»Bring das Kind hinaus in den Wald, ich will’s nicht mehr vor meinen Augen sehen. Du sollst es töten und mir Lunge und Leber zum Wahrzeichen mitbringen.«
Schneewittchen, nach den Brüdern Grimm
Sommer 1971
Er stolperte den flachen Abhang hinunter auf das Seeufer zu. Einmal wäre er beinahe in einem Gestrüpp aus niedrigen Preiselbeerbüschen zu Fall gekommen, aber er konnte sich gerade noch abfangen und die Balance halten. Er wusste nicht, wie viele Bier er bereits getrunken hatte, irgendwann hatte er aufgehört, mitzuzählen, Schnaps hatte es ebenfalls reichlich gegeben, jedenfalls musste er nun dringend die Blase leeren. Als er sich weit genug von der lärmenden Festgesellschaft entfernt wähnte, blieb er vor einem Baum stehen, lehnte die Stirn an die raue Borke der Kiefer, öffnete den Reißverschluss der Anzughose und schlug das Wasser ab. Was für eine Erleichterung! Als er fertig war, bemerkte er, dass seine Schuhspitzen nass waren. Verflucht, er hatte sich auf die neuen Schuhe gepinkelt. Er sah sich um. Gab es hier irgendetwas, womit er sie wieder einigermaßen trocken wischen konnte? Auch wenn es bald dämmerte und zur fortgeschrittenen Stunde wahrscheinlich niemand mehr darauf achtete, konnte er doch unmöglich mit uringetränkten Budapestern auf die Feier zurückkehren. Einige Meter weiter unten, am Wasser, stand hohes, trockenes Gras. Besser als gar nichts, dachte er, und ärgerte sich darüber, kein Taschentuch eingesteckt zu haben. Die Scham über sein Malheur hatte ihn ein Stück weit nüchtern gemacht. Er ging auf das strohartige Gras zu, hockte sich hin und begann damit, Büschel aus der Erde zu rupfen und damit die nassen Schuhe zu bearbeiten. Der Erfolg war bescheiden. Das teure Leder hatte sich an den Spitzen dunkel verfärbt, daran konnten auch die Halme nichts ändern. Er fluchte. Gerade als er sich entschieden hatte, das sinnlose Unterfangen aufzugeben und zum Fest zurückzukehren, hörte er nicht weit von sich entfernt gedämpfte Schritte. Noch jemand, der sich erleichtern musste? Vorsichtig lugte er durch das hohe Gras. Doch die Gestalt machte keine Anstalten, sich an einen Baum zu stellen oder in die Büsche zu hocken, sondern ging geradewegs auf das Ruderboot zu, das am Steg vertäut lag. Er erkannte das Werkzeug, das sie in der Hand hielt, und traute seinen Augen kaum. Wozu sollte der Bohrer gut sein? Der Schatten, der vom Steg aus in das Boot kletterte, beantwortete seine Frage durch das, was er tat. Die charakteristischen Armbewegungen, das surrende Geräusch von Metall im Holz. Das Ganze dauerte kaum mehr als eine Minute, dann richtete sich der Schatten auf, warf den Drillbohrer in den See, kletterte auf den Steg und ging den Weg zurück, den er gekommen war.
Es braute sich etwas zusammen. Das milde Sommerwetter der vergangenen Tage wurde seit den Mittagsstunden schwüler, drückend und unangenehm. Der Himmel zog sich zu, und es war nur eine Frage der Zeit, bis die ersten Regentropfen fallen würden. Dennoch machte Kommissarin Stina Forss keine Anstalten, aus dem Liegestuhl im Garten aufzustehen. Sie starrte auf die unbewegte Seeoberfläche, die das Grau der Wolkendecke spiegelte. Der Schweißfilm auf ihrer Haut zog die Mücken an, doch sie war zu träge, um nach dem Insektenspray zu greifen. Sie brachte gerade einmal ein halbherziges, kraftloses Wedeln zustande, eine wenig effektive Strategie, die hartnäckigen Tierchen ließen sich auf diese Weise jedenfalls nicht vertreiben. Wobei: Träge war das falsche Wort. Ihr Körper war wie versteinert, während sich ihre Gedanken, ihre Gefühlswelt, ihr gesamtes Selbst woanders befanden, weit weg vom Hier und Jetzt, diesem kleinen, abgelegenen Haus in idyllischer Seelage an einem Julitag in Småland. Diesem waldigen Landstrich, der ihr eine neue Heimat geworden war, seit sie vor Jahren Berlin und eine Karriere bei der dortigen Mordkommission hinter sich gelassen hatte, um in Schweden, dem Land ihrer Kindheit, in der Nähe ihres schwer kranken Vaters zu sein. Stina Forss hatte die vage und schließlich auch vergebliche Hoffnung gehabt, die Dinge zwischen ihnen ins Reine zu bringen. Ihr Vater war nun seit geraumer Zeit tot, doch sie war immer noch hier, in der tiefsten Provinz. Wald, See und Abgeschiedenheit – der Gegenentwurf zu ihrem ehemaligen Leben in Berlin.
Wenn nicht sozial, so hatte sie hier doch zumindest beruflich Fuß gefasst. Aber dies war nicht der Grund dafür, dass sie an diesem Ort im Nirgendwo blieb. Gewichtiger waren die Ereignisse der vergangenen beiden Jahre, die in den letzten Monaten eine so tragische Dynamik angenommen hatten, dass Forss sie längst nicht mehr begreifen konnte. Die Wucht des Geschehenen war es, die sie in den Liegestuhl drückte, und trotz Mückenstichen und heraufziehenden Gewitters mehr oder weniger bewegungsunfähig machte.
Wie und wann genau hatte das alles begonnen?
Sie grübelte seit Monaten und fand doch keine Antwort. Das, was sie von allem, das passiert war, am meisten belastete, was sie Morgen für Morgen schweißgebadet und mit verkrampften Kiefern aus dem Schlaf schrecken ließ, war die Ermordung der Schwiegertochter ihrer Chefin. Die Schüsse, die aus einem zweihundert Meter entfernten Versteck im Halbdunklen auf den fahrenden Wagen abgegeben worden waren, hatten aller Wahrscheinlichkeit nach nicht der unbescholtenen jungen Mutter gegolten, sondern ihr selbst. Eine fatale Verwechslung. Sie war es gewesen, die an diesem kalten Aprilabend hätte sterben sollen. Vielleicht sollte sie das noch immer, aber sie empfand merkwürdigerweise überhaupt keine Angst, vielleicht weil sie sich dazu viel zu betäubt fühlte.
Wie viel Schuldgefühle konnte ein Mensch ertragen?
Sie nagte an ihrer Unterlippe.
Eine Mücke stach sie in den Handrücken.
Das Grollen des aufziehenden Gewitters war jetzt ganz nah.
Sie griff nach dem Glas Gin Tonic, das neben ihr auf dem Beistelltisch stand. Die Eiswürfel waren längst geschmolzen, doch das nahm sie ebenso wenig wahr wie die ersten Regentropfen. Erst das Klingeln des Handys riss sie aus der Apathie.
Im Gegensatz zum Gewitterregen, der sich über Stunden angebahnt hatte, bevor er sturzartig auf die Windschutzscheibe ihres Toyotas niederging, kamen die Tränen unvermittelt. Hauptkommissarin Ingrid Nyström war überrascht von der Intensität, mit der sie der Weinkrampf schüttelte, gleichzeitig gab sie sich ihm hin. Wozu dagegen ankämpfen, jetzt, wo sie allein war? Es hatte etwas Befreiendes, wenigstens für den Moment loszulassen und jede Kontrolle aufzugeben. Ihr Kleinwagen stand auf dem Parkplatz des Växjöer Flughafens, und es war keine zehn Minuten her, dass sie ihren Mann, ihre Tochter und ihren Enkel im Foyer mit innigen Umarmungen verabschiedet hatte. Anders, Anna und der kleine Albert würden über Stockholm nach London und von dort weiter nach Tansania fliegen, wo ihr Mann sich im Rahmen eines kirchlichen Entwicklungshilfeprojekts am Bau einer Schule und eines Brunnens beteiligen würde; Anna und ihr knapp einjähriger Sohn würden ihn begleiten. Vor vier Monaten war Anders bereits für einige Wochen dort gewesen, der Beginn eines Sabbatjahres seiner Pastorenstelle, doch nach Healeys unfassbarem, plötzlichem Tod war er umgehend nach Hause zurückgekehrt. Ihre Tochter brauchte ihn jetzt, sie selbst brauchte ihn jetzt. In solchen Momenten rückte man als Familie zusammen. In der Tat war ihr Mann in den chaotischen Tagen und Wochen nach Healeys Ermordung der familiäre Kraft- und Ruhepol gewesen. Annas Trauer um ihre Lebensgefährtin fand in Anders’ Nähe einen gewissen Halt, eine Stütze, die sie als Mutter ihr selbst nicht geben konnte. Warum, vermochte sie nicht zu sagen, aber es tat weh und gab ihr das Gefühl zu versagen, sie zwang sich jedoch, diese Verletzung hinunterzuschlucken, schließlich ging es hier nicht um sie, es ging um Anna und deren neun Monate alten Sohn Albert, der gerade ein Elternteil verloren hatte, es ging um Healeys Familie.
Anna und die Harringtons hatten sich darauf geeinigt, Healey in Schweden zu bestatten. Healey, auch wenn sie nicht besonders gläubig gewesen war, hatte den kleinen Dorffriedhof unter den hohen Bäumen immer als einen romantischen, besonderen Ort empfunden. Es war ein guter, ein angemessener Platz für eine letzte Ruhestätte, wenn man dies über das Grab einer Frau, die noch nicht einmal dreißig Jahre alt geworden war, überhaupt sagen konnte. Anders kümmerte sich um die gesamten Vorbereitungen der Bestattung, er brachte die Harringtons sowie den auswärtigen Freundeskreis in ihrem großen Haus beziehungsweise bei Bekannten und in Pensionen unter, leitete den zweisprachigen Trauergottesdienst und organisierte das anschließende Essen und Beisammensein im Gemeindehaus. Mit anderen Worten: Er hielt alles zusammen und bewahrte die Familie vor dem kollektiven Zusammenbruch. Sie konnte nur dankbar sein, und ihn dafür bewundern, was er war: ein fantastischer Ehemann, ein liebevoller Vater, ein fürsorglicher Großvater und nicht zuletzt ein guter Pastor.
Und sie selbst?
Natürlich trug sie ihren Teil bei. Sie versorgte die vielen Gäste. Wusch Wäsche, putzte, kochte, backte. Kümmerte sich um Albert. Versuchte Anna Trost zu spenden, auch wenn sie sich dabei viel zu oft steif und unbeholfen vorkam.
Doch natürlich reichte das nicht aus, nicht nach ihren Maßstäben. Sie wurde der Situation nicht gerecht. Weder als Mutter noch als Polizistin, und sie wusste kaum, was von beidem schwerer wog.
Tatsache war, dass der Täter nicht gefasst war, dass sich Healeys Mörder auf freiem Fuß befand, und nichts auf eine anstehende Verhaftung hindeutete. Es gab keinen Verdächtigen, die Spurenlage war dünn, ein Motiv zeichnete sich nicht einmal ab. Die Lebenspartnerin ihrer Tochter war eine unbescholtene Geschäftsfrau gewesen, die in Brighton eine Boutique betrieben hatte. Wer hatte eine solche Frau töten wollen, eine junge, hilflose Mutter? Jemand, der gleichgeschlechtliche Liebe verabscheute und Lesben hasste? Ein fanatischer Verteidiger der sogenannten Normfamilie? Kaum vorstellbar, insbesondere, wenn man die Umstände der Tat betrachtete: ein Scharfschütze aus dem Hinterhalt, der mit militärischer Präzision gearbeitet hatte. Das erinnerte an eine professionelle Hinrichtung oder an ein politisches Attentat. Es passte nichts zusammen.
Am plausibelsten, da musste sie ihrer Mitarbeiterin Stina Forss, ihrem Vorgesetzten Erik Edman sowie den Kollegen vom Staatsschutz widerwillig recht geben, war die Verwechslungstheorie. Demnach hatte es der Täter nicht auf ihre Schwiegertochter, sondern auf Stina Forss abgesehen gehabt. Auch wenn der offenbar hervorragend ausgebildete Schütze insgesamt wie ein Profi agiert hatte – zwei präzise Kopfschüsse auf ein bewegliches Ziel in großer Entfernung, das Überraschungsmoment, das sorgfältige Verwischen jeder Spur in seinem Versteck, der gut vorbereitete Fluchtweg –, war es denkbar, dass er Healey und Forss verwechselt hatte. Healey hatte in Forss’ Auto gesessen, sie hatte ähnlich wilde Locken wie die Deutschschwedin. Dazu kamen die schlechten Lichtverhältnisse in der Dämmerung und die große Entfernung.
Forss war im Gegensatz zu Healey alles andere als ein unbeschriebenes Blatt. Das Aufdecken einer rechtsextremen Terrorzelle und das Verhindern der Attentatspläne auf das Fußballspiel zweier Einwanderermannschaften hatte Forss unfreiwillig zu einer landesweit bekannten Polizistin gemacht, ihr Gesicht war auf den Titelseiten der großen Zeitungen gewesen, man hatte sie als Heldin von Södertälje gefeiert. Die These, dass jemand das vereitelte Bombenattentat und die beim Polizeieinsatz getöteten Kameraden rächen wolle, ergab durchaus Sinn. Darüber hinaus waren die rechtsextremen Drahtzieher und ihre Mittäter nicht die einzigen Schwerkriminellen, denen Forss während ihrer beruflichen Laufbahn das Handwerk gelegt hatte. Wenn man ihre Zeit beim Berliner Landeskriminalamt berücksichtigte, hatte sie mehr als drei Dutzend Verhaftungen zu verantworten, die zu langen Haftstrafen geführt hatten, eine eindrucksvolle Bilanz. Hinzu kam der mehrmalige Einsatz der Dienstwaffe in Notwehrsituationen, was in fünf Fällen zu schweren Verletzungen und zweimal sogar zum Tod Verdächtiger geführt hatte. Keine Frage, Stina Forss hatte sich in ihrem Berufsleben viele Feinde gemacht. Am schlüssigsten, in dem Punkt waren sich alle einig, war jedoch die Theorie einer Vergeltungsaktion für das verhinderte Bombenattentat auf das Fußballstadion von Södertälje. Das war der Grund, warum der Staatsschutz unverzüglich die Ermittlung an sich gezogen hatte. Das war der Grund, warum Nyström die Hände gebunden waren.
»Glaub mir, es ist besser so«, hatte Edman gesagt, und seine Zufriedenheit darüber, dass der verfahrene Fall unverhofft und schnell aus seinem Verantwortungsbereich delegiert worden war, kaum verhehlen können. »Außerdem bist du emotional viel zu nah an der Sache dran.«
Eine Sache.
So sah ihr Chef das also. Natürlich reagierte sie emotional, natürlich war sie voreingenommen, es ging um ihre Schwiegertochter, es ging um ihre eigene Familie verdammt noch mal! Hätte sie nicht gerade dieser Umstand zu einer besonders engagierten, sorgfältigen und ausdauernden Ermittlungschefin gemacht? Nun durfte sie dankbar sein, wenn sie über die Fortschritte des Falls auf dem Laufenden gehalten wurde. Wobei von Fortschritten kaum die Rede sein konnte. Die einzige nennenswerte Fährte war die Suche nach einem blauen Ford Galaxy älteren Baujahrs. Forss hatte in den Vernehmungen angegeben, dass ihr ein solcher Wagen in den Wochen zuvor an verschiedenen Orten aufgefallen war, sie hatte sich regelrecht beschattet gefühlt.
Forss’ Aussage hatte Nyström zunehmend stutzig werden lassen. Wenn ihre Kollegin meinte, in der Zeit vor der schrecklichen Tat tatsächlich verfolgt worden zu sein, warum hatte sie es dann um Gottes willen nicht gemeldet? Warum war sie nicht zu ihrer Chefin gegangen und hatte davon berichtet? Warum hatte sie sich Nyström nicht anvertraut?
Die Hauptkommissarin schluckte. Die Bluse war feucht vor Tränen, die Augen brannten. Sie kannte die Antwort, wenn sie ehrlich war. Weil Forss eine gestörte Persönlichkeit hatte. Weil sie ein soziales Wrack war. Weil sie niemandem traute und keinen an sich heranließ. Nyström schluckte erneut. Es schmeckte so bitter und salzig wie die Erkenntnis, die in ihrem Bewusstsein mehr und mehr Form annahm: Wäre Stina Forss weniger verkorkst, renitent und eigenbrötlerisch, wäre Healey womöglich noch am Leben.
Nyström umklammerte das Lenkrad, bis die Haut über ihren Fingerknöcheln weiß spannte.
Das Gefühl widersprach allem, woran sie glaubte und wofür sie stand, und dennoch war es da, wahr und rein: Sie wünschte, dass an diesem verfluchten Abend in der Aprildämmerung vor ihrem Haus die Richtige gestorben wäre und nicht die Falsche.
In diesem Moment meldete sich das Mobiltelefon. Sie räusperte sich und nahm das Gespräch an. Anschließend rieb sie sich die Augen trocken, wartete eine Minute, startete den Wagen und schaltete die Scheibenwischer ein.
Das Schwedische Glasmuseum lag gemeinsam mit dem Småländischen Museum und dem sogenannten Auswandererhaus auf einem Hügel hinter dem Bahnhof, von dem man auf den Växjösee hinabblicken konnte. Die drei Ausstellungsgebäude – postmodern, modernistisch und klassizistisch – bildeten ein uneinheitliches Ensemble in einer Grünanlage, die sich Kulturpark nannte, aber für Dealerei bekannter war als für seine Museen. Gras statt Glas. So sah es jedenfalls Stina Forss, die sich allerdings weder sonderlich für Glaskunst noch für regionale Geschichte interessierte. Der Starkregen schien jedoch wenigstens für den Moment die Kleindealer vertrieben zu haben, als sie den Kiesweg hinauf zum Glasmuseum ging. Da sie keinen Schirm dabei, und auch nicht an eine Jacke mit Kapuze gedacht hatte, war sie froh, das Foyer zu erreichen und die nassen Haare ausschütteln zu können. Keine Minute später traf Ingrid Nyström ein. Die beiden Frauen begrüßten einander knapp. Nach dem furchtbaren Vorfall mit Healey war die Atmosphäre zwischen ihnen noch kühler, als sie es ohnehin gewesen war. Forss konnte die unterschwellige Distanz ihrer Chefin nachvollziehen. Sie selbst war Lichtjahre davon entfernt, die richtigen Worte zu finden, um all das zu überwinden, was unausgesprochen zwischen ihnen stand.
Sie wandten sich an den Mann an der Kasse, der daraufhin kurz telefonierte.
Die Museumsleiterin kam in Begleitung eines uniformierten Polizisten in den Eingangsbereich gerauscht. Anders konnte man ihren Auftritt kaum bezeichnen. Die flatternden Handbewegungen der überraschend jungen Frau – Ende zwanzig, Anfang dreißig – verliehen ihr etwas Kolibrihaftes. Man sah ihr die Kulturperson an: extravagante Brille, asymmetrische Frisur, auffälliger Holzschmuck, bunter Seidenschal.
»Was für ein Drama!«, rief sie, »was für ein furchtbares Drama! Und das ausgerechnet heute!«
»Was ist denn heute?«, fragte Forss, die mit Theatralik nicht viel anfangen konnte.
»Die Vernissage!« Die ohnehin schon schrille Stimme schraubte sich im Tonfall der Entrüstung eine weitere Oktave nach oben, als könnte sie es nicht fassen, wie man über ein solch bedeutendes Ereignis nicht Bescheid wissen konnte. »250 Jahre Gustavssons – Eine Kulturgeschichte in Glas.«
»Ich habe natürlich davon gelesen, das klingt sehr spannend«, bemerkte Nyström und klang wie immer ausgleichend und um Deeskalation bemüht. »Aber vielleicht könntest du uns zunächst einmal sagen, was überhaupt geschehen ist?«
»Sicher, sicher«, nickte die junge Frau, deren Namensschild sie als Emma Herold auswies, schon einen Ton sachlicher. »Vielleicht bei einer Tasse Tee? Das japanische Restaurant hier im Haus serviert einen ausgezeichneten Gyokuro«, flötete sie. Die großen Holzperlen ihrer Halskette klackerten, die Aussicht auf ein belebendes Heißgetränk schien ihre Laune schlagartig zu beflügeln. »Oder vielleicht doch lieber einen Sencha?«
»Am liebsten würden wir sofort …«, begann Forss.
»Das klingt doch ausgezeichnet«, unterbrach Nyström sie lächelnd und an den uniformierten Kollegen gewandt: »Ich denke, ab hier übernehmen wir.«
Herold führte die Ermittlerinnen um mehrere Ecken. Im Izakaya Moshi, einem der besten Restaurants der Stadt, war zur Nachmittagsstunde wenig Betrieb. Die drei Frauen setzten sich ans Ende einer langen Tischreihe und bestellten.
»Die Vernissage also«, gab Nyström das Stichwort.
Herold nickte beflissen.
»Genau. 250 Jahre Gustavssons – …«
»… eine Kulturgeschichte im Glas«, vervollständigte Forss ungeduldig.
»In Glas«, korrigierte Herold naserümpfend, »es geht hier schließlich nicht um Alkohol, sondern um ein faszinierendes Material, ein regionales Kulturgut, um Handwerk, Formgebung, Kunst. 250 Jahre Gustavssons, das ist die Erfolgsgeschichte eines Weltkonzerns.«
Das letzte Wort klang in einem ehrfürchtigen Tremolo aus.
Forss zuckte mit den Achseln.
»Nie gehört.«
»Wir haben ein Set entsprechender Weingläser zu Hause«, schob Nyström ein. »Orchidee.«
»Das Modell ist ein Klassiker«, lobte Herold. »Wusstet ihr, dass es weltweit fünf Länder gibt, die bei offiziellen Staatsempfängen auf Gustavssons Gläser vertrauen? Darunter zwei Königshäuser! Selbstverständlich handelt es sich in solchen Fällen um Sonderanfertigungen, nichts, was es im Handel zu erwerben gäbe.«
»Selbstverständlich«, echote Forss und beäugte misstrauisch, die winzigen, hauchdünnen Schalen, die der Kellner mitsamt einer gusseisernen Kanne an den Tisch brachte. Sie wollte keinen avanciert zubereiteten Tee trinken, sondern den Tatort besichtigen. Wenn es denn einen solchen überhaupt gab. »Aber kommen wir doch zurück zur heutigen Ausstellungseröffnung.«
»Sicher, sicher«, wiederholte sich Herold, während sie sich mit fachmännischer Miene einschenkte, »wir reden hier über vierhundert Exponate, eine anderthalbjährige Vorbereitungszeit, komplizierte Versicherungsfragen, alles in allem eine unglaubliche Verantwortung, besonders für die kuratorische Leitung.« Sie sah die beiden Ermittlerinnen über die Gläser ihrer Brille hinweg an, ein Blick, der keinen Zweifel daran lassen sollte, wer mit der besagten Leitung betraut war. »Einige der Ausstellungsstücke haben einen Wert, den man kaum ermessen kann.«
»Aber wir sind ja nun wohl kaum hier, weil etwas gestohlen worden ist«, merkte Forss an.
»Nein«, erwiderte Herold, setzte die Teekanne ab und einen dramatischen Gesichtsausdruck auf. »Wir mussten die Polizei rufen, weil ein bestimmtes Exponat, nun ja, … diverse Fragen aufwirft.«
Der Regen klatschte gegen die Fenster, ganz in der Nähe grollte der Donner.
»Ich sehe noch immer nicht, wo hier das Gewaltverbrechen liegen soll«, drängte Forss.
»Warte ab, bis du gesehen hast, wovon ich spreche.« Herold sah demonstrativ auf ihre Uhr. Die Holzkugeln ihres Armbands, ein Pendant zur Halskette, klackerten. »Ich denke, er ist gleich so weit.«
»Er?«, fragte Nyström.
Herold führte sie im Stechschritt durch die Museumsräume. Soweit Nyström im Vorbeigehen wahrnahm, war die Ausstellung chronologisch aufgebaut. Glas aus zweieinhalb Jahrhunderten: altertümliche Kronleuchter, bauchige Flaschen, Spiegel, Karaffen. Vasen und Weinkelche. Einweck-, Wasser- und Teelichtgläser. Klares, geschliffenes, geätztes und graviertes Glas. Nach den Gebrauchsgegenständen folgten Räume mit Kunsthandwerk und Kunst, es wurde bunter. Riesige Vasen, durchzogen mit farbigen Schlieren. Menschenähnliche Figuren, beinahe lebensgroß, eng umschlungen, Liebende. Daneben amorphe Wesen wie aus Weltraumhorrorfilmen. Etwas, das wie ein überdimensioniertes Kondom aussah. Eine gigantische Wolke, die von der Decke hing, so fein und fragil gearbeitet, dass Nyström ob der Kunstfertigkeit staunen musste.
Alle Räume waren menschenleer.
»Wo sind denn die Besucher?«, fragte Forss. »Ich dachte, dies sei eine Jahrhundertausstellung?«
»Auf der Vernissage waren dreihundert geladene Gäste«, antwortete Herold schmallippig. »Nach dem, nun ja, nennen wir es Vorfall, mussten wir sie alle nach Hause schicken beziehungsweise auf die anderen Ausstellungen des Hauses verweisen. Er hat das ausdrücklich so verfügt, uns sind da die Hände gebunden. Ein einziges Fiasko! Weshalb uns natürlich sehr daran gelegen ist, den Sachverhalt so bald wie möglich aufzuklären.«
»Ein gutes Stichwort«, sagte Forss. »Sachverhalt. Vielleicht reden wir endlich einmal darüber, was eigentlich passiert ist.«
Nuschelte ihre Mitarbeiterin leicht, fragte sich Nyström, hatte Forss etwa zu dieser Tageszeit schon Alkohol getrunken?
Sie waren unterdessen vor einer geschlossenen Flügeltür angelangt.
»Ich denke, das kann er euch am besten selbst erklären«, sagte Herold, klopfte und öffnete die Tür. Sie traten in einen abgedunkelten Raum. Es gab nur eine einzige Lichtquelle. Ein illuminierter gläserner Sarkophag. Nyström machte einen weiteren Schritt. Jetzt entdeckte sie das menschliche Skelett hinter den wuchtigen Glaswänden. Es trug ein Kleid. Ihre erste Reaktion: Abwehr. Die Knochen und der Schädel sahen auf befremdliche Weise echt aus, dazu das verschlissene und verschmutzte Kleidungsstück. Tod hinter Glas. Auch wenn Nyström kaum etwas von Kunst verstand, berührte sie das Objekt emotional, es griff sie geradezu an. Einerseits bildete der Sarg – neben Schädel und Knochen ein weiteres Vergänglichkeitssymbol – eine Grenze zwischen dem Innen und dem Außen, dem Tod und dem Leben, andererseits lud seine Durchsichtigkeit zur Betrachtung, ja, einer Art verdrehtem Voyeurismus ein. Eine makabre Inszenierung. Trotzdem verstand sie nicht, wo sich hier ein Verbrechen abgespielt haben sollte. Wozu waren sie hierhergerufen worden?
»Die Installation heißt Schneewittchen«, flüsterte Herold andächtig.
Nach einigen Momenten hatten sich Nyströms Augen an das Zwielicht gewöhnt. Erst jetzt nahm sie wahr, dass sich außer ihnen noch eine weitere Person in dem Raum befand. Auf einem faltbaren Hocker, wie er für Museen typisch war, saß ein älterer Mann auf einen Gehstock gestützt, der tief in den Anblick des seltsamen Werks versunken zu sein schien. Herold räusperte sich vernehmlich.
»Wenn ich vorstellen dürfte: Gunnar Gustavsson, der Vorstandsvorsitzende der Gustavssons Glas AB. Ingrid Nyström und Stina Forss von der Kriminalpolizei.«
Der Kopf des Manns drehte sich ein wenig, gerade eben so, dass er ihnen einen kurzen Blick zuwerfen konnte, dann wandte er sich wieder der Installation zu.
»Zwei Frauen«, sagte er heiser und seine Tonlage ließ wenig Interpretationsspielraum zu, was er über diesen Umstand offenbar dachte. »Sie schicken zwei Frauen.«
Etwas in Nyström straffte sich. Wenn auch selten, so erlebte sie ähnliche Situationen doch immer wieder.
»Hauptkommissarin Ingrid Nyström«, erklärte sie kühl. »Ich bin die ranghöchste Ermittlerin für Gewaltverbrechen in der gesamten Region. Und Kommissarin Stina Forss ist meine fähigste Mitarbeiterin.« Auch wenn ihr die letzten Worte schwer über die Lippen gingen, waren sie doch wahr. »Ich schlage vor, wir sprechen nun über den vermeintlichen Sachverhalt, oder meine Kollegin und ich werden auf der Stelle wieder gehen.« Sie hatte weiß Gott Besseres zu tun, als sich an einem Samstagnachmittag von einem alten Chauvinisten vorführen zu lassen. Überhaupt war es ein Unding, dass sie noch immer nicht wussten, weshalb sie überhaupt hier waren. Erik Edman hatte sie persönlich angefordert, ein ungewöhnlicher Vorgang, kamen die Einsatzzuweisungen doch im Normalfall über den Disponenten in der telefonischen Leitstelle. Aber dass ihr karrierebesessener Vorgesetzter einem einflussreichen Firmenpatriarchen wie Gustavsson einen persönlichen Gefallen erweisen und sein bestes Personal schicken wollte, ergab natürlich Sinn, auch wenn Edman sie in dem kurzen Telefonat ärgerlicherweise nur mit nebulösen Informationshäppchen und vagen, unzusammenhängenden Anspielungen abgefertigt hatte.
»Der Sachverhalt«, sagte Gustavsson, ohne dabei aufzusehen, »ist folgender: Dies hier, die Knochen in dem Sarg«, bei diesen Worten klopfte er mit der Spitze seines Gehstocks an die gläserne Hülle, »gehören nicht irgendeinem Schneewittchen. Es sind die sterblichen Überreste meiner Frau Berit.«
Für einige Augenblicke war es still in dem Raum. Nur die Neonröhren, auf denen das Skelett in dem gläsernen Sarkophag ruhte, brummten vor sich hin.
»Wie ist das möglich?«, fragte Nyström schließlich. Da Gustavsson nicht reagierte, blickte sie Herold Hilfe suchend an.
Die Kuratorin zuckte mit den Schultern.
»Das Werk ist die Leihgabe eines amerikanischen Sammlers, geschaffen hat es Jan Hesenius, einer der ganz Großen seines Fachs. In den frühen Achtzigerjahren hat er einige aufsehenerregende Arbeiten im Auftrag von Gustavssons gefertigt. Schneewittchen stammt aus dem Jahr 1982 und ist kunstgeschichtlich ein Meilenstein, einer der Höhepunkte der Ausstellung. Wir waren begeistert, dass wir es für die Schau gewinnen konnten. Der Sammler lebt in New York, ich kannte das Objekt nur von Fotos, bevor es hier vor etwa einer Woche eingetroffen ist. Allein der logistische und finanzielle Aufwand …«
»Dies hier ist nicht Jans Werk«, fauchte Gustavsson. Langsam stand er auf und wandte sich ihnen zu. Er atmete schwer, sichtbar um Selbstbeherrschung bemüht. »Ich war dabei, als er es in unserer Glashütte geschaffen hat«, fuhr er in einem sachlicheren Ton fort. »Als es fertig war, fand ich es aus verschiedenen Gründen verstörend. Auf meine Änderungsvorschläge hat sich Jan nicht eingelassen. Künstler sind Dickschädel, und wahrscheinlich ist das auch gut so. Aber sein Schneewittchen und die ästhetische Ausrichtung unserer Firma passten einfach nicht zusammen, außerdem hat es mich zu sehr an … Damals wollte ich jedenfalls nicht, dass es in unserem Namen ausgestellt wird.« Gustavsson verzog seinen faltigen Mund. »Ich habe es ihm überlassen, er hat es behalten und später weiterverkauft. Wer hätte ahnen können, dass es einmal zu einer Ikone der Glaskunst werden würde? Sei’s drum, ich gönne Jan seinen Ruhm, und es war großzügig, dass der jetzige Besitzer es für die Jubiläumsausstellung zur Verfügung gestellt hat.« Seine hellblauen Augen glommen im kühlen Licht der Neonröhren. »Nur: Dies ist überhaupt nicht Jans Werk«, wiederholte er. »Das Original hat gläserne Knochen, die detailgetreue Arbeit daran hat Wochen gedauert. Dieses Skelett hier dagegen sieht in meinen Augen ziemlich echt aus.«
»Aber was veranlasst dich zu glauben, dass es sich dabei um deine verstorbene Frau handeln könnte?«, fragte Nyström.
Die blauen Augen fixierten sie.
»Das Kleid. Im Original ist es ein helles Etuikleid mit einem leuchtend roten Fleck in Höhe des Schritts. Jans kruder Humor. Schneewittchens Entjungferung oder Menstruation. Vielleicht sollen die Zwerge sie auch vergewaltigt haben, was weiß ich? Dies jedoch«, er wies mit ausgestrecktem Arm und zitterndem Zeigefinger auf die Installation, »ist das Brautkleid meiner Frau.«
Nyström sah genauer hin. Das Kleid war alt, teilweise zerrissen, der Stoff, der offenbar irgendwann einmal weiß gewesen sein musste, war schmutzig und vergilbt. Auf Höhe der Brust war ein markanter dunkler Fleck, womöglich geronnenes Blut. Obwohl es derart mitgenommen aussah, erkannte Nyström, die früher selbst viel genäht hatte, dass es ein Brautkleid besonderer Machart war. Ein raffinierter Schnitt, ein synthetischer Stoff, wie er in den Siebzigerjahren gern benutzt worden war, dazu wenig, aber wirkungsvoll eingesetzte Spitze, markante Knöpfe aus schimmerndem Perlmutt.
»Verwechslung ausgeschlossen?«, fragte Forss.
Gustavssons Stimme bebte.
»Berit hat es bei einem Schneider in Stockholm in Auftrag gegeben. Ein Entwurf nach ihren eigenen Vorstellungen. Verwechslung ausgeschlossen.«
»Wann ist Berit denn gestorben?«, fragte Nyström.
Gustavsson ließ seinen Arm wieder sinken. Mit einem Mal schien alle Wut und Kraft verflogen.
»Das ist es ja gerade, ich weiß es nicht«, sagte er leise. »Niemand weiß das. Am Abend des 29. August 1971 ist sie während unseres Hochzeitsfests verschwunden. Danach wurde sie nie wieder gesehen.«
Die Kommissarinnen sahen sich an.
»Das ist beinahe fünfzig Jahre her«, stellte Nyström schließlich fest.
Stina Forss und Emma Herold befanden sich im Büro der Museumsleiterin. Gerahmte Poster zeugten von vergangenen Ausstellungen. Wie man so viel Getue um Glas machen konnte, war Forss ein Rätsel.
»Ergeben Gustavssons Worte in deinen Augen Sinn?«, fragte sie.
»Hmm.« Herold stand vor ihrem Schreibtisch über einen großformatigen Bildband gebeugt. Forss, die sich auf die Zehenspitzen stellen musste, um ihr über die Schulter zu sehen, versuchte die fotografische Abbildung von Schneewittchen mit der Erzählung des alten Manns in Einklang zu bringen. Es stimmte schon, auf der Abbildung schienen die Knochen tatsächlich aus Glas zu sein, auch wenn man das wegen der Lichtreflexionen des durchsichtigen Sargs nur erahnen konnte. »Das Kleid ist jedenfalls definitiv ein anderes, es ist in viel besserem Zustand und der auffällige Fleck ist tatsächlich an einer anderen Stelle. Verdammt, wie konnte das nur geschehen? Wieso ist mir das nicht aufgefallen? Bei solch einem berühmten Werk? Bei einer Versicherungssumme von zweieinhalb Millionen Kronen?«
»Bei vierhundert Exponaten und der unglaublich großen Verantwortung«, zitierte Forss Herolds eigene Ausführungen und gab sich Mühe, dabei nicht allzu sarkastisch zu klingen, »kann das schon mal passieren.«
Das Letzte, was sie gebrauchen konnte, war eine unter Umständen wichtige Zeugin, die sich in Selbstvorwürfen erging, anstatt nachzudenken und konstruktiv zu der Ermittlung beizutragen. Dennoch nahm sie zur Kenntnis, dass die junge Museumsleiterin offenbar nicht die Fachexpertise hatte, die man von einer Frau in ihrer Position erwarten konnte.
»Außerdem stimmen die Maße nicht überein«, stellte Herold fest, die den Ausstellungsführer neben den Bildband gelegt hatte. »Ich habe das Werk für unseren Katalog eigenhändig vermessen. Im Vergleich zu den Angaben aus diesem Fachbuch ist der Sarg, der unten steht, fünf Zentimeter zu kurz, drei zu hoch und sieben zu breit. Noch ein Fauxpas von mir.« Sie wirkte aufrichtig zerknirscht. »Es sind also nicht nur die Knochen ausgetauscht worden, sondern auch die gläserne Hülle.«
»Versuchen wir es doch einmal mit schlichter Logik«, sagte Forss. »Wenn dieses Glaskunstwerk die Leihgabe eines Sammlers ist, dann sehe ich eigentlich nur drei Möglichkeiten.«
»Edmund, er heißt Joseph Edmund«, schob Herold ein. »Er ist in den USA mit einer Textilreinigungskette reich geworden und hat sich seit mehr als zwei Jahrzehnten auf das Sammeln von Glaskunst spezialisiert. Wir haben insgesamt vier Exponate von ihm geliehen.«
»Also, entweder hat dieser Edmund absichtlich eine Abwandlung der ursprünglichen Arbeit geschickt, womöglich um Gunnar Gustavsson zu schockieren, zu ängstigen oder zu ärgern. Falls sich die beiden Männer nicht persönlich kennen und miteinander verfeindet sind, eine eher unwahrscheinliche Möglichkeit. Die zweite Variante wäre, dass Jan Hesenius beziehungsweise die Galerie, die ihn vertrat, Edmund eine Fälschung verkauft hat. Klingt für mich ebenfalls sehr zweifelhaft. Jemand, der im großen Stil berühmte Glaskunst sammelt, kennt sich doch aus und lässt sich nicht einfach übers Ohr hauen, vor allen Dingen nicht, wenn es dabei um Summen geht, wie du sie eben erwähnt hast.« Herold verzog bei den Worten geknickt den Mund. »Die dritte und wahrscheinlichste Variante«, fuhr Forss fort, »das Original wurde auf dem Weg von New York nach Växjö, oder vielleicht sogar hier im Museum ausgetauscht, und weder Hesenius noch Edmund haben mit der Sache etwas zu tun.«
»Hier vor Ort?« Herolds Stimme schnellte erneut um eine Oktave nach oben. »Unmöglich! Ich vertraue meinem Personal zu einhundert Prozent. Außerdem: Wie sollte das praktisch überhaupt vonstattengehen? Solch ein Objekt tauscht man nicht mal eben so aus. Der Sarg wiegt mehr als dreihundert Kilo, wir haben einen Gabelstapler benötigt, um ihn an Ort und Stelle zu bugsieren.«
Forss zuckte mit den schmalen Schultern.
»Wenn nicht hier, dann muss der Tausch eben woanders geschehen sein. Oder es gibt, wie gesagt, doch eine Verwicklung des Künstlers beziehungsweise Sammlers in die Sache. Auf jeden Fall brauche ich sämtliche Kontaktdaten, die Fracht- und Versicherungspapiere, die Zollunterlagen, den gesamten Papierkram, der Schneewittchens Reise über den Atlantik dokumentiert.«
»Natürlich«, nickte Herold beflissen und machte sich daran, den entsprechenden Aktenordner aus einem Regal zu suchen. Einen Augenblick später hielt sie in der Bewegung abrupt inne. Ihre Gesichtszüge entglitten. Entsetzt blickte sie Forss an. Offenbar war sie auf einen furchtbaren Gedanken gekommen.
»Wenn da unten in der Ausstellung tatsächlich eine Fälschung steht, wo um alles in der Welt befindet sich dann das Original?«
Das, dachte Forss, ist im Moment mein geringstes Problem.