seekuhhautriemen auf seine Lenden am Springbrunnen fleht: »Señor! Por favor! Por favor! No lo haga! Tun Sie es nicht!«
Mir war dieses Betteln vertraut, das ist sicher, und es wiederholte sich alle paar Tage, bis ich aus dem Schreibzimmer in ein Kabuff kam. »No Señor, no Señor, por favor!« flehte Mora, eine der beiden kreolischen Dienerinnen, wenn sie den Befehl hatte, sich in den Sessel zu knien und vor Don Francisco den Rock anzuheben. »Bitte, tun Sie es nicht, Señor!« stammelte Inéz, die andere kreolische Hausangestellte, wenn er sie hechelnd zu sich auf den Schoß zerrte. Cayo und ich schauten seinen Mißhandlungen der beiden Bediensteten teilnahmslos zu. »Míssima malagaí«, schmirgelte Cayo bei Ansicht des mondweißen, haarigen Hinterns, der sich vor das dunkle Fleisch der Mestizin schob, sich runzlig zusammenzog und wieder rundete, und wiegte sich zu seinen Kolbenbewegungen, bis der Hausherr einen Schrei ausstieß und in die Knie ging, und der Blauara zeterte: »Arax uxutl u!«
Don Francisco erledigte seine Mißhandlungen, als wolle er nichts als sein Wasser abschlagen oder sonst eine Alltagsbesorgung verrichten, nicht anders als Beten vorm Kreuz an der Zimmerwand, Briefe aufsetzen und Siegellack heißmachen. Mit der Zeit nahmen diese Mißhandlungen zu, und das hatte mit seinem Ausschlag zu tun. Erst bedeckte er Schulter und Bauch Don Franciscos, den der beißende Reiz zur Verzweiflung trieb. Er brachte sich blutnasse Striemen beim Kratzen bei – ja, er vergeudete bald einen wertvollen Teil seines Arbeitstags mit dieser Kratzerei. Anibal mußte ins Schreibzimmer kommen, um seinen Besitzer an Stellen zu scheuern, die allen Verrenkungen zum Trotz nicht erreichbar waren. Er ließ sich vom Zambo mit Rosen-, Kakteen- und anderen stachligen Pflanzen abreiben. Von Qualen zerfetzt, gab er Anibal Anweisung, sie an seinem Herrn mit der Peitsche zu mildern. Das war ein Befehl, den der Sklave verweigerte, was den Spanier wiederum kurzfristig ablenkte, der stattdessen dem Anibal Frechheit und Eigensinn mit einer Reihe von Hieben vergalt.
Doktor Vincente, sein baskischer Leibarzt, versagte. Und nicht anders verhielt es sich mit dem Indianer, den Pater Ignacio dem Hausherrn empfahl, trotz der Salbe aus Schlangengift, tierischem Knochenmehl, Chitinpanzerpulver und pflanzlichen Alkaloiden, die der Wilde bei Vollmond und Sternschnuppenschauern zusammenmixte, um sie Don Francisco auf Schulter und Bauch zu schmieren. Diese Paste stank grauenerregend (ich konnte nichts als einen moorbraunen und meinen Besitzer einnebelnden Schimmer erkennen), und wochenlang wollte kein Mensch mehr ins Schreibzimmer treten, selbst Pepito, Julietta und Pater Ignacio kamen dem Vater und Freund nicht zu nahe, der vergebens auf Linderung hoffte. In Caracas sagte man, Beelzebub habe den Spanier mit seinem Weihrauch besprenkelt, der aasiger stinke als zehn nackte Teufel. Nichts wollte den wandernden Hautausschlag heilen. Teils purpurn-, teils feuerrot, Feuchtigkeit absondernd, eroberte er mehr und mehr Don Franciscos Schoß.
Sich zwischen Schambein und After Erleichterung verschaffen zu wollen, war wesentlich schwieriger, als es an Bauch oder Schulter gewesen war. An den Hoden Kakteen zu verwenden, verbot sich von selbst. Das konnte Verletzungen mit sich bringen, die sich der Hausherr begreiflicherweise ersparen wollte. Umso gewaltsamer, gieriger, triebhafter warf er sich auf seine beiden Kreolinnen, die Don Francisco vom qualvollen Juckreiz befreien sollten. Erst Monat um Monat, bald Woche um Woche, am Ende von Tag zu Tag wimmerten beide: »Señor! Por favor! No lo haga! Tun Sie es nicht!«
Selbst meinem Besitzer war seine Besessenheit unheimlich. Er nahm an, mit dem Hautausschlag strafe der Himmel die Geilheit, von der er beherrscht werde. Don Francisco beriet sich mit Pater Ignacio, was er zu tun habe, um seinen Trieb zu beschwichtigen. Zu dem Zeitpunkt verstand ich bereits eine Menge: Heilung versprach er sich von der Methode, mit der sein geistiger Lehrer und Seelsorger Julietta von Satans Verlockungen befreit hatte. Sie las nur noch Ignacios Erbauliche Briefe und vertrieb sich den Tag mit einem Kartenspiel namens Tarot. »Wie haben Sie das erreicht, Euer Gnaden?« erkundigte sich Don Francisco beim Pater, er hatte niemals zu wissen verlangt, was der Gottesmann an seiner Tochter begangen hatte.