Herbert Rosendorfer
Der China-Schmitt
Geschichten
Kiepenheuer & Witsch GmbH & Co. KG
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Herbert Rosendorfer, 1934 in Bozen geboren, war Jurist und Professor für Bayerische Literaturgeschichte. Er war Gerichtsassessor in Bayreuth, dann Staatsanwalt und ab 1967 Richter in München, von 1993 bis 1997 in Naumburg/Saale. Seit 1969 zahlreiche Veröffentlichungen, unter denen die ›Briefe in die chinesische Vergangenheit‹ am bekanntesten geworden sind. Herbert Rosendorfer, Mitglied der Bayerischen Akademie der Schönen Künste sowie der Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz, wurde mit zahlreichen bedeutenden Auszeichnungen geehrt, u.a. dem Tukan-Preis, dem Jean-Paul-Preis, dem Deutschen Fantasypreis, dem Bundesverdienstkreuz Erster Klasse und zuletzt 2010 mit dem Corine-Ehrenpreis des Bayerischen Ministerpräsidenten. Er lebte seit 1997 mit seiner Familie in Südtirol und starb am 20.9.2012 in Bozen.
Die Explosion einer Waschmaschine im Hause Meier, bei der ein wichtiges Familienportrait in arge Mitleidenschaft gezogen wird, führt zu einer völlig neuen Kollegialität beim sonst eher spröden Arbeitskollegen Schmitt, genannt China-Schmitt. Er, der in Shanghai aufgewachsen ist, wo sich sein Vater, die Familie war 1935 emigriert, als Kunstmaler und Restaurateur durchschlagen mußte, bietet an, das Gemälde wiederherzustellen, was allerdings nur partiell gelingt. Auch die Geschichte »Der Rembrandt-Verbesserer« offenbart einen völlig neuen Blick auf die Probleme der Kunstgeschichte und ihre Bewältigung. Wieso trägt Mona Lisa plötzlich einen Ring am Finger?
Herbert Rosendorfers Geschichten, unterhaltsam, amüsant und nicht ohne Bosheit, stellen sich unerschrocken den ewig neuen Erscheinungsformen menschlichen Irrsinns.
Dieses E-Book ist der unveränderte digitale Reprint einer älteren Ausgabe.
Erschienen bei KiWi Bibliothek
© 2018 Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln
Covergestaltung: Rudolf Linn, Köln
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Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
Impressum der Reprint Vorlage
ISBN (eBook) 978-3-462-41216-1
Für Elisabeth und Heinrich Gasser in alter Freundschaft
Am Samstag – es war ein knackend kalter Wintertag, und die Leute saßen bis spätabends in den Bierwirtschaften – spürte man gegen elf Uhr in der Nacht das erste Zittern. Es war ein fast unmerkliches, leises Zittern, ein leichtes Pulsieren, so als ob ein schwerer Lastwagen langsam am Haus vorbeifahre, nur daß kein Lastwagen da war weit und breit, und das Zittern oder Pulsieren die ganze Nacht hindurch nicht nachließ. Die Biergläser der späten Zecher zitterten auf den Tischen, doch die Zecher merkten nichts, selbst wenn dicht beieinander stehende Gläser bereits aneinanderklirrten.
Aber die Erdbebenwarte registrierte das Pulsieren, selbstverständlich. Herr Brettmann rief dort an und erfuhr von einem schläfrigen, nachtdiensttuenden Erdbebenwart, daß es sich um ein ihm vollkommen unverständliches Phänomen handle: er verzeichne es schon seit etwa sieben Uhr, es steige – nur für die empfindlicheren Apparate spürbar – seitdem an, und wenn es sich um ein Erdbeben handle, sei es ein ganz kurioses, ein Erdbeben mit der Präzision einer Uhr, die einzelnen Erschütterungen in exakt zwei Sekunden Abstand, jede zweite Erschütterung – auch das nur für die Seismographen registrierbar – etwas schwächer. »Wie war Ihr Name?« fragte der Erdbebenwart, der im Lauf des Gespräches munterer geworden war und sich auch freute, daß einer sich für seine Arbeit interessierte. »Brettmann«, sagte Brettmann. »Am besten, Herr Brettmann«, sagte der Erdbebenwart, »rufen Sie am Montag den Chef an. Vielleicht kann der es erklären.«
Am Montag war keine Rede mehr davon, daß Herr Brettmann oder irgend jemand die Erdbebenwarte hätte anrufen können. Die Auskunft vom Samstagabend bekam Brettmann auch nur deshalb noch, weil er einige Sekunden vor dem Ministerpräsidenten angerufen hatte. Von da ab war das Phänomen Chefsache, und der Chef der Erdbebenwarte – sofort vom Anruf des Ministerpräsidenten informiert – verbot dann dem diensttuenden Erdbebenwart, weitere Auskünfte zu geben. Zunächst sagte der Erdbebenwart bei den im Lauf der Nacht immer häufiger werdenden Anrufen: »Bedaure …«, später dann nahm er nicht mehr ab. Dem Chef war die Sache im übrigen auch unklar.
Am Sonntag begannen die Maulwürfe aus dem Boden zu kriechen. Milch in Eisschränken wurde zu Butter. Feinfühlige Naturen bekamen Kopfweh. Der Neubau einer Autobahnbrücke bei Memmingen stürzte ein. Eine Witwe in Ramersdorf alarmierte die Polizei, weil der Mieter über ihr seit Stunden Schlagzeug spiele. Der Funkstreifenbeamte läutete beim Mieter über der Witwe, aber der war gar nicht da. Die Witwe zeterte und verdächtigte den Polizisten, der aber vollständig die Form wahrte, mit dem Mieter oben unter einer Decke zu stecken, und drohte eine Dienstaufsichtsbeschwerde an. Zu dieser Beschwerde ist es durch die Ereignisse, die sich bald überstürzen sollten, nicht mehr gekommen.
Am Montag sprangen Züge aus den Schienen; einen Faden in ein Nadelöhr zu stecken, war bereits unmöglich; zahllose Betongebäude stürzten ein, feinere Uhren blieben stehen; ein Seiltänzer, der trotz Warnung seiner Tochter für den abendlichen Auftritt üben wollte, fiel vom Seil, blieb aber so gut wie unverletzt, da er in einem Haufen Streu landete. Krisenstäbe traten zusammen. Der Bundeskanzler telephonierte auf seinem bereits sichtbar bebenden Stuhl sitzend mit seinen Kollegen in den befreundeten und verbündeten Ländern und erfuhr, daß sich das rätselhafte Phänomen offenbar weltweit erstreckte.
Am Dienstag früh traf im Kanzleramt eine Depesche der deutschen Botschaft in Peking ein, aber zu dem Zeitpunkt war das Beben schon so stark, daß man die Zeilen nicht mehr lesen konnte.
Schuld an der Sache, wenn man so sagen kann, war der luxemburgische Futurologe Aléxandre Klein, der etwa zwei Jahre zuvor nichtsahnend eine Broschüre veröffentlicht hatte, in der er anhand bekannter oder errechenbarer Fakten nachwies, daß die Länder der Dritten Welt keine Chance haben, den Entwicklungsvorsprung der Industrienationen jemals aufzuholen. Wenn die Dritte Welt – was ohnehin fraglich ist – soviel Verstand, Geld und Disziplin aufbringt, sich eine ernst zu nehmende Industrie zu schaffen, was frühestens in achtzig Jahren der Fall ist, allerfrühestens, wahrscheinlich aber erst in hundertsechzig, dann gibt es rundweg nichts mehr, was diese Industrie verarbeiten könnte, weil die alten Industrienationen inzwischen alle Rohstoffe verbraucht haben werden.
Diese Broschüre mit der im übrigen alles andere als neuen Erkenntnis dieses gewissen luxemburgischen Futurologen Aléxandre Klein fiel einem Beamten der chinesischen Botschaft in Luxemburg in die Hände, der sie nach Peking weiterleitete. Dort las man die Broschüre mit Aufmerksamkeit, obwohl auch dort Kleins Erkenntnisse niemanden aus den ameisenblauen Socken warf. Allerdings erbitterten zwei Schlußfolgerungen Kleins: Auch China, schrieb Klein, teile das Schicksal der Dritten Welt. Zwar mache China alle Anstrengungen, um gerade noch als letztes auf den ablegenden Dampfer der satten Nationen zu springen, aber es sei zu spät. China werden zwischen Kaimauer und Bordwand ins Wasser fallen. Schon das wurde als grobe Unhöflichkeit empfunden. Nur noch als Hohn werteten die Chinesen den folgenden Vorschlag Kleins: Die Chinesen sollten sich zum Ackerbau zurückentwickeln und im übrigen die Empfängnisverhütung weiter kultivieren.
Eine große geheime Konferenz aller chinesischen Spezialisten für wirtschaftliche Entwicklung kam zu dem Ergebnis, die höhnischen und unhöflichen Schlußfolgerungen Aléxandre Kleins träfen zu. Es sei nichts zu machen. Die europäischen Langnasen und Käsgesichter hätten recht. Es bildeten sich dann innerhalb der chinesischen Führungsschicht zwei Lager. Das eine Lager sagte: Man sei schließlich ein sozialistisches Land, und es sei nicht das erstemal, daß man eine Schwierigkeit wegdiskutiere. Funktionäre hätten vorerst noch zu essen, und wenn man kein großes Aufhebens mache, könne man wie bisher weiterwursteln. Das andere Lager aber trug in der Grundsatzdebatte den Sieg davon. Nach zwei Jahren Vorbereitung begann das große Schaukeln. Um den Preis des eigenen Untergangs hatten die Chinesen beschlossen, sich an der Welt zu rächen.
Die Chinesen sprangen in drei Schichten, die erste von Mitternacht bis acht Uhr, die zweite von acht Uhr bis vier Uhr nachmittags und die dritte von vier Uhr nachmittags bis Mitternacht. Häufig absolvierten Aktivisten freiwillig zwei Schichten hintereinander. Sie sprangen genau gleichzeitig bis zu einem Meter hoch, je nach Kondition, in der Frequenz von zwei Sekunden, zwischen Ostchina, also der Küste, und Westchina, um eine Sekunde versetzt. Der Effekt war so, als ob alle Passagiere eines Schiffes auf Kommando auf Deck hin- und herliefen.
Am Mittwoch überschwemmte eine Springflut Californien und die übrige Westküste Amerikas. Im Zurückrollen spülte die Flut Japan, Indonesien und Australien weg, auch einen Teil der chinesischen Küste mit insgesamt 40 Millionen springender Chinesen. Der Rest sprang weiter. Am Donnerstag war das Beben so stark, daß der Bundeskanzler beim Versuch, das Telephon nach Washington zu ergreifen, aus dem Fenster schnellte. Er wurde nicht einmal mehr gesucht. Die Witwe in Ramersdorf erlitt bei dem Versuch, mit dem Besen gegen die Decke zu klopfen, tödliche Verletzungen, weil sie gegenläufig klopfte und ihr dadurch der Besenstiel in den Rachen fuhr. Sie hätte ohnedies nur noch wenige Minuten gelebt, da der Häuserblock gleich darauf zusammenstürzte. Der größte Teil der nichtchinesischen Weltbevölkerung wurde durch das ständige Beben wahnsinnig. Der klarsinnig gebliebene Teil floh in die Wälder und wurde zumeist von umstürzenden Bäumen erschlagen.
Die Chinesen sprangen mit höllischem Vergnügen weiter. Auch sie waren dezimiert, aber die Welt bebte schon derart, daß das Beben Eigenbewegung geworden war. Eine stark sich bewegende Schaukel braucht nur noch leicht angeschoben zu werden. Die wenigen verbliebenen Chinesen trieben die Welt langsam, aber sicher in die Resonanzkatastrophe.
Am Freitag versuchte eine Rumpfkonklave von drei Kurienkardinälen, anstelle des irrsinnig gewordenen Papstes einen neuen zu wählen. Die Architektur der Sixtinischen Kapelle hielt zwar noch, aber es war unmöglich, die Stimmzettel in den Schlitz der Kassette zu stecken. Darauf zählten die Kardinäle ab: »Ene – mene – mei … und du bist frei«, allerdings – trotz allem auf Würde bedacht – auf lateinisch: »Enus – menus – miber – et tu es liber.« Kardinal Gregoretti wurde Papst. Er nahm den Namen Petrus II. an. Wer die Prophezeiung des Malachias kennt, weiß, was das bedeutet. Papst Petrus II. kämpfte sich, an den zum Teil mit Fresken Raffaels geschmückten Wänden sich festhaltend, über hüpfende Stiegen und schwankende Korridore zum Balkon der Peterskirche durch. Ohne Gefolge mußte er wohl oder übel selber das Ergebnis der Wahl verkünden. »Annuntio vobis gaudium magnum …« schrie er auf den leeren Petersplatz hinunter: »… habemus Papam …« Da tat drüben der letzte Chinese den letzten Hupfer. Die Erdachse kippte aus der Rotationsebene. Mit ausgebreiteten Armen schoß der Papst vom Balkon aus nach oben ins Unendliche.
Der nichtsahnende Urheber des Ganzen, der luxemburgische Futurologe Aléxandre Klein, war schon am Mittwoch abends leise jammernd an einem durch das Beben gelockerten Stiftzahn erstickt. Wer aber den Weltlauf der vergangenen Jahrzehnte aufmerksam verfolgt hatte, wußte, daß es letzten Endes so kommen mußte.
Die im Chef-Vorzimmer hieß »die Schmid«, später heiratete sie und hieß Derendinger, aber die älteren Angestellten sagten immer noch »die Schmid«, fügten höchstens, aber unwillig, hinzu, »also die jetzige Derendinger«. Ziemlich farblos und ohne Eigenschaften war der Einkauf-Schmied. Er schrieb sich mit i-e-d, sein einziges Merkmal, aber das war akustisch nicht wahrnehmbar. Er hatte vor 25 Jahren als Lehrling beim Einkauf angefangen, und er hatte damals schon so unscheinbar und alterslos ausgesehen wie jetzt; vielleicht ein bißchen mehr Haare hatte er früher gehabt. Obwohl er längt bei der Lagerüberwachung arbeitete (und inzwischen viele andere Stationen in der Firma durchlaufen hatte), hieß er immer noch der Einkauf-Schmied. Der Abteilungsleiter vom Einkauf/Verkauf hieß der rote SchmidtIGIG