Andreas Föhr

Eisenberg

Kriminalroman

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Über Andreas Föhr

Andreas Föhr, Jahrgang 1958, hat Jura studiert und in München promoviert. Jahrelang war er als Anwalt tätig, unter anderem in Nairobi, bevor er sich mit dem Schreiben von Drehbüchern einen Namen gemacht hat. Seine preisgekrönten Kriminalromane um das Ermittlerduo Wallner&Kreuthner sind Dauergast auf den SPIEGEL-Bestsellerlisten. Mit Rachel Eisenberg hat der Bestsellerautor nun eine Figur geschaffen, die nicht nur sein juristisches Fachwissen teilt, sondern auch den Glauben daran, dass jeder, ob schuldig oder nicht, einen Verteidiger verdient, der ganz auf seiner Seite steht. Andreas Föhr lebt bei Wasserburg. Mehr über den Autor unter www.facebook.com/andreas.foehr oder www.droemer-knaur.de/foehr.

 

Von Andreas Föhr sind bereits folgende Titel in der Verlagsgruppe Droemer Knaur erschienen:

Der Prinzessinnenmörder
Schafkopf
Karwoche
Schwarze Piste
Totensonntag
Wolfsschlucht
Schwarzwasser

Impressum

© 2016 der eBook-Ausgabe Knaur eBook

© 2016 Knaur Verlag

Ein Imprint der Verlagsgruppe

Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise –

nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Redaktion: Maria Hochsieder

Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Coverabbildung: FinePic®, München

ISBN 978-3-426-43436-9

Hinweise des Verlags

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.


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Für Damaris

Prolog

10. Juli 2015

Der Obduktionsbericht hielt sich an die Fakten und spekulierte nicht. Doch musste es sich so oder so ähnlich abgespielt haben: Der erste Stich traf das Opfer von hinten. Die Klinge durchstieß eine Daunenweste, einen Wollpullover und ein Unterhemd, bevor sie in den Rücken der jungen Frau eindrang, acht Zentimeter neben der Wirbelsäule auf Höhe des untersten Brustwirbels. Zwischen neunter und zehnter Rippe bahnte sich die Klinge ihren Weg durch den Lungenflügel. Schwer zu sagen, ob das Mädchen in diesem Moment überhaupt begriff, was geschehen war. Aber es drehte sich vermutlich um und sah seinem Mörder in die Augen. Die nächsten vier Stiche kamen von vorn, in schneller Abfolge, so dass die Frau bis zum letzten auf den Beinen blieb. Die Schnitttiefe legte nahe, dass der Täter kräftig war und das Messer außergewöhnlich scharf. Die Schneide zeigte bei den Stichen nach oben. Den letzten und tödlichen Stich setzte der Mörder unterhalb des Brustbeins. Erst beim Herausziehen drehte er die Klinge nach rechts, drückte sie nach oben und durchschnitt das Herz der jungen Frau.

Der Obduktionsbefund ging Rachel durch den Kopf, während sie in der schwülen Julinacht von Angst gelähmt auf einen Couchtisch starrte. Dort lagen ein Lippenstift, zwei Kugelschreiber, Papiertaschentücher, Pfefferminzpastillen, ein Handy, Visitenkarten (Dr. Rachel Eisenberg, Fachanwältin für Strafrecht) und eine Vielzahl anderer Dinge, die sich vor kurzem noch in ihrer Handtasche befunden hatten. Sie ließ den Blick weiterwandern zu jenen zwei Gegenständen, die nicht in ihrer Handtasche gewesen waren: eine Pistole der Firma Glock mit Schalldämpfer und ein Messer mit breiter Klinge, wie es Soldaten von Eliteeinheiten verwendeten. Noch vor dem Ende dieser Nacht würde jemand mit dem Messer auf Rachel einstechen, bis sie sich nicht mehr rührte. Anschließend würde er ihr – sie hoffte, dass sie dann nicht mehr lebte – die Hände abschneiden. Das jedenfalls war der jungen Frau widerfahren, die man obduziert hatte, und der Mann, den man wegen dieses Mordes angeklagt hatte, war Rachels Mandant gewesen. Jetzt saß sie, Hände und Füße mit Panzerband gefesselt, in diesem abgelegenen Haus und wartete darauf, dass ihr Mörder durch die Tür kam. Sie lauschte. Im Nebenraum hörte sie zwei Männer reden. Gedämpft, ruhig und bedrohlich klangen ihre Stimmen durch die Tür. Rachel atmete tief in den Bauch, um die Angst in ihren Eingeweiden zu beschwichtigen. Sie wollte nicht sterben. Nicht so. Nicht, ohne irgendetwas versucht zu haben …

21. April 2015

Die Platanen am Sendlinger-Tor-Platz trieben erstes Grün, und Frühling lag in der Luft, als Oberstaatsanwalt Dr. Henrik Schwind in die Nussbaumstraße einbog. Es war Viertel nach sieben, und der schweinslederne Attachékoffer lag ihm leicht in der Hand. Beim Frühstück hatte Schwind eine SMS vorgefunden, letzte Nacht vom Staatsanwalt des Bereitschaftsdienstes verschickt. Der Mann war in den Morgenstunden zu einer Leiche in der Nähe des Flauchers gerufen worden. Opfer: Frau um die zwanzig – vermutlich Tötungsdelikt – Täter unbekannt. Mehr war in der SMS nicht enthalten, nur noch der Obduktionstermin: 7 Uhr 30. Die Anwesenheit eines Oberstaatsanwalts war streng genommen nicht erforderlich. Es reichte, wenn ein einfacher Staatsanwalt der Leichenschau beiwohnte. Aber es gab nicht viele Morde in München – fünfzehn im Jahr, wenn man Glück hatte. Die meisten waren kriminalistisch gesehen eher langweilig und die Täter schnell ermittelt. Die Tote von letzter Nacht hingegen versprach interessant zu werden. Für solche Fälle hatte der Oberstaatsanwalt Anweisung erteilt, ihn unverzüglich zu informieren. Schwind lächelte zufrieden bei dem Gedanken, dass seine Leute funktionierten, schritt beschwingt aus und sah auf seine Uhr. Zwölf vor halb. Prof. Dr. Stang, der Leiter der Gerichtsmedizin, kannte keine Gnade bei der Terminierung. Sieben Uhr dreißig und nicht eine Sekunde später. Um diese Zeit, so Stang, seien die Sinne noch wach und scharf. Neben der Sorge um die Qualität seiner Arbeit trieb Stang ganz offenbar auch eine gewisse erzieherische Absicht um, die man bei Frühaufstehern gegenüber nachtaktiven Mitmenschen öfter beobachten kann.

»Na? Wieder mal auf den letzten Drücker?«, wurde Schwind vom Professor begrüßt. Das Obduktionsteam stand sich vermutlich seit zwanzig Minuten die Beine in den Bauch.

»Da scharrt schon einer mit den Hufen, was?« Schwind gab Stang gut gelaunt die Hand und stellte seinen Koffer neben einem Rollschränkchen mit medizinischen Instrumenten ab. Dann begrüßte er die restliche Belegschaft, darunter Sabine Wittmann, die zuständige Staatsanwältin, die einen missgelaunten Eindruck machte. »Alles in Ordnung?«, fragte Schwind.

»Es wäre mir offen gesagt lieber, man könnte Obduktionen um halb neun terminieren. Ich muss meine Kleine in den Kindergarten bringen. Aber um sieben kann ich sie noch nicht abgeben.«

»Sie können sie gerne mitbringen«, schlug Professor Stang vor und wandte sich dem Seziertisch zu. »Können wir dann mal anfangen?«

Schwind versuchte seine Mitarbeiterin mit einer Handbewegung zu beschwichtigen. Professor Stang war sechsundsechzig, altersstarrsinnig und hielt sich für Gott. In diesem Leben würde es mit ihm keine Halb-neun-Obduktionen mehr geben.

Der Professor nahm ein Klemmbrett, fuhr mit seinem blau behandschuhten Finger auf einem Formular einige Zeilen nach unten und legte den Kopf nach hinten, um einen schärferen Blick durch seine Bifokalbrille zu haben: »Einlieferungszeitpunkt: 21. April, fünf Uhr achtundvierzig. Erste Untersuchung am Fundort erfolgte um drei Uhr fünfundfünfzig. Die Tote lag auf dem Bauch und wurde bei der Erstuntersuchung auf den Rücken gedreht, Totenflecken waren gut erkennbar. Nach dem Transport der Leiche hatten sich die Flecken teilweise auf den Rücken verlagert. Das sagt uns was?« Stang deutete auf eine junge Frau im Arztkittel, ohne den Blick vom Klemmbrett abzuwenden.

»Der Tod ist vermutlich sechs bis zwölf Stunden vor dem Auffinden der Leiche eingetreten.«

»Fast korrekt. Ersetzen Sie Auffinden durch Drehen, dann haben wir es präzise.« Stang würdigte die junge Frau keiner weiteren Aufmerksamkeit und lugte über das Klemmbrett zum Oberstaatsanwalt, der auf der anderen Seite des Seziertisches stand und mit offensichtlicher Irritation auf die Leiche starrte. Sie war immer noch mit einem Tuch bedeckt. »Herr Oberstaatsanwalt …?«

Schwind sah zu Professor Stang. »Nichts. Mir ist nur gerade aufgefallen, dass …« Er deutete auf das Tuch. Stang liebte es, vor der Enthüllung der Leiche einige Worte zu sprechen, um der Veranstaltung einen Hauch von Dramatik zu verleihen. Das funktionierte auch ganz gut. Denn in der Regel hatten einige der Anwesenden die Leiche noch nicht zu Gesicht bekommen und machten sich Gedanken, was sie unter dem Tuch erwartete.

»Ja?« Stang lächelte Schwind fragend an und ließ das Klemmbrett sinken.

Der Arm der Toten, der auf Schwinds Seite lag, zeichnete sich unter dem Tuch ab, und es schien, dass er am Handgelenk abrupt aufhörte. »Es sieht so aus, als hätte sie keine Hände.«

»Da greifen wir jetzt aber ein bisschen vor.«

»Sind die Hände gefunden worden?« Das Thema beschäftigte Schwind, und er wollte Stangs langatmige Einführungszeremonie nicht abwarten.

»Was sind Sie bloß so ungeduldig?«

»Beantworten Sie doch einfach meine Frage. Wurden die Hände …«

»Gefunden wäre das falsche Wort«, unterbrach ihn Stang ungehalten, denn er hasste es, wenn jemand den ritualisierten Ablauf seiner Obduktionen durcheinanderbrachte. Er zog ein Gesicht, als habe man ihm den ganzen Spaß verdorben, murmelte: »Also weg damit«, und gebot der jungen Ärztin mit herrischer Geste, das Tuch zu entfernen.

Es war Schwinds vierundsechzigste Obduktion, und er empfand beim Anblick von entstellten Leichen eher Interesse als Abscheu. Dennoch vergaß er einen Augenblick lang, den Mund zu schließen, als die tote Frau sichtbar wurde. Staatsanwältin Wittmann trat einen Schritt zurück, als habe sie jemand an der Jacke nach hinten gezogen.

»Wie Sie sehen …«, Stang nahm das Klemmbrett hinter den Rücken und wippte auf den Fußspitzen, »… die Hände sind noch da.«

29. Januar 2015

Im Scheinwerferlicht tauchten die ersten Schneeflocken auf. Die Straße war schwarz und glänzte, die Lichter der entgegenkommenden Autos spiegelten sich auf dem nassen Asphalt. Links ein Hang mit altem Schnee, rechts die Leitplanke, dahinter ging es zu einem Bach hinab. Leonora rieb sich die Augen und kurbelte das Fenster nach unten, damit die kalte Nachtluft ihren Kopf umwehte und die Müdigkeit vertrieb. Eine Schneeflocke traf ihre Stirn und schmolz. Seit Stunden fuhr sie durch verschneite Berge, und sie sehnte sich nach flachem Land. Am Ende des Lichtkegels tauchte jetzt ein blaues Quadrat aus der Dunkelheit auf, wurde größer, ein Kreis aus goldenen Sternen tanzte auf dem Blau, in der Mitte die Worte: Bundesrepublik Deutschland. Einige Meter dahinter das gelbe, ovale Schild mit dem Bundesadler. Leonora atmete durch und spürte ein Kribbeln unterhalb des Brustbeins. Von hier waren es noch einmal hundert Kilometer, die sie größtenteils auf der Autobahn zurücklegen würde. »Wir sind bald da, Valentina«, sagte sie nach hinten. Das neunjährige Mädchen hing mit geschlossenen Augen im Kindersitz, der Kopf war ihr auf die Schulter gerutscht, der linke Arm lag auf dem Bauch, mit dem rechten hielt sie einen Plüschhasen am Bein.

Sie passierten ein Ortsschild. Es war nicht mehr weiß und blau wie in Österreich, sondern gelb und schwarz. Die verstreute Siedlung, die es ankündigte, trug den für Ausländer unaussprechlichen Namen Schneizlreuth. Kurz darauf kam Leonora zur Einmündung in die Bundesstraße 305 und bog links Richtung Inzell ab. Bald nach der Abzweigung sah sie einen Wagen im Rückspiegel. Der Wagen kam langsam näher. Leonora überkam ein ungutes Gefühl, doch sie versuchte, vernünftig zu bleiben. Es gab keinen Grund zur Sorge. Das hier war Deutschland. Eintausendfünfhundert Kilometer entfernt von dem Ort, in dem sie und ihre Familie eingesperrt und in täglicher Angst gelebt hatten. Es gab niemanden nördlich der Alpen, der ihr und Valentina etwas antun wollte. Und doch war da diese Unruhe, die Angst, die an den Eingeweiden fraß wie ein Krebsgeschwür. Sie ging nicht einfach weg, nur weil der Grund fehlte. Nach der langen Zeit war die Angst Gewohnheit geworden.

Der Wagen hinter ihr fuhr dicht auf, und Leonora spürte einen Druck auf der Brust, der ihr das Atmen schwermachte. Ihre rechte Hand fing an zu zittern, sie musste das Lenkrad umklammern, um sie zu beruhigen. Immer noch wand sich die Straße und machte es dem Fahrer hinter ihr unmöglich zu überholen – falls er das vorhatte. Auf der Stirn und unter den Achseln schwitzte Leonora, obwohl es kalt war im Wagen. Nach einem endlosen Kilometer zog der Wagen hinter ihr nach links und an ihr vorbei. Einen Moment lang war sie unsicher, ob er nicht abbremsen und sie zum Halten zwingen würde. Dann beschleunigte der dunkelgraue Audi und verschwand in der Nacht. Leonora streckte ihre rechte Hand nach hinten und berührte das Bein des Mädchens.

 

Der silberne BMW stand seit vierzig Minuten in dem Waldweg, der von der B 305 abzweigte. Die ausgeschalteten Scheinwerfer des Wagens zeigten in Richtung Inzell, das wenige Kilometer entfernt lag. Im Wagen saßen zwei Männer, der eine, Patrick, um die dreißig mit Lederjacke, der andere, Arnold, in den Vierzigern, im Norwegerpullover. Seit gestern verfolgten sie den Weg der Frau nach Deutschland auf einem Laptop. Die Ortung von Leonoras Smartphone wurde nur unterbrochen, wenn es sich im Tunnel oder in einem Gebäude befand. Zumindest aber war das Handy ständig eingeschaltet, so dass die Reiseroute einfach nachzuverfolgen war. Seit dem letzten Zwischenstopp war auch klar, wo sie die deutsche Grenze überqueren würde. Die beiden Männer warteten auf sie. Wieder einmal hatten sie den Satellitenkontakt verloren, doch bestand kein Zweifel, dass der Wagen innerhalb der nächsten halben Stunde an dem kleinen Waldweg vorbeikommen musste, auf dem sie parkten. Patrick schenkte sich aus einer Thermoskanne Kaffee in einen Plastikbecher. Sie hatten länger nicht gesprochen. Das mochte daran liegen, dass sie in den letzten Tagen sehr gründlich über die Einzelheiten und auch das Für und Wider der Aktion geredet hatten. Jetzt, da es so weit war, hatte sich eine klebrige Anspannung im Wagen breitgemacht. Beide Männer versuchten, sich zu konzentrieren. Arnold war im Begriff, nach der Thermoskanne zu greifen, da hörte er durch das Seitenfenster, das man einen Spaltbreit offen gelassen hatte, wie sich ein Fahrzeug auf der Bundesstraße näherte. Das Geräusch wurde lauter, Scheinwerfer erleuchteten das dreieckige Schild mit dem springenden Hirsch, das dreißig Meter entfernt am Straßenrand stand. Sekunden später kam ein Kombi vorbei, dessen Farbe und Fabrikat in der Dunkelheit schwer zu erkennen waren. Der Lack war stumpf und an einigen Stellen ausgebessert, der Wagen musste mindestens fünfzehn Jahre alt sein. Der Jüngere auf dem Beifahrersitz, immer noch den Kaffeebecher in der Hand, griff nach einem Feldstecher auf der Mittelablage.

»Das ist sie! Es geht los!« In Patricks Stimme lag erwartungsvolle Erregung.

Arnold startete den Wagen, während sein Beifahrer das Fenster herunterließ und den Kaffee wegschüttete.

1

Nymphenburg im Mai 2015

Die Luft war kühl und feucht, als Rachel Eisenberg um halb sieben in Jogginghose und T-Shirt auf die Terrasse trat. Wassertropfen glitzerten an den Blüten von Flieder und Rhododendron. In den Morgenstunden hatte ein Gewitter getobt, und die Tonfliesen mit dem Moos in den Fugen waren kalt unter Rachels Fußsohlen. Sie ging ein paar Schritte im nassen Rasen und sog den Morgen ein. Die Sonne stand noch schräg und schien ihr ins Gesicht, als sie ein Knurren hörte. Es war mehr ein langgezogenes Öööh, das in ein Fiepen überging und verstummte. Sie hielt eine Hand gegen die Sonne und spähte in den Schatten. In der Gartenecke raschelte es, und Zweige bewegten sich. Etwas huschte im Augenwinkel zur Seite. Als sie hinsah, war es weg.

 

Der Kaffee lief durch die Maschine und verbreitete Morgengeruch im Haus. Rachel goss sich eine Tasse ein, viel Milch und zwei Löffel Zucker. Während sie über den Kaffee blies, nahm sie das Telefon vom Küchentisch und drückte »Int«. Es läutete vier Mal, bis jemand abnahm und eine belegte Teenagerstimme hauchte: »Ich hasse dich.« Rachel sagte, der Kaffee wäre fertig und dass draußen ein sonniger Morgen auf Sarah warte. Sarah sagte: »Fuck Sonne!«, und Rachel sagte Sarah, dass sie sie gerade morgens sehr liebhabe und in fünf Minuten noch einmal anrufen würde.

 

Rachel Eisenberg war vierzig, hatte rotbraune Haare, die sie halblang trug, dazu eine Brille. Mit Kontaktlinsen wären ihre wachen grünen Augen besser zur Geltung gekommen. Wegen einer Hornhautverkrümmung aber schabten die Linsen an der Innenseite der Lider. Rachel hatte es lange versucht. Irgendwann war ihr der Schmerz auf die Nerven gegangen, und sie hatte sich mit Designerbrillen getröstet.

Rachel war Anwältin, spezialisiert auf Strafrecht. Eine Handvoll medial wirkungsvoller Mandanten hatten ihr in den letzten Jahren zu einem Wikipedia-Eintrag verholfen sowie zu einer florierenden Kanzlei mit zwanzig Mitarbeitern. Es gab noch einen zweiten Sozius in der Kanzlei Eisenberg & Partner – Rachels Ehemann Sascha Eisenberg, zweiundvierzig, spezialisiert auf Vertrags- und Gesellschaftsrecht. Vor einem Jahr hatte Sascha festgestellt, dass die Gemeinsamkeiten mit Rachel auf privater Ebene erschöpft waren. Das mochte damit zusammenhängen, dass Sascha etwa zur gleichen Zeit erstaunliche Gemeinsamkeiten mit der Rechtsreferendarin Paula Hollberg entdeckt hatte, die damals bei Eisenberg & Partner ihre Anwaltsstation absolvierte. Das Alter gehörte zwar nicht zu ihren Gemeinsamkeiten, dafür die Sehnsucht nach Ungebundenheit und Abenteuer und die Vorliebe für teure Hotels in exotischen Ländern. Letztgenannte Neigung auszuleben war bislang weder Sascha noch Paula vergönnt gewesen. Sascha hatte eine Frau mit Flugangst, Paula kein Geld auf dem Konto. Jetzt hatte sie einen reichen Freund und er eine reiselustige Geliebte.

Als sie hinter das Verhältnis kam, warf Rachel Paula unverzüglich aus der Kanzlei und Sascha aus dem gemeinsamen Haus in Nymphenburg. Sarah war bei ihrer Mutter geblieben. Zwar hatte sie Paula bis dahin cool gefunden, brachte aber genügend Feingefühl auf, um zu wissen, wann Paula nicht mehr cool war, sondern eine miese Schlampe.

Die berufliche Trennung war komplizierter als die private, denn die Kanzlei gehörte zur Hälfte Sascha. Man hätte die Firma auflösen und sich Mandanten und Angestellte aufteilen müssen. Neue Büroräume hätten beide gebraucht. Für die halbe Kanzlei waren die gemieteten Räume zu groß und zu teuer. Und so hatten Rachel und Sascha beschlossen, sich wie Erwachsene zu benehmen und die Kanzlei gemeinsam weiterzuführen. Das funktionierte wider Erwarten ganz gut, aber eine gewisse Spannung lag immer in der Luft.

 

Um zwanzig vor acht schleppte sich Sarah mit verhangenem Blick in die Küche, kletterte auf einen Barhocker und trank mit geschlossenen Augen einen inzwischen lauwarmen Milchkaffee. Rachel trug jetzt ein cremefarbenes Leinenkostüm mit Polobluse in sommerlichem Lachs. Die Pumps kommunizierten in gedecktem Rot mit der Bluse.

»Schätze, wir nehmen den BMW«, murmelte Sarah, nachdem sie die Kleidung ihrer Mutter taxiert hatte.

»So ist es. Ich hab heute keine Termine. Können wir fahren?«

Ein langgezogenes Stöhnen kam aus Sarahs erschöpftem Gesicht.

 

Rachel besaß zwei Autos, die beide auf die Anwaltskanzlei zugelassen waren. Einen roten 6er BMW Cabrio und einen Mercedes CLS in Tenoritgrau metallic. Der Mercedes war für Mandantenbesuche bestimmt. Er sollte einerseits vermitteln, dass die Kanzlei seriös und erfolgreich war und sich Dienstwagen für sechzigtausend Euro leisten konnte, andererseits aber nicht respektlos mit dem Geld ihrer Klienten umging (ein mittlerer Mercedes war nie respektlos). Der BMW war nicht so geeignet für Mandantenbesuche. Wer nach seinem Anwaltsgespräch durch ein vergittertes Fenster blickte und seine Verteidigerin vor dem Untersuchungsgefängnis in ein rotes BMW Cabrio steigen sah, würde unwillkürlich an die fünftausend Euro Vorschuss denken, die er von Freunden und Verwandten zusammengekratzt hatte. So was konnte zu Missstimmigkeiten führen. Für sonnige Tage ohne Außentermine aber war der BMW ideal.

 

Die junge Frau lehnte an der Gartenmauer auf der anderen Straßenseite. Sie saß in der Morgensonne auf einer Art Decke oder Schlafsack, rauchte und fütterte einen Hund. Ein retrievergroßer Mischling mit starkem Bernhardineranteil. Die Frau sah zu Rachel, als sie aus dem Haus kam. Rachel hatte den Eindruck, dass es sich um eine Obdachlose handelte, ein ungewohnter Anblick in Nymphenburg, einem Stadtteil, der von Einfamilienhäusern aus den zwanziger Jahren geprägt, sehr grün und selbst für Münchner Verhältnisse teuer war. Gewöhnlich hätte jemand wie die Frau mit dem Hund wohl eher den Hirschgarten aufgesucht, ein paar hundert Meter Luftlinie von hier. Da gab es ab dem Vormittag Alkohol, und auf den Biertischen blieben oft Essensreste zurück.

Rachel starrte etwas verkrampft auf das Rolltor, das quälend langsam nach oben fuhr. Sie hatte keine Lust auf Blickkontakte mit der Obdachlosen. Obwohl Rachel nicht hinsah, war sie sicher, dass die junge Frau sie beobachtete. Für den Gegenwert von Rachels Schuhen hätte das Mädchen vermutlich zwei Monate leben können – Drogen inklusive. Rachel kam sich mit einem Mal kostümiert vor. Schöne Kleidung macht nur in der richtigen Umgebung Spaß, und das zerlumpte Mädchen an der Gartenmauer schaffte es, dass Rachel sich schuldig fühlte. Sie stellte sich vor, wie im nächsten Moment ein Kamerateam um die Ecke käme. Hallo! Wir sind von der Sendung Kleidertausch. Wären Sie bereit, Ihre Kleider mit der jungen Dame dort zu tauschen?

Das Tor war offen. Rachel setzte sich in den BMW und überlegte, ob sie das Verdeck aufmachen sollte, entschied aber zu warten, bis sie außer Sichtweite der Obdachlosen war. Beim Hinausfahren sah sie im Rückspiegel, dass die junge Frau ihren Platz verlassen hatte. Nur der Schlafsack und ein Rucksack, der Rachel vorher nicht aufgefallen war, lagen noch vor der Gartenmauer. Als sie mit dem BMW auf der Straße stand, klopfte es an die Seitenscheibe. Rachel hätte gern Gas gegeben, aber sie musste auf Sarah warten. Genervt ließ sie die Scheibe nach unten fahren.

»Hallo«, sagte die junge Frau. Sie roch nach kaltem Schweiß, aber überraschenderweise nicht nach Alkohol. »Sind Sie die Anwältin?«

»Ich bin Anwältin, ja. Kann ich Ihnen helfen?«

Die junge Frau war groß und schlaksig und musste sich bücken, um ins Wagenfenster zu sehen. »Warum fahren Sie nicht offen? Ist doch Sonne.«

»Danke für den Hinweis. Später vielleicht.« Rachel sah sehnsüchtig zur Haustür. Aber Sarah ließ sich nicht blicken, was vollkommen normal war. Beim Rausgehen fielen ihr für gewöhnlich tausend Dinge ein, die sie noch aus ihrem Zimmer holen oder woanders im Haus erledigen musste. Rachel wandte den Blick der jungen Frau zu und lächelte sie an, nicht unfreundlich, aber sichtbar gezwungen.

»Ich brauch ’ne Anwältin. Ziemlich dringend sogar.«

»Der Staat bezahlt Ihnen einen Anwalt, wenn Sie sich keinen leisten können, wovon ich – ohne Ihnen zu nahetreten zu wollen – einfach mal ausgehe.«

»Klar.« Die junge Frau nickte, warf ihre Zigarette auf den Gehsteig und trat sie aus. »Aber sind die auch gut? Ich glaub, die fahren keine solchen Autos. Wollen Sie nicht doch das Verdeck …?«

»Im Augenblick nicht.« Das Verdeck war die letzte Barriere zwischen Rachel und der schlecht riechenden Frau. »Schauen Sie – diesen Wagen kann ich mir nicht leisten, weil ich Leute vertrete, die mit zehn Gramm Gras erwischt worden sind. Das sind große Fälle, und dafür bekomme ich Honorare, die vermutlich jenseits Ihrer Vorstellungskraft liegen. Dass wir uns nicht falsch verstehen – ich vertrete auch Leute wie Sie. Als Pflichtverteidigerin. Ich bekomme dafür praktisch kein Geld. Aber von diesen Fällen kann ich nur eine begrenzte Anzahl machen. Im Augenblick bin ich leider voll.«

»Es geht nicht um ein paar Gramm Dope. Es geht um eine … ziemlich krasse Geschichte. Ich könnte mir denken, dass Sie das interessiert.«

»Es tut mir leid. Wie gesagt …«

»Sie können sich’s doch wenigstens anhören.«

»Schauen Sie: Wenn Sie schwere Straftaten begangen haben, dann sollten Sie das ausschließlich mit Ihrem Anwalt bereden. Und der bin ich nicht, wie ich Ihnen gerade zu erklären versuche.« Sarah kam aus dem Haus geschlichen. »Komm, Schatz, wir sind spät dran. Du kannst auf der Fahrt schlafen.« Während Sarah sich in Zeitlupe anschnallte, entnahm Rachel dem Fach in der Mittelablage einen Zwanzig-Euro-Schein und drückte ihn der jungen Frau in die Hand. »Sie fahren jetzt am besten in die Innenstadt zum Justizpalast und fragen, wie Sie einen Pflichtverteidiger bekommen. Für den Rest gehen Sie frühstücken und kaufen ein Leckerli für den Kleinen da. Schönen Tag noch.« Sie gab Gas. An der nächsten Ecke öffnete sie das Verdeck.

»Wer war das denn?« Sarah schob blinzelnd eine Sonnenbrille auf ihre Sommersprossennase.

»Ein Junkie, der einen Anwalt braucht.« Auch Rachel tauschte ihre Brille gegen Sonnengläser und ließ sich den Sommerwind durchs Haar wehen.

2

Nachdem sie Sarah zur Schule gebracht hatte, begab sich Rachel in die Erzgießereistraße. Dort, zwei Steinwürfe vom Strafjustizzentrum in der Nymphenburger Straße, lag die »Bar Juve«, ein Café, in dem sich morgens zwischen acht und neun etliche Münchner Staatsanwälte und Verteidiger einfanden, um Kaffee zu trinken und Justizgossip auszutauschen. Gelegentlich mischten sich Richter unter die Gäste, um herauszufinden, ob Anklage und Verteidigung in diesem oder jenem Fall zu einem Deal bereit waren.

Emilio Scronti, der Besitzer der Bar, war fanatischer Anhänger des FC Bayern München, solange der nicht gegen Juventus Turin spielte. Auf die paragraphenfeste Klientel der Bar Juve war Scronti außerordentlich stolz und nahm es sogar hin, dass man sein Lokal im Volksmund »Bar Jura« nannte. Nicht tolerabel war es, Juve als »Dschuwe« auszusprechen. Jeder, dem das in Scrontis Hörweite passierte, wurde darüber belehrt, dass Juve wie Jura auszusprechen sei. Ein Anwalt, dem dieser Lapsus einmal im Zusammenhang mit Juventus Turin unterlaufen war, stand kurz vor dem Lokalverbot.

Die Aluminiumtische am Fenster waren für minder wichtige Strafverteidiger und Staatsanwälte. Näherte sich ein Gast dieser Gattung dem schwarz-marmornen Stehtisch, der im trüben Halblicht unmittelbar neben dem Tresen stand, erscholl ein »Scusi Signore!«, und Scronti wies den ahnungslosen Irrläufer höflich, aber mit erkennbarem Unverständnis darauf hin, dass er sich reserviertem Gebiet näherte und bitte mit einem Platz am Fenster vorliebnehmen möge.

Auf den erwähnten schwarz-marmornen Tisch hielt Rachel Eisenberg zu, die soeben durch die Tür gekommen war. Sie hatte eine lederne Aktentasche im Vintage-Look in der Hand. Vor ein paar Jahren noch hätte sie einen klobigen Anwaltskoffer mit sich geführt. Die Erfindung von Scanner und iPad hatten die Koffer obsolet gemacht.

»Signora Dottoressa sind zu früh«, sagte Scronti mit jenem Anflug von Vorwurf im Ton, mit dem er nahezu jeden Satz würzte. »Die anderen Herren kommen erst. Come al solito?«

»Ja bitte.« Rachel nahm einen Zeitungsstock mit der Süddeutschen von einem der Wandhaken, die hinter dem Marmortisch angebracht waren. Nicht dass die Zeitungen für die Belegschaft des Marmortisches reserviert waren. Das wäre doch etwas zu viel der Diskriminierung gewesen. Allerdings mussten sich die Aluminiumtischgäste an den Marmorleuten vorbeidrängen, um zu den Presseerzeugnissen zu gelangen. Diese psychologische Barriere genügte gewöhnlich, um auf das Vergnügen kostenloser Zeitungslektüre zu verzichten.

»Was gibt’s Neues?«, fragte Rachel und blätterte im Lokalteil herum. Die wichtigsten Nachrichten kannte sie schon aus dem Internet.

Scronti hatte sich an die Kaffeemaschine begeben. »Man hat gestern jemanden verhaftet. Die Herren waren sehr aufgeregt.« Scronti meinte die Polizeibeamten der Nachtschicht, die zwischen sieben und acht die Bar frequentierten und deren Cappuccino auch mal aufs Haus ging, wenn sie interessante Neuigkeiten hatten.

»Um welchen Fall geht’s?«

»Flaucher letzten Monat.« Scronti sagte noch mehr, aber das ging im Gezischel des Milchschäumers unter. Flaucher reichte Rachel. Eine Frau war nachts ermordet worden. Keine Vergewaltigung. Aber die Ermittlungsbehörden gingen von einem sexuellen Motiv aus. Rachels Quellen aus der Justiz hatten die Einzelheiten des Tathergangs leider für sich behalten. Man wollte keine Trittbrettfahrer animieren. Auch hatten die Profiler davon abgeraten, dem Täter ein öffentliches Forum zu verschaffen.

»Guten Morgen, Frau Eisenberg«, sagte Dr. Henrik Schwind, als er am Marmortisch Platz nahm. Auf Scrontis rhetorische Frage, ob sich Schwinds Wünsche im Rahmen des Üblichen bewegten, nickte der Oberstaatsanwalt und angelte sich ebenfalls eine Zeitung am Stock.

»Guten Morgen, Herr Schwind«, sagte Rachel, ohne den Kopf aus der Süddeutschen zu nehmen. Zwei Dinge gab es am Marmortisch zu beachten: Erstens ließ man den Doktortitel kollegialiter beiseite, wenn sich zwei Promovierte ansprachen. Nichtpromovierte hingegen hatten den Titel zu benutzen, wenn sie nicht als unhöflich, ungebildet oder beides gelten wollten. Zum anderen war es langjähriger Brauch, sich nicht beim Zeitunglesen unterbrechen zu lassen. Zu dieser frühen Stunde billigte man sich eine Schonfrist zu, um in den Tag zu kommen. Es war aber statthaft, beim Lesen zu reden.

»Gratuliere«, sagte Rachel beim Umblättern.

»Wozu?« Schwind war ins Feuilleton vertieft.

»Die Flauchergeschichte.«

»Die tun so, als würde München …«, Schwind deutete auf die Zeitung, »… in die Steinzeit zurückfallen, wenn sie keinen zweiten Konzertsaal bauen. Dabei ist der in der Philharmonie hervorragend. Sehr differenzierter Klang sogar. Aber so was muss man sich als Dirigent natürlich erarbeiten.« Schwind schüttelte den Kopf und ging zum Wirtschaftsteil über. »Ja, Flaucher. Wir haben ihn.«

»Wen?«

»Den mutmaßlichen Täter. Interesse?«

Scronti brachte zwei Cappuccini sowie ein Croissant für Schwind und drei Cantuccini für Rachel auf einem Extrateller. Rachel tunkte einen der Kekse in ihren Kaffee.

»Machen Sie es selber?«

»Ja.« Das war ungewöhnlich. Als Oberstaatsanwalt hatte Schwind eigentlich keine Zeit für das Alltagsgeschäft als Anklagevertreter. Seine administrativen Aufgaben lasteten ihn aus. Im Gegensatz zu seinen Kollegen gönnte Schwind sich aber ein oder zwei Mal im Jahr einen Mordfall, wenn er ihm interessant genug schien. Den Großteil der Arbeit würde allerdings einer seiner nachgeordneten Staatsanwälte erledigen.

»Es gibt noch keinen Verteidiger?«

»Ich glaube nicht.« Schwind biss die Spitze des Croissants ab. »Der Mann ist obdachlos.«

»Ist die Sache interessant?«

»Was meinen Sie mit interessant?«

Rachel hängte ihre Süddeutsche an den Haken zurück. »Medial. Unterhaltungswert, wenn Sie so wollen.«

»Na ja – wenn Sie Pech haben, kommen Sie in die Endphase des NSU-Prozesses. Da interessiert sich kein Mensch für unseren kleinen Mord. Wär viel Aufwand, für fast kein Geld.«

»Obdachloser … klingt doch schon mal ungewöhnlich. Obdachloser begeht Sexualmord … Was genau hat er gemacht?«

»Das kann ich Ihnen nicht sagen. Sie wissen, wie’s läuft.«

»Aber Sie könnten mir sagen, ob es … na, sagen wir, spektakulär war. Sie wissen, was ich meine. Die ganzen Umstände.«

Schwind lächelte sie croissantkauend an und rührte in seinem Cappuccino. »Meinetwegen.« Er kniff kurz die Augen zusammen, als erwäge er die einzelnen Aspekte im Schnelldurchlauf. Dann sagte er: »Ja, die Sache könnte durchaus interessant sein.«

»Sonst würden Sie es kaum selbst machen. Wie stehen die Chancen, dass er verurteilt wird?«

»Einen Freispruch werden Sie nicht kriegen. Die Beweislage ist klar wie ein Gletscherbach.«

»Mit anderen Worten, die Anklage steht auf tönernen Füßen.«

»Lesen Sie einfach die Akte. Aber ich würde mich beeilen. Bevor …«, Schwind sah zum Eingang. Etwas hatte seine Aufmerksamkeit erregt. »… Ihnen ein Kollege die Sache wegschnappt.«

Durch das Fenster sah man Dr. Matthias Geruda die Bar ansteuern, ebenso wie Rachel Strafverteidiger, ebenso wie sie in der ersten Liga. »So«, sagte Schwind. »Ich hab’s Ihnen gesagt. Machen Sie mit der Information, was Sie wollen.« Geruda kam jetzt durch die Tür. Halbglatze, Hornbrille, Marathonläuferfigur unter dem eng geschnittenen Armani-Anzug. Er hob den Kopf zum Gruß und lächelte, als er Rachel und Schwind erblickte. Die lächelten zurück. »Und wie ich schon sagte: Ich würde es mir schnell überlegen«, raunte Schwind, während sich Geruda den Weg zum Marmortisch bahnte.

»Guten Morgen zusammen«, sagte der mit der Frische des ausgeruhten Machers. »Was gibt’s Neues?«

»Nichts«, sagte Rachel. »Ich muss Sie leider schon wieder verlassen und wünsche gute Unterhaltung.« Sie winkte kurz Scronti zu, der ihr am Monatsende immer eine Gesamtrechnung schickte. »Gletscherbäche sind übrigens ziemlich trüb«, gab sie Schwind noch mit, als sie sich auf den Weg machte.

3

Morgendliche Betriebsamkeit in der Kanzlei Eisenberg & Partner. Hinter dem Empfangstresen telefonierte eine junge Frau namens Laura Stock und strahlte dabei Freundlichkeit und Herzenswärme aus. Irgendwo in einem der offenen Räume, die an den Eingangsbereich grenzten, klingelte ein Telefon, im Kopierraum zog ein Scanner die Blätter einer Verfahrensakte summend ein und spuckte sie wieder aus. Stimmen und das Geräusch eines Kaffeeautomaten drangen aus der Teeküche.

Laura Stock lächelte unentwegt beim Telefonieren: »Aber natürlich, ich sag allen Bescheid, dass du später kommst … Nein, ich glaube, du hast heute Vormittag keine Termine. Du, ich frag mal …« Laura drückte das Telefon an ihren Busen und blickte mit langem Hals schräg über den Empfangstresen. »Gitti!!«

Eine Frau mit randloser Brille und weißer Bluse steckte den Kopf aus der Teeküchentür. »Was denn?«

»Die Bluse ist ja echt super.« Laura strahlte. »Sascha ist am Telefon. Er kommt heute später.«

»War’s das?«

»Er will wissen, ob er heute Termine hat.«

»Steht in deinem Computer unter Termine. Und da wiederum unter Sascha.«

»Super! Danke!«

»Diese pfiffige Neuerung wurde übrigens vor drei Jahren eingeführt.«

Der letzte Satz erreichte Laura nicht mehr, sie war in ihren Bildschirm vertieft.

Rachel betrat die Kanzlei, als Laura in den Hörer sagte, Sascha habe erst nachmittags einen Termin. Sie beeilte sich jetzt, das Telefonat zu beenden. »Morgen, Laura.« In der Kanzlei duzten sich ausnahmslos alle. Das hatte nichts mit alternativer Basisdemokratie zu tun, sondern war amerikanischen Anwaltsserien entlehnt. Rachel trat an den Tresen und deutete auf das Telefon. »Lass mich raten – Sascha kommt später.«

»Ja.« Laura strahlte Rachel an. »Er hat aber keine Termine.«

»Wie schön.« Aus der Teeküche kamen vielfache Morgengrüße. Rachel grüßte mit einer sparsamen Handbewegung zurück und wandte sich wieder Laura zu. »Cappuccino, ein Stück Zucker, ein Schuss Karamellsirup.« Laura fingerte hektisch nach einem Zettel, um sich die Bestellung aufzuschreiben. »Lass es. Bring einfach alles, was du in der Küche findest.« Rachel verdrehte die Augen und machte sich auf den Weg in ihr Büro. Sascha hatte sie überredet, Laura einzustellen, ein Moment der Schwäche, den Rachel inzwischen hundertfach bereut hatte. Unter den Mitarbeitern der Kanzlei liefen schon länger Wetten, wann Rachel sie feuern würde.

»Soll ich für die Dame auch was bringen?«, rief Lauras piepsige Stimme Rachel hinterher. Rachel stoppte, drehte auf dem Absatz um und sah Laura irritiert an.

»Ich hab sie schon mal in dein Büro gebeten.«

»Wen?«

»Die Frau, mit der du einen Termin hast.«

»Steht in meinem Kalender ein Termin?«

»Ich seh mal nach.« Laura drehte ihren Bürosessel zum Computer.

»Das war eine rhetorische Frage! Ich weiß, dass ich keinen Termin habe. Warum sitzt eine Frau da drin?« Sie deutete auf die geschlossene Zimmertür.

»Ach – du hast gar keinen Termin? Sie hat aber gesagt …«

Rachel wartete das Ende des Satzes nicht ab und riss die Tür zu ihrem Büro auf.

 

Rachels Büro bestand in der Hauptsache aus einem gewaltigen Schreibtisch, dessen Tischplatte einen gehörigen Abstand zwischen Rachel und ihrem Gegenüber herstellte. Der Schreibtisch war von einem italienischen Designer entworfen worden, Lack, Ferrari-Rot. Der Rest des Raumes war kühles Weiß und Grau, was das rote Monster umso gewaltiger zur Geltung brachte. Auf dem Schreibtisch verloren sich ein Laptop, eine Designerlampe, ein Füllfederhalter und ein Telefon, sonst nichts, nur leere Fläche in spiegelndem Rot. Die junge Frau saß etwas verdruckst mit hochgezogenen Schultern auf einem Besucherstuhl. Auch der Hund zu ihren Füßen schien sich nicht wohl zu fühlen.

»Ziemlich dreist«, sagte Rachel. »Hat man Ihnen keinen Pflichtverteidiger zugestanden?«

»Ich war nicht im Justizpalast.«

»Dann krieg ich zwanzig Euro.«

Die junge Frau kramte einen Geldschein und mehrere Münzen aus der Hosentasche. »Ich hab zwei Muffins gekauft. Für ihn und mich.« Der Hund sah zu ihr auf und entließ ein pfeifendes Knurren. »Und … was zu trinken.« Die junge Frau betrachtete etwas wehmütig das Geld in ihrer Hand und bewegte die Hand in Richtung Schreibtisch.

»Wagen Sie es nicht, das Geld auf den Schreibtisch zu legen.«

Die junge Frau hielt Rachel das Geld ratlos hin. »Wollen Sie das Geld jetzt wiederhaben oder nicht?«

»Nicht, nachdem es in Ihrer Hose war.«

»Super. Danke.« Das Geld wanderte in die Hose zurück.

»Kaffee?«

Die junge Frau sah Rachel konsterniert an. »Echt jetzt?«

»Mandanten kriegen Kaffee. Das wird mich nicht davon abhalten, Sie gleich rauszuschmeißen. Aber wir achten hier auf Höflichkeit.« Rachel orderte per Telefon einen zusätzlichen Cappuccino und wandte sich wieder der jungen Frau zu. »Wie heißen Sie?«

»Nicole Böhm.«

Rachel machte sich eine Notiz im Laptop und überlegte, ob Frau Böhm ihr irgendetwas Interessantes mitzuteilen hatte. Die Beharrlichkeit des Mädchens gefiel Rachel. Mit Leuten, die aus solchem Holz geschnitzt waren, konnte sie meist etwas anfangen. Allerdings würde das nicht reichen, um ein schlechtbezahltes Mandat zu akzeptieren. »Wie alt sind Sie?«

Nicole Böhm zögerte. »Warum ist das wichtig?«

»Ich muss wissen, ob Sie volljährig sind.«

»Ich bin neunzehn.«

»Lügen tun Sie wie eine Achtjährige …«

»Siebzehn. Ist doch egal.«

»Keineswegs. In dem Fall müssten Ihre Erziehungsberechtigten zustimmen, wenn ich Sie vertreten soll.«

»Sie sollen mich nicht vertreten.«

»Sondern?«

Es klopfte, und Laura kam mit dem Kaffee herein. Nicole Böhm schüttete drei Tütchen Zucker in ihren Cappuccino, rührte um und reichte den Löffel nach unten, wo der Hund sich mit dem am Löffel verbliebenen Milchschaum beschäftigte.

»Wie heißt er denn?«, fragte Rachel, um sich von ihrem Ekel abzulenken.

»Rover.«

»Wie passend.« Es sah nicht so aus, als würde Rover den Löffel je wieder hergeben. »Ich soll Sie also nicht vertreten?«

Nicole schüttelte den Kopf.

»Was soll ich dann tun?«

»Ein Freund von mir ist verhaftet worden.«

»Wann war das?«

»Gestern Nacht.«

Eine Ahnung kam in Rachel auf. »Was wird ihm vorgeworfen?«

»Er soll eine Frau umgebracht haben. Er war’s aber nicht. Die wollen ihm das anhängen.«

Rachel legte bedächtig ihren Löffel auf die Untertasse und musterte die junge Frau auf der anderen Seite des lackroten Tisches. Sie war sehr dünn, hatte einige Metallstecker in Lippe, Nase und Backe, Handschuhe mit abgeschnittenen Fingerspitzen und eine punkige Frisur, sofern man es Frisur nennen konnte. Die Fingernägel sahen grauenhaft aus, und die Haut an Wangen und Stirn war unrein, was die ansonsten hübschen Gesichtszüge beeinträchtigte. »Die Geschichte am Flaucher?«

»Ja. Woher wissen Sie das?«

»Das ist mein Job.«

»Sehen Sie! Das hab ich gemeint. Sie sind so was von professionell!« Nicole freute sich offenkundig, dass sie an der richtigen Adresse war. »Verteidigen Sie ihn?«

»Lassen Sie mich einen Augenblick überlegen. In der Zwischenzeit könnten Sie Rover den Löffel wegnehmen und draußen in den Mülleimer werfen.«

»Den kann man abspülen.«

»Ich sagte Mülleimer.« Sie deutete mit einem Finger dezent in Richtung Empfangslobby. Während Nicole Böhm und Rover nach draußen gingen, um den von Rover eingespeichelten Löffel zu entsorgen, dachte Rachel nach. Als sie das Café Juve verlassen hatte, waren ihr Zweifel gekommen, ob es lohnte, sich um das Mandat zu bemühen. Vor allem, wenn es ohnehin nur noch um das Strafmaß ging. Andererseits – ein Obdachloser hatte eine Frau ermordet? Das passierte relativ selten. Was steckte dahinter? Geld war mit dem Mandat natürlich nicht zu verdienen – der Staat bezahlte das Honorar nach Gebührenordnung. Also praktisch nichts. Aber man würde vielleicht Presse bekommen.

Nicole und der Hund kamen ins Büro zurück. In Rovers Miene die tiefe Enttäuschung eines Kindes, dem man sein Spielzeug weggenommen hatte. Das Mädchen nahm wieder Platz, Rover legte sich unzufrieden grunzend unter ihren Stuhl.

»Und?«

»Ich denke noch nach.«

Nicole schlug die Beine übereinander, zog die Schultern hoch und wartete.

Rachel ließ den Füller zwischen den Fingern kreisen.

»Wie heißt Ihr Bekannter?«, sagte sie schließlich.

»Heiko.« Nicole richtete sich auf, Hoffnung im Blick. »Seinen Nachnamen weiß ich nicht. Der Polizist hat, glaube ich, Gerlach gesagt. Als sie ihn verhaftet haben.«

»Ist er in Ihrem Alter?«

»Nein. Älter. Vierzig? Fünfzig? Ziemlich alt jedenfalls.«

Rachel nickte erstaunt. »Woher kennen Sie sich?«

»Von der Straße. Heiko ist auch obdachlos.«

Heiko … Rachels erste große Liebe hieß so. Heiko Opitz, damals jugendlicher Physikprofessor, wirre Locken, groß gewachsen. Was er wohl machte? Rachel hatte ihn aus den Augen verloren. Sie beschloss, ihn bei Facebook zu suchen. »Wann und wo ist Herr Gerlach verhaftet worden?«

»Gestern Nachmittag, hier in München.«

»Was genau wirft man ihm vor?«

»Sie sagen, er hat eine Frau umgebracht. Aber das wissen Sie ja anscheinend.«

»Woher wissen Sie es? Hat die Polizei mit Ihnen geredet?«

»Nein. Ich bin abgehauen. Die fragen doch sofort, wie alt ich bin. Heiko hat mich aus dem Gefängnis angerufen.«

»Das heißt, Sie haben ein Telefon?«

Nicole griff in die Hosentasche und legte ein schlichtes Handy älterer Bauart auf den rotlackierten Schreibtisch. »Es gehört Heiko. Er hat es mir mal gegeben. Für alle Fälle.«

»Wieso? Hat er mit seiner Verhaftung gerechnet?«

Nicole zuckte mit den Schultern.

Rachel sah aus dem Fenster auf das Laub der Alleebäume in der Vormittagssonne. Es würde ein warmer Frühlingstag werden.

»Heiko kann es nicht gewesen sein. An dem Abend, als das passiert ist …«

Rachel würgte Nicole mit einer Handbewegung ab. »Im Augenblick reicht mir das.«

»Interessiert Sie nicht, was ich zu sagen habe?«

»Erst, wenn ich die Ermittlungsakte gelesen habe.«

»Das heißt, Sie machen es?«

Rachel rang mit sich. Es würde ein undankbarer Fall werden, bei dem die Staatsanwaltschaft alle Trümpfe in der Hand hielt – wenn sie die Zeichen richtig deutete. Aber das Unvernünftige hatte ja seinen eigenen Reiz. »Machen Sie sich nicht zu große Hoffnungen«, sagte Rachel und wandte sich ihrem Computer zu.

»Die haben nichts gegen ihn in der Hand. Für die ist er ein Mörder, weil er auf der Straße lebt.«

»Die Polizei ist nur halb so dumm, wie man landläufig glaubt. Die haben was in der Hand.«

 

Schwind saß im Maximilianeum bei einer Anhörung des Innenausschusses und war froh, als ihm Rachels Anruf Gelegenheit bot, die Sitzung für ein paar Minuten zu verlassen (»Der Flauchermord. Tut mir leid, aber da geht’s gerade rund.« Nicken des Vorsitzenden, verständnisvoll). Rachel wollte nicht völlig unvorbereitet in die JVA Stadelheim fahren, und Frau Wittmann, die zuständige Staatsanwältin, würde ihr erst dann Informationen geben, wenn Gerlach eine Vollmacht unterschrieben hatte. Blieb nur der kurze Dienstweg über Frau Wittmanns Vorgesetzten. Schwind freute sich zu hören, dass man »zusammen an der Sache arbeiten werde«, wie er das etwas euphemistisch ausdrückte, und verriet Rachel unter der Hand, dass als Beweismittel Videoaufnahmen, Zeugenaussagen und eine DNA-Spur zur Verfügung standen. Seiner Einschätzung nach war bestenfalls ein Urteil wegen Totschlags drin. So bizarr, wie der Täter die Leiche zugerichtet habe, sei aber auch das eine eher theoretische Möglichkeit. Andererseits – eine echte Herausforderung für die beste Verteidigerin der Stadt. Rachel nahm das Kompliment dankend entgegen, bemerkte aber auch eine Spur von Herablassung darin. Schwind schien sich seiner Sache absolut sicher. Was der Mörder denn mit der Leiche gemacht habe, wollte Rachel wissen. Der Oberstaatsanwalt erbot sich, ein Foto zu schicken, wenn Rachel versprach, es vertraulich zu behandeln.

4

Heiko Gerlachs Brauen waren schwarz und dicht mit einzelnen grauen Haaren, die braunen Augen lagen wach, aber ruhig in tiefen Höhlen. Graumelierte Haare wucherten ungestüm über einer eckigen Stirn und bedeckten an manchen Stellen den Hemdkragen.

Ein Meter fünfundneunzig. Er musste sich bücken, als ihn ein Wachebeamter hereinführte. Jede von Gerlachs Händen war so groß, dass er sein Gesicht damit hätte bedecken können, die Nägel sauber. Der Gefangene stakste zum Tisch, neben den Rachel ihr Köfferchen gestellt hatte. Unter dem Anstaltshemd, das er offenbar in Ermangelung eigener sauberer Kleidung bekommen hatte, zeichnete sich ein knochiger Oberkörper ab, breite, leicht hochgezogene Schultern, kaum Fett.

Rachel wich die Farbe aus dem Gesicht, als er durch die Tür trat. In ihrer Erinnerung waren die Haare kürzer und dunkler. Ein, zwei Sekunden schwankte sie, hielt es für einen Spuk, den ihr Gehirn sich ausgedacht hatte, eine zufällige Ähnlichkeit, frappierend, ja. Aber es war unmöglich. Ihr Mandant war ein Obdachloser namens Heiko Gerlach. Nicht Professor Heiko Opitz.

Er zog den Stuhl zurecht, deutete ein Lächeln an und setzte sich. Bedächtig legte er die Unterarme auf die Tischplatte und faltete die Hände. »Rachel«, sagte Gerlach. »Schön, dass du kommst.«

Sie kannte den Blick. Zwei Jahre hatte sie mit dem Mann, der vor ihr saß, Tisch und Bett geteilt.

»Ich bin anscheinend überraschter als du«, sagte Rachel, nachdem sie sich wieder gefangen hatte. »Gerlach?«

»Der Name meiner Frau. Wir sind schon länger getrennt. Der Name ist das Einzige, was mir von ihr geblieben ist.«

Sie sahen sich eine Weile an, als müssten sie sich neu justieren, die Veränderungen des anderen seit der letzten Begegnung verarbeiten.

»Siehst blendend aus.« Gerlach strahlte sie an. »Hat dir gutgetan, mich nicht zu heiraten.«

»Ja, hab’s nie bereut.«

Gerlach quittierte die Bemerkung mit einem kurzen Lachen, nicht bitter. Ein Lachen wie über eine Dummheit, die so lange her ist, dass man sie von der heiteren Seite sehen kann.

Gerlachs Lachen verebbte und wich einem müden Blick, in sich gekehrt und leer. Der Blick war Rachel fremd und vertraut zugleich. Heiko Gerlach war auf eine gewisse Art noch der Mensch, den sie kannte, aber in den letzten sechzehn Jahren hatte sich etwas verändert.

»Sie sagten, du lebst auf der Straße?«

»Ja.« Gerlach drehte den Kopf ein wenig zur Seite, als wollte er ihrem Blick entgehen. »Seltsam, nicht?«

»Was um alles in der Welt ist passiert? Es kann doch nicht sein, … dass du unter Brücken lebst.«