Louis-Ferdinand Céline
Norden
Roman
Aus dem Französischen von Werner Bökenkamp
Rowohlt Digitalbuch
Louis-Ferdinand Céline (eigtl. L.-F. Destouches) wurde 1894 in Courbevoie geboren. Nach Kriegsteilnahme und -invalidität studierte er Medizin und reiste ab 1925 im Auftrag des Völkerbundes durch Amerika, Europa und Afrika. Nachdem er sich im besetzten Frankreich durch antisemitische Pamphlete und Mitarbeit an der Kollaborationspresse hervorgetan hatte, floh er 1944 aus Frankreich, wo er in Abwesenheit zum Tode verurteilt wurde. Nach der Amnestie kehrte er 1952 nach Frankreich zurück und ließ sich als Armenarzt in Meudon nieder. Er starb am 1. Juni 1961.
Im Vordergrund dieses Romans steht die Not des Menschen auf der Flucht, des Menschen in der Falle, des Menschen, der, verzweifelt und voller Groll über die Ungerechtigkeit der Welt, kein Vertrauen in die Zukunft hat, der nicht weiß, wovon er sich am nächsten Tag ernähren und ob er diesen Tag überhaupt erleben wird. Die Sprache dieser letzten Eruption des Vulkans Céline ist jener gehetzte und hetzende Argot, jenes «Französisch des 21. Jahrhunderts», dem dieser Autor seinen Platz in der Weltliteratur verdankt.
«Eine Schilderung vom Zusammenbruch Nazideutschlands, wie sie in der deutschen Literatur nicht ihresgleichen hat.» (Die ZEIT)
Die Originalausgabe erschien 1964 unter dem Titel «Nord» bei Éditions Gallimard, Paris.
Rowohlt Digitalbuch, veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Juni 2013
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«Nord» Copyright © 1960, 1964 by Éditions Gallimard, Paris
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Umschlagentwurf Klaus Detjen
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ISBN Buchausgabe 978-3-499-15499-7 (2. Auflage 2007)
ISBN Digitalbuch 978-3-644-02311-6
www.rowohlt-digitalbuch.de
ISBN 978-3-644-02311-6
Bewaffnete Résistance-Kämpfer, Mitglieder der Forces Françaises de l’Intérieur. (Anm.d.Übers.)
Widerstandssender. (Anm.d.Übers.)
Anspielungen auf «Manon Lescaut», Roman und Oper. (Anm.d.Übers.)
Hässlicher Krüppel, Hauptfigur in V. Hugos «Glöckner von Notre-Dame». (Anm.d.Übers.)
Den Kollaborateuren wurden von Widerstandskämpfern kleine schwarze Särge ins Haus geschickt. (Anm.d.Übers.)
Präsident des Senats (1896) und der Republik (1899–1906). (Anm.d.Übers.)
Siehe Anm. 19. (Anm.d.Übers.)
Die «Zone», (la zone) der verwahrloste Gürtel zwischen der alten Pariser Stadtgrenze und den Vororten. (Anm.d.Übers.)
Der von Flaubert geschaffene Typ, der die bürgerliche Dummheit und Pedanterie verkörpert (Madame Bovary). (Anm.d.Übers.)
Anspielung auf das Verbrechen eines Priesters, der das von ihm geschwängerte Mädchen ermordete. (Anm.d.Übers.)
Versicherungsgesellschaft. (Anm.d.Übers.)
Schwarzer Präsident des französischen Senats. (Anm.d.Übers.)
Maurice Sachs (1906–45), französischer Schriftsteller, jüdischer Kollaborateur. (Anm.d.Übers.)
Tallemant des Réaux (1619–92), Autor der Histoirettes. (Anm.d.Übers.)
Widerständler und Minister in der ersten de Gaulle-Regierung. (Anm.d.Übers.)
Rechtsradikales Blatt, aber antigaullistisch. (Anm.d.Übers.)
Früherer (jetzt verstorbener) Direktor des Figaro, unterstützte die Vichy-Regierung. (Anm.d.Übers.)
Vermutlich der Schriftsteller Roger Niestier. (Anm.d.Übers.)
Etwa: «Zeitschrift zur Verbreitung von Langeweile»; gemeint ist die Nouvelle Revue Française. (Anm.d.Übers.)
Anzeigenblatt. (Anm.d.Übers.)
Maurice Thorez, der verstorbene Generalsekretär der französischen KP, nannte sich «Sohn des Volkes». (Anm.d.Übers.)
Französischer Politiker (1857–1945), einer der Vorkämpfer für den Völkerbund. (Anm.d.Übers.)
Pétanque ist die südfranzösische Form des Bocciaspiels. (Anm.d.Übers.)
Person von Molière, zugleich bösartig und lächerlich. (Anm.d.Übers.)
Katholische Tageszeitung. (Anm.d.Übers.)
L’Année terrible ist der Titel eines Bandes mit Gedichten, die Victor Hugo unter dem Eindruck der Ereignisse von 1870/71 geschrieben hatte. (Anm.d.Übers.)
Pariser Boulevardtheater, inzwischen eingegangen. (Anm.d.Übers.)
Aufstand der Royalisten zu Beginn der Restauration im Süden Frankreichs. (Anm.d.Übers.)
Herold Paqui, Kollaborateur, Propagandist von Vichy, 1945 erschossen. (Anm.d.Übers.)
Oh, ja, sagte ich mir, bald wird alles zu Ende sein … uff! es reicht einem … mit fünfundsechzig Jahren und etzlichem, was kann einen da schon die schlimmste Erz-H-Bombe scheren? … Z-Bombe? … Y-Bombe? … ein Furz! … Lappalien! schrecklich nur das Gefühl, so seine ganze Zeit verloren zu haben und welche Unmasse von Anstrengung für diese grässliche, verfluchte Horde von alkoholischen, schwulen Knechten … was ’n Elend, Madame! … «verkaufen Sie Ihren Groll, seien Sie still!» … in Teufels Namen, einverstanden! … na schön, aber wem? … die Käufer maulen über mich, scheint es … sie lieben und kaufen nur die Autoren, die fast wie sie selbst sind, dazu gerade noch eine kleine farbige Borte … Chef-Bediener, Chef-Arschwisch, Dinglecker, Ausflüsse, Weihwasserbecken, Richtpfähle, Bidets, Fallbeile … da will sich der Leser wiederfinden, sich wie der Nächste, der Bruder fühlen, sehr verständnisvoll, zu allem bereit …
«Schweigen Sie! … schon auf den Galeeren hatten sie zehn Prozent ‹Freiwillige›, Sie gehören zu ihnen!»
Es ist sehr wohl möglich, niemals zu wählen, und trotzdem seine Meinung zu haben … und sogar mehrere … ein Vorrecht des Alters … von einem bestimmten Zeitpunkt ab liest man keine Artikel mehr … nur noch die Reklame … die sagt einem alles … und die Todesanzeigen … Sie wissen, was die Leute wünschen … und dass sie tot sind … das genügt! … das Übrige: Babbelei … links, Mitte oder rechts! … «geduldete Schnapsbuden» wie früher die «Häuser» für jeden Geschmack … die kleinen Süchte wie die großen …
Man sieht, wie sie den armen Flüchtlingen, Smyrnoten, Bulgaro-Bastaven, Afro-Pollacken unter die Arme greifen, alle so bedauernswert, aber Sie, verdammter Mist? Sie sind nicht mehr vorhanden! … haben Sie’s noch nicht bemerkt? … ausradiert …
Jahrgang 94 überholt, na klar … da will ich Ihnen aber mal was sagen, man müsste eigentlich von 100 vor Christus stammen! … alles, was wir erzählen, langweilt! … die Theaterstücke, dasselbe Gähnen! und Kinos und Fernsehen … missliche Sache! was Krethi und Plethi und Prominenz wollen: Zirkus! … bluttriefende Todesstöße! … richtiges Röcheln, Foltern, mit der ganzen Arena voll Gedärme! … Keine Seidenstrümpfe, falsche Titten, Seufzer und Schnurrbärte, Romeos, Kameliendamen, Hahnreie … nein! … ein Stalingrad! … Halden von abgehackten Köpfen! Helden mit den Ruten im Mund! man will mit seinem Karren voll Augen von den großen Festspielen zurückkommen … kein Progrämmchen mit Goldschnitt mehr! was Ernstes, Blutrünstiges … keine Pankrations-Schauspiele mehr, und auch noch «geprobte», nein! … der Zirkus wird alle Theater zum Schließen bringen … die vergessene Mode wird Furore machen … die von 300 Jahren vor Christi Geburt! … «Machen Sie’s kurz!» … Sie denken an den Roman! ich beeile mich! … Abendanzug ist vorgeschrieben? aber nein doch! … «Die Vivisektion der Verwundeten!» … da haben wir’s! all die Kunst, jahrhundertelang sogenannte Meisterwerke für nichts und wieder nichts! Betrügereien! Verbrechen!
«Sie halten sich also für einen Chronisten?»
«Nicht mehr und nicht weniger! …»
«Ganz ohne Hemmungen? …»
«Fordern Sie mich nicht heraus! ich höre noch Frau von Dopf …»
«Ich versichere Ihnen, Monsieur Céline, wenn mein Mann noch gelebt hätte, wir hätten Hitler nie bekommen … dieser Katastrophen-Mann! … Intelligenz ohne Willen führt zu nichts, nicht wahr? … aber Wille ohne Intelligenz? … eine Katastrophe! … das ist Hitler! … meinen Sie doch auch, Monsieur Céline? …»
«Gewiss, Madame, gewiss! …»
Weiß Gott, wie wild gaullistisch, antihitlerisch die Gäste des Simplon in Baden-Baden waren … reif für die Alliierten! … Lothringer Kreuz im Herzen, in den Augen, auf der Zunge … und keine kleinen Pechvögel, kopfscheue, abgeschabte Krämer … nein … alle an großen Luxus gewöhnt, von der Oberkategorie, zwei, drei Zimmermädchen pro Appartement, sonniger Kurbalkon auf die Lichtenthalallee … die Ufer der Oos, dieses Bächlein mit seinem so vornehmen Plätschern, von allen Arten seltener Bäume gesäumt … die ausgesuchteste Lage … silberbelaubte Trauerweiden am Wasser entlang auf zwanzig … dreißig Meter … sorgfältigste Gartenkunst dreier Jahrhunderte … das Simplon nahm nur Gäste aus äußerst guten Familien auf, ehemalige regierende Fürsten oder Ruhrmagnaten … solche Hüttenbesitzer mit hundert … zweihunderttausend Arbeitern … zu der Zeit, von der ich Ihnen erzähle, Juli 44, noch sehr gut und sehr pünktlich versorgt … sie und ihre Leute … mit Butter, Eiern, Kaviar, Marmelade, Lachs, Cognac, Sekt … wellenweise mit Fallschirmen auf Wien, Österreich abgeworfen … direkt von Rostow, von Tunis, von Épernay, von London … die an sieben Fronten und auf allen Meeren wütenden Kriege hindern nicht am Kaviar … die Super-Zermatschung, die Z-Bombe, Steinschleuder oder Fliegenklappe, wird immer die «Delikatessen» der hohen Tafeln verschonen … Da kann man lange warten, bis Krukruzew sich von «Fußlappen» ernährt! Nixon mit Wassernudeln, Millamac mit rohen Karotten … die hohen Tafeln gehören zur «Staatsräson» … Dazu gehörte auch das Simplon mit allem, was man brauchte! … in allen Stockwerken als Küchenjungen verkleidete Mörder, die das Kompott mit Maraschino herumtrugen … eine Frage des Bargelds, da können Sie sich vorstellen, dass diese Leute gewissenlos waren … dass die «Mark-Börse» für zehn, fünfzehn Millionen, auf einmal, auf eine Karte, die Gäste und die Gauner vergnügte … die Hast, dieses Jux-Geld loszuwerden … irgendwas zu kaufen! aber woher der Ramsch? von nebenan! … aus der Schweiz … und durch sie aus dem Orient, aus Marokko … und zu welchen Preisen! … schubkarrenweise Mark! … sehr schön … sehr schön … aber man brauchte noch einen Basar! … da wurde ein ganzes Stockwerk im Simplon hergerichtet … mit seinen echten Händlern! … gelockt, geschniegelt, gebräunt, dazu verschlagen … Jaguarfreundlichkeiten, fangzähniges Lächeln, Vettern von Nasser, Laval, Mendès, Jussef … «immer feste! geliebte Gäste!» … da hätten Sie mal die Magnaten sehen sollen, was die für Devisenladungen heranbrachten! … der Simplon-Basar im vollen Handel! … da liegt des Pudels Kern! ein Buchara fünf Kilo «Schlacht-Bank»! gewogen! … aufgekauft! … morgen werden sie dieselben sehen, in Basaren im Kreml, Russland, im Weißen Haus, USA, mitten in einem neuen Krieg! … zehn, zwanzig Hiroshima täglich, dann wird man feststellen können, das bumst, ein Höllenlärm, mehr nicht! … Milde, Sums, grässliches Knirschen … aber alles, sofern nur Merkur wieder da! … das Wesentliche! … sei es in den russischen Straflagern, in Buchenwald oder in «schlimmsten Zwangsanstalten», oder unter der Atomasche, Merkur ist da! sein Tempelchen? … Sie sind beruhigt! … das Leben geht weiter … Nasser auch und sein Kanal! … und Marmeladen! … und der echte Kaviar aus Rostow! … der letzte übriggebliebene Fallschirm soll sich nur nicht unterstehen, bitteschön, etwas anderes fallen zu lassen als eine große Kiste Chianti, plus geschliffene Schalen, Spiegel, «reines Venedig», besser als alles andere! Nylon-Morgenröcke «Façon Valenciennes»! alles auf den Tisch der «Kommissar»-Damen! … parfümierte Idole, gleichgültig gegenüber dem Foltern, vor den Galgen gähnend … denkt ein bisschen an die «Ratafia-Nylon»-Hemdchen, mit dem letzten Fallschirm! … dass wir das nicht zweimal müssen sagen! nicht immer die langweilige Masche, fünf Provinzen in Staub zu verwandeln! so starke Neutronen zu schmeißen, dass man die Gare Saint-Lazare nicht wiederfindet! … keine Schraube einer Lokomotive! … genug mit eurem Wahnsinn!
Ich versichere Ihnen, in Baden-Baden im Simplon-Hotel, da war was los! … nicht nur die Leute von den Ruhr-Konzernen und den Banken aus Mitteleuropa und dem Balkan, auch verwundete Generale, was von allen Fronten, besonders am Tisch des Gesandten Schulze, des Vertreters der Kanzlei … das alles darbte nicht, Ehrenwort … feinste Verpflegung und allerhand Komplotte, Kabalen und Zeitpläne! … Sie werden mir sagen, das ist erfunden! … durchaus nicht! … getreuer Chronist! … natürlich musste man dabei gewesen sein … die Umstände! das ist nicht allen gegeben … das Ende der Mahlzeiten mit Hammelkeule, mit gewichtigen Geheimnissen und Burgunder … unwiderstehlichen Menüs! … Feinheiten vom Anfang bis zum Ende, Vorspeisen mit Erdbeeren und Schlagsahne … Melba! … Sirup? … mehr? … weniger? … pah! … und all die dienstbeflissenen Kellner, hören zu und notieren alles, Zögern, «Ja», und Seufzer … als feinste Spürnasen der Widerstandsnetze, Kommunisten, «Fifis»[1], Geheimdienst, Wilhelmstraße, tutti frutti … alle mehreren Herren dienend! … ebenso geschickt, vier Mikros auf einmal zu bedienen, wie Fasanen, Langusten mit zwei Soßen und Sellerie mit derselben Hand zu reichen! im selben Augenblick! zwölf Gästen … Geschmeidigkeit, Schweigsamkeit, Genauigkeit! … viele hatten Pétain bedient und Göring im Ritz in Paris … und nicht nur Hermann! alle Nazigrößen und die Baronin Rothschild … für die verratzten, zerlumpten, verkrachten, hirnverbrannten Rassisten! … die Elite ist die Elite, egal wie, egal wo … für die andern die Kundgebungen und die Kacke! Entschließungen, Gegröle, erhobene Fäuste, gesenkte Fäuste, verdrehte Daumen, auf die Knie, hingelegt, in die Scheißhäuser mit der Sippschaft! … ein Ober des Weißen Hauses, Kremls, Vichys oder des Simplon hat so eine Art, einem die Radieschen zu reichen, dass man sich nicht täuschen kann … der «Strolch unteren Ranges», sei es nun Rotkohl oder Blumenkohl, «Borschtsch» oder Fleischbrühe, wird immer den gemeinsamen, betrüblichen Furz haben … den gleichen beim Beaujolais oder beim Wodka! … ganz anders verdaut Windsor, der Kreml, das Élysée! … was fordert die Humanité, die «Intelligenzija» der Verdammten? … ihr Glück, ihre Inbrunst? dieselben Fürze zu haben wie Krukrutschew oder Picasso! … so verdammt zu sein! … ist gar nicht so leicht! … Stil, Traditionen, dicke Teppiche, lautloses Geschirr! … he, ihr Lümmel!
«Könnten Sie, bitteschön, diese Kraftbrühe etwas sämiger …»
«Wie Hoheit belieben!»
So war’s … ebenso mit dem Steinbutt! … man brauchte es nicht zweimal zu sagen!
Selbstverständlich waren Bibici, Brazzaville und La Chaux-de-Fonds[2] früher als wir über die geringsten Stimmungsänderungen, das winzigste Kluckern der Bidets unterrichtet … Sie konnten Stunde für Stunde alle Lautsprecher in den Korridoren alle Sender der Welt schmettern hören und alle Neuigkeiten des Simplon … Sie erfuhren durch Trapezunt, was im Nebenzimmer passierte … die Neuankömmlinge und die Abreisen … Zum Kuckuck! das störte niemand! … der gewaltige, ganz eingeschnürte Balg, «unbeschränkte Vollmachten», der Legationsrat Hans Schulze dachte nur daran, sich zu verdrücken … all seine Gedanken, Sicherheit! … Güter und Familie in Ostbayern … und für uns natürlich der Schlachthof … bestimmt hatte er seinen Geheimdienst! … alle Lakaien, Küchen, Korridore, Ober kamen, Stunde für Stunde, ihm absolut alles zu erzählen … alles, was in den Buden passierte, Bakkarat, gemischte Partys, Koks … für die Krankheiten war ich’s … jeden Morgen zum Bericht! … das ist eine Tatsache, niemand könnte zu behaupten wagen, dass irgendetwas im Simplon-Hotel verborgen blieb … im vorhergehenden Buch habe ich Ihnen von Sigmaringen erzählt – zu einem bestimmten Zeitpunkt, sofern nur «die Nachrichtendienste» funktionieren, sich schön überschneiden, sich häufen … dann geht alles! … das kann Jahrhunderte so weitergehen … Beispiel Rom, Ninive, Byzanz, Babylon … und, näher bei uns, die Sowjets … Sie werden schon sehen, dass wir zwei … drei Jahrtausende überdauern können, die Sowjets und wir, von Verratsprozessen zu rosigen Balletten, von zwischenpolizeilichen Corridas zu blutigen Säuberungen … und Wieder-Reden und Wieder-Wählereien! Hurra! die Pithekanthropheit soll bimsen, und feste … ist nicht umsonst aus den Höhlen rausgekommen … Palaver, Fahndungen, Mikrofilme, und üppiges Leben! Frickeleien von Hosenställen und Mählern! … unserer, der Legationsrat Schulze verlangte nichts anderes … Nachrichten und ein fürstliches Leben … ich habe ihn und seine Familie behandelt, er, seine Büros, seine Erzieherinnen und Kinder nahmen den ganzen «sonnigen Flügel» des Hotels ein … er konnte nichts Besseres wünschen … doch! … in puncto Küche … da war er gar nicht zufrieden! sie verdarben ihm seine Bouillabaisses! … obwohl sie sich Mühe gaben … aber … aber sie taten’s extra! klar! Schulze, der feine Kenner, zehn Jahre Konsul in Marseille! ihm solchen Fraß raufzubringen! Sabotage!
«Herr Doktor, Doktor! Probieren Sie mal dieses Spülwasser! … eine Suppe für die Heilsarmee!»
Zehn Jahre Konsul in Marseille! er ließ den Küchenchef raufkommen … auch aus Marseille! und das redete, und mit einem Akzent! die ganze Wehrmacht flutete zurück, verlor Europa, kann man sagen, ließ zwanzig Armeen im Stich, aber Schulzes Bouillabaisse blieb die Hauptsorge des Simplon-Hotels … und durch Sonderzufuhren! Seeröten, Knoblauch, Safran und kleine Fische von den maurischen Küsten, zwanzig Arten, zur festgesetzten Zeit, frisch im Aquarium, mit dem Flugzeug … man sollte später ja nicht behaupten, man hätte sich im Simplon-Hotel, ob in Krieg oder Frieden, jemals gehenlassen … und trotzdem gab diese Bouillabaisse Anlass zu Kommentaren … ja, zu Verdächtigungen! …
Zugegeben, dass sie in den Küchen, im Keller ein bisschen durchgeschüttelt wurden … unhöfliche Marauders taten, als hätten sie es auf uns abgesehen … taten so! … aber gar nicht! Looping und Pirouette und Servus! … schwirrten ab und bombardierten das Land! … aber unten, in den Küchen konnten sie annehmen, dass was fällig war … die Erde bebte … und die Töpfe … und der geriebene Käse der Bouillabaisse … schließlich und endlich … Schulze und der Küchenchef waren nicht ganz überzeugt, dass nicht ein Küchenjunge schuld war …
Und ich erzähle Ihnen nichts vom Kasino! … unverzeihliches Versäumnis! … das Kasino «Treffpunkt Europas», der ganzen Prominenz … Adel, Botschaften, Theater … lange bevor die «Massen» reisten und Amerika in drei Stunden kam … stellen Sie sich diese Spielsäle vor im «Siebenbürger» Barock, mit himbeerrot-goldenem Samt tapeziert … man erwartet des Grieux … Manon[3] ist «auf Probe» … zehn Manon! … keineswegs reuig! … immer genießerischer! … rot und schwarz … mit Wimpern, Titten, Hüften … und der Büstenhalter, der abschwirrt!
Verkalkte Obersten, leberkranke Räte und kränkliche alte Schachteln herzkrank, bleich … bleich … die keinen roten Heller mehr hatten … und keine Kräfte mehr, um aufzustehen … wegzugehen … es ist Krieg, die Kapelle fehlt … das einzige Geräusch immer dasselbe rrrrr! … des Roulettes … und die Stimme des Kantors trocken … «jeux sont faits!» … Die Junker-Gäste des Simplon machten mal ihre Runde … ziemlich hochnäsig, wie es sich gehört … aber die flüchtigen Kollaborateure, die Damen besonders, klammerten sich zu dritt … viert … an die Stühle … und gieperten nach der Chance …
Die Konditorei des Kasinos war immer vollgepfropft mit Boche-Kriegerwitwen … mitten in ihrer Genesungskur wegen der seelischen Erschütterungen … und immer rein mit den Kremeschnittchen … Liebesknochen und Stollen! … Heidelbeertorten und Schüsseln voll Windbeuteln … eine Lust, ihnen zuzusehen! … ich muss gestehen, wir haben’s ein bisschen ausgenutzt … später haben wir was auszustehen gehabt! … ich hab’s Ihnen erzählt! die Ersatzkuchen in Sigmaringen, mehr Gips als Mehl … nehmen Sie’s mir nicht übel, wenn ich alles etwas durcheinander erzähle … das Ende vor dem Anfang … schöne Geschichte! es kommt ja nur auf die Wahrheit an … Sie werden sich schon zurechtfinden! ich finde mich zurecht! … ein bisschen guter Wille genügt! … Wenn Sie sich ein modernes Bild ansehen, dann haben Sie etwas mehr Mühe! … gar nicht übertrieben, Ihnen die Kriegerwitwen mitten in der Kur zu schildern, Überernährung mit Torten, Teegebäck, Erdbeertörtchen … Kännchen mit sahniger Schokolade … ganz einfach alle Münder voll, überfließend … Schwierigkeiten, wenn sie nach Hause gehen … die Türen mit Windfängen! … die Kellner mussten sie schieben … all diese etwas schläfrigen Damen … sollen sie hier … da stranden … im Park … auf einer Bank … einer andern … rülpsend … träumerisch … noch viele Stunden verdauend …
Die Croupiers dagegen hatten nichts zu lachen … und hatten keine Zeit, Gebäck zu essen! … Zwangsarbeiter der Spielmarken! … «Hierher das Geld! … die Fünf!» … außerdem mussten sie ihre Schüler anlernen, jeder einen … auf dem Schemel neben ihm, ein ausgesuchter Kriegsbeschädigter, Krüppel, und in Uniform … keine Zeit zu verlieren! Rehabilitation eines Schwerverletzten! … er sollte rasch lernen, wie man die Kugel schleudert! … und Zusammenharken! … fünf! drei! vier! «les jeux sont faits!» … die Gewandtheit Fortunas! der harmonische Schwung, die Zügigkeit, das Geld … die tadellose Ankündigung! … die Tradition des Baden-Badener Kasinos ist nicht von gestern! … Berlioz hat dort gespielt und Liszt … und alle Fürsten Romanow … die Narizkin und die Savoyen … Bourbonen und Braganza … wir waren natürlich Eindringlinge, die kein Land in Europa haben wollte … kurz, es war eine Oper, in der komischen Art … als Zuschauer vermögen Sie alles … die Geschichte rollt, spielt sich ab, Sie sind da … ich erzähl’s Ihnen …
Dieselben Croupiers wie in Monte Carlo, genau … alle angeblich «deportiert» … die öligen Tollen, die gleichen … die gebogenen Nasen ebenfalls … die Smokings mit aufgenähten Taschen … wie in Ostende, Zoppot, Enghien … sanfte Fallbeil-Stimmen, «faites vos jeux» … alles in allem eine einzige Neuheit, die Rehabilitation der Krüppel durch die monegassischen Fachleute … das Große Reich dachte an alles … jetzt findet man einige Fehler an ihm! nun! … was man jetzt von den Galliern, von Ludwig XIV., sogar von Félix Faure erzählt! … alle Besiegten sind Schweinehunde! … ich weiß das … nur zu gut …
In den ganz alten Chroniken heißen die Kriege anders: Völkerwanderungen … ein noch durchaus zutreffender Ausdruck, nehmen wir nur das französische Volk und die französischen Armeen im Juni 40, eine einzige Wanderung von Bergen op Zoom zu den Pyrenäen … den Hintern schon voll Kacke, das Volk und die Armeen … bei den Pyrenäen trafen sie sich alle wieder! … Deutsche und Franzosen! … kämpften nicht, tranken, lagerten sich, schliefen ein … Ende der Wanderung! … und nun führ ich Sie nach Baden-Baden zurück! … Unordnung, Gedankengerümpel! … warum bin ich noch einmal von Montmartre weggegangen? der verfluchte Schiss, vier Jahre später in der Avenue Junot zusammengeschlagen zu werden … oh, welch unrühmliche Geständnisse! alle Freunde und alle Verwandten warteten nur darauf, dass ich geschunden würde, alle einig, alle bereit, raufzuspringen, all meine Möbel rauszuholen, meine Betttücher unter sich zu verteilen, den Rest zu verscheuern … was sie dann auch recht schön gemacht haben, Gottverdammich! da kann man nichts sagen, ich hatte es darauf angelegt … ich hatte mich für sie gekreuzigt! … der liebe Jesus stirbt auch zehntausend Jahre später noch jeden Tag! … eine Lehre, die nicht für alle vergeudet ist! Beweis: Sie brauchen sich bloß die Straßen anzusehen, was da so an motorisierten Hochstaplern vorbeibraust, voll Kaviar, Diamanten, Ferien … nicht für einen Furz opferbereit!
Die französische Armee, da wir schon davon sprechen, die hat 40 ihren Dünnschiss gehabt, den großen Galopp Bergen op Zoom–Bayonne … wir, Lili, ich, Bébert, La Vigue, 44 … Rue Girardon–Baden-Baden … jedem sein schissriges Epos! der zum Tode verurteilte kleine Tintin ist, um die Ehre und seine Haut zu retten, ins Flugzeug nach Lourdes gesprungen … ich will Ihnen hier keine «Parallelbiographien» auftischen … Tintin und ich, das ist zweierlei … seine Chronik bringt auch Milliarden! … meine höchstens ein paar hundert «schwere» Francs … Tintin hat überall seine Statuen, auf meinen Grabstein wird man nicht einmal meinen Namen zu gravieren wagen … schon bei meiner Mutter auf dem Pere-Lachaise hat man das Grab gesäubert, unseren Namen ausgelöscht … so ist das, wenn man sich im gegebenen Augenblick nicht an den richtigen Ort absetzt … stellen Sie sich vor, dass ich mich in La Rochelle der französischen Armee widersetzen musste, die mir unbedingt meinen Krankenwagen abkaufen wollte! er gehörte mir gar nicht! … ich, die Ehrlichkeit selbst, von mir kann man überhaupt nichts kaufen! … der Sanitätswagen meiner Poliklinik in Sartrouville … wo denken Sie hin! … ich habe ihn dorthin zurückgebracht, woher er kam, die verfluchte Rappelkarre! und die beiden mitfahrenden Großmütter, und ihre Fuder Rotspon, und drei Neugeborene … in bestem Zustand, dieser ganze Krempel! wer hat mir den geringsten Dank dafür gewusst? kein Mensch, verdammt noch mal! … bedenken Sie alle Gemeinheiten? mir, ja, mir gegenüber! genug, um ein ganzes Zuchthaus zu füllen! zwanzig Landru, Petiot und Fualdès! … hätte ich den Sanitätswagen verkloppt, für den Preis, den sie mir anboten, die Neugeborenen, die Krankenschwestern und die alten Frauen, dann wäre ich zeitgemäß: ein Held der Résistance, dann hätte ich soon Denkmal: als zum Halali geblasen worden war, ach du dicker Vater! … kein Verbrechen mehr, das man nicht begangen hätte! man kann seine Gurgel gar nicht genug hinhalten, damit sie einem die dreckigen Schlagadern durchschneiden könnten! … Feigling Millionen in den Zuschauerreihen heulen es einem zu! … und das alles wegen meines Ehrgeizes, die Karre dahin zurückzubringen, woher sie kam, weil sie mir gar nicht gehörte! … weil sie Eigentum von Sartrouville war! Eitelkeit! … Hätte ich sie den Deutschen überlassen, dem Franzosenpack, den Fifis, irgendwem, der Badeanstalt, alle waren Käufer, mit Großmüttern und Schwestern und Neugeborenen! wäre ich ein hockgeehrter, glücklicher Rentner, und nicht der olle Strolch in der Scheiße …
Ein kleiner Trost vielleicht, jeden Morgen im Figaro die Todesanzeigen, die Abgänge … «dass der große Kommandeur Heidenbammel in seinem Schloss d’Aulnoy-les-Topines seine Fahrkarte gelöst hat … dass die ganze trauernde Familie, bevor sie zum Notar geht, für die tiefgekühlten Beileidsbezeigungen dankt … usw. …»
Ich habe meine Gründe für den Bezug des Figaro, den «Kurier der Parzen» … ich habe so manche abziehen sehen, die sich so nett vorgenommen hatten, mir das Innere des Schädels aufzufressen … zu den Würmern mit euch, hochmütige Hahnreie! … Servus, trauernde Familie … mit d’Aulnoy-les-Topines am Hals … Schloss und Wäldern … gerbt dem Notar das Fell!
Es ist wohl möglich, dass dieses ganze Tal der Oos in ein … zwei? … Jahren bloß noch eine Atomrinne ist … dann lohnt es sich, davon zu sprechen! … keine Ordnung in meiner Erzählung.? … Sie werden sich schon zurechtfinden! … Kraut und Rüben? … zum Kuckuck! … ich habe Sie im Hotel Stern verlassen, ohne Ihnen den Schlüssel gegeben zu haben … dazu habe ich keine Zeit gehabt … gerade einige Worte über die schwangeren Frauen … sei’s drum! … das ganze Buch ist bei Gallimard, und denen ist’s auch vollkommen wurscht! … Erinnerungen und Denkwürdigkeiten! … nur in den Ferien erwachen sie! ich werde Sie schon zu den schwangeren Frauen zurückführen … ich hoffe jedenfalls … unsere erste Etappe nach Paris war ja nun Baden-Baden … und das habe ich Ihnen nicht erzählt! … fast, als schämte ich mich dessen! … aber das kann man ebenso gut eingestehen wie Marble Arch oder Times Square! … den Medway oder die Ufer der Oos … Lichtenthalallee! … prominente Promenade der größten Genießer Europas … mindestens dieselben wie in Évian oder Bath! … gut, die Chance treibt ihr Spiel! … das Rad dreht sich, «les jeux sont faits!» … die Chance schmollt einem? … Auswurf des Universums! als Gewinner? … ist einem alles erlaubt! … die schönsten Alleen mit Ihrem Namen! … die Kanzleien an Ihrer Ritze, wer am besten lecken kann, gewinnt! … das Kasino «Es gilt» der Geschichte hat ein Roulette, das nicht mit sich spaßen lässt, dem es schnurz und piepe ist, ob Sie tausendmal recht haben! … setzen Sie doch eine falsche Marke, Sie haben eine! ganz gleich! … wenn sie gewinnt, werden Sie angebetet! … unsere kam uns recht faul vor … ich fragte Frau von Dopf, als wir in der Lichtenthalallee spazieren gingen … die Oos entlang … das murmelnde, glucksende, in allen Farben gesprenkelte Flüsschen … warum man uns hierhin gebracht habe, uns? … die man nicht vorzeigen konnte in diesem Kurort … und in diesem Hotel? …
«Oh, da brauchen Sie nichts zu befürchten, Monsieur Céline, die haben schon ihre Absichten! … Sie werden schon sehen, die große Katastrophe wird planmäßig abrollen … die Armeen des Reichs werden Russland ganz planmäßig räumen! … zehntausend Tote pro Kilometer … bei Frankreich kann ich’s Ihnen noch nicht sagen … noch nicht … aber bestimmt auch soundso viel pro Kilometer … Fürst Metternich sagte mir gestern, in Paris treffe man schon Vergeltungsmaßnahmen … sehen Sie sich vor, Monsieur Céline, unsere Irren sind höchst tückisch, und ritterlich, und methodisch … eine sehr barocke Mischung, nicht? … Sie werden sehen! … das Barock ist eine deutsche Kunst … typisch, nicht wahr? … typisch! … sie werden sich Zeit lassen, Sie werden schon sehen, Monsieur Céline, Sie werden alles erleben … sehen Sie mal, ich, mein eigenes Haus in Potsdam, ich bin ganz sicher, dass es von der Luftwaffe bombardiert worden ist! und nicht von der R.A.F.! … ein Befehl des Irren, mich verschwinden zu lassen, und mein Haus, und die Papiere meines Mannes! … sie sind um zwölf Uhr mittags, zur Zeit des Mittagessens, gekommen … ich war bei meiner Tochter im Grunewald … oh, mein Haus ist nicht mehr da! … ein Trupp aus der Reichskanzlei ist gekommen, um die Trümmer zu durchwühlen! sie haben nichts gefunden! … dem Fürsten Metternich verdanke ich tatsächlich, dass ich noch am Leben geblieben bin, er hat mich um elf Uhr abgeholt … und jetzt, nicht wahr, Baden-Baden! … denken Sie sich, als mein Mann noch lebte, wollten wir hier etwas mieten … eine Villa … so ist das Schicksal! … ich frage mich auch, warum man uns hierhergebracht hat, alle zusammen? oder besser, ich frage mich gar nicht … bestimmt haben Sie bemerkt … die Bomben, die nicht sehr weit vom Hotel fallen … und beim Mittagessen? … so oft, nicht wahr, dass keiner mehr Angst hat … die Welt gewöhnt sich daran … sie glaubt nicht mehr daran! … wenn Sie das Simplon verlassen können, gehen Sie weg, Monsieur Céline! … das Hotel Simplon ist eingeschlafen, und seine Gäste auch! … verzaubert! … nur eine Bombe kann alles aufwecken! … ich scherze, Monsieur Céline … wirklich, dieses Tal ist ein Paradies, Sie wissen es … nirgends auf der Welt sehen Sie solche Bäume, solche Haine … solche Zartheit … vielleicht in Zarskoje-Selo? … allein schon die Weiden, nicht? … keine Blätter, sondern Gold- und Silbertränen, am Lauf der Oos … bezaubernd, ja … und so viele Vögel …»
«Wundervoll, Frau von Dopf!»
«Zur Zeit Max von Badens hatten wir vielleicht mehr Nester … es gab eine Gesellschaft für die Vögel von Lichtenthal … sie hatten ein Gehege für sich, ganz bepflanzt, Miere und Hanf … auch für Zugvögel ein Felsengehege … damals kümmerte man sich um alles …»
Ich wollte sie nicht darauf aufmerksam machen, dass die Vögel wegen Bébert so sehr piepten, und schon weit vor uns, wegen Bébert, der uns als treuer Begleiter nicht verließ! … er blieb uns auf den Fersen … er dachte an die Meisen, Grasmücken, Rotkehlchen … er und die Vögel verstanden einander, in gewisser Weise …
Ich erzähle Ihnen viel von Frau von Dopf, aber ich führe sie Ihnen nicht vor … eine schmächtige alte Dame, ganz in violetten Samt gekleidet … Halbtrauer … oh, aber nicht traurig! immer zum Lachen aufgelegt … gar nicht von den Ereignissen niedergeschlagen, amüsierte sich darüber … «Schmuckstücke, die ich seit meiner Trauer nicht mehr trug» … jetzt hatte sie alle angelegt … drei Halsketten, Ringe und sehr schöne Armbänder … «Eine Einfassung, Monsieur Céline, eine Einfassung! … das ist alles, was ich von meinem Haus wiedergefunden habe! … ich bin lächerlich, nicht wahr? … finden Sie nicht? … eine junge Frau ist kokett, um zu gefallen, eine alte, um reich auszusehen, man muss reich sein oder verschwinden! … sehen Sie, meine Nichten besuchten mich in Potsdam … sie wollten sich bald verheiraten … mein Haus war sehr geräumig, viel zu groß, vier Stockwerke, mein Mann hatte seine Büros darin, viel zu groß für mich … ich wollte eigentlich hier meinen Lebensabend verbringen … ich hätte ihnen mein Haus überlassen … Hitler hat alles geregelt, nicht wahr? … komisch, was? … wo mögen meine Nichten sein? … ich werde sie wohl nie wiedersehen … und ich, was meinen Sie, wo ich enden werde? … im Hotel Simplon? … auch durch eine Bombe? na, bestimmt nicht in der Oos! … niemand hat sich jemals darin ertränken können! … kein Spieler! selbst der größte Pechvogel nicht! … in Monte Carlo kann sich jeder ertränken! im Meer! … die Oos hier ist extra für das Kasino gemacht! … sie plätschert, rieselt, aber sie ertränkt niemals jemanden! … hören Sie? … übrigens, was dabei witzig ist, das Rieseln ist verstellbar, verschieden je nach der Zeit und dem Wetter … wird von einem für die Quellen vom Kasino angestellten Fräulein eingestellt, die Oos darf nicht spritzen, nicht belästigen, nicht ertränken … bezaubern soll sie! … die Behörden des Tals denken an alles … alles soll hier traumhaft sein … Sie werden’s bemerkt haben …»
Das traf für uns nicht ganz zu … für uns, fand ich, war’s gar kein Traum … sondern eine recht miese Wirklichkeit! … wie heute im Jahre 59 … die Bourgeoisie, was strengt die sich an, um sich noch im Jahre 1900 zu wähnen … eine verratzte Maskerade! … sicher, unbestritten, gewisse Reize, großer, veralteter Luxus, sehr gepolstert, beruhigend … süße Zigeunerweisen für jahrhundertelange Schändungen … aber für uns, mein lieber Mann, die gezeichneten Tiere, ist’s Hohn und Spott! … es kommt selten vor, dass das Vieh sich vor dem Schlachthof vergnügt … immerhin gab’s ein hübsches Baudenkmal! das selbst für uns gehetzte Tiere einen Blick lohnte: die russische Kirche … fünf Kuppeln, riesige goldene Zwiebeln, gegen den blauen Himmel … eine Wirkung, dass man sagen muss: sieh da! was für ein herrliches Gebet! … der Pope ist da und wartet … er wartet auf die Rückkehr der Zaren … oder wenigstens irgendeines Großfürsten … zwei waren seit 17 gekommen … aber weder der eine noch der andere ein Stifter … liehen sich nur Ikonen aus, um sie in Rom zu zeigen … der Pope hatte sie nie wiedergesehen … der Pope lebte auch im Simplon, in den Küchen! … er gehörte zum Tal, und in Erwartung besserer Zeiten hatten ihn die Behörden im Hotel untergebracht … von Zeit zu Zeit machte er Führungen durch seine Kirche … Lili, ich, Bébert und Frau von Dopf brachten ihn ein wenig zum Sprechen … bevor wir weiter zum Rosengarten gingen … dort war die Promenade zu Ende … seit den Römern … den ersten Thermen, ist sie da zu Ende … man sollte sich bisschen ausruhen … der Rosengarten lässt keine Strolche zu! keine Würstchen! der Rosengarten bietet sich nur feinen Spaziergängern dar … die Blumen blühen dort seit Tiberius …
Haine … Beete … Rosen … glühende Pastelle … nicht zu glauben … wir saßen da, auf einer Marmorbank, Frau von Dopf erzählte uns schon wieder von ihren Aufenthalten in China, mit ihrem Mann, dem General und genialen Reorganisator der Armee Maos … und dass der unheilvolle kleine Clown sich keine zwei Monate gehalten hätte … glauben Sie mir, Monsieur Céline … wenn ihr Mann da gewesen wäre!
«Wissen Sie, Monsieur Céline, der Triumph des Teufels war nur möglich, weil die Männer, die ihn kannten, nicht mehr da sind … Sie können sich denken, dass sich da der Adolf austobt! er hat vor niemandem Angst! … höchstens vor einem anderen Teufel …»
In Wirklichkeit dachte ich, dass es immer schlechter aussah … die Frau von Dopf schwafelte, aber ich glaube, ziemlich vernünftig … keine Nachricht mehr von meiner Mutter … von niemandem … ein bisschen durch den Rundfunk … die Errichtung von Barrikaden in Paris … das ganze Personal des Simplon hielt die Verbindung durch Lausanne … die ganze Stadt übrigens … Croupiers, Maniküren, Kaufleute, und der Legationsrat selbst, unser «Führer» … alle der Ansicht, dass «Radio Sottens» bedeutend seriöser sei als «Tele-Göbbels» … Schulze, unser Führer, erklärte sich nicht offen für die Alliierten, aber bei jeder wirklich großen Niederlage ließ er eine große Messe in der Kirche der Thermen lesen, und er und seine Familie nahmen das Abendmahl … nichts dagegen einzuwenden! … da saßen wir nun an diesem zauberhaften Ort und dachten nach, Frau von Dopf zeigte uns zwischen den Rosen die Stelle, wo einige Backsteine hielten noch der «Pavillon der Philosophen» stand … wo Grimm, Madame de Staël, Constant sich jeden Morgen trafen … Frau von Dopf war als kleines Kind bierhergekommen, sie kannte alle Büsche, alle Pfade, alle Irrgänge, die Verzweiflung der Erzieherinnen! …
«Ich kenne auch ein bisschen China … Italien … und Spanien … und Monte Carlo … ich muss sagen, Monsieur Céline, dass ich verwöhnt worden bin … wie man heute nicht mehr verwöhnt wird! … nicht einmal eine Königin! … ich sag’s ohne falsche Scham, es ist vorbei … sogar eine Königin von Gottes Gnaden muss die Meinung ihrer Leute berücksichtigen … die verhätscheltste Milliardärin hat ihren ‹Terminkalender› … den ihr Zimmermädchen sorgfältig auf dem Laufenden hält … die geringsten Launen der gnädigen Frau, große Festessen, Liebhaber, Fehlgeburten, auf den kleinsten Wink … andere Zeiten! … gebrechlicher als Maria Stuart! belauerter als Marie-Antoinette … fest steht, Monsieur Céline, ich bin unwissend, und ich werde dumm … genug ist’s so sterben … Additionen mit mehr als vier Zahlen überlasse ich anderen, das kann ich nicht …»
Ich muss sagen, Lili als Tänzerin fand es auch natürlich, dass ich die Rechnungen nachrechnete …
Wie lächerlich das war! wir vergnügten uns! … und wie schön es war! … warm, aber doch luftig … ein paradiesisches Wetter …
Ich, der ich immer besorgt bin und niemals den Augenblick genießen kann, sah niemand um uns herum, weder unter den Bogen noch auf dem Rasen, und fragte mich, warum dieses Schweigen … besonders um elf Uhr vormittags, wo die Familien ausgingen … bei einem solchen Wetter! … unser Rosengarten duftete unerträglich! … da fragt die sonst so zurückhaltende Lili Frau von Dopf, ob wir nicht bis zur anderen Bank gehen könnten … zu den Platanen, in den Schatten … Frau von Dopf erzählte uns, wie im Simplon, als sie jung verheiratet war, ihr Mann, damals noch Hauptmann, den brasilianischen Botschafter zum Duell gefordert habe, wegen einer Rose! … ja! … einer dunkelroten Rose … die von oben heruntergefallen war … auf ihren Balkon … von den Fenstern des Botschafters! mit Absicht! beschuldigte ihn ihr Mann … nein! … protestierte seine Exzellenz … die Sache war beigelegt worden … durch Vermittlung des Fürsten! …
«Der Fürst Metternich …»
Frau von Dopf hatte noch mehr Erinnerungen … noch manche andere … Achtung! … Achtung! … eine Sirene heult … Achtung! Achtung! … und kurz danach tolles Fanfarengeschmetter! … wird noch einmal ein Sieg angekündigt? … unmöglich! seit mindestens zwei Jahren gab es nur noch Rückschläge … ein Separatfrieden mit Russland? … das konnte sein! … der Lautsprecher war ziemlich weit entfernt … zwischen dem Hotel und dem Rosengarten … ich höre zu … wir hören … es handelte sich nicht um einen Sieg! … Achtung! Achtung! sondern um ein Attentat gegen Hitler! … schöne Bescherung!
«Sie sagen uns nicht, ob er tot ist …»
Frau von Dopf bemerkt es … und sie fügt hinzu:
«Wenn er nicht tot ist, wird’s was Schönes geben …»
Sie brauchen nicht erstaunt zu sein, lieber Leser … zur Zeit des Attentats vermischten sich Fakten, Vorfälle, Verwechslungen, dass man sich heute noch oft in ähnlichen Meinungsverschiedenheiten befindet … widersprüchliche Verschwörungen … am besten ist es, glaube ich, sich einen Bildteppich vorzustellen: oben, unten, quer alle Gegenstände gleichzeitig und alle Farben … alle Motive … alles durcheinander! … wollte ich sie Ihnen flach, aufrecht, liegend vorstellen, wäre das eine Lüge … die Wahrheit von diesem Attentat an gab es nicht mehr die geringste Ordnung in irgendetwas …
Hätten sie ihn umgebracht, hätte Ordnung geherrscht! jetzt, wo er mit heiler Haut davongekommen ist, sehen Sie, wie es mit uns steht! für immer in die Unordnung geraten! … da müssen Sie es schon ganz natürlich finden, dass ich Ihnen vom Hotel Simplon erzähle, in Baden-Baden, nach dem Stern in Sigmaringen … wo wir allerdings sehr viel später waren! … tun Sie Ihr Möglichstes, um sich zurechtzufinden! … Zeit! Raum! Chronik, so gut ich kann! … ich meine! … Maler, Musiker machen, was sie wollen! … umso mehr werden sie gefeiert, mit Milliarden und Ehren bedeckt … Kinos, Boccia-Spielen! … mir, dem Historiker, wollte man verweigern, alles verquer zu nähen? … niedergeschmettert, wie ich seitdem bin? … tolle Schande! … haue ab in Fetzen und Lumpen! … die Meute auf den Fersen! … ein Galgenjammer! … ich grüße Sie, meine Herrschaften … die Würfel sind gefallen? sei’s drum! … los! … ermannen Sie sich! … das Roulette hopst hin und her? … nur Mut … die Kugel ist meschugge? … Zerknirschung! … Blödsinn! … das lahme Attentat ist schuld! …
Ah, meine Herrschaften, natürlich bemerkte ich niemand in diesem «Paradiesgarten»! … weder auf den Bänken noch in den Laubengängen! … die haben sich alle hübsch verdrückt! schon bei den ersten «Achtung! Achtung!», ganz unten in die Keller des Simplon … damit man sie nicht hören und sehen kann … aber da im Schwimmbad, ganz nah, da wurde umso lauter geschimpft! ein Krawall! nicht nur die Lautsprecher, sondern das Publikum! … das ganze Simplon, Personal und Gäste … all denen war Adolf Hitler doch vollkommen schnurz und piepe und das Attentat … ob er nun zerfetzt war oder nicht … «Dein Hintern, du Fose! lass dich doch ficken! in die Soße, du Hure!»
Welchem Popo mochte das wohl gelten? … «dicker Podex»? … wessen? …
«Der Führer ist tot!»
«Was weißt du denn, du Fratz! ins Wasser! … Arsch! unverschämt! … raus! raus!»
Da war was fällig! … und gleich darauf andere Schreie …
«Das ist ihr gutes Recht! Boches! ihr Tölen! ihr beleidigt ein junges Mädchen!»
«Ein junges Mädchen? in die Latrinen mit ihr!» Daraufhin boxt man sich! Peng … Klack!
«Die Leckerin!»
Vom Rosengarten her hörten wir alles … das wuchs sich zu einer richtigen Schlacht aus … der «für», und der «gegen»! … aber wessen Hintern eigentlich? …
«Hau ab! Hau ab, Unglückswurm!»
Das ganze Tal hallt wider …
«Raus mit dir, alte Nutte!»
Eine Frau steigt aus dem Schwimmbad … sie läuft … auf uns zu …
«Madame von Dopf! Madame von Dopf! …»
Wir kennen sie … Mademoiselle de Chamarande! … ihretwegen, ihrer Reize wegen brüllt und schlägt sich das ganze Schwimmbad! und immer feste! … bums! bums! … tolle Knüffe! und noch einen festeren Rums! … aus dem Becken! … und noch einen! … sie schmeißen sich ins Wasser … und da geht’s weiter … Mademoiselle de Chamarande ist da … sie setzt sich neben uns … ganz außer Atem … ihr Badeanzug ist zerfetzt … sie fasst Frau von Dopfs Hand … sie weint …
«Madame! Madame! ich bitte Sie … sie haben mich geschlagen! … sie sind wahnsinnig! sie wollen mich umbringen, weil ihr Führer tot ist! … sie werden kommen, Madame von Dopf! … sie werden alle totschlagen! … sie haben es mir gesagt!»
«Aber nein, mein Kind! … der Führer ist nicht tot! der hat schon ganz andere Sachen erlebt! … bloß ein kleines Attentat! Sie sind zu leicht bekleidet, weiter nichts! … die Männer im Bad sehen zu viel bei Ihnen! … nette Geschichte! Ihr Badeanzug ist zu leicht! bedecken Sie sich und bleiben Sie da! hier! mein Taschentuch! … trocknen Sie Ihre Tränen! Sie weinen sich ja die Augen aus dem Kopf! …»
«Aber mein Bademantel, Madame von Dopf! … sie haben mir meinen zweiten Bademantel entrissen! … gelb und rot! sie wollten ihn mir nicht zurückgeben!»
«Natürlich! ich werde ihn Ihnen holen! mir werden sie ihn schon zurückgeben! …»
«Madame von Dopf, sie sind außer sich! sie toben!»
«Bei mir nicht, mein Kind, das Alter ernüchtert die Verrücktesten … warten Sie nur! sie werden froh sein, mir den Bademantel zurückgeben zu können! gelb und rot, sagten Sie?»
Wir vier bleiben da … tatsächlich! … sie geht hin! … der Sandweg zum Schwimmbad … mit kleinen Schritten … und fast sofort kommt sie mit dem gelb-roten Bademantel zurück.
«Sie haben ihnen nichts gesagt?»
«Natürlich gar nichts, meine Liebe! ziehen Sie sich jetzt an! … wir gehen zum Hotel zurück! … alle zusammen!»
Wir vier gehen in der Tat durch den Auflauf der Ober … kurz vorher haben sie sich geboxt, jetzt sind sie ruhig … nicht einmal ein Murmeln … Frau von Dopf sieht sie an, bleibt stehen …
«Immerhin, Sie sehen ja, sie sind nicht allein schuld, meine Liebe!»
SS[4]