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INHALT
1929
H OTELWELT
3 Ankunft im Hotel
7 Der Portier
11 Der alte Kellner
15 Der Koch in der Küche
19 Madame Annette
24 Der Patron
28 Abschied vom Hotel
32 Der Kongreß
35 Das Museum
37 Das Kind in Paris
39 Nonpareille aus Amerika
42 »Ein ausschweifender Mensch«
44 Es lebe der Dichter!
46 Der Nachtredakteur Gustav K
50 Galante Literatur
54 Der Polizeireporter Heinrich G
57 Bemerkungen zum Tonfilm
59 Fräulein Larissa, der Modereporter
62 Noch einmal Prügel
64 Die k. und k. Veteranen
70 Ein Wiedersehen
73 Ein Blick auf die Nachwelt
76 Ein Mensch hat Langeweile
79 Entwicklung des Flugwesens
81 Das ganz große Warenhaus
84 Alte und neue Photographien
86 Betrachtung an der Klagemauer
89 Eine Laune der Natur
Hans Bauer: Ein Vorschlag und seine Erfüllung.
92 Joseph Roth antwortet
95 Lob der Dummheit
98 Der Kurfürstendamm
101 Die Tagespresse als Erlebnis
102 Heimkehr eines Boxers
105 Die Puppen
108 Die Kinder
109 Berliner Saisonbeginn
112 Die neue Boheme
115 Architektur
117 Hermann Kesten: »Die Liebesehe«
118 Der Mann, der die Ohrfeigen bekommt
121 Hermann Kesten: »Admet«
122 Bücherbesprechung
125 Zeitgenössische Trottel
127 Die neue Waschmaschine
130 Selbstverriß
131 Für die Staatenlosen
137 Perlewitz
139 »Drinnen und draußen«
141 Das Privatleben
143 Weihnachten in Cochinchina
146 »Das Menschengesicht«
149 Deutsches Lesebuch
1930
153 Schluß mit der »Neuen Sachlichkeit«!
164 Der Zauberer
167 Die Scholle
169 Die Schönheitskönigin
171 Eine Rede Rudolf Borchardts
174 Die Überschätzung der Jungen
177 Wirkungen der Literatur
179 Der Primgeiger
181 Der ewige Tutenchamun
185 Der Boxer in der Soutane
187 Bücher und Karotten
190 Sonntags zwischen vier und sechs
193 Das Vaterhaus
195 Die Generallinie
199 Valeriu Marcu: »Männer und Mächte der Gegenwart«
201 Die Girls (II)
203 Verfilmung eines Mordprozesses
205 Konfektionserotik
208 Der Herr
211 Berliner Vergnügungsindustrie
215 Psychiatrie
221 Dr. Lilienstein: Wie ein Dichter die Psychiatrie sah
225 Erwiderung
228 »Das steinerne Berlin«
231 Aus dem Tagebuch des Schülers Joseph Roth
234 Der Sport-Schmock
237 Soll die deutsche Rechtschreibung reformiert werden?
239 Vom Attentäter zum Schmock
242 Die Tungusen
245 Der Altersgenosse
248 Ehre den Dächern von Paris!
250 Die Weltgeschichte aus Zinn
255 Das Denkmal
259 Das Hotel
262 »Kleine Fanfare«
265 »Das zweite Schatzkästlein«
267 Die gesprengte Romanform
H ARZREISE
270 Brief aus dem Harz
275 Der Merseburger Zauberspruch
282 Halberstadt, »Tannhäuser«, Schach
1931
291 Kleine polnische Station
293 Der Motorradfahrer
295 Der Tennismeister
296 Brief an eine schöne Frau im langen Kleid
K LEINER EISE
300 Einleitung
301 Blick nach Magdeburg
305 Betrachtungen in Leipzig
309 Ein fröhlicher Abend
312 Ausflug am Sonntag
316 Gepäckträger Nr. 7
320 Der Hafen von Ruhrort
323 In andern Kneipen
326 Gustav
330 Ankunft in Essen
331 Abend in Essen
333 Die Bar erster und zweiter Klasse
335 Die andre Bar
336 Der Morgen aber
339 Ein Ingenieur mit Namen K
342 Ein Arbeiter mit Namen M
347 Reiselektüre
348 Erinnerung an eine weiße Damenkapelle
351 Beim Uhrmacher
353 Gedicht von verschollenen Büchern
356 Nachmittag im fremden Hotel
359 »Die Frau aus Andros«
361 Neues von gestern
365 Matwey Roesmann: Fischbein streckt die Waffen
366 »Die höchsten Glieder der Tierreihe«
368 Shaw auf einer Kremlkanone
371 Das Hellsehen
374 »Zur epischen Situation«
375 Schluß mit den Kriegsfilmen!
378 Der Franzose auf der Wodanseiche
384 Roman vom grünen Rasen
385 Der Palast der Scheherezade
389 Hinweis auf ein Buch über Stifter
391 Bekenntnis zu Deutschland
395 Chaplin und Gandhi
398 Die Weltfliegerin
399 Eine halbe Stunde Kauderwelsch
402 Alba-Alba, der Schnell-Läufer
405 Androklus und der Löwe
407 Wiege
1932
411 Das Denkmal (II)
413 Ursachen der Schlaflosigkeit im Goethe-Jahr
415 Witzbold im Goethe-Jahr
418 Der Kulturbolschewismus
427 Der Prozeß Caro-Petschek
439 Philister im Goethe-Jahr
442 »Französische Menschen«
443 Österreichische Bücher
447 »Das Wort«
450 Betrachtung über Fliegerinnen
452 Die Geschichte von Kain und Abel
453 Ultra-Beschießung einer Küste
455 Fremde Gesichter
458 Zu einer Schrift über Stifters »Witiko«
461 Lob für Baden-Baden
462 Eisenbahn
465 Die nationale Kurzwelle
469 »Der Vater«
473 Friede auf Erden
474 Laterna Magica
476 Hermann Kesten: »Der Scharlatan«
1933
481 Dichter im Dritten Reich
487 Man tauscht Kinder aus
490 Der Tod der deutschen Literatur
491 Ich verzichte
494 Das Autodafe des Geistes
507 Niederlage der Gerechtigkeit
508 Das Dritte Reich, die Filiale der Hölle auf Erden
511 Ring der Nibelungen
513 Fern von der Scholle
516 Lieber Walter Mehring
518 Erwiderung auf Joseph Breitbach
521 Die Juden und die Nibelungen
527 Der Segen des ewigen Juden
533 Opfer seiner Schöpfungen
533 Der Fluch des ewigen Juden
535 Joseph Roth und die jüdischen Emigranten
536 Der Segen des Ewigen Juden am Ziel
539 Die Sendung des Judentums
541 Assimilation und Zionismus
543 Jedermann ohne Paß
549 Gott in Deutschland
551 Nationale Pyromanie
553 Wassermanns letzter Roman
557 »Maria Theresia«
559 Unerbittlicher Kampf
560 Europa ist nur ohne das Dritte Reich möglich
563 D ERA NTICHRIST
1935
669 Anschluß im Film?
671 In der Kapuzinergruft
673 An den »Christlichen Ständestaat«
675 Kein rasender Reporter
675 Nachruf
677 Eine Filmrundfrage
677 Habsburg und die Tschechoslowakei
679 Vision
682 Für Ernst KFenek
684 Dank an Alfred Polgar
687 Statt eines Artikels
691 Glauben und Fortschritt
1937
709 Die vertriebene deutsche Literatur
712 Kriminalaffäre Nobelpreis
715 Prognose für den Zigeunerkönig
717 Psychiatrie (II)
718 An Karl Tschuppiks Grab
721 Abschied von Karl Tschuppik
714 Nur eine Glosse
725 Verleger in Österreich oder österreichische Verleger?
731 Aus dem Tagebuch eines Schriftstellers
735 Richtigstellung
735 Helden zittern
737 Juden, Judenstaat und die - »Katholiken«
741 Grillparzer
752 Illustrierter »Kultur-Austausch«
754 Emigration
765 Der Monarch verhindert den Diktator
767 Monarchie und Parteien
769 Vorwort. Joseph Wittlin: Das Salz der Erde
1938
773 »Handbuch des Kritikers«
774 »Dreimal Österreich«
780 »Die Macht des Scharlatans«
781 Der Dichter Paul Claudel
784 Die Kinder von Barcelona .
786 Victoria Victis!
788 Der Mythos von der deutschen Seele
792 Huldigung an den Geist Österreichs
795 Totenmesse
798 Der apokalyptische Redner
802 Vae Victis
803 Brief an einen Statthalter
805 Das Passahfest
807 Märtyrer und Kämpfer
808 Die Tinte nicht wert
810 Der Wiener Prater
812 Ödön von Horväths Tod
813 Rast angesichts der Zerstörung
816 Zu einigen allzu absurden Verdikten
819 Ein Kind im Wartezimmer der Polizei
821 Die Kinder der Verbannten
823 Im Bistro nach Mitternacht
827 Dem Anschein nach
830 Der Ahnenpaß in der Isolierzelle
832 Über Völker und ihre Vertreter
835 Die Ausstellung
837 Am Ende ist das Wort
840 Zum Tode Karel Capeks
841 Drei Personen täglich verschwunden
843 Gegen Selbstmörder
845 Österreich atmet auf
849 Das Unsagbare
852 Der Maulkorb für deutsche Schriftsteller
1939
857 Leitfaden für Zeitungsleser anno 1939
859 Der Feind aller Völker
861 Das bittere Brot
864 Eine wirklich freie Stadt
866 Die wilde, verwegene Jagd
867 Ein Mann, ein Eid
869 Munkacs, die brave Stadt
870 Unterricht in Geographie
871 »Ein Komödiant könnt' einen Pfarrer lehren«
873 »Stirbe!«
874 Der ukrainische Nationalismus - ein deutsches Patent
876 Der Mann der Tat
877 Unser Vaterland, unsere Epoche
880 Der Fall Österreichs
881 Wo wird einst des Wandermüden
882 Die Kinder von Triest
884 Alte Kosaken
885 Wir mischen uns nicht ein
887 Frauen vor dem Schaufenster
888 Der unbekannte Clown von Barcelona
889 An der spanischen Grenze
890 Und der Regen regnete jeglichen Tag
892 S CHWARZ- GELBEST AGEBUCH
915 An einer Straßenecke
917 »Tua Culpa«
921 E.A. Rheinhardt
922 Die Hinrichtung Österreichs
926 Über Albanien
928 Wer istDr.Nolda?
919 Wiegenfest
930 Ein antiker Selbstmörder
932 Aus dem Brief eines Bekehrten-und die Antwort
934 Lessing, ein deutsches Genie
938 Rede über den alten Kaiser
945 Die Eiche Goethes in Buchenwald
946 Rast in Jablonowka
951 Der fortdauernde »Dynamismus«
955 C LEMENCEAU
Ohne Datum
1011 Rainer Maria Rilkes »Marien-Leben«
1014 Nützliche Bemerkung für Historiker
1014 Der Hauslehrer
1017 Regina Ullmann
1018 Stierkampf
1022 Der Weltfriede
1023 Der liebe Gott
ANHANG
1025 Editorische Anmerkungen
1039 Titelregister
1057 Personenregister
1071 Nachwort
Das Hotel, das ich wie ein Vaterland liebe, liegt in einer der großen europäischen Hafenstädte, und die schweren, goldenen Antiqua-Lettern, in denen sein banaler Name über den Dächern der langsam emporsteigenden Häuser aufleuchtet, sind für mein Auge lauter metallene Fahnen, stehende Fähnchen, die zur Begrüßung glänzen, statt zu flattern. Wie andere Männer zu Heim und Herd, zu Weib und Kind heimkehren, so komme ich zurück zu Licht und Halle, Zimmermädchen und Portier - und es gelingt mir immer, die Zeremonie der Heimkehr so vollendet abrollen zu lassen, daß die einer förmlichen Einkehr ins Hotel gar nicht beginnen kann. Der Blick, mit dem mich der Portier begrüßt, ist mehr als eine väterliche Umarmung. Und als wäre er wirklich mein Vater, bezahlt er aus eigener Westentasche den Chauffeur, um den ich mich nicht mehr kümmere. Der Empfangschef im Cutaway tritt aus seinem gläsernen Verschlag und lächelt mehr, als er sich verbeugt. So selig scheint ihn meine Ankunft zu machen, daß sein Rücken seinem Mund Freundlichkeit abgibt und das Berufliche sich mit dem Menschlichen in der Begrüßung teilt. Er würde sich schämen, mir einen Meldezettel vorzulegen; so genau weiß er, daß ich das Gesetz als eine persönliche Beleidigung empfinde. Meinen Meldezettel schreibt er später, wenn ich schon im Zimmer bin, mit eigener Hand, obwohl er keine Ahnung hat, woher ich komme. Nach Lust und Laune schreibt er irgendeinen Namen hin, einen der Städte, die er für würdig hält, von mir besucht zu werden. Meine Daten sind ihm geläufiger als mir selbst. Wahrscheinlich kehren im Laufe der Jahre noch andere Männer bei ihm ein, die so heißen wie ich. Aber ihre Daten kennt er nicht, und stets erscheinen sie ihm ein wenig verdächtig, als wären sie illegale Usurpatoren meines Namens. Der Liftboy nimmt meine Koffer unter seine Arme. So dürfte ein Engel seine Flügel ausbreiten. Niemand fragt, wie lange ich zu bleiben gedenke, ob eine Stunde oder ein Jahr: Dem Vaterland ist beides lieb. Der Portier flüstert mir zu: »627! ist Ihnen recht?«als wüßte ich so genau wie er,
was es für ein Zimmer ist...
Nun - ich weiß es ja auch! Ich liebe das »Unpersönliche« dieses Zimmers, wie ein Mönch seine Zelle lieben mag. Und wie andere erfreut ihre Bilder wiedersehen mögen, ihre Teller, ihre Löffel, ihre Kinder und ihre Bibliotheken, begrüße ich die billige Tapete, das schimmernde, unschuldige Porzellan der Schüssel, die weißen, metallenen, blinkenden Hähne der Wasserleitung und das weiseste aller Bücher: das Telephonbuch. Mein Fenster geht natürlich nie in den Hof. Es ist das Fenster eines Stammgastes, es hat kein Visavis und führt dennoch in eine Straße. Gegenüber sind: ein Schornstein, der Himmel und eine Wolke... Aber es ist immerhin nicht so entlegen, daß nicht die summarische Melodie des großen, benachbarten Platzes als ein Echo der lieben Welt an meine Wände heranschlüge; dermaßen, daß ich einsam bin und nicht vereinsamt, allein und nicht verlassen, abgesondert und nicht getrennt. Wenn ich das Fenster öffne, ist die Welt bei mir zu Gast. Von weither dröhnen die heiseren Sirenen der Schiffe. Ganz nahe klingeln die törichten Schellen der Straßenbahnen. Die Autohupen scheinen mich beim Namen zu rufen - wie zu einem Landesvater grüßen sie zu mir herauf. Der Schutzmann in der Mitte regelt die Manifestation. Die Zeitungsjungen werfen Blätternamen empor wie Bälle. Und kleine Straßenszenen arrangieren sich wie Theaterstücke. Ein Druck auf den Knopf aus falschem Elfenbein: und rückwärts im Korridor leuchtet ein grünes Lämpchen auf, Signal für den Kellner. Da ist er schon! Seine berufliche Beflissenheit ist nur noch in seinem Frack vorhanden - in seiner Brust unter dem steifen Hemd wohnt die menschliche Wärme; eigens für mich aufbewahrt, gehütet während der ganzen Zeit meiner Abwesenheit. Wenn er der Küche tief unten telephonisch meine Bestellung weitergibt, vergißt er nicht hinzuzufügen, für wen er bestellt; und wie mein Druck auf den Knopf das grüne Lämpchen im Korridor entzündet hat, so ruft der Klang meines Namens im Gedächtnis des Kochs eine bestimmte Erinnerung an die Wünsche meines Geschmacks hervor. Der Kellner lächelt. Hier ist es ihm erspart zu reden. Er braucht nichts mehr zu fragen. Er hat keinen Irrtum zu befürchten. Er ist bereits so mit mir vertraut, daß er mir gerne das Trinkgeld stunden würde — gegen Zinsen. Sein Glaube an die Unerschöpflichkeit meiner Einnahmequellen ist selbst unerschöpflich. Und käme ich in Lumpen und als ein Bettler daher, er hielte es für eine witzige Verkleidung. Er weiß, daß ich nur ein Schriftsteller bin. Und dennoch gibt er mir Kredit...
Ich hebe das Telephon ab. Nicht, um zu telephonieren — nur, um dem Telephonisten in der Zentrale des Hotels Guten Tag! zu sagen. Er verbindet mich oft und fleißig. Er verleugnet mich. Er warnt mich. Er teilt mir des Morgens wichtige Begebenheiten aus der Zeitung mit. Und wenn der Geldbriefträger zu mir kommt, verkündet er es mir mit einem diskreten Jubel. Er ist ein Italiener. Der Kellner ist ein Österreicher. Der Portier ein Franzose aus der Provence. Der Empfangschef ein Mann aus der Normandie. Der Oberkellner ein Bayer. Das Zimmermädchen eine Schweizerin. Der Lohndiener ein Holländer. Der Direktor ein Levantiner; und seit Jahren hege ich den Verdacht, daß der Koch ein Tscheche ist. Aus den übrigen Teilen der Welt kommen die Gäste. Die Kontinente und die Meere, die Inseln, die Halbinseln, die Schiffe, die Christen, die Juden, die Buddhisten, die Mohammedaner und selbst die Dissidenten sind in diesem Hotel vertreten. Der Kassier addiert, subtrahiert, zählt, schwindelt in allen Sprachen, wechselt alle Geldsorten. Von der Enge ihrer Heimatliebe befreit, von der Dumpfheit ihrer patriotischen Gefühle gelöst, von ihrem nationalen Hochmut ein wenig beurlaubt, kommen hier die Menschen zusammen und scheinen wenigstens, was sie immer sein sollten: Kinder der Welt. Bald werde ich hinuntergehen — und das erst wird meine echte Ankunft sein. Der Empfangschef wird herankommen, um mir Neuigkeiten zu erzählen und von mir Neuigkeiten zu hören. Sein Interesse gilt mir ganz, wie das des Astronomen dem Kometen in der ersten Stunde des Wiedererscheinens am Horizont. Habe ich mich verändert? Bin ich überhaupt noch derselbe? Das Auge, delikat und genau wie ein Fernrohr, mustert den Stoff meines Anzugs, die Form meiner Stiefel— und die Versicherung: »Sie sehen erfreulich gut aus!« bezieht sich weniger auf den Zustand meiner Gesundheit als auf den scheinbaren meiner Zahlungsfähigkeit. Ja, noch sind Sie der Alte! sagt eigentlich dieses Kompliment. - Noch sind Sie Gott sei Dank nicht so tief gesunken, um in ein anderes Hotel gehen zu müssen. Sie sind unser Gast und unser Kind! Sie bleiben es!
Mein Interesse hinwiederum gilt allem, was das Hotel betrifft, als hätte ich wirklich einmal Anteile zu erben. Wie die Geschäfte in diesem Monat gehen? Welche Schiffe in diesem Monat ankommen? Lebt der alte Kellner noch? Der Direktor war krank? Kein internationaler Hoteldieb dagewesen? - In dieser schönen Stunde kümmert mich alles! Ich möchte die Bücher nachsehen, die Einnahmen kontrollieren. Unterscheide ich mich etwa von einem Mann, der aus Patriotismus das Budget seines Staates kontrolliert, die politische Richtung seiner Minister, die Gesundheit des Staatsoberhauptes, die Organisation der Polizei, die Ausrüstung des Heeres, die Panzerkreuzer der Marine? Ich bin ein Hotelbürger, ein Hotelpatriot.
Bald, bald kommt der Augenblick, wo der Portier in ein entlegenes Fach greift und ein Bündel Briefe, Telegramme, Zeitschriften für mich hervorlangt. Ein schneller Blick fliegt aus der Loge zu mir herüber, der Vorbote der Botschaften. Veraltet und dennoch neu sind die Briefe. Sie haben lange auf mich gewartet. Ihren Inhalt kenne ich schon zum Teil, habe ihn auf anderen Wegen bereits erfahren. Aber wer weiß?! Unter den Briefen, die ich vermute, sind vielleicht andere, die mich überraschen, vielleicht gar aus dem Gleichgewicht bringen, in eine neue Bahn stoßen?! Wie kann der Portier so ruhig lächeln, während er mir die Post übergibt? Seine Ruhe ist die Folge einer langen Erfahrung, einer väterlichen, bittersüßen Weisheit. Er weiß schon, daß nichts Überraschendes kommt, er weiß von der Monotonie des bewegten Lebens, und niemand kennt so gut wie er die Lächerlichkeit meiner vagen, romantischen Vorstellungen. An den Koffern erkennt er die Passagiere und an den Umschlägen die Briefe. »Hier ist die Post!« sagt er gleichgültig. Und dennoch vollführt seine Hand, die mir das Paket reicht, noch eine höfliche Wendung im Gelenk, sie verbeugt sich gleichsam selbständig, nach einem uralten Brauch, einem Ritus der Portierhände ...
Hier in der Halle bleibe ich sitzen. Sie ist die Heimat und die Welt, die Fremde und die Nähe, meine ahnenlose Galerie! Hier beginne ich, über das Hotelpersonal, meine Freunde, zu schreiben. Es sind lauter Persönlichkeiten! Weltbürger! Menschenkenner! Sprachenkenner, Seelenkenner! Keine Internationale neben der ihrigen! Sie sind die wahrhaft Internationalen! (Der Patriotismus beginnt erst bei den Aktionären des Hotels.)
Ich fange an, meinen Freund, den Portier, zu beschreiben.
Frankfurter Zeitung, 19. 1. 1929
Am Nachmittag, »zwischen den Zügen«, wenn die Halle leer und still ist und ein gelbliches, idyllisches Sonnenlicht in die Portierloge strömt, erinnert mich der Portier an eine Art von goldbetreßtem und beweglichem Heiligen in einer Nische. Er faltet, um die Ähnlichkeit noch vollkommener zu machen, seine Hände über die goldenen Knöpfchen, die seinen Bauch verschließen, und gibt sich einer beharrlichen Betrachtung der Luft hin, dem Spiel der Sonnenstäubchen und wahrscheinlich einigen Gedanken, die sein Privatleben berühren dürften. Schließlich beginnt er sich seiner Untätigkeit vor den Boys zu schämen, die in einer kleinen Gruppe beisammenstehen und in denen sich vielleicht schon der Übermut der Jugend regen könnte, und er erfindet einige höchst überflüssige, exemplarisch gedachte Tätigkeiten, aus moralischen Gründen. So zieht er zum Beispiel seine schwere, goldene Uhr aus der Westentasche und vergleicht sie mit der elektrischen Wanduhr, deren großes, weißes, rundes Angesicht wie ein Hotel-Mond, aufgehängt an zwei grobgeflochtenen Ketten, gespenstisch silbern die goldene Atmosphäre des Nachmittags unterbricht. Es ist so still, daß man den großen Zeiger nach jedem Minutenruck ächzen hört, und dieser Klang bekommt etwas Menschliches in der Stille. Lange blickt der Portier auf die Uhren, als wollte er die eine oder die andere auf einem kleinen Sekundenfehltritt erwischen. Dann steckt er mit einer enttäuschten Miene, die ein visueller Seufzer ist, seine Uhr wieder ein. Er legt zwei große Bücher so übereinander, daß ihre Kanten genau übereinstimmen, rückt das Tischtelephon neben das Tintenfaß, rollt mit einer flachen Hand den Federhalter in die für ihn bestimmte Mulde, bläst ein imaginäres Stäubchen vom Tisch, betrachtet lange einen lockeren Knopf an seinem Ärmel und dreht ihn, um sich zu vergewissern, daß er heute noch nicht abfallen wird. Niemand wagt ihn zu stören. In dieser nahezu andächtigen Stunde könnten seine Gehilfen, zwei Männer in Zivil, die schweigsam vor dem Eingang stehen, keine Frage an ihn richten.
Es sind übrigens immer zwei andere Männer, die sich in seiner Nähe aufhalten, und es dürfte ihrer sechs geben. Genau kann ich ihre Zahl nicht nennen, weil sie niemals gleichzeitig und vollzählig vorhanden sind. Wenn die einen kommen, sind die anderen unterwegs, in Konsulaten, Apotheken, Blumenläden, fremden Wohnungen, von den Gelegenheiten in Anspruch genommen, deren Boten, Kunden und Diener sie sind. Ob sie zum besoldeten Hotelpersonal gehören oder zu den protegierten Freunden des Portiers, ist mir seit Jahren festzustellen nicht möglich. Allem Anschein nach ist der und nicht das Hotel ihr Brotgeber, er, der Vater der Gelegenheiten. Sie gehorchen ihm, wie Jagdhunde dem Treiber — und sie mögen sich auf noch so entfernten Wegen befinden, immer ist es, als hielte er sie alle an unsichtbaren, dehnbaren Schnüren und als wäre es ihm möglich, sie jeden Augenblick zu erreichen. Er behandelt sie wie eine Art armer heruntergekommener Verwandter, die man vom Schicksal mitbekommen hat, eine erbliche Krankheit. Ihre Existenz hat zweifellos etwas Rätselhaftes - ein Leben ohne Uniform und ohne Abzeichen. Hier trägt jedermann sonst das Abzeichen seines Dienstes und seiner Bestimmung, nur sie haben die Anonymität eines Zivils, das an die Ränder der Gesellschaft denken läßt, eine Gehetztheit verrät, ein gejagtes Jagen, an Polizei erinnert und gleichzeitig an verbotene Wege. Genug von ihnen! In dieser stillen Stunde sind sie für den Portier Luft, weniger als Luft, die er immerhin manchmal zu betrachten geneigt ist. Sie aber sieht er nicht an, selbst wenn er zu ihnen spricht. Er hat die Fähigkeit, von dem erhöhten Podium, auf dem er steht, einen Auftrag hinunterzuerteilen, ohne eine bestimmte Person anzusehen, als wäre die Halle bevölkert von Dienstbeflissenen, die nur auf einen Befehl warten. Und nur wenn ein Gast an den Tisch tritt, um eine Bestellung aufzugeben, neigt er sachte den Kopf - nicht etwa um besser zu hören, sondern um seine Überlegenheit zu verbergen, welche die Gäste nicht gerne merken mögen.
Denn er ist ihnen ohne Zweifel überlegen. Ich finde an seinem starken Kopf, der breiten weißen Stirn, an deren Schläfen die schwarzen Haare schon silbrig zu schimmern beginnen, den weit auseinanderliegenden hellgrauen Augen, über denen sich die dichten und großen Brauen in vollkommener Rundung wölben, dem tiefen Ansatz der später kräftig vorspringenden, knochigen Nase, dem großen und abwärts gebogenen Mund, den der melierte Schnurrbart in ähnlich vollkommener Wölbung überschattet, wie die Braue das Aug', dem massiven Kinn, in dessen Mitte ein verlorenes, schmales Grübchen liegengeblieben ist als eine Erinnerung an die Kindheit: Ich finde an diesem Angesicht gewisse Züge von porträtierten großen Herren wieder, einen bestimmten Ausdruck von stolzer Kälte, einen Hauch, der über das ganze Angesicht gebreitet ist wie ein durchsichtiges, klares Visier aus bitterem Frost. Das Angesicht ist bräunlich gerötet, als käme es aus einem Leben im Freien, aus einem Leben zwischen Korn, Wasser, Wald und Wind, die Haut ist straff - und die wenigen starken Runzeln über der Nase und die vielen zarteren dicht unter den Augen scheinen nicht von alltäglichen Sorgen eingegraben worden zu sein, sondern freiwillig empfangene Zeichen, Tätowierungen des Lebens und der Erfahrungen, ausgeführt von Wind und Wetter...
Wie er sich jetzt vor dem Herrn verneigt, ist es keine Verbeugung, sondern eine körperliche Herablassung. Wie er einen Auftrag entgegennimmt, ist es, als erhörte er eine Bitte. Wie er so zustimmend nickt, erinnert er an den milden Richter aus amerikanischen Filmen (wo allein noch milde Richter vorkommen). Der Gast macht ihm jetzt einen Vorwurf. Aber es sieht aus, als dächte der Portier nach, wer wohl von allen der Schuldige sein könnte. Und mittels einer kleinen, außerordentlich nebensächlichen Frage wird er aus einem Pflichtvergessenen ein Mitfühlender, und sein Versäumnis verwandelt sich in Teilnahme. Als wäre der Herr zu ihm gekommen, nicht um ihm etwas vorzuhalten, sondern um sich bei ihm zu beklagen! »Heda!« ruft der Portier zu der Gruppe der untätigen Boys hinüber. »Wervon euch hat den Anzug von 375 zum Bügeln getragen?« - Schweigen. - Es war kein Boy, sondern der Hausdiener, den der Portier eben mit dem Autobus zur Bahn geschickt hat. Er erinnert sich sehr wohl an den Protest des Hausdieners, den Anzug, die besondere Dringlichkeit des Auftrags. Aber er hat nicht einen Augenblick ein Schuldbewußtsein. Ich will nicht damit angedeutet haben, daß er etwa kein Gewissen hätte! Es ist nur anders beschaffen! Es ist weiter, räumlicher, vergleichbar dem eines Generals zum Beispiel, von wichtigeren Dingen in Anspruch genommen, von der Sorge ums Ganze erfüllt. - »Marsch hinunter - und den Anzug geholt!« befiehlt er jetzt. Wer gäbe noch was für die Unversehrtheit eines Boys, der in dieser Situation zu fragen wagte: Wo ist der Anzug zu holen?! Es ist jetzt etwas im Auge des Portiers erwacht, etwas, das an einen Peitschenknall im Zirkus erinnert, einen gezückten Dolch, ein Unwetter am Horizont... Der Boy fragt nicht; er läuft. Über der Gruppe der zurückbleibenden Jungen läßt sich ein brütendes Schweigen nieder, eine verhängte sommerliche Schwüle. Einsam steht der betreßte Meister auf seiner Höhe und atmet eine Wolke stummen Grolls in die Halle...
Dennoch könnte er sofort wieder lächeln, wenn ein Gast, wie ich zum Beispiel, gerade das Bedürfnis hätte, ihn um etwas anzugehn. Nichts an ihm - der mir durchaus nicht so verständlich ist, wie ich glauben machen will - ist mir so merkwürdig wie seine Gabe, Zorn und gute Laune, abweisende Erhabenheit und dienstbereite Beflissenheit, Gleichgültigkeit und Neugier sehr schnell aufeinander folgen zu lassen. Es scheint mir manchmal, daß jede seiner Stimmungen mit ihrem Gegenteil gefüttert ist und daß er seine Laune nur zu wenden braucht, um sich zu verwandeln. Jetzt, zehn Minuten bevor die ersten Gäste vom »Mailänder Expreß« kommen, rüstet er sich zum Empfang, das heißt: er rückt an der Weste. »Zehn Minuten!« ruft er dem Empfangschef zu. Es ereignet sich etwas Außerordentliches: Er verläßt seine Loge. Er steigt von seinem erhöhten Platz und zerstäubt die Gruppe der Boys, von denen jeder an eine bestimmte Stelle läuft, der eine zur Drehtür, ein anderer zum Lift für Gepäck, der zu dem für Personen, jener an die Treppe, zwei zur Garderobe. Noch zwei Minuten - und das erste Automobil fährt vor. Der Portier spitzt die Lippen und läßt einen leise zischenden Schlangenruf ertönen. Aus einem dunklen Seitengang stürzt ein Gepäckträger in grüner Schürze hervor. Schon hört man draußen einen surrenden Motor. Schon kommen die ersten Gepäckstücke. Der Portier wirft einen Blick auf sie, und da es lederne Koffer sind und ein dunkelgraues, grünkariertes Plaid und ein ledergesäumtes Stoff-Etui für Regenschirme und Spazierstöcke, rückt er noch einmal an seiner Weste. Bei jedem neuen Gast tauscht er einen schnellen Blick mit dem Empfangschef - und jeder Blick bedeutet: eine Zimmernummer, ein Stockwerk, einen Preis, eine Mahnung, eine Warnung, Zufriedenheit oder Mißmut. Ja, es gibt Gäste, bei deren Eintritt der Portier ganz sachte ein Auge schließt, so daß ihnen die Auskunft zuteil wird, es sei alles besetzt. Manchmal - aber das kommt höchstens einmal in der Woche vor - macht der Portier eine Verbeugung, und wenn er sich wieder aufgerichtet hat, sieht man, daß ein Lächeln sein Gesicht verklärt, ein ansteckendes Lächeln übrigens, das sich auf alle überträgt wie ein Gähnen. Dann geht der Gast an lauter lächelnden Gesichtern vorbei, wie zwischen zwei Reihen von Lichtern. Nebenbei gesagt, sehe ich bei dieser Gelegenheit, daß der Portier eine wollige graue Zivilhose, die zu einem offenbar eleganten Straßenanzug gehört, unter seiner halben Uniform trägt, als wollte er so andeuten, daß er nur zur oberen Hälfte livriert ist, zu jener nämlich, mit der
Er setzt sich, obwohl man es nicht immer sofort erkennen kann, niemals ohne eine Absicht in Bewegung. Es sind Gäste gekommen, die er schon vor zwanzig oder dreißig Jahren bedient hat und die er kommen sah, während er an der Säule lehnte und seine Augen auf irgendein Jenseits gerichtet zu sein schien. Seine Aufmerksamkeit ist noch die alte, nur seine Gliedmaßen sind langsamer geworden. Genauso beobachtete er die Ankunft der Menschen schon vor vierzig Jahren. Nur lief er damals schneller, im Nu stand er vor ihnen, rannte er zur Küche, kam er wieder zurück. Ganz unmerklich, aber unaufhaltsam wurden im Laufe der Jahre und Jahrzehnte seine Füße schwächer, seine Hände zittriger, seine Bewegungen langsamer - unmerklich wie der Weg des Stundenzeigers auf den Uhren ist, aber ebenso sicher wie dieser war der Weg der Schwäche und des Alters im Körper des Kellners. Jeden Tag wurde sein Lauf ein winziges bißchen schwerer - bis es endlich nach vierzig Jahren ein schleppender Gang war.
Frankfurter Zeitung, 27. 1. 1929