Franz Branntweins vierter Fall
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© 2022 Sabine Schumacher
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Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
Titelfoto: iStock.com /cergeus
ISBN: 978-3-7557-9429-5
„Wer nach Rache strebt, hält seine eigenen Wunden offen.“
(Francis Bacon, 1561 - 1626)
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Epilog
Als er sich in dieser Nacht aus dem Bett quälte, trennten ihn noch fünfzehn Minuten vom Tod. Sicher hätte Günter Haller, Erster Kriminalhauptkommissar im Münchner Polizeipräsidium, seine Galgenfrist lieber anders verbracht. Doch als ihn der Harndrang weckte, konnte er nicht ahnen, dass es die letzte Gelegenheit sein würde, die altersbedingt vergrößerte Prostata zu verfluchen.
„Ich sollte auf Franz hören und abends vor dem Fernseher diese blöden Kürbiskerne knabbern, anstatt Salzstangen und Gummibärchen in mich hineinzustopfen, verdammt noch mal.“ Er machte kein Licht. Brauchte es nicht. Jeder Winkel des Hauses war ihm bestens vertraut. Sie hatten es in renovierungsbedürftigem Zustand gekauft, und Günter Haller war nicht nur an der Umbauplanung beteiligt gewesen, sondern hatte täglich Zeit auf der Baustelle verbracht, um den Handwerkern auf die Finger zu sehen und selbst mit anzupacken. Damals, vor über dreißig Jahren. So lange lebte er schon hier. Auch nach der Scheidung von seiner Frau, die ihm das Eigenheim gegen eine entsprechende Abfindung ohne Bedauern überlassen hatte. Eigentlich war es viel zu groß für ihn allein. Genau genommen war es das schon für sie beide gewesen. Viel zu groß.
„Ich möchte endlich so wohnen, wie es zu meinem Leben passt“, hatte Ilse Haller gesagt und eine Zwei-Zimmer-Wohnung in München-Schwabing gemietet. Ein Glücksgriff. Altbau, wenn auch ohne Balkon, für nur 900 Euro Warmmiete im Monat.
Günter Haller wusste, dass seine Exfrau recht hatte. Vom Schicksal zur Kinderlosigkeit verdammt, waren die drei für den Nachwuchs vorgesehenen Räume überflüssig geworden. Ebenso das auf Familienplanung ausgelegte und nun viel zu geräumige Esszimmer, aus dem sie in den weitläufigen Garten gestarrt hatten, in dem nie eine Schaukel hängen, ein Trampolin aufgestellt oder ein Baumhaus gebaut werden würde. Irgendwann hatten sie ein weiteres Gästezimmer geschaffen, in dem nur selten jemand schlief. Ilse bekam einen Hauswirtschaftsraum, den sie weder brauchte noch wollte. Und Haller richtete sich ein Musikzimmer ein, in das er sich zurückzog, um seine Schallplatten zu hören. Er besaß eine große Sammlung. Im Laufe der Jahre war der Raum allerdings zur bequem gepolsterten Trinkhalle mutiert. Seit einigen Monaten war er abgeschlossen, und die Platten waren wieder im Wohnzimmer verstaut. Dennoch hing er mit seinem ganzen Herzen an dem Haus. Für ihn war es das Sinnbild seiner Träume.
Die dritte Stufe knarzte, wie immer, wenn er auf sie trat. Auch das fünfte und das achte Brett der dunkel gebeizten Holztreppe würden unter seinem Gewicht leicht nachgeben, wie er wusste. Er war barfuß. Trotz der fast schon sommerlichen Temperaturen, die tagsüber herrschten, waren die Nächte noch empfindlich frisch. Als er die Steinfliesen im Erdgeschoss erreichte, wünschte sich Haller, seine Hausschlappen angezogen zu haben. Es gab zwar auch im ersten Stock ein Badezimmer, doch dort war der Spülkasten defekt. Schon seit mehreren Monaten hatte er sich vorgenommen, den Schwimmer zu ersetzen, es jedoch nie getan. „Morgen“, dachte er nun. „Morgen baue ich ihn endgültig ein.“ Auf Zehenspitzen huschte er so schnell wie möglich mit Tippelschritten über den kalten Boden zum Gäste-WC, gleich neben der Haustür auf der rechten Seite.
Ein humorvoller Betrachter hätte sich wohl an den Komiker Otto Waalkes erinnert gefühlt. Doch dem Fremden, der oben am Treppenabsatz stand und die Szene heimlich beobachtete, war nicht nach Lachen zumute. Er war eben dabei gewesen, die Klinke zu Günter Hallers Schlafzimmer herunterzudrücken, als sich die Tür unvermittelt geöffnet hatte. Nur seiner schnellen Reaktion und der großen Portion Glück in Form einer dunklen Nische hatte es der Eindringling zu verdanken, dass sein Opfer gähnend an ihm vorüber gestolpert war, anstatt laut schreiend die Treppe hinunterzustürmen – und vielleicht sogar zu entkommen. Reglos blieb die ganz in Schwarz gekleidete Gestalt stehen und wartete ab, bis sie sicher sein konnte, nicht ein zweites Mal überrascht zu werden.
Günter Haller zog sich indessen die Pyjamahose herunter und sank im dämmrigen Halbdunkel auf die Klobrille, obwohl auch sie unangenehm kühl war. Seine Haushälterin, die resolute Moorlechner Resi, hatte geschafft, was seiner Ilse in den Jahrzehnten der Ehe nie geglückt war: Sie hatte ihn zum Sitzpinkler erzogen. Die Tür ließ er offen, damit etwas mehr Licht hereinfiel. Zusätzlich zu den runden, hellen Punkten, die der Mond und die Straßenlaternen durch den heruntergelassenen Rollladen schickten, reichte ihm das zur Orientierung. Grelle Beleuchtung würde ihn nur daran hindern, rasch wieder einzuschlafen. Das wusste er aus Erfahrung.
„Wie spät mag es sein?“, fragte er sich, während er auf das Einsetzen des erlösenden Strahls wartete. Wie zur Antwort schlug die alte Standuhr im Wohnzimmer viermal. Zum Glück war Sonntag. Sonst hätte er in nur drei Stunden schon wieder aufstehen müssen, um noch in Ruhe frühstücken und die Zeitung lesen zu können, bevor um neun Uhr der Dienst im Präsidium begann. Endlich hörte er das befreiende Plätschern und ließ erleichtert den Kopf sinken, riss ihn jedoch gleich wieder hoch und die Augen auf. Atemlos starrte er in die diffuse Dunkelheit und lauschte. War da ein Geräusch gewesen? Erschrocken versuchte er, die Notdurft zu unterbrechen, doch es gelang ihm nicht. Kurzentschlossen griff er zwischen seine Beine und drückte die Harnröhre zusammen. Wieder horchte er angespannt. Die Sekunden vergingen. Warm tropfte der Urin zwischen seinen Fingerspitzen hindurch. Gerade als er sich sagte, was er doch für ein bescheuerter Idiot sei, hier herumzuhocken und sich selbst anzupissen, hörte er es wieder. Da! Ein Knarren. Definitiv. Treppenstufe fünf? Oder war es schon die Acht? Jemand war im Haus! Und er saß hier auf dem Klo, hilflos wie ein Kleinkind auf dem Töpfchen. Sein Dienstrevolver war vorschriftsmäßig in der Stahlschublade seines Schreibtischs im Büro eingeschlossen. Privat besaß er keine Waffe. Aber selbst wenn, hätte er sie wohl kaum in den Bund der Schlafanzughose geschoben. Wusste der Eindringling, wo er sich aufhielt? Kannte er seine schwache Position? Oder hatte die Treppenstufe auf dem Weg nach oben unter dem Gewicht geknarzt und der Einbrecher entfernte sich von ihm? Wo war der Mistkerl jetzt?!
Möglichst lautlos riss Günter Haller ein Stück Toilettenpapier ab, um sich die Finger zu trocknen. Der Harnfluss hatte unvermittelt aufgehört, obwohl immer noch Druck auf der Blase lag. Langsam stand der Kriminalbeamte auf und zog die Hose hoch. Ohne die offenstehende Tür aus den Augen zu lassen, bückte er sich nach der Klobürste. Sie war seine einzige Waffe. Mit beiden Händen umklammerte er den Stiel und hielt das weiße Borstenteil schützend vor sich, jederzeit bereit zuzuschlagen. Synchron setzte er bedacht einen Fuß vor den anderen. Wie die Karikatur eines asiatischen Schwertkämpfers schlich er auf das dunkle Rechteck zu, mit dem sich der Türrahmen der Toilette gegen die weißgestrichene Wand des Vorraums abhob. Er wagte kaum zu atmen. In seinen Ohren rauschte es. Er blinzelte ein paarmal, um besser sehen zu können. Der Plan war, die Klotür unbemerkt zu erreichen, sie abzuschließen und dann – fiel ihm ein, dass sämtliche Fenster im Erdgeschoss vergittert waren. Er würde das Gäste-WC also verlassen und durch die Haustür flüchten müssen. „Oder du bleibst, wo du bist und rührst dich nicht von der Stelle. Vielleicht macht sich der Einbrecher ja nicht die Mühe, auf der Toilette nach Wertgegenständen zu suchen.“ Ein entsprechendes Symbol war an der Außenseite der Tür angebracht.
Haller zögerte. Versuchte, die möglichen Alternativen gegeneinander abzuwägen. Sein Beruf hatte ihn schon oft in die Situation eines Jägers gebracht. Doch die Beute im eigenen Haus war er noch nie gewesen.
Die Sekunden verstrichen.
Plötzlich raschelte etwas, keine zwei Meter von ihm entfernt, er zuckte zusammen. „Der Schirm im Ständer an der Garderobe“, schoss ihm durch den Kopf.
Jedem anderen Menschen in dieser Lage hätte er geraten, sich hinter der offenen Tür zu verstecken, doch obwohl er es besser wusste, reckte er den Hals um nachzusehen – und wich keuchend zurück. Ein Monstrum stürzte auf ihn zu! Die Klobürste entglitt seiner Hand, fiel laut klappernd zu Boden, kullerte über die Fliesen und rollte schließlich unters Waschbecken, wo sie nutzlos liegenblieb. Von Panik getrieben warf sich Günter Haller gegen die Tür, drückte verbissen mit aller Kraft dagegen, um wenigstens ein paar Zentimeter Pressspan und Holzfurnier zwischen sich und den Angreifer zu bringen.
Vergeblich.
Das Wesen war nicht nur besonnener, sondern auch stärker als er. Schmerzhaft knallte das Türblatt in Hallers Gesicht. Der Kommissar taumelte. Blut lief ihm von der aufgeplatzten Oberlippe in den Mund. Oder kam es aus der Nase? Er wusste es nicht. Die große Zehe seines rechten Fußes verfing sich im Saum des linken Hosenbeins, er verlor das Gleichgewicht, knickte ein und stürzte mit beiden Knien schwer auf den Boden. Benommen kauerte er schwankend in der Dunkelheit wie ein betrunkener Bittsteller vor dem Altar. Außer seinem eigenen Röcheln war kein Laut zu hören. Er hob die Hand und tastete nach dem Lichtschalter. – Der Schlag traf ihn ohne Vorwarnung. Mit voller Wucht krachte ein Pistolengriff auf die empfindliche Stelle oberhalb der Schläfe und schleuderte seinen Kopf in den Nacken. Günter Haller verdrehte die Augen und kippte zur Seite.
Als er wieder zu sich kam, war die ihm noch auf Erden verbleibende Lebenszeit zur Hälfe abgelaufen.
„Hallo! Aufwachen!“
Jemand tätschelte grob seine Wange. Es fühlte sich kühl an auf der Haut. Kühl, ein wenig klebrig und – schuppig. „Das Monstrum!“ Günter Haller riss erschrocken die Augen auf und blinzelte angestrengt gegen das grelle Licht der Esszimmerlampe. Sein Kopf dröhnte, die Nase pochte. Ihm war schlecht. Dennoch reagierte sein Körper mit dem Fluchtinstinkt eines Tieres: Er bäumte sich protestierend auf, versuchte mit aller Kraft, die Fesseln an Hand- und Fußgelenken zu zerreißen, mit denen er am Stuhl fixiert war. Seine Schultergelenke waren unnatürlich nach hinten verdreht, die nackten Füße rechts und links an den Stuhlbeinen festgezurrt.
„Zwecklos“, kommentierte die Stimme hämisch, „Kabelbinder“.
Haller würgte und sog laut Luft durch die Nase. Kalter Schweiß vermischte sich mit geronnenem Blut.
Warmer Knoblauchatem blies ihm ins Gesicht. „Wenn du versprichst, keinen Blödsinn zu machen, werde ich den Klebestreifen über deinem Mund bald wieder entfernen“, versprach das vermeintliche Ungeheuer, das sich jetzt, bei ausreichender Beleuchtung, als normaler Mensch entpuppte. Die riesigen Froschaugen lagen in Form eines Nachtsichtgeräts auf dem Esstisch, und der unförmige Buckel musste der Rucksack gewesen sein, in dem der Mann nun wühlte. „Schließlich will ich dich schreien hören.“
Haller schluckte. Er bemühte sich, ruhig und gleichmäßig zu atmen, um seine Panik unter Kontrolle zu bringen. „Du musst dir möglichst viele Täterdetails einprägen“, ermahnte er sich selbst. „Untersetzt, ungefähr einen Meter fünfundachtzig groß. Schwarze Sturmhaube, schwarzer Rollkragenpullover, schwarzer Jogginganzug, vermutlich Polyester, schwarze Socken, schwarze Turnschuhe mit Klettverschluss. Keine Markenlabels. Latexhandschuhe, ebenfalls schwarz, einseitig genoppt. Spricht fehlerfreies Hochdeutsch ohne Akzent.“
„Ich nehme an, du weißt nicht, wer ich bin oder weshalb ich hier bin?“, fuhr der Mann im Plauderton fort und richtete sich wieder auf. Drei Kartuschen Schnellmontageschaum standen auf dem Tisch.
Günter Haller schüttelte den Kopf. Unverständliche Laute drangen unter dem Klebeband hervor.
„Ich Dummerchen!“ Der Mann trat einen Schritt auf den Kommissar zu und riss ihm mit einem Ruck den Streifen vom Mund. Ein Großteil der Lippenhaut blieb daran hängen. Haller schrie auf.
„Siehst du – genau deshalb habe ich kein Kreppband verwendet“, freute sich der Eindringling.
„Ich... – ich habe keine Wertsachen im Haus“, keuchte sein Opfer, „nur eine Münzsammlung, sie ist...“
„Das interessiert mich nicht! – Du hast es immer noch nicht verstanden, oder? Ich bin dein Richter und dein Henker – kein trotteliger Numismatiker!“ Verärgert wandte der Mann dem Gefesselten erneut den Rücken zu. Als er sich wieder umdrehte, trug er zusätzlich zur Sturmhaube eine weiße Atemschutzmaske und eine Schutzbrille. Ohne weiter auf Hallers Gestammel einzugehen, griff er nach einer der Dosen, drehte das Kunststoffrad am unteren Rand und schüttelte sie kräftig. „Es wird Zeit für einen Tipp“, sagte er und richtete das Sprührohr auf Hallers nackte Füße.
Zunächst war der Schaum einfach nur kalt. Sekundenbruchteile später brannte er wie Feuer. Der Kommissar schrie und versuchte verzweifelt, die aufquellende Masse abzuschütteln, die sich ätzend in seine Haut fraß. Er hatte keine Chance. Zentimeter um Zentimeter kroch sie nach oben und wurde dabei zu einem unnachgiebigen Kokon der Qual. Durch die Schlafanzughose hindurch und über seine geprellten Kniescheiben hinweg umschloss sie die Beine bis zum Oberschenkel. Dann war die Dose leer. Er hörte, wie sie achtlos zur Seite geworfen wurde und wegrollte.
„Na, na, na. – Ich würde an deiner Stelle nicht so japsen.“ Ein diabolisches Glitzern lag in den Augen des Sadisten. „Das Zeug reizt auch die Atemwege!“ Er lachte meckernd. „Und? – Schon eine Idee, worum es bei der ganzen Sache hier geht?“
Günter Haller konnte sich nicht erinnern, jemals solche Schmerzen gehabt zu haben. Der hart werdende Baustoff verdammte seine Beine zur endgültigen Unbeweglichkeit. Es fühlte sich an, als würde der PU-Schaum sich durch die Haut hindurch bis in die Knochen graben und dort explodieren. Wimmernd hob Haller den Kopf. „Helfen Sie mir!“ Die Worte kamen nur flüsternd über seine Lippen. „Bitte...!“
Wütend schlug ihm der Mann mit der flachen Hand ins Gesicht. „Du bittest mich um Hilfe? Ausgerechnet du?!“, zischte er und griff nach der nächsten Dose.
Der Kommissar keuchte entsetzt. „Nein! Nein!“ Hektisch bewegte er den Oberkörper vor und zurück, schaukelte von rechts nach links, versuchte fieberhaft, irgendwie die Kabelbinder an den Handgelenken zu lösen. Schon spürte er die Kälte am Hals, gleich darauf die Hitze. Scharf stachen die chemischen Stoffe in seinen Augen, Tränen liefen über seine Wangen und hinterließen helle Streifen auf dem blutverschmierten Gesicht. Das Kinn wurde vom Schaum nach oben gedrückt, während der Peiniger die Kartusche nach unten bewegte. Erst über die Brust, dann den Bauch...
Als der Mann die Dose von oben in den Bund der Schlafanzughose schob, wusste Günter Haller mit einem Mal, dass er sterben würde. Hier. Heute. Jetzt.
Und plötzlich fiel ihm auch ein, wofür.
Der Schaum machte keinen Unterschied zwischen Fensterrahmen und menschlichem Gewebe. Schnell und unnachgiebig bahnte er sich seinen Weg. Drang in alle Falten, Ritzen und Spalten, vervielfachte sein Volumen und verbrannte die Haut. Hallers Hoden wurden zusammengepresst wie überreife Litschis. Er übergab sich vor Schmerzen. Schmeckte bittere Galle in seinem Mund, ohne den Kopf noch senken zu können. Verzweifelt schluckte er den ekligen Brei, um nicht zu ersticken, während sein Unterleib barst. Er verlor das Bewusstsein.
„Hey! So nicht! Wach gefälligst wieder auf!“
Die zornige Stimme riss ihn zurück. Zurück in die Hölle.
„Sag mir, dass du weißt, warum ich hier bin. Sag mir, dass du weißt, wofür ich dich töten werde, du erbärmlicher Feigling! – Antworte mir!“
„Ja. Ja, ich weiß es“, wisperte Haller. Die erzwungen zurückgebogene Kopfhaltung und die überreizten Schleimhäute in seiner Kehle erschwerten das Sprechen zusätzlich.
„Sag es mir!“
„Weil... Ich habe...“ Ein Hustenanfall schüttelte den malträtierten Körper. „Falsche Entscheidung“, flüsterte er schließlich. Sein Herzschlag flatterte, er bekam kaum Luft. „Ich habe eine falsche Entscheidung getroffen.“
Der Mann starrte auf ihn herab. Er schien zufrieden zu sein mit der Antwort. Dennoch lag kein Mitgefühl in seinem Blick. Nur Rachgier und blanker Hass. Wortlos griff er nach der letzten Kartusche und stellte sich hinter sein Opfer.
„Dann wirst du nun sterben“, sagte er und rammte Günter Haller brutal die Düse zwischen die Zähne. Die alte Standuhr im Wohnzimmer schlug zur Viertelstunde.
Es wird behauptet, dass kurz vor dem Tod noch einmal das ganze Leben vorüberzöge. Doch während der Bauschaum seine Mundhöhle ausfüllte, die Luftröhre verschloss, Nase und Tränenkanäle verstopfte, schließlich sogar einen Weg durch die Eustachische Röhre fand und durch die Ohren wieder hervorquoll, dachte der Erste Kriminalhauptkommissar Günter Haller nur eines: „Den Alkoholentzug letztes Jahr hätte ich mir sparen können.“
Schon seit 1914 ist das Polizeipräsidium München in der Ettstraße hinter der Fassade des einstigen Augustiner-Eremiten-Klosters zu finden, wie sich der Augustinerorden bis 1963 genannt hatte. Welcher Ort wäre für eine solche Behörde, samt inkludierter Haftanstalt und Schnellgericht, wohl besser geeignet als die ehemalige Heimstatt eines Bettelordens.
Obwohl zur Augustinerstraße hin in einem anmutigen Bogen verlaufend, wirkt der lindgrüne Komplex aus der Luft betrachtet eher trist. Nur wer in einem der von Gebäudemauern umschlossenen Hinterhöfe genau hinsieht, entdeckt dort das ein oder andere Kleinod. So wie der Zitronenfalter, der den strengen Winter überlebt hatte und nun zielstrebig auf eine einsam blühende, rote Tulpe zuhielt, deren Zwiebel vergangenen Herbst von einer Wühlmaus aus dem nahegelegenen Garten der Sankt-Micheal-Kirche hierher verschleppt worden war. Die Frühlingsblume wuchs neben der Freitreppe vor dem reich verzierten Eingangsportal des Präsidiums.
Auf den Stufen stand Polizeimeister Benedikt Rauscher und starrte mit gerunzelter Stirn auf eine Inschrift, die in Versalien über ihm ins Mauerwerk eingemeißelt war: Nach seinem Sinne leben ist gemein. Der Edle strebt nach Ordnung und Gesetz. „Reimt sich nicht mal“, dachte er kritisch.
„Guten Morgen, Benedikt“, grüßte Kriminalhauptkommissar Franz Branntwein den Kollegen gutgelaunt aus ein paar Metern Entfernung.
Sie kannten sich von diversen Tatorten und Weihnachtsfeiern. Der junge Streifenbeamte war verheiratet, hatte eine zwanzig Monate alte Tochter und war erst vor kurzem von der Polizeiinspektion 13 hierher in die Ettstraße versetzt worden. Benedikt Rauscher drehte sich lächelnd zu ihm um. „Morgen, Franz!“
Neugierig stieg Branntwein die Treppe hoch. „Was gibt’s denn da zu sehen?“
„Ob du’s glaubst oder nicht, mir ist der Text da oben vorher noch nie aufgefallen.“
Der Ältere blieb stehen und legte den Kopf in den Nacken. „Womit mal wieder bewiesen wäre, dass die Bürgerinnen und Bürger der bayerischen Landeshauptstadt allesamt von edlem Geblüt sind“, hypothetisierte er grinsend, nachdem er zu Ende gelesen hatte. „Obwohl... – dann wären wir ja arbeitslos. – Wie läuft’s denn so bei dir?“, fragte er dann. „Hast du dich schon eingelebt?“
„Ja mei – es geht“, antwortete Rauscher. „Ein bisschen spannender hätt‘ ich’s mir im Hauptgebäude ehrlich gesagt schon vorgestellt. Momentan sitze ich die meiste Zeit im Keller und wühle mich durch alte, ungeklärte Fälle, die kein Schwein mehr aus dem Koben locken.“
Branntwein nickte verständnisvoll. „Klingt tatsächlich nicht sonderlich aufregend. Aber manchmal ist doch bestimmt auch was Interessantes dabei, etwas, wo es sich lohnt, noch mal nachzubohren, oder nicht? Wie in dieser englischen Fernsehserie, wie heißt die noch gleich? Ah, jetzt hab‘ ich’s: Cold Case – Kein Opfer ist je vergessen.“
„Ähm – ja, stimmt schon.“ Der Polizeimeister trat von einem Fuß auf den anderen.
„Was ist los?“, fragte Branntwein. „Ist dir kalt?“
„Ein wenig. – Das sieht schwer aus.“ Rauscher zeigte auf einen Karton voller Primeln, die sich der Kommissar unter den Arm geklemmt hatte. „Komm, ich halt dir die Tür auf. – Was willst du denn mit den ganzen Blumen?“, fragte er. „Habt ihr euch bei Schöner Wohnen beworben?“ Lachend ging er voraus.
„Lange Geschichte“, winkte Branntwein ab. Im Treppenhaus verabschiedete er sich vom jungen Kollegen. Er selbst musste nach oben, Rauscher nach unten. „Grüße an Eva und die Kleine.“
„Danke, werde ich ausrichten. Mach’s gut Franz.“
Die Alpenveilchen des Bürogartens, der jedem Dienstzimmer im vergangenen Jahr von der Verwaltung aufgezwungen worden war, um das Raumklima zu verbessern, hatten schon glücklichere Tage gesehen. Wenn auch nicht viele. Obwohl regelmäßig gegossen und gedüngt, fristeten sie in der Hydrokultur neben zwei Yucca-Palmen und einem frechen Deko-Frosch ein „jämmerliches Dasein, das Auge und Seele beleidigt, nicht wahr?“ Diese Meinung hatte zumindest Kriminaloberkommissar Daniel Baumann am Freitag bei Dienstschluss vertreten, und er war sicher gewesen, dass seine junge Kollegin, Kriminalassistentin Susanne Nowak, ebenfalls dieser Ansicht sein würde. Die restlichen Mitglieder der Truppe hätten unter normalen Umständen nicht einmal mit Bestimmtheit sagen können, ob derzeit überhaupt Blumen in der auch als Raumteiler dienenden Plastikwanne wuchsen. Geschweige denn welche Sorte. Aber heute waren keine normalen Umstände, sondern es war Montag und Susi kam aus dem Urlaub zurück. Sie war in Paris gewesen und hatte ihren Halbbruder besucht, von dem sie Ende vergangenen Jahres überraschend erfahren hatte. Soweit es den spärlichen Nachrichten, die sie geschickt hatte, zu entnehmen war, schien der Aufenthalt jedoch eine Enttäuschung und dieser Jean-Claude ein Idiot gewesen zu sein. Und das wiederum war der Grund, warum Kriminalhauptkommissar Franz Branntwein nun auf dem Boden herumkroch und fluchend versuchte, Primelwurzeln von der Unterseite eines Plastikbechers zu lösen. Das Team wollte der Kriminalassistentin eine Freude bereiten. Als Ausgleich zur verpatzten Familienzusammenführung sozusagen.
„Wirklich eine lange Geschichte. Und eine saublöde noch dazu“, dachte Branntwein gereizt und bat seinen Kollegen ungeduldig um brachiales Werkzeug: „Mausi, gib mir mal die Schere, das verdammte Scheißzeug geht nicht raus.“
Der Computerexperte Joachim Mayer reichte ihm das Gewünschte. Seit einer Weihnachtsfeier vor vielen Jahren klebte der Spitzname ‚Mausi‘ ebenso fest an ihm wie der alte Kaugummi im Profil seines Fahrradreifens. Mit beidem hatte er sich längst abgefunden. „Denkst du nicht, dass sie dadurch irgendwie beschädigt werden könnten?“, fragte er.
„Ach was! Die sind doch eh völlig überzüchtet, die halten das schon aus.“
„Wenn du meinst...“
„Wo bleiben denn die anderen? – Erst vor dem Wochenende so depperte Ideen in die Welt setzen und sich dann nicht drum kümmern!“
Wie aufs Stichwort öffnete sich die Zimmertür und die beiden Oberkommissare Daniel Baumann und Georg ‚Schorsch‘ Hinterhuber betraten das Büro.
„Oh! Das sieht aber schon schön aus, nicht wahr?“, rief Daniel entzückt und rammte Schorsch, der auch im privaten Leben sein Partner war, den Ellbogen in die Seite.
„Sowieso“, beschied der in seiner essenziellen Art und rieb sich die Rippen.
„Aber vielleicht könntest du die mit den dunkelvioletten Blüten doch noch ein wenig näher an die Rosafarbenen setzen, Chef“, sinnierte Daniel mit schräg gelegtem Kopf.
„Jetzt bist du ja da“, antwortete Branntwein und rappelte sich auf. „Da kannst deinen Mist gleich selber machen.“
Schorsch grinste und setzte sich an den Doppelschreibtisch, den er mit Daniel teilte. Auch Branntwein und Susi hatten zwei Tische zusammengeschoben. Mausi beanspruchte denselben Platz für sich allein – und die gezählt einhundertdreiundvierzig Computer- und Elektroteile, die zurzeit darauf herumlagen. Software wie Hardware.
„Das mache ich sogar gerne!“, zickte Daniel zurück. „Für so etwas habe ich nämlich ein Händchen, nicht wahr?“
„Dann wärst halt Gärtner geworden“, grummelte Branntwein kaum hörbar und trat an die Kaffeemaschine, um sich die fünfte Tasse des Tages einzuschenken. Die Koffeinsucht des Kriminalhauptkommissars war im Präsidium kein Geheimnis. Eher ein zur Stichelei animierender Dauerbrenner. Beim Umrühren – Branntwein nahm stets viel Milch und Zucker – betrachtete er gedankenverloren die Bilder der meistgesuchten Verbrecher, die an einer Pinwand über dem Sideboard hingen. „Hat einer von euch seit Samstag noch mal was von ihr gehört?“
„Von wem denn? Von mir etwa? – Hallo Chef! Hallo Jungs!“
„Susi!“ Branntwein drehte sich überrascht um. „Gut schaust du aus!“, log er charmant. Die dunklen Augenringe erinnerten ihn an seinen letzten Besuch im Tierpark Hellabrunn, Stichwort: Pandagehege.
„Also wie immer“, schlug Mausi in die gleiche Kerbe und stand auf, um die Kollegin zu begrüßen.
„Du bist zu früh!“, kreischte Daniel zeitgleich. „Du musst noch mal rausgehen, sonst ist ja die ganze Überraschung verdorben, nicht wahr?“ Hektisch versuchte der gebürtige Schleswig-Holsteiner, den Bürogarten hinter seinem schmalen Körper zu verbergen.
„Jetzt spinn dich aus“, sagte Schorsch, „dann macht ihr das halt miteinander.“ Und an Susi gewandt: „Servus Susi! Alles okay?“
„Ja, geht schon. Jetzt bin ich ja wieder hier.“ Sie lachte ein wenig zu heiter und hängte ihre große, selbstgebatikte Umhängetasche an den Haken. In gewohnt fließender Bewegung hob sie auch noch die Jeansjacke ihres Chefs auf, die dieser wieder einmal an der Garderobe vorbei auf den Boden geworfen hatte. „Was versteckst du denn da eigentlich, Daniel? Oh! Ihr habt Blumen gekauft! Für mich? – Wie lieb von euch! Dankeschön!“
Branntwein und Mausi murmelten verlegen etwas von „ist doch selbstverständlich“ und „gerne“. Schorsch sagte nichts.
Daniel hingegen griff nach Susis Hand und zog sie zu den Töpfen. „Ja! Sind die nicht super?“, quietschte er. „Die hat der Chef ganz allein ausgesucht, nicht wahr?“
„Doch, die sind toll. – Ob wir die Lilafarbenen etwas näher zu den Pinken setzen sollten? Was meinst du?“
Daniel strahlte sie an: „Es ist so schön, dass du wieder da bist, Susi!“
Branntwein verdrehte die Augen und griff nach dem Hörer seines Telefons, das soeben zu läuten begonnen hatte. „Kriminalhauptkommissar Franz Branntwein!“ Eine Weile lauschte er schweigend. Er kannte den Polizisten am anderen Ende der Leitung nicht. „Was? Mord? Sind Sie sicher? – Okay. Wo? – Aber...“ Er kniff mit Zeigefinger und Daumen fest in die Haut seiner Nasenwurzel und schloss die Augen. „Bitte informieren Sie die Spurensicherung und Frau Doktor Schneider von der Rechtsmedizin. Wir kommen auch gleich“, versicherte er so ruhig wie möglich. – „Ja! Natürlich wir! Wer denn sonst, Zefix?!“, brüllte er gleich darauf unbeherrscht und knallte den Hörer auf die Gabel. Vier Augenpaare sahen ihn erwartungsvoll an. Er hatte wieder einmal vergessen, den Lautsprecher einzuschalten. Branntwein schluckte. Er konnte die Blicke seiner Kollegen nicht erwidern. Überall wäre er jetzt lieber gewesen. Sogar bei seiner Schwiegermutter im Seniorenheim. Überall – nur nicht hier.
„Chef?“, fragte Susi vorsichtig. Sie hielt eine der Primeln in der Hand. „Alles in Ordnung?“
Auch Mausi, Daniel und Schorsch beschlich ein ungutes Gefühl. Normalerweise müsste ihr Vorgesetzter jetzt aufspringen, Name und Adresse des Mordopfers durchs Büro schreien und sich danach seine Jacke schnappen. Aber er saß nur da, starrte auf den Schreibtisch und wippte unruhig mit dem Fuß.
„Sag uns bitte, was los ist“, drängte die Kriminalassistentin behutsam.
Branntwein räusperte sich umständlich und sah endlich auf. „Günter ist tot“, sagte er schließlich. „Er wurde von seiner Haushälterin vor einer Viertelstunde ermordet aufgefunden.“
Daniel schlug entsetzt die Hand vor den Mund. Schorsch sog scharf die Luft ein. Susi rutschte vor Schreck der Blumentopf aus den Fingern.
„Das kann doch nicht wahr sein“, flüsterte Mausi erschüttert. „Wie ist er denn...? Ich meine: Weiß man schon...?“
„Anscheinend ist er erstickt“, antwortete der Hauptkommissar mit belegter Stimme. Günter Haller war ein Vierteljahrhundert lang sein Freund gewesen. Die beiden Männer verbanden unzählige gemeinsame Erinnerungen, sowohl beruflicher als auch privater Natur. Nicht alle davon waren fröhlich. „Aber doch viele“, dachte Branntwein und kämpfte mit den Tränen.
Auch die anderen Teammitglieder waren mit dem Ersten Kriminalhauptkommissar gut bekannt gewesen. Vor allem nach seinem erfolgreichen Alkoholentzug hatten sie ihn wieder als Menschen schätzen und als Vorgesetzten respektieren gelernt. Seinen sechsundfünfzigsten Geburtstag im vergangenen Jahr hatten sie alle zusammen im Bullentreff gefeiert. Es war nicht verwunderlich, dass sie zunächst ebenso betroffen und geschockt reagierten wie fast alle Hinterbliebenen, die plötzlich auf gewaltsame Art einen lieben Menschen verloren. Aber sie waren auch Profis.
„Lasst uns das Schwein finden.“ Susis Stimme klang fest. Energisch wischte sie die Erde von ihren Händen und griff nach der Umhängetasche. Nur die aus einem schlechten Mafiafilm zu stammen scheinende Wortwahl verriet ihre innere Anspannung. „Du bist doch fahrtüchtig, oder Chef?“
Vermutlich hätte sie keine bessere Frage stellen können, um Branntwein wachzurütteln. „Natürlich!“, versicherte er nachdrücklich und rieb sich über die Wangen. „Aber eigentlich... Na egal! – Wie sieht’s mit dir aus, Schorsch?“ Sie fuhren in aller Regel mit zwei Autos, um flexibler zu sein.
„Sowieso.“
„Dann ab mit euch“, rief Mausi, „worauf wartet ihr noch?“ Er selbst würde wie immer im Büro zurückbleiben und nicht nur alle eingehenden Informationen sammeln und kombinieren, sondern auch Recherchearbeit leisten.
Mit einem Mal hatten es alle eilig. Branntwein stürzte seinen Kaffee hinunter und fing die Jeansjacke auf, die Susi ihm zuwarf.
Auf dem Weg nach unten wandte sich die Kriminalassistentin an ihren Vorgesetzen: „Welcher ist es denn? Ich hab‘ schon geschaut als ich ankam, aber ich konnte es nicht erraten.“
„Wovon sprichst du?“, fragte der Chef.
Schorsch und Daniel tauschten hinter seinem Rücken einen bedeutsamen Blick.
„Na, dein neues Auto!“, rief Susi.
„Bin noch nicht dazu gekommen“, nuschelte er unangenehm berührt und trabte weiter die Treppe hinunter.
„Was?!“ Susi blieb ruckartig stehen.
Daniel konnte gerade noch rechtzeitig ausweichen. „Ich verstehe, was du durchmachst“, sagte er tröstend und gab ihr einen leichten Klaps auf die Schulter. „Aber es hilft nichts, Susi, da musst du jetzt durch, nicht wahr? Wir haben keine Zeit für Diskussionen.“
Er setzte seinen Weg fort, Susi kam im Laufschritt hinterher. „Ich kann nicht glauben, dass du es in vier Wochen nicht geschafft hast, dir endlich ein neues Auto zu kaufen“, zischte sie, als sie den Kommissar wieder eingeholt hatte. „Du hast es versprochen!“
Branntwein schien es nicht der passende Augenblick zu sein, Susi gegenüber als Autoritätsperson aufzutreten. Seine Tochter war im gleichen Alter. Er wusste, wie schnell das nach hinten losgehen konnte. Außerdem stimmte, was sie sagte: Er hatte es versprochen.
„Du bist ein ganz schrecklicher Beifahrer!“, stöhnte sie nun.
„Ja, ja, ich weiß. Du hast recht. Auch schon die einhundert anderen Male zuvor, als du das gesagt hattest. Aber es ist eben nicht so einfach. Und außerdem haben wir jetzt andere Sorgen, würde ich meinen.“
Mittlerweile hatten sie den Parkplatz erreicht. Daniel und Schorsch stiegen erleichtert in ihren BMW, Susi sperrte grummelnd den gebrauchten Skoda auf, den sie erst vor wenigen Monaten gekauft hatte. „Kein Wort!“, erinnerte sie ihren Vorgesetzten erneut.
„Jetzt langt’s dann aber auch mal wieder, ich bin ja schließlich kein Volldepp!“
Susi zog wortlos eine Augenbraue hoch, räumte aber ein: „Nein. Nein, das bist du nicht. Entschuldige bitte. Vermutlich eine Übersprungshandlung. Ich bin einfach ein wenig neben der Spur.“
„Ist auch kein Wunder.“ Branntwein faltete seinen hochgewachsenen Körper geschickt zusammen und nahm auf dem Beifahrersitz Platz. „Du kennst die Adresse?“
Susi nickte. „Leonhardiweg, gleich bei der Kleingartenanlage, oder?“, vergewisserte sie sich.
„Genau. Um die Uhrzeit fährst du am besten über die Kreilerstraße.“
„Warum nicht über die Autobahn? – Und schnall dich bitte an.“ Sie blickte erst in den Innen-, dann Außenspiegel und setzte den Blinker.
„Weil da Baustelle ist. – Susi, wir sind immer noch auf dem Parkplatz, da kannst du ruhig... – Bin schon still!“ Fast wäre er mit der Nase aufs Armaturenbrett geknallt, so plötzlich und energisch hatte seine Assistentin den Fuß aufs Bremspedal gedonnert. Er griff nach dem Gurt. Schorsch, der direkt hinter ihr fuhr, hupte erschrocken.
„Was hat der Anrufer denn sonst noch gesagt?“, fragte Susi und fädelte in den fließenden Verkehr Richtung Lenbachplatz ein. „Wer war das überhaupt?“
„Ein Streifenpolizist. ‚Maurer‘ oder so. Ich kenn‘ ihn nicht. Und gesagt hat er auch nicht viel. Nur eben, dass... Na ja, dass Günter ermordet wurde. ‚Im Schaum erstickt‘, waren seine genauen Worte, wenn ich mich nicht irre. Und dann hat er noch unsere Integrität angezweifelt. Hat gemeint, ob er vielleicht lieber jemand anderen hätte informieren sollen, der Depp!“
„Was für ein Schaum denn?“
„Das weiß ich doch nicht, Zefix! Bin ich hier der Schaum-Experte, oder was?!“
Susi schwieg. Die psychologieaffine Assistentin hatte Verständnis für die Gereiztheit ihres Chefs, mit der er offensichtlich ein Gefühl der Hilflosigkeit zu kompensieren versuchte. Und außerdem besaß sie das passende Gegenmittel. „Schau mal ins Handschuhfach“, sagte sie nach einigen Minuten. „Ich hab dir was mitgebracht.“ Sie näherten sich mittlerweile dem Altstadtring-Tunnel, Susi schaltete das Abblendlicht ein.
„Mir? Aus Paris? – Oh, wow! Coleman Hawkins encounters Ben Webster!“, las er laut vom Cover ab. „Ist das cool! Darf ich sie gleich einlegen?“
„Bitte. Ist ja eh deiner.“
Conrad Fleischmann, der Leiter der Spurensicherung, hatte den CD-Player aus Branntweins altem Golf gerettet, nachdem dieser einem Totalschaden zum Opfer gefallen war, und auf Wunsch des Kriminalhauptkommissars in Susis Skoda eingebaut. Als Einstiegsgeschenk ins fahrende Volk, wie er es damals genannt hatte.
„Als ich die Scheibe gesehen habe, musste ich gleich an dich denken“, sagte Susi über die Saxofonklänge von Blues for Yolande hinweg, die das Wageninnere mit einem ruhigen, rhythmischen Sound erfüllten. „Der Verkäufer meinte, dass man mit dieser Musik schon Chillout-Momente erleben konnte, bevor der Begriff überhaupt erfunden war. – Und er hatte offensichtlich recht.“ Sie nahm für einen Moment den Blick von der Straße und sah zu Branntwein hinüber. „Findest du nicht auch?“
„Mhm. Ja. Und ich kann dir gar nicht sagen, wie glücklich ich bin, Menschen wie dich in meinem Leben zu haben, Susi“, antwortete ihr Vorgesetzter ernst. „Vielen lieben Dank.“
„Huh! Jetzt werd‘ mal nicht rührselig, Chef“, entgegnete sie betont schnoddrig. „Sonst muss ich noch heulen. Und dann sehe ich vielleicht die Abfahrt auf den Schatzbogen nicht oder vergesse, beim Abbiegen zu blinken.“
„Na, da sei Gott vor“, murmelte er und gab sich ganz der Musik hin.
Die zuständige Rechtsmedizinerin, Dr. Elisabeth Schneider, war an diesem Montagmorgen trotz der frühen Uhrzeit schon seit über zwei Stunden im Obduktionssaal zugange. Der Frühling bescherte immer viel Arbeit. Zu den Motorradfahrern, die nach der langen Winterpause voller Vorfreude und Elan buchstäblich für ihr Leben gern die Kurven schnitten und waghalsige Überholmanöver vollzogen, gesellten sich die Selbstmörder. Von März bis Mai herrschte Hochkonjunktur bei den Suiziden und somit auch auf den blankpolierten Stahltischen im Keller des Rechtsmedizinischen Instituts. Ein Phänomen, das Außenstehenden oft nicht bekannt war. Die Selbstmordrate stieg zwar auch zu Feiertagen wie Weihnachten und Silvester deutlich an, wenn die Einsamkeit besonders schmerzhaft zu Tage trat. Doch ebenso war es die Jahreszeit der Erneuerung und des Aufbruchs, die in etlichen Menschen das Gefühl hervorrief, dass es für sie etwas Vergleichbares nie mehr geben würde. Und die ihrem Leben dann ein Ende setzten. So wie der arbeitslose Endfünfziger, der vor ihr auf dem Tisch lag. Er hatte sich von der Grünwalder Isarbrücke gestürzt und war direkt auf einem Felsblock aufgeschlagen. Sein Körper erzählte die Geschichte von zu viel Alkohol, Fett und Salz.
Elisabeth Schneider stammte ursprünglich aus Düsseldorf. Seit gut einem Jahr lebte sie nun in München. Nach einigen kulturellen, kulinarischen und kommunikativen Anfangsschwierigkeiten hatte sie sich gut in der bayerischen Landeshaupt eingelebt, verstand den Dialekt der Ureinwohner immer besser und beherrschte mittlerweile das Zuzeln einer Weißwurst aus dem Effeff.
„Aber von innen sehen wir alle gleich aus.“ Routiniert setzte sie die letzten Nähte, um den Y-Schnitt zu verschließen, mit dem sie die zerschmetterte Leiche zuvor geöffnet hatte, als ihr Handy läutete. Seufzend streifte sie die Handschuhe ab und streckte den Rücken durch. „Ja bitte?“ Die nächsten vierzig Sekunden lauschte sie schweigend. „Nein, Sie brauchen mir die Adresse nicht zu schicken, ich weiß, wo das ist.“ Sie schloss kurz die Augen. „Ist Conrad Fleischmann schon verständigt?“ Der Leiter der Spurensicherung würde es sich nicht nehmen lassen, den Einsatz persönlich zu führen. Er und Günter Haller kannten sich schon viele Jahre, wie sie wusste. Die Nachricht musste ein Schock für ihn sein. Ebenso wie für Franz Branntwein. Mit dem verwitweten Kriminalhauptkommissar verband sie eine noch zartgeknüpfte Liebschaft, die bewies, wie sehr sich Gegensätze bisweilen anziehen konnten. „Gut. Danke. Auf Wiederhören.“ Sie beendete das Gespräch.
„Dringender Verdacht auf Gewaltverbrechen“, hatte Maurer gesagt. Also Mord. Schneider unterdrückte den Impuls, umgehend im Präsidium anzurufen. Das Team war sicher schon unterwegs zum Tatort. „Tatort“, wiederholte sie laut und hielt mitten in der Bewegung inne. Sie drehte das Wort in ihrem Kopf hin und her als hörte sie es zum ersten Mal. Es passte nicht. Passte nicht zum gemütlichen Holzofen im Wohnzimmer und dem wildwuchernden Garten, in dem sie am zweiten Weihnachtsfeiertag gemeinsam mit Günter und Franz einen Schneemann gebaut hatte.
„Doktor Schneider?“ Die Stimme des Sektions- und Präparationsassistenten Bruno Martinez, der eben aus dem Sterilisationsraum zurückkam, riss sie aus ihren Gedanken. Der junge Uruguayer war mit seiner Familie vor 15 Jahren nach Deutschland gekommen und seit Anfang des Jahres beim Freistaat beschäftigt. Sein gewissenhafter, respektvoller Umgang mit den Toten hatte die Rechtsmedizinerin schnell für ihn eingenommen. Ebenso wie seine höfliche, unkomplizierte Art, die es einfach machte, mit ihm zu arbeiten.
Elisabeth Schneider war dankbar, dass sich momentan außer Bruno und ihr selbst keine lebendige Seele hier unten aufhielt. Jetzt einem Rudel Studenten gegenüberstehen zu müssen... Sie schauderte. Günter Haller war tot. Ermordet. Es war unbegreiflich. Äußerlich gefasst steckte sie endlich das Handy ein und wandte sich ihrem Assistenten zu. „Ich muss weg – zu einem Leichenfund.“ Sie zögerte. Das Entsetzliche auszusprechen, fiel ihr nicht leicht. „Es handelt sich um den Ersten Kriminalhauptkommissar Günter Haller... – Bruno, ich muss Sie bitten, diese Information mit absoluter Diskretion zu behandeln.“
„Selbstverständlich.“ Er nickte verbindlich. „Fahren Sie ruhig. Ich mache hier fertig.“
In der normalerweise eher ruhigen Wohnstraße – unweit der von 1994 bis 1998 auf der nördlichen Hälfte des ehemaligen Flughafens München-Riem erbauten Messe München – herrschte heute reger Verkehr. Mehrere Polizeifahrzeuge und ein Rettungswagen kamen Elisabeth Schneider entgegen, als sie in den Leonhardiweg einbog; ein weiterer Streifenwagen fuhr direkt hinter ihr. Der Mord an Günter Haller hatte sich offensichtlich schon herumgesprochen. Ob pure Sensationslust oder der aufrichtige Wunsch, zur Aufklärung des Falles beizutragen, hinter dem großen Aufgebot standen, wusste die Rechtsmedizinerin nicht zu sagen. Sie vermutete, dass es unter den Polizisten wohl Vertreter aus beiden Lagern gab.
Sie parkte ihr Elektroauto ordnungsgemäß am Straßenrand direkt hinter Susis Kleinwagen. Schorschs BMW stand gegenüber in einer Feuerwehrzufahrt, und der Sprinter der Spurensicherung war wieder einmal mit dem Heck voraus mitten in der Einfahrt zum Tatort abgestellt worden und würde später dem Leichenwagen den Weg versperren. Ein sicheres Zeichen dafür, dass Conrad Fleischmann selbst am Steuer gesessen hatte. Dass sie die Letzte am Tatort war, verwunderte Schneider nicht. Nach einer Leichenöffnung konnte sie nicht einfach alles stehen und liegen lassen, sondern musste erst ein aufwendiges Hygienekonzept befolgen. Das dauerte seine Zeit.
Sie stieg aus und ging zum Kofferraum, um einen der weißen Overalls anzuziehen, die Hauptkommissar Franz Branntwein an die Spermien aus Woody Allens Filmklassiker Was Sie schon immer über Sex wissen wollten erinnerten, wie er ihr einmal grinsend verraten hatte. „Heute wird ihm wohl kaum nach Lachen zumute sein“, dachte sie bedrückt und atmete einmal tief durch. Jetzt war nicht der Moment für Sentimentalitäten. Mit resolutem Ruck zog sie die Kapuze des Schutzanzugs über ihren korrekt gesteckten Haarknoten, schnappte sich den Arztkoffer und überquerte festen Schrittes die Straße.
Auf dem Gehweg vor Hallers Haus hatte sich eine Traube Schaulustiger gebildet. Zwei Uniformierte waren damit beschäftigt, sie in Schach zu halten.
„Entschuldigen Sie bitte... Entschuldigung?! Ich müsste hier durch!“ In mehr oder weniger freundlichem Tonfall versuchte die Rechtsmedizinerin, sich Gehör zu verschaffen. Mit mäßigem Erfolg. Die stahlverstärkten Kanten ihres Koffers hingegen zeigten mehr Wirkung, vor allem gezielt in Kniekehlen platziert. Die Menge wich auseinander. „Schneider, KTU.“ Sie hielt einem der beiden Polizisten ihren Ausweis entgegen.
„Alles klar. Sie können durch.“
Sie stieg über das Absperrband hinweg und ging auf den Waschbetonplatten zur Haustür. Dort stand ein weiterer Streifenbeamter, der sie mit versteinerter Miene passieren ließ. Sie kramte ein Paar Einmalfüßlinge aus der Hosentasche und zog sie über ihre praktischen Halbschuhe, straffte die Schultern und betrat das Haus.
Schon im Eingangsbereich roch es wie in einem Dixie-Klo. Eine strenge Mischung aus Chemie und Fäkalien. Mehrere nummerierte Schilder markierten gesicherte Spuren. Die Tür zum Gäste-WC war zusätzlich mit Flatterband gesichert. Auf dem Boden war Blut.
„Du kneifst jetzt mal die Backen zusammen“, raunzte die Stimme Conrad Fleischmanns wenig pietätvoll durchs Haus. „Und zwar die im Gesicht und die am Arsch! Oder willst du, dass ich euch wieder vor die Tür setze?!“ Seine Nase war nur wenige Zentimeter von der des Kriminalhauptkommissars entfernt. Susi, Daniel und Schorsch standen dicht gedrängt hinter ihrem Chef und bemühten sich, keine Hinweise zu verwischen oder vermeintlich neue zu hinterlassen.
„Nein, Conni, das möchte ich nicht“, presste Branntwein mit zusammengebissenen Zähnen mühsam hervor. Seine Fäuste waren geballt, das Gesicht rot angelaufen. „Ich weiß deine Güte, uns schon mal bis hierher vordringen gelassen zu haben, durchaus zu schätzen. – Aber jetzt schieb‘ gefälligst deine Wampe zur Seite, damit wir in dieses verdammte Zimmer können! Du weißt genau, wie sehr ich es hasse, vor der Tür warten zu müssen, wie ein kleines Kind, das erst vom Tisch aufstehen darf, wenn alle aufgegessen haben!“
„Tja, mein Junge, so ist das eben.“ Ohne mit der Wimper zu zucken, drehte Fleischmann sich um. „Jetzt beeilt’s euch halt a bisserl!“, rief er seinen Mitarbeitern zu und klatschte in die behandschuhten Hände. „Der Herr Kriminalhauptkommissar ist doch kein Schulbub!“
„Reg‘ dich nicht auf, Chef. So versucht der Conni eben, mit seiner Trauer umzugehen, nicht wahr? Und mit dem Schock“, versuchte Daniel, seinen Vorgesetzten zu beruhigen.
„Blödsinn! Der ist der gleiche Depp wie immer“, widersprach Branntwein. – „Oh, hallo Elisabeth!“, rief er dann. „Ich hab‘ dich gar nicht kommen sehen.“
Seit Bekanntwerden ihrer Liaison wurden Schneider und Branntwein auf dem Kommissariat und in der KTU von allen nur noch das Kaiserpaar genannt. Heute verzichteten die beiden auf eine standesgemäße Begrüßung mit österreichischem Dialekt. Es waren weder die richtige Zeit noch der passende Ort für einen Running-Gag.
„Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll“, gestand sie und sah von einem zum anderen. „Es ist alles so furchtbar. – Mein herzliches Beileid.“ Sie machte eine ausholende Bewegung, die das gesamte Team umschließen sollte.
„Danke.“ Branntwein räusperte sich.
„Es ist ein schwarzer Tag für uns alle, nicht wahr?“, sagte Daniel.
Schorsch nickte ernst.
„Trotzdem ist es schön, dass du wieder da bist, Susi. Bienvenue!“ Die Frauen lächelten sich zu. „Gibt es schon Hinweise?“
„Conni meint, dass es bislang nicht so aussieht, als hätte der Täter – oder die Täterin“, fügte Branntwein schnell hinzu, „etwas Bestimmtes gesucht.“
„Wer hat ihn denn gefunden?“
„Seine Haushälterin, Resi Moorlechner. Kommt seit fast acht Jahren immer montags. Sie hat einen eigenen Schlüssel. Normalerweise ist Günter...“, er stockte, „normalerweise ist Günter schon weg, wenn sie kommt.“
„Das Schloss war also unbeschädigt?“
„Ja, sieht so aus. Allerdings war die Haustür nicht abgeschlossen, sondern nur zugezogen. Sie dachte, er hätte es vergessen. Anscheinend ist das auch früher schon vorgekommen.“
Elisabeth Schneider runzelte die Stirn. „Und sonst? Ist ihr noch irgendetwas Ungewöhnliches aufgefallen?“
„Das wissen wir leider nicht.“ Branntwein zuckte die Schultern. „Sie ist zusammengeklappt. Musste mit dem Rettungswagen abtransportiert werden. Ist ja auch nicht mehr die Jüngste.“
„Neunundsechzig und Bluthochdruckpatientin“, ergänzte Susi. „Zum Fensterputzen kommt wohl immer eine Frau aus der Nachbarschaft.“
„Hat die ebenfalls einen Schlüssel?“, warf Schorsch ein.
„Das kannst du sie fragen, wenn ihr sie gefunden habt“, brummte Branntwein.
Die Tür zum Esszimmer ging auf. „Ah! Elisabeth! Da bist du ja...!“ Das endlich schluckte Conrad Fleischmann noch rechtzeitig hinunter. Er wusste, dass die Rechtsmedizinerin stolz darauf war, in ihrem ganzen Leben noch nie geblitzt worden zu sein. Entsprechend bedächtig war ihr Fahrstil. Bruno Martinez und er hatten den Plan gefasst, in der nächsten Freinacht einen Schildkrötenpanzer aus Pappmaché um ihr Auto herum zu basteln. „Du kannst die Horde gleich mit reinnehmen.“ Der Kriminaltechniker hielt ihnen die Tür auf. „Ist aber kein schöner Anblick“, warnte er.
„Das ist der Tod nie“, erwiderte Branntwein.
Unmittelbar hinter der Tür verstärkte sich der unangenehme Geruch, der schon den Flur verpestet hatte. Hinzu kamen Ausdünstungen durch den Verwesungsprozess. Am Wochenende war es tagsüber fast sommerlich warm gewesen.
Günter Haller saß einsam in der Mitte des Raumes. Der Stuhl war exakt unter der Deckenlampe platziert und zur Tür hin ausgerichtet. Sämtliche Rollläden waren heruntergelassen, wie im Rest des Hauses. Die im Todeskampf weit aufgerissenen, blutunterlaufenen Augen blickten direkt in den Lichtkegel. Fünf weitere Stühle und der Esstisch waren zur Seite geschoben worden. Die Szenerie wirkte inszeniert. Wie ein Stillleben von S. Ensenmann höchstpersönlich.
„Das war mit Sicherheit eine geplante Tat.“ Susi sprach mit Überzeugung. „Rache, Hass... – jedenfalls sehr starke, persönliche Gefühle.“
„Geplant ja. Aber ein sadistischer Psychopath könnte selbst bei einem Zufallsopfer so agieren, nicht wahr?“, hielt Daniel dagegen.
Susanne Nowak verdrehte die Augen. Es war nicht das erste Mal, dass sich der Schleswig-Holsteiner und die junge Kriminalassistentin bei psychologisch fundierten Fragen nicht einig waren.