Baroness Orczy
Die Frau des Lords
Ein neues Abenteuer von Scarlet Pimpernel
Aus dem Englischen von Herta Haas
Kiepenheuer & Witsch GmbH & Co. KG
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Emmuska Baroness Orczy (1865–1947) veröffentlichte zahlreiche historische Romane und Erzählungen.
Nach dem Welterfolg ihres Romans »Scarlet Pimpernel« schrieb Baroness Orczy noch andere spannende Geschichten aus der Welt ihres Helden. »Die Frau des Lords« ist wieder ein populär-historischer Roman voll raffinierter Intrigen über die waghalsigen Abenteuer Scarlet Pimpernels und die Liebe seines Freundes Lord Tony zu der schönen Französin Yvonne.
Dieses E-Book ist der unveränderte digitale Reprint einer älteren Ausgabe.
Erschienen bei KiWi Bibliothek
© 2018 Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln
Covergestaltung: Rudolf Linn, Köln
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
Impressum der Reprint Vorlage
ISBN (eBook) 978-3-462-41190-4
Für Dora Countess of Chesterfield
Als Zeichen der Freundschaft und Liebe
»Tyrann! Tyrann! Tyrann!«
Es war Pierre, der das sagte. Seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, aber seine Züge drückten eine so wilde Leidenschaft aus, die Finger seiner Hand, die sich langsam und krampfhaft ballte, schienen den Hals einer zuckenden Schlange zusammenzudrücken, in seinen gemurmelten Worten lag ein solcher Haß, eine solche Kraft, eine so überwältigende Entschlossenheit, daß sich unheilverkündende Stille auf die Dorfburschen und Männer senkte, die mit ihm in dem niedrigen, engen Raum des Gasthofs Zu den drei Tugenden zusammensaßen.
Sogar der Mann im zerlumpten Rock und den abgetragenen Hosen, der auf dem Mitteltisch saß und der ganzen Gesellschaft etwas über die Menschenrechte erzählt hatte, unterbrach seine Rede und blickte auf Pierre hinunter – fast erschrocken über diese wilde Flamme leidenschaftlichen Hasses, die seine eigenen Worte mitangefacht hatten.
Aber das Schweigen hatte nur ein paar Sekunden gedauert; schon war Pierre aufgesprungen, und ein Schrei, wie der Schrei eines Stiers im Schlachthaus, kam aus seiner Kehle. »Im Namen Gottes!« brüllte er, »wir wollen doch endlich aufhören, solchen Unsinn zu reden. Haben wir vielleicht nicht genug geplant und geredet, um unser schwächliches Gewissen zu beruhigen? Jetzt ist es an der Zeit loszuschlagen, loszuschlagen gegen diese verfluchten Aristokraten, die uns zu dem gemacht haben, was wir sind – unwissende, elende, unterdrückte und dumme Tölpel, die sich die Finger wundarbeiten, die schuften, bis sie zusammenbrechen, nur damit jene in Vergnügungen und Luxus aller Art schwelgen können. Schlagt zu, sag’ ich«, wiederholte er, und seine Brust hob und senkte sich beim Atmen mit einem zischenden Geräusch. »Schlagt zu! wie die Männer und Frauen an jenem großen Tag in Paris zugeschlagen haben. Die Bastille war das Symbol der Tyrannei, und sie kämpften dagegen, als sei sie der Kopf eines Tyrannen – und der Tyrann wand und duckte und krümmte sich und gab nach – die Volkswut hatte ihn eingeschüchtert. Das war in Paris! Und genauso muß es hier in Nantes kommen! Unsere Bastille ist das Schloß des Herzogs von Kernogan! Noch heute nacht wollen wir es stürmen, und wenn der arrogante Aristokrat Widerstand leistet, demolieren wir sein ganzes Haus. Der Augenblick, der Tag und die Dunkelheit sind günstig für uns: was wir ausgemacht haben, gilt. Die Nachbarn sind bereit. Also – schlagt los, sag’ ich euch.«
Und er ließ die harte Faust auf den Tisch sausen, daß Becher und Flaschen nur so klirrten. Seine Begeisterung hatte all seine Zuhörer angesteckt; sein Haß und sein Rachedurst hatten in fünf Minuten mehr bewirkt als alle Tiraden der Agitatoren, die aus Paris kamen, um die schwerfälligen Gehirne der Dorfburschen mit revolutionären Ideen zu füllen.
»Wer soll das Zeichen geben?« fragte einer der Älteren ruhig. »Ich!« erwiderte Pierre vergnügt.
Er schlenderte zur Tür, und sämtliche Männer sprangen auf, bereit, ihm zu folgen, einzig und allein von der Macht der überwältigenden Leidenschaft eines Mannes in dieses tollkühne Unternehmen hineingezogen. Wie Schafe folgten sie Pierre – Schafe, die gerade berauscht sind –, wie wütend gewordene Schafe – wirklich ein seltsamer Anblick – und dennoch ein Anblick, den der Mann im zerlumpten Rock, der in letzter Zeit so viele Reden gehalten hatte, mit großem Interesse verfolgte und über den er sehr bald Monsieur de Mirabeau, dem Verteidiger des Volkes, in allen Einzelheiten berichtete.
»Und das alles kam nur daher, daß zwei Tauben eingegangen waren«, sagte er.
Aber der Tod der Tauben war nichts weiter als der Funken, der den Brand all dieser stürmischen Leidenschaften entfachte. Schon seit einem halben Jahrhundert schwelten sie, und seit zehn Jahren hätten sie jederzeit in Flammen ausbrechen können.
Antoine Melun, der Stellmacher, der Pierres Schwester Louise hätte heiraten sollen, hatte in den Wäldern des Herzogs von Kernogan zwei Tauben gefangen. Er hatte es getan, um seine Rechte als Mensch zu beweisen – die Tauben selbst wollte er nicht haben. Wenn er auch arm war – ärmer als Hunderte von Bauern in der Umgebung war er nicht: aber er bezahlte so viele Abgaben und Steuern an den Steuereinnehmer, daß ihm von seinem jämmerlichen Stückchen Land auch nicht der geringste Gewinn übrig blieb, während der Herzog von Kernogan mit keinem Heller zu den Staatskosten beitrug, und zum Leben mußte Antoine sich mit den Resten von Roggen und Weizen begnügen, die übrigblieben, nachdem die Tauben des Herzogs sich vollgefressen hatten.
Antoine Melun wollte die Tauben, die er gefangen hatte, nicht essen, aber er wollte den Herzog von Kernogan wissen lassen, es hätte niemals in der Absicht Gottes und der Natur gelegen, daß alle Tiere und Vögel des Waldes nur einem einzigen gehören sollten und keinem anderen. Deshalb fing er die zwei Tauben und tötete sie, aber der Oberverwalter des Herzogs erwischte ihn, als er die Tauben nach Hause brachte. Daraufhin wurde Antoine als Wilddieb verhaftet: unter dem Vorsitz des Herzogs von Kernogan wurde ihm in Nantes der Prozeß gemacht, und vor zehn Minuten, gerade als der Mann im zerlumpten Rock einer Anzahl Bauernburschen in der Gaststube der Herberge Zu den drei Tugenden seinen Vortrag über die Menschen- und Bürgerrechte hielt, überbrachte jemand die Nachricht, daß Antoine Melun soeben zum Tode verurteilt worden war und am nächsten Tag gehängt werden sollte.
Das war der Funken, der Pierre Adets Haß auf die Aristokraten zu einem regelrechten Feuer entfacht hatte: die Nachricht vom Schicksal Meluns war das Blöken, auf das hin all diese menschlichen Schafe sich um ihren Anführer scharten. Denn es hatte sich ganz von selbst ergeben, daß Pierre ihr Anführer wurde, weil sein Haß auf den Herzog von Kernogan wirklicher und stärker war als der ihre. Pierre war gebildeter als sie. Sein Vater, der Müller Jean Adet, hatte ihn nach Nantes in die Schule geschickt, und wenn er nach Hause kam, nahm sich der Pfarrer von Vertou seiner an und brachte ihm alles an Philosophie und klassischer Literatur bei, was er selbst wußte, wenn das auch nicht gerade viel war. Später las Pierre Jean-Jacques Rousseaus Schriften, und es dauerte nicht lange, da kannte er den Contrat Social auswendig. Außerdem hatte er die Artikel in Marats Zeitung L’ami du Peuple gelesen, und genau wie dem Stellmacher Antoine Melun hatte es ihm nicht in den Kopf gewollt, daß es der Wille Gottes oder der Natur sei, wenn der eine hungert, während sich der andere mit allen guten Dingen dieser Welt vollstopft.
Aber darüber sprach er nicht – weder mit seinem Vater noch mit seiner Schwester und auch nicht mit dem Herrn Pfarrer, sondern er grübelte darüber nach, und als der Brotpreis auf vier Sous kletterte, fluchte er leise auf den Herzog von Kernogan, und als Hungersnotpreise in der ganzen Gegend an der Tagesordnung waren, wurden aus diesen Flüchen offene Drohungen; und als die Menschen in Vertou vom Hunger geplagt wurden, war aus Pierres leidenschaftlicher Wut auf den Herzog von Kernogan schon ein fanatischer Haß auf die gesamte französische Aristokratie geworden.
Aber noch immer sagte er nichts zu seinem Vater, verlor kein Wort darüber bei seiner Mutter und seiner Schwester. Sein Vater jedoch wußte Bescheid. Der alte Jean betrachtete die Sturmwolken, die sich auf Pierres gesenkter Stirn zusammenballten; er hörte die geflüsterten Verwünschungen, die sich Pierres Lippen entrangen, wenn er für den verhaßten Lehnsherrn arbeitete. Aber Jean war weise und wußte, wie nutzlos es ist zu versuchen, den Sturz eines Wasserfalls mit schwacher Hand aufzuhalten. Er wußte, wie wenig die klugen Worte eines alten Mannes geeignet sind, den aufrührerischen Geist der Jungen zu unterdrücken.
Jean beobachtete. Und Abend für Abend, wenn die Landarbeit getan war, saß Pierre in der kleinen, niedrigen Stube der Herberge mit den anderen Burschen aus dem Dorf zusammen und redete und redete; redete über das Unrecht, über die Arroganz der Aristokraten, die Sünden des Herzogs und seiner Familie, das schlimme Verhalten des Königs und die Unmoral der Königin. Und Männer in zerlumpten Röcken und abgetragenen Hosen kamen aus Nantes, ja selbst aus Paris, um vor diesen Bauernburschen Reden zu halten und ihnen noch mehr von den zahllosen Untaten zu erzählen, die dem Volk von den Aristokraten zugefügt wurden; und sie setzten ihnen Ideen in den Kopf, wie man sich ein für allemal an diesen Männern und Frauen rächen müsse, die vom Schweiß der Armen dick und fett wurden und ihren Luxus mit dem Hunger und den Mühen der Bauern bezahlten.
Pierre saugte diese Reden mit allen Poren auf: sie waren Speise und Trank für ihn. Sein Haß und seine Leidenschaften labten sich an diesen Ereignissen, bis sein ganzes Wesen von einer an Wahnsinn grenzenden Gier nach Vergeltung, nach Rache und nach der Wollust des Triumphes über jene verzehrt war, die man ihn zu fürchten gelehrt hatte.
Und in der niedrigen, engen Stube der Herberge steckten die Dorfburschen in geheimer Versammlung die Köpfe zusammen, und die Tiraden und das Gebrüll, das noch vor kurzem zu hören war, wurde zum Flüstern und zu leisem Gemurmel hinter verriegelten Türen und geschlossenen Fensterläden. Wenn Männer sich auf der Dorfstraße begegneten, grüßten sie sich geheimnisvoll, und wenn sie arbeiteten, verständigten sie sich in einer rätselhaften Zeichensprache. Mitten in der Nacht erschienen und verschwanden Fremde in den Nachbardörfern. Die Aufseher des Herzogs sahen nichts, hörten nichts, ahnten nichts. Der Pfarrer sah eine ganze Menge, und Jean Adet ahnte allerhand, aber sie schwiegen, weil reden keinen Sinn gehabt hätte.
Dann kam die Katastrophe.
Pierre stieß die Haustür der Herberge Zu den drei Tugenden auf und trat ins Freie. Ein Windstoß blies ihm ins Gesicht. Nach zeitgenössischen Berichten war es eine pechschwarze Nacht: vor ihm lag die Stadt – ihre Lichter flackerten im Sturm: zur Linken schlängelte sich das bräunlich-gelbe Band des Flusses in ungestümem Lauf dem Meere zu, und das Dröhnen des Wassers, das durch die Schneeschmelze, die kürzlich eingesetzt hatte, gestiegen war, klang wie das unheimliche Echo unsichtbarer ferner Kanonen.
Ohne zu zögern schritt Pierre voran. Schweigend folgte ihm seine kleine Truppe. Sie wurden etwas nüchterner, als sie ins Freie traten und die Dünste von Apfelwein und erhitzten, schwitzenden Menschenleibern ihre Blicke nicht länger umwölkten, ihre Hirne nicht mehr entflammten.
Sie wußten, wohin Pierre ging. Alles war geplant worden – den ganzen Sommer hindurch, in der stickigen Stube der Herberge, hinter verriegelten Türen und verschlossenen Fensterläden; nichts blieb ihnen mehr zu tun, als Pierre zu folgen, den sie zu ihrem Anführer erkoren hatten. Sie liefen hinter ihm her, die Hände tief in den Taschen ihrer zerlumpten Hosen, und senkten die Köpfe wegen des wütenden Sturmes. Pierre ging geradewegs auf die Mühle zu – sein eigenes Heim –, wo sein Vater und seine Schwester Louise wohnten und Louise sich die Augen aus dem Kopf weinte, da ihr Schatz, Antoine Melun, zum Tode verurteilt worden war, weil er zwei Tauben getötet hatte.
Hinter der Mühle lagen das Wohnhaus und ein kleines Bauerngut, denn Jean Adet besaß ein Stückchen Land und wäre recht gut ausgekommen, hätten die Steuern nicht alles aufgefressen, was er durch den Verkauf von Roggen und Heu einnahm. An dieser Stelle stieg das Land steil an und bildete einen kleinen Hügel, der das flache Tal der Loire beherrschte und von dem aus man einen guten Blick über die entfernteren Dörfer hatte.
Pierre lief an der Mühle entlang, und ohne sich umzusehen, ob die anderen ihm folgten, ging er geradewegs auf einen schmalen Pfad zu, der zwischen zwei Reihen hoher Pappeln verlief und zum Gipfel des Hügelchens führte; rings herum standen die halbverfallenen Scheunen, die zum Bauernhof seines Vaters gehörten.
Der Sturm peitschte die hohen geraden Stämme der Pappeln, bis sie sich fast im rechten Winkel bogen, und jedes kahle Zweiglein flüsterte und seufzte, als litte es Schmerzen. Pierre ging voraus, und schweigend folgten ihm die anderen. Sie waren halberfroren unter ihrer dürftigen Kleidung, aber eisern entschlossen folgten sie ihm mit zusammengebissenen Zähnen und haß- und wuterfüllten Herzen.
Sie hatten den Gipfel des Hügels erreicht. Es war völlig dunkel, und wenn die Männer stehenblieben, fielen sie übereinander bei dem Versuch, auf dem durchweichten Boden Halt zu finden. Aber Pierre schien die Augen einer Katze zu haben. Er blieb nur eine Sekunde stehen, um sich zu orientieren – dann begann er, ohne ein Wort zu verlieren, mit seiner Arbeit. Eine große Scheune und eine Gruppe kleiner, runder Strohmieten ragten wie feste Körper aus der Dunkelheit heraus – Silhouetten vor dem schwarzen, sturmgepeitschten Himmel. Pierre ging auf die Scheune zu; diejenigen seiner Kameraden, die vorne in der kleinen Menge standen, sahen, wie er in einer jener festen, dunklen Formen verschwand, die in der Nacht so gespensterhaft aussahen. Gleich darauf sahen die, die hinblickten und zufällig der Scheune gegenüberstanden, daß Funken von einem Stück Zunder in alle Richtungen flogen: und im nächsten Augenblick konnten sie Pierre deutlich erkennen. Er stand mitten in der Scheune und versuchte, mit dem Zunder eine primitive Fackel anzuzünden: gleich darauf fing das Harz Feuer, und Pierre hielt die Fackel nach unten, damit die Flammen sich bis zur Spitze durchfressen konnten. Das flackernde Licht warf einen unheimlichen Schein und tiefe, groteske Schatten auf Gesicht und Gestalt des jungen Mannes. Das dünne, unordentliche Haar fiel ihm über die Augen; Mund und Kiefer, auf die die Fackel von unten ihr Licht warf, erschienen unnatürlich groß und ließen die leuchtend weißen Zähne sehen – scharf wie die eines Raubtiers. Sein Hemd war offen, und die Ärmel seines Rocks waren bis zum Ellenbogen aufgekrempelt. Er schien weder die Kälte, die von draußen eindrang, noch die sengende Glut der brennenden Fackel zu spüren, die er in der Hand hielt. Aber er arbeitete ruhig und entschlossen, ohne Eile, ohne fieberhafte Bewegungen; eine wilde Entschlossenheit bezwang seine Erregung.
Schließlich war die Arbeit getan. Die Männer, die sich nach vorne gedrängt hatten, um ihm zuzusehen, traten zurück, als er mit der Fackel in der Hand auf sie zuging. Sie wußten genau, was er vorhatte, sie hatten es sich genau ausgedacht, hatten alles genau geplant und so oft darüber gesprochen, daß selbst ihre phantasielosen Köpfe imstande waren, das, was nun kommen sollte, sich wirklichkeitsgetreu vorzustellen. Und doch – jetzt, da die entscheidende Stunde gekommen war, jetzt, da sie Pierre mit der brennenden Fackel in der Hand sahen, bereit, das Zeichen zu geben, das die schwelende Revolte auf dem Land zum Brand entfachen würde, schienen ihre Herzen stillzustehen; sie hielten den Atem an, ihre verarbeiteten Hände griffen nach den Kehlen, als wollten sie jenes würgende Gefühl unterdrücken, das der Angst so ähnlich war.
Aber Pierre kannte nicht solches Zögern; wenn er an seinem Atem zu ersticken schien, sobald er in die Kehle kam, wenn er mit einem seltsam pfeifenden Geräusch durch die zusammengebissenen Zähne entwich, dann geschah es, weil seine Erregung die eines hungrigen Raubtiers war, das die Beute erblickt hat und bereit ist, sie anzuspringen und zu verschlingen. Seine Hand zitterte nicht, sein Schritt war fest. Die Windstöße fingen sich in der brennenden Fackel, bis die Funken in alle Richtungen stoben, sein Haar und seine Hände ansengten, und als die anderen zurückwichen, ging er weiter – auf die nächste Strohmiete zu.
Einen Augenblick lang hielt er die Fackel in die Höhe. Seine Augen und seine ganze Haltung verrieten Triumph. Er blickte weit in die Dunkelheit hinaus, die jenseits des engen Kreises, den das flackernde Licht der Fackel erhellte, nur um so undurchdringlicher schien. Man hätte glauben können, er wolle dem tiefen Schwarz alle Geheimnisse entreißen, die es verbarg – die ganze Begeisterung, die Erregung, die Leidenschaften und den Haß, die er am liebsten entzündet hätte, so wie er gleich darauf die Mieten entzündete.
»Seid ihr bereit, mes amis?« rief er.
»Ja! Ja!« erwiderten sie – nicht lustig und vergnügt sondern ruhig und verhalten.
Eine Berührung mit der Fackel und das trockene Stroh begann zu prasseln; ein Windstoß verfing sich in den Flammen und fachte sie zu einem kräftigen Feuer an; es kroch die Seiten der kleinen Miete entlang wie eine glühende Pythonschlange, die ihre Beute umschlingt. Ein zweiter Windstoß, und die Flammen hüpften vergnügt bis zur Spitze der Miete; von ihnen lösten sich neue Zungen, die immer weiter am Stroh leckten, es einhüllten, verzehrten.
Aber Pierre wartete nicht, um die Vollendung seines zerstörerischen Werkes mitanzusehen. Schon war er mit wenigen raschen Schritten an der zweiten Strohmiete seines Vaters angelangt und setzte auch diese in Brand, und dann noch eine und noch eine, bis sechs lodernde Feuer ihre geisterhaften Zungen, die sich wendeten und drehten, zusammenzuckten und zischten, durch die stürmische Nacht jagten.
Innerhalb von zwei Minuten schien der gesamte Gipfel des kleinen Hügels ein einziges Flammenmeer zu sein, und Pierre, wie ein Feuergott mit der Fackel in der Hand, Herr über die sich immer weiter ausbreitenden Flammen, die seinem Befehl gehorchten. Erregung hatte sich seiner bemächtigt, er war besessen von Zerstörungswut, und Erregung hatte auch alle anderen erfaßt.
Man schrie und fluchte, und das Lachen klang freudlos und gekünstelt; man schrie nach Pierre und schwor Rache. Gleich einer Hexe mit bösen Absichten ritt unsichtbar die Erinnerung durch die Dunkelheit, und sie berührte jedes der erregten, erhitzten Hirne mit ihrem Fieber bringenden Stab. Jeder erinnerte sich an eine Schmach, entsann sich eines Unrechts, und kräftige braune Fäuste wurden gegen das Schloß der Kernogans geschüttelt, dessen Lichter aus der Ferne jenseits der Loire schwach herüberglommen.
»Tod den Tyrannen! A la lanterne mit den Aristos! Endlich hat die Stunde der Vergeltung geschlagen! Nie mehr Hunger! Keine Ungerechtigkeit mehr! Gleichheit! Freiheit! A mort les aristos!«
Das Gebrüll, die Flüche, die prasselnden Flammen, das Brausen des Sturmes und das Rauschen der Bäume schufen ein Durcheinander von Tönen, das kaum noch von dieser Welt zu sein schien; die brennenden Mieten und das flackernde Licht der Flammen hatten das Hügelchen hinter der Mühle in einen zweiten Brocken verwandelt, auf dessen Gipfel wahrhaftig Hexen und Teufel ihre Feste feierten.
»Mir nach!« schrie Pierre zum zweiten Mal, warf die Fackel zu Boden und lief wieder auf die Scheune zu. Die anderen folgten ihm. In der Scheune waren die Waffen, die diese elenden, bettelarmen Bauern hatten aufstapeln können – Sensen, Stäbe, Beile und Sägen – alles, was bei der Zerstörung des Schloßes von Kernogan nützlich sein konnte und dazu beitrug, den Herzog von Kernogan und seine Familie einzuschüchtern. Alle Männer schlossen sich Pierre an. Der ganze Hügel stand jetzt in Flammen – in geisterhaften roten, zuckenden Flammen – die der Sturm abwechselnd bedrängte und anfachte, so daß einmal alles deutlich erkennbar war, jeder Grashalm und jeder Stein in scharfen Umrissen, und in den Furchen und Spalten alles, selbst die kleinsten schlammigen Pfützen wie eine Kette aus Feueropalen schimmerte; dann wieder bedeckte schwarze, rauchgeschwängerte und undurchsichtige Dunkelheit den Boden und ließ die Silhouette der Hofgebäude, die der entfernter liegenden Mühle und die drängende, wogende Menschenmenge in der Scheune verschwinden.
Doch Pierre, ohne auf Licht und Dunkelheit zu achten, auf Hitze oder Kälte, verteilte ruhig und methodisch die primitiven Waffen an diese Masse unwissender Männer, die nun schon mehr als bereit waren, jeden Unfug zu begehen. Und zu jedem Stück, das er willigen Händen übergab, fand er die richtigen Worte für aufnahmebereite Ohren – Worte, die am geeignetsten waren, Leidenschaft und Rachedurst anzufachen, wo sie noch nicht ins Bewußtsein gedrungen waren, und sie endgültig zu entfachen, wo sie schon schwelten.
»Hier, diese Sense ist für dich, Hector Lebrun«, sagte er zu einem hochgewachsenen mageren jungen Mann mit dünnen ausgemergelten Armen und knochigen Händen, die sich sehnsüchtig dem glitzernden Stahl entgegenreckten. »Denk an die Ernte vom vorigen Jahr, an die hohen Steuern, die du hast zahlen müssen, so daß auch nicht ein einziger Sou Gewinn in deine Tasche geflossen ist und deine Mutter hungerte, während der Herzog mit seiner Brut Feste feierte und tanzte und ganze Schiffsladungen Getreide in der Loire versenkt wurden, damit der Überfluß nicht den Brotpreis für die Armen drückte.«
»Hier – diese Spitzhacke ist für dich, Henri Meunier! Denk an das neue Dach auf deiner Hütte, das du selbst gemacht hast, um den Regen vom Bett deiner Frau fernzuhalten, die vom Fieber geschwächt war – und denk an die hohe Abgabe, die der Steuereinnehmer für diese Verbesserung an deiner armseligen Hütte von dir verlangt hat!«
»Und diese Stange ist für dich, Charles Blanc! Denk an die Schläge, die dir der Verwalter des Herzogs gegeben hat, weil du dir erlaubt hattest, zum Vergnügen deiner Kinder ein zahmes Kaninchen zu halten!«
»Vergeßt nichts, denkt an alles, mes amis!« setzte er triumphierend hinzu, »denkt an all das Unrecht, das ihr erlitten habt, an jede Ungerechtigkeit und jeden Hieb! Denkt an eure Armut und seinen Reichtum, an eure trockenen Brotkrusten und seine üppigen Mahlzeiten, an eure Lumpen und seine Kleider aus Samt und Seide, denkt an eure hungernden Kinder, kranken Mütter, eure sorgenbeladene Frau und eure abgearbeiteten Töchter! Vergeßt nichts, heute nacht, mes amis, und zahlt an den Toren des Schloßes von Kernogan seinem arroganten Besitzer Unrecht mit Unrecht heim und Schmach mit Schmach!«
Ein ohrenbetäubendes Triumphgeheul war die Antwort auf diese Rede; Sensen und Sicheln, Beile und Stangen wurden geschwenkt, und viele Hände streckten sich Pierre entgegen; und er drückte sie alle, um dieses neue Band rachsüchtiger Brüderlichkeit zu besiegeln.
Aber gerade in diesem Moment bahnte sich der Müller Jean Adet mit heftigen Ellenbogenstößen den Weg durch die Menge, bis er vor seinem Sohn stand.
»Du Unglückseliger!« rief er aus. »Was soll das alles; was hast du vor? Wo lauft ihr denn alle hin?«
»Nach Kernogan!« brüllten alle als Antwort.
»En avant, Pierre! Wir folgen dir!« schrie einer ungeduldig. Aber Jean Adet – trotz seines Alters ein kräftiger Mann – ergriff Pierre am Arm und zerrte ihn in eine entlegene Ecke der Scheune:
»Pierre!« sagte er im Befehlston, »ich verbiete dir im Namen der Pflicht und des Gehorsams, die du mir und deiner Mutter schuldest, dich auch nur einen Schritt weiter in dieses unbesonnene Abenteuer zu stürzen. Ich war mitten auf der Straße auf dem Heimweg, als mir dieses Feuer und das sinnlose Gebrüll dieser armen Burschen zeigten, daß da ein schrecklicher Unfug im Gange war. Pierre! Sohn! Ich befehle dir-leg diese Waffe nieder.«
Aber Pierre, der normalerweise ein pflichtbewußter Sohn war und wirklich an seinem Vater hing, riß sich von Jean Adet los.
»Vater!« sagte er laut und energisch, »jetzt ist nicht der Moment, sich einzumischen. Wir alle hier sind Männer und wissen, was wir tun. Was wir heute nacht vorhaben, haben wir uns seit Wochen und Monaten ausgedacht und alles geplant. Bitte, Vater, laß mich los! Ich bin kein Kind mehr, und ich habe eine Aufgabe.«
»Kein Kind mehr«, rief der alte Mann und wandte sich bittend zu den Burschen um, die während der kurzen Szene schweigend und mürrisch dagestanden hatten. »Kein Kind mehr? Aber ihr seid ja alle noch Kinder, ihr Burschen. Ihr wißt gar nicht, was ihr tut. Ihr habt keine Ahnung von den schrecklichen Folgen, die dieser verrückte Streich für uns alle haben wird, für das ganze Dorf, ja – für die ganze Gegend. Glaubt ihr vielleicht auch nur einen Augenblick, daß das Schloß von Kernogan von ein paar unwissenden jungen Burschen wie ihr zu Fall gebracht wird? Du lieber Gott – selbst vierhundert von euch würde es nicht gelingen, auch nur bis zum Schloßhof vorzudringen. Der Herzog hat schon vor geraumer Zeit von euren turbulenten Zusammenkünften in der Herberge Wind bekommen: seit Wochen hält er eine bewaffnete Wache im Schloßhof, eine Kompagnie Artillerie, die zwei Kanonen auf der Schloßmauer aufgebaut hat. Ihr armen Kerle! Ihr lauft direkt in euer Verderben! Geht nach Hause, bitte, und vergeßt diesen Streich! Daraus kann nichts als Jammer und Elend für euch selbst und eure Familien kommen!«
Sie lauschten ruhig, wenn auch sauertöpfisch, Jean Adets leidenschaftlichen Worten. Es lag ihnen fern, ihn zu verspotten oder sich über ihn lustigzumachen. Väterliche Autorität wurde geachtet, selbst von den größten Grobianen; aber sie spürten alle, daß sie sich zu weit vorgewagt hatten, um jetzt noch einen Rückzieher machen zu können; der Vorgeschmack der Rache war zu süß, um so bereitwillig auf sie zu verzichten, und mit seiner starken Persönlichkeit, seiner glühenden Beredsamkeit und seiner unwiderstehlichen Kraft übte Pierre einen größeren Einfluß auf sie aus als der alte Adet mit seinen nüchternen Ratschlägen und weisen Ermahnungen. Kein Wort fiel, aber mit instinktiver Geste umspannte jeder von ihnen seine Waffe noch fester und wandte sich dann Pierre zu; so machten sie ihn zu ihrem Sprecher.
Auch Pierre hatte schweigend seinem Vater zugehört und versuchte, die brennende Angst zu verbergen, die an seinem Herzen nagte, daß seine Kameraden sich vielleicht von den Ratschlägen des alten Mannes überzeugen lassen und seine weisen Worte ihren Eifer abkühlen würden. Als aber Jean Adet schwieg und Pierre sah, wie jeder Mann seine Waffe nur noch fester und ohne ein Wort zu verlieren umfaßte, entrang sich seinen Lippen ein Triumphschrei.
»Alles umsonst, Vater!« rief er. »Wir sind entschlossen. Selbst ein Heer Engel vom Himmel könnte uns nicht den Weg zu Sieg und Rache verlegen.«
»Pierre!« ermahnte ihn der alte Mann.
»Zu spät, Vater!« sagte Pierre energisch, »en avant, ihr Burschen!«
»Jawohl! En avant! en avant!« pflichteten ihm etliche bei, »wir haben sowieso schon zu viel Zeit vertrödelt.«
»Aber, ihr Unglücklichen«, ermahnte der alte Mann, »was habt ihr denn vor? Ihr seid doch nur eine Handvoll – wo wollt ihr denn hin?«
»Wir gehen direkt zur Wegekreuzung, Vater«, sagte Pierre unnachgiebig. »Eure brennenden Mieten – ich bitte Euch demütig um Entschuldigung – sind das verabredete Zeichen, auf das hin sich alle Burschen aus den Nachbardörfern auf den Weg zum Treffpunkt machen – aus Goulaine und Les Sorinières, aus Doulon und Tourne-Bride. Keine Angst! Wir werden über vierhundert sein, und eine Kompagnie Söldner wird uns nicht erschrecken, nicht wahr, ihr Burschen.«
»Nein! Nein! en avant!« schrien sie und flüsterten ungeduldig: »Es ist schon zu viel geredet worden, und wir haben kostbare Zeit vertan.«
»Pierre!« flehte der Müller.
Aber niemand hörte jetzt mehr auf den alten Mann. Alles rannte schon den Hügel hinunter. Pierre hatte sich umgedreht, bahnte sich mit aller Kraft den Weg an die Spitze des Zuges und führte ihn nun nach unten. Oben auf dem Gipfel brannte das Feuer nur noch schwach: nur gelegentlich züngelte noch eine eingeschlossene Flamme aus der erlöschenden Glut in die Höhe und sprang hin und wieder in die Nacht. Ein düsterer roter Schein beleuchtete das kleine Bauerngut und die Mühle sowie die Männer, die langsam auf dem schmalen Weg dahinzogen, während dicke schwarze Rauchwolken vom Sturm hin- und hergeschüttelt wurden.
Hoch erhobenen Hauptes schritt Pierre dahin. Er dachte nicht mehr an seinen Vater und blickte kein einziges Mal zurück, um zu sehen, ob ihm die anderen folgten. Er wußte, daß sie kamen. Wie kurz zuvor die Mieten waren auch die Männer die Beute eines verzehrenden Feuers geworden – des Feuers ihrer eigenen Leidenschaft, die sie gepackt hatte und festhielt und nicht wieder losließe, bis diese Leidenschaft durch Sieg oder Niederlage gestillt war.
Der Herzog von Kernogan war gerade mit dem Abendessen fertig, als Jacques Labrunière, sein Oberverwalter, ihm die Nachricht brachte, daß ein zerlumpter Haufen von Bauern aus Goulaine und Vertou und den benachbarten Dörfern sich an der Wegekreuzung versammelt hatte. Sie hielten dort revolutionäre Reden und seien sogar im Begriff, zum Schloß zu marschieren, während sie noch immer brüllten, sangen und eine Sammlung von allen möglichen Waffen, hauptsächlich Sensen und Äxten, schwangen.
»Ich nehme doch an, die Wache hat ihre Waffen bereit«, entgegnete der Herzog auf diese keineswegs unvorhergesehene Nachricht.
»Alles«, erwiderte kühl der Oberverwalter, »ist völlig in Ordnung für die Verteidigung Euer Gnaden und Euer Gnaden Besitz sowie den von Mademoiselle.«
Bei diesen Worten sprang der Herzog, der bequem in einem der großen Sessel in der Empfangshalle gesessen hatte, auf: er wurde plötzlich blaß, und in seinen Augen stand Todesangst. »Mademoiselle«, sagte er hastig, »bei Gott, Labrunière, einen Augenblick lang habe ich gar nicht an sie gedacht – –«
»Euer Gnaden?« stammelte der Oberverwalter ängstlich.
»Mademoiselle de Kernogan ist gerade auf dem Heimweg – ausgerechnet jetzt; sie war den ganzen Tag bei der Marquise de Herbignac – und sollte um acht Uhr zu Hause sein. Wenn diese Teufel ihrem Wagen auf der Straße begegnen …«
»Kein Grund zur Angst, Euer Gnaden«, unterbrach ihn Labrunière eilends. »Ich werde sofort ein halbes Dutzend Reiter aussenden, damit sie Mademoiselle finden und nach Hause geleiten …«
»Ja, … ja … Labrunière«, flüsterte der Herzog, der nun, da es um die Sicherheit seiner Tochter ging, von schrecklicher Angst übermannt wurde, »schickt die Leute sofort hinaus. Rasch! Rasch! Ich werde noch verrückt vor Angst.«
Während Labrunière davoneilte, um die nötigen Anordnungen für einen wirksamen Schutz von Mademoiselle de Kernogan zu treffen, blieb der Herzog unbeweglich zusammengesunken in seinem geräumigen Sessel sitzen; er vergrub das Gesicht in der Hand und zitterte vor Kälte vor dem riesigen Feuer, das in dem monumentalen Kamin brannte, er war ein Opfer namenloser, überwältigender Angst.
Er kannte – und niemand besser als er – den schrecklichen Haß, den die Bauern der Gegend auf ihn und seine Familie hatten. Auf seine mannigfachen Rechte pochend – Feudal-, Territorial-, Grund- und Herrenrechte – hatte er sich sein ganzes Leben lang über die Benachteiligungen, das Elend und die unbestreitbaren Rechte der Armen hinweggesetzt, die kaum mehr waren als Leibeigene des hohen und mächtigen Herzogs von Kernogan. Er wußte auch – und niemand wußte es besser –, daß sich dieselben unterdrückten, unwissenden, elenden und halbverhungerten Bauern mehr und mehr – wenn auch ganz allmählich – gegen ihre Unterdrücker auflehnten, daß es in vielen ländlichen Gebieten des Nordens Aufstände und Gewalttaten gegeben hatte und daß das heimtückische Gift der sozialen Revolution sich langsam nach Süden und Westen ausbreitete und schon einige Dörfer und Städtchen angesteckt hatte, die in unangenehmer Nähe von Nantes und Kernogan lagen.
Deshalb hatte er auf eigene Kosten auf dem Schloßgelände eine Kompagnie Artillerie installiert, und mit der offenen Verachtung des Aristokraten für dieses Bauernvolk, das zu fürchten er noch nicht gelernt hatte, hatte er es verschmäht, weitere Maßnahmen zur Unterdrückung von örtlichen Versammlungen zu treffen und sich geweigert, diesem Dorfpöbel das Kompliment zu machen, er hätte irgendwie Angst vor ihm.
Wenn aber seine Tochter Yvonne an eben dem Abend, an dem sich dieser Haufen versammelt hatte und offenbar Böses im Schilde führte, sich auf offener Straße befand, war die Lage sehr ernst. Alles konnte dem einzigen Kind des stolzen Aristokraten widerfahren – Beleidigungen aller Art und Schlimmeres, und da er wußte, daß sie von diesen Leuten, die man sie gelehrt hatte für kaum besser als Tiere zu halten, weder Gnade noch Ritterlichkeit erwarten konnte, empfand der Herzog von Kernogan in seinem unangreifbaren Schloß eine so tödliche Angst um die Sicherheit seiner Tochter, wie sie je einen Mann verzehrt hat.
Wenige Minuten später bemühte sich Labrunière nach Kräften, seinen Herrn zu beruhigen.
»Ich habe den Leuten befohlen, die besten Pferde aus den Ställen zu holen, Euer Gnaden«, sagte er, »und querfeldein in Richtung Gramoire zu reiten, damit sie noch vor der Kreuzung auf Mademoiselles Wagen stoßen. Ich bin sicher, daß kein Grund zu Befürchtungen vorliegt«, setzte er nachdrücklich hinzu.
»Hoffentlich habt Ihr recht, Labrunière«, murmelte der Herzog leise. »Wißt Ihr, aus wieviel Leuten der zerlumpte Haufen besteht?«
»Nein, Monsieur, nicht genau. Als der Verwalter Camille, der mir die Nachricht brachte, vor einer Stunde über die Wiesen nach Hause ritt, sah er ein riesiges Feuer, das hinter Adets Mühle zu brennen schien; seit einer Stunde nun leuchtet der ganze Himmel in einem geisterhaft roten Licht, und ich selbst nahm auch an, daß Adets Stroh brannte. Aber Camille jagte sein Pferd bergauf bis zur Höhe, wo Adets Gut liegt. Offenbar hörte er lautes Geschrei, ohne daß jemand versuchte, das Feuer zu ersticken. Er stieg deshalb ab, führte sein Pferd um den Hügel neben Adets Hofgebäuden herum, damit man ihn nicht sehen konnte. Im Schutze der Dunkelheit hörte und sah er, wie der alte Müller und sein Sohn Pierre Sensen, Stangen und Äxte an eine Menge junger Burschen verteilten und immerzu laut auf sie einredeten. Er hat auch gehört, wie Pierre Adet das Feuer ein abgemachtes Zeichen nannte und sagte, daß er und seine Kameraden sich an der Wegekreuzung mit den Burschen aus den Nachbardörfern treffen wollten … und daß dann vierhundert von ihnen nach Kernogan ziehen und das Schloß ausrauben wollten.«
»Bah«, sagte der Herzog, und seine Stimme war heiser vor Abscheu und Verachtung, »ein Haufen Dummköpfe, die morgen dem Henker eine Menge Arbeit machen werden. Und Adet und sein Sohn – die sollen noch dafür büßen –, das kann ich ihnen versprechen … Wenn Mademoiselle nur schon zu Hause wäre!« setzte er mit einem herzzerreißenden Seufzer hinzu.
Hätte der Herzog von Kernogan allerdings die Gabe des zweiten Gesichts besessen – seine Seelenqual wäre noch hundertmal größer gewesen. Gerade als nämlich der Oberverwalter sein Möglichstes tat, um seinen Feudalherrn über die Sicherheit Mademoiselle de Kernogans zu beruhigen, eilte deren Wagen vom Château de Herbignac auf eben jene Kreuzung zu, an der zweihundert hitzköpfige Bauernburschen vorhatten, so viel Unfug anzurichten, wie ihre phantasielosen Hirne es sich nur ausmalen konnten.
Die Gewalt des Sturmes hatte keineswegs nachgelassen, und dazu regnete es jetzt in Strömen; der Regen – ein durchdringender, aufweichender Regen –, der innerhalb einer halben Stunde den Schlamm auf der Straße noch um fünf Zentimeter steigen ließ, hatte die Begeisterung von einigen der armen Burschen beträchtlich gedämpft. Ungefähr sechzig von ihnen waren aus Goulaine gekommen, vierzig aus Les Sorinières und drei Dutzend aus Doulon; in aller Eile hatten sie auf das Signal hin ihre Sensen und Spaten gepackt, und während der alte Mann noch immer seinen Sohn und die Burschen aus Vertou oben auf dem brennenden Hügelchen warnte, waren sie schon, aufgeregt und voller Eifer, an der Kreuzung angekommen (die viel näher bei ihren Dörfern lag als Jean Adets Gut und Mühle). Seit einer halben Stunde waren sie dort, Füße und Stimmung hatten sich in dem strömenden Regen, der sie bis auf die Haut durchnäßte, abgekühlt, und sie ärgerten sich wütend über die Verzögerung.
Dennoch – auch wenn ihr Eifer abgekühlt war und ihnen die Kälte bis ins Mark drang sie waren noch immer ein gefährlicher Haufen, und es wäre besser gewesen, Mademoiselle de Kernogan hätte ihrem Kutscher befohlen, umzudrehen und nach Herbignac zurückzufahren, als ein Vorreiter berichtete, ein mit Sensen, Spaten und Äxten bewaffneter Mob hielte die Kreuzung besetzt, und es wäre gefährlich für den Wagen, weiterzufahren.
Schon seit einigen Minuten hatte lautes Geschrei das Pferdegetrampel und das Rattern der Kutsche übertönt. Jean-Marie hatte angehalten und einen Vorreiter ausgeschickt, um nachzusehen, was los sei. Der Mann kam mit höchst unangenehmen Nachrichten zurück – seiner Ansicht nach war es gefährlich, weiterzufahren. Die Leute schienen Böses im Schild zu führen; er hatte Drohungen und Flüche gegen den Herzog von Kernogan gehört. Das Feuer oben in Vertou war offenbar ein Zeichen, auf das hin sich eine Menge Unzufriedener aus den umliegenden Dörfern versammelt hatten. Er war unbedingt dafür, sofort zurückzufahren. Aber gerade in diesem Augenblick streckte Mademoiselle den Kopf aus dem Fenster und fragte, was los sei. Als sie erfuhr, daß Jean-Marie und alle Vorreiter sich vor einem Haufen junger Bauernburschen fürchteten, der sich an der Kreuzung versammelt und offenbar Böses vorhatte, schalt sie sie ob ihrer Feigheit.
»Jean-Marie«, rief sie verächtlich dem alten Kutscher zu, der seit fast einem halben Jahrhundert im Dienst ihres Vaters stand, »wollt Ihr mir wirklich sagen, Ihr fürchtet Euch vor diesem Haufen?«
»Aber nicht doch, Mademoiselle, ich bitte Euch«, entgegnete der alte Mann, der sich durch diese Stichelei in seinem Stolz gekränkt fühlte, »aber die Bauern in dieser Gegend sind gereizt, und ich muß schließlich für Eure Sicherheit sorgen.« »Ihr habt meinen Befehlen zu gehorchen«, erwiderte Mademoiselle mit einem kurzen, fröhlichen Lachen, das ihren gebieterischen Ton ein wenig milderte. »Wenn mein Vater erfährt, daß sich auf der Straße etwas zusammenbraut, kommt er um vor Angst, wenn ich nicht nach Hause komme – also gebt den Pferden die Peitsche, Jean-Marie. Niemand wird wagen, die Kutsche anzugreifen.«
»Aber, Mademoiselle …«, wandte der alte Mann ein.
»Ach was!« unterbrach sie ihn ungeduldig. »Verweigert Ihr mir offen den Gehorsam? Am besten schließt Ihr Euch gleich dem Haufen an, Jean-Marie, wenn Ihr meinen Befehl nicht respektiert.«
Von Mademoiselles scharfer Zunge derart verhöhnt, blieb Jean-Marie nichts übrig, als zu gehorchen. Er versuchte, durch den undurchdringlichen Regenschleier, der ihm ins Gesicht schlug und die Pferde unruhig machte, in die Ferne zu spähen. Aber das Licht der Wagenlaternen hinderten ihn daran, irgend etwas in der Dunkelheit zu erkennen. Immerhin hatte er den Eindruck, daß vor ihnen eine dichte, kompakte Masse war, die sich auf die Kutsche zubewegte, und daß auch das Gebrüll und die aufgeregten Menschen wesentlich näher waren als zuvor. Ohne Zweifel hatte der Mob die Lichter des Wagens gesehen und rückte nun gegen diesen vor, und Jean-Marie erriet nur zu gut, was sie im Sinne hatten. Aber er hatte seine Befehle, und wenn er auch ein alter, zuverlässiger Diener war – in jenen Tagen dachte man noch nicht einmal an Ungehorsam. Er tat also, wie ihm befohlen war. Er schlug mit der Peitsche auf die Pferde ein, und da sie reizbar waren, schlugen sie aus und taten einen großen Sprung nach vorne. Mademoiselle de Kernogan lehnte sich in die Wagenkissen zurück. Sie war zufrieden, daß Jean-Marie ihren Befehl befolgt hatte und fürchtete sich nicht im geringsten.
Weniger als fünf Minuten später jedoch wurde sie jäh aufgeschreckt. Die Kutsche ruckte schwer und schwankte, die Pferde bäumten sich und schlugen aus, und überall herrschte ohrenbetäubender Lärm: Männer schrien und fluchten, Holz und Eisen prallten aufeinander, Peitschen sausten durch die Luft; man hörte das Getrampel von Pferdehufen auf weichem Untergrund und das dumpfe Dröhnen menschlicher Leiber, die in den Morast fielen, und danach laute Schmerzensschreie. Plötzlich klirrte zerbrochenes Glas, denn irgend jemand hatte die Wagenlaternen zerbrochen: es schien Yvonne de Kernogan, als stierten wutverzerrte Gesichter sie durch die Fensterscheiben an. Aber trotz des ganzen Durcheinanders fuhr die Kutsche weiter. Weder Jean-Marie noch die Vorreiter verließen ihren Platz, und mit Peitsche und Zurufen feuerten sie die Pferde an, durch die Menge zu brechen – ohne Rücksicht auf Menschenleben; und so warfen sie Männer und Burschen um und trampelten über sie hinweg, ohne sich um die Flüche und Verwünschungen zu kümmern, die sowohl gegen sie als auch gegen jene geschleudert wurden, die im Wageninneren saßen – ganz egal, wer sie sein mochten. Aber im nächsten Augenblick blieb der Wagen mit einem Ruck stehen, und wildes Triumphgeheul erstickte das Stöhnen der Verwundeten und Sterbenden.
»Kernogan! Kernogan!« schallte es von allen Seiten.
»Adet! Adet!«
»Satansbrut, ihr«, schrie Jean-Marie, »ihr werdet noch bereuen, was ihr heute nacht tut, und den Rest eures Lebens werdet ihr blutige Tränen vergießen. Das will ich euch sagen! Mademoiselle ist im Wagen, und wenn der Herzog das erfährt, gibt’s Arbeit für den Henker …«
»Mademoiselle ist im Wagen«, unterbrach ihn eine heisere Stimme in barschem Kommandoton, »da woll’n wir sie uns doch mal anschauen.«
»Ja! Ja! Wir wollen sie uns mal anschauen«, schallte es mit einer Salve von Beschimpfungen fluchend aus der Menge.
»Ihr Teufel, ihr – ihr werdet es wagen!« schrie Jean-Marie.
Im Wageninneren hielt Yvonne de Kernogan den Atem an. Kerzengerade saß sie da und hielt ihr Cape eng um die Schultern geschlungen; die Augen – weit aufgerissen vor Erregung oder vielleicht Angst – starrten in die Finsternis jenseits der Fenster. Sie konnte nichts sehen, aber sie spürte die Nähe dieser feindlichen Menge, der es gelungen war, Jean-Marie zu überwältigen und die ihr Böses zufügen wollte.
Aber sie gehörte zu einer Klasse, die zwar viele Fehler hatte, der aber Feigheit unbekannt war. In den wenigen Augenblik-ken, in denen sie wußte, daß ihr Leben nur an einem dünnen Faden hing, schrie sie nicht und fiel auch nicht in Ohnmacht, sondern sie saß unbeweglich und kerzengerade, und nur ihr Herz schlug im Rhythmus der quälenden Sekunden, die verhängnisvoll verstrichen.
Und selbst jetzt, da der Wagenschlag mit Gewalt aufgerissen wurde und sie trotz der Dunkelheit vage die Umrisse ihrer erklärten Feinde ganz in der Nähe wahrnahm und gleich darauf spürte, wie eine harte Hand ihr Handgelenk umspannte, selbst jetzt rührte sie sich nicht, sondern sagte ganz ruhig, fast ohne Zittern in der Stimme:
»Wer seid Ihr? Und was wollt Ihr?«
Ein Ausbruch harten, ironischen Lachens war die Antwort. »Wer wir sind, feine Dame?« sagte der vorderste Mann in der Menge, der sie am Handgelenk gepackt hatte und nun halb im Wagen und halb draußen stand, »wir sind die Männer, die ein Leben lang geschuftet und gehungert haben, damit Ihr und Leute wie Ihr in schönen Wagen herumfahren und sich den Bauch vollfressen können. Was wir wollen? Nichts weiter als zu sehen, wie eine so feine Dame wie Ihr in den Dreck geschleudert wird wie unsere Frauen und Töchter, wenn Euer Wagen vorbeifährt und sie Euch zufällig im Wege sind. Stimmt’s, mes amis?«
»Ja, ja!« antworteten sie mit vergnügtem Gröhlen. »In den Dreck mit der feinen Dame. Raus mit ihr, Adet. Wir wollen doch mal sehen, wie Mademoiselle aussieht, wenn sie die Schnauze im Dreck hat. Raus mit ihr! Rasch!«
Aber der Mann, der halb im Wagen und halb draußen hing und Mademoiselles Handgelenk festhielt, gehorchte seinen Kumpanen nicht sogleich. Er zog sie näher an sich heran und schlang plötzlich seine beiden harten, schmutzigen Arme um sie, schob mit einer Hand ihre Kapuze zurück und hob mit zwei Fingern ihr Kinn von unten in die Höhe, bis ihr Gesicht auf gleicher Höhe mit dem seinen war.
Ganz gewiß war Yvonne de Kernogan kein Feigling, aber bei der widerlichen Berührung dieser wütenden, rachedurstigen Kreatur überfiel sie eine so grauenhafte Angst, daß sie einen Moment lang fast das Bewußtsein verlor, fast – aber nicht völlig, denn wenn sie auch sein Gesicht nicht zu erkennen vermochte, konnte sie doch seinen heißen Atem auf ihren Wangen spüren und den ekelerregenden Gestank seiner feuchten Kleidung riechen, und sie konnte sein heiseres Flüstern hören, als er sie einige Sekunden lang eng an sich preßte – in einer Umarmung, die für sie viel schrecklicher war als die des Todes.
»Und um Euch zu bestrafen, meine feine Dame«, flüsterte er und jagte ihr damit einen Schreckensschauer ein, »um Euch zu bestrafen für das, was Ihr seid – die Brut von Tyrannen und selbst schon fast ein hochmütiger Tyrann, um Euch für all das Elend zu bestrafen, das meine Mutter und meine Schwester erdulden mußten, für jeden Luxus, den Ihr genossen habt, für all das werde ich Euch jetzt auf den Mund küssen und auf die Wangen und auf die Stelle zwischen Eurem weißen Hals und Eurem Kinn, und so lange Ihr leben werdet, gleich, ob Ihr heute nacht sterbt oder hundert Jahre alt werdet – niemals werdet Ihr diese Küsse fortwaschen, die Euch ein Mann gegeben hat, der Euch verabscheut und haßt – ein elender Bauer, den Ihr verachtet und der in Euren Augen weniger ist als Eure Hunde,«
Die Augen geschlossen, wagte Yvonne kaum zu atmen. Aber durch den Schleier ihrer getrübten Sinne, der sie gnädig einhüllte, konnte sie doch noch diese entsetzlichen Worte hören und die Beschmutzung durch die verhaßten Küsse fühlen, mit denen diese Kreatur, – halb Mensch, aber ganz Teufel-, den sie nicht sehen konnte, den sie aber haßte und vor dem sie sich fürchtete wie vor dem Satan leibhaftig – ihr Gesicht und ihren Hals bedeckte.