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© 2022 Thomas Hecht

Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN: 978-3-7562-5926-7

Über den Autor

Als Kind einer Arbeiterfamilie wuchs Thomas W. M. Hecht in den sechziger Jahren in Mannheim auf, ging auf eine Brennpunktschule und studierte einige Semester Informatik, später auch einige Semester Mathematik..

Er übte verschiedener Berufe aus und unternahm Reisen, die ihn u.a. in das damals noch faschistische Spanien führten, ins revolutionäre Portugal, nach Skandinavien, Sizilien und in die Vorgebirge des Himalaya, wo er geheimnisvolle Klöster besuchte.

Thomas W. M. Hecht lebt und arbeitet heute noch in seiner Heimatstadt Mannheim

Auf der Bühne des Bewusstseins erscheinen Menschen, Gegenstände und Ideen, sie treten auf, wie kleine Clowns, vom wabernden Urgrund der Vorexistenz hervorgebrachte Phänomene des Geistes, die für den Augenblick tanzen.

Inhaltsverzeichnis

I

Für eine Weile hatte Zett an nichts Bestimmtes gedacht, dann aber glaubte er, etwas zu hören, das in seine Zuständigkeit fiel. Er sah in ein von Kälte gerötetes Gesicht. Das Mädchen sagte: Das wird ihr Leben verändern. Zett dachte: Das ist eine Situation, die sich so oder so entwickeln kann. Das Mädchen fuhr fort: Es wird nicht nur ihr bisheriges Leben verändern. Sie können ein neuer Mensch werden. Zett sah auf den bunten Flyer, der ihm hingehalten wurde und erkannte naiv gezeichnete Dinosaurier. Um ihn herum warteten Menschen an einer Haltestelle. Er nahm den Prospekt, nickte dem Mädchen freundlich zu und stieg in die Bahn, die gerade angehalten und die Türen geöffnet hatte. Es war klug von ihm, sich dem Gespräch zu entziehen. Man weiß ja nie, wie so etwas weiter geht. Für kurze Zeit erschien es ihm auf eine diffuse Weise unklar, ob er in der Bahn noch etwas anderes wollte. Aber er nahm grundsätzlich einen geregelten Ablauf an und orientierte sich. Manchmal, sagte Zett, denke ich wie ein Buchhalter. Ich registriere die Dinge.

So nahm er, beispielsweise, zur Kenntnis, dass Schmutz und Nässe auf dem Boden der Bahn zu den Türen hin zunahmen und dass der Bodenbelag fast schwarz war. Er hob den Blick und sah durch eine beschlagene Scheibe. Es war fast schon dunkel und etwas neblig. Erleuchtete Schaufensterscheiben erschienen. Um Straßenlaternen bildeten sich Lichthöfe. Der Faltenbalg des Gelenkzuges zog kurz die Aufmerksamkeit Zetts auf sich. Das hatte ihn schon als Kind fasziniert. Fast hatte er das Gefühl, sich unerwartet in einer Situation wiederzufinden, die plötzlich aufgetaucht war, aber dann wurde ihm klar, dass das alles eine Vorgeschichte hatte. Und es wäre ja merkwürdig, sagte Zett, wenn das nicht so wäre. Ich fahre mit der Straßenbahn. Das ist banal. Und darüber hinaus ist es mein gutes Recht. Es ist die Linie Sechs. Sie fährt über Hauptbahnhof und Theater, irgendwo hin, in die äußeren Stadtteile, vielleicht auch in ein Industriegebiet. Dafür muss ich mich nicht rechtfertigen. An der nächsten Haltestelle öffnete sich die Tür, durch die Zett eingestiegen war. Kalte Luft kam herein und er fröstelte. Er dachte kurz daran, wie er sich einmal im Winter in einem Park verirrt hatte. Wann war das. Die Bahn fuhr weiter. Zett trug eine leichte, unmoderne Windjacke, fast von derselben Farbe wie der Bodenbelag der Bahn. Ich bin ja eher eine unauffällige Erscheinung, sagte Zett, so einer, den man übersieht.

Die weiteren Passagiere waren normale Berufstätige, wie der Uhrzeit nach zu erwarten war. Manche waren aber auch alt und gebrechlich. Ein Mann zitterte und Zett nahm das wahr, in der Art, dass die Dinge so sind, wie sie sind, nicht im gedanklichen Vergleich mit einem, wie auch immer gearteten Ideal. Jeder Gegenstand, sagte Zett und auch jeder Mensch existiert auf seine Weise. Das gilt für die Schraube hier, die in den Fensterrahmen der Bahn gedreht ist, genauso, wie für die Schuhe des Mannes, der mir gegenüber sitzt. Seiner Natur nach, die eher beschaulich, als analytisch war, tauchte in ihm kurz und wenig präzise die Vorstellung auf, dass Menschen und Gegenstände gleichermaßen wie kleine Schauspieler auf eine Bühne traten. Er betrachtete nun die anderen Fahrgäste, insbesondere den zitternden Mann, dann eine neu zugestiegene Familie, ein Paar um die Vierzig, zwei Mädchen von vielleicht dreizehn und fünfzehn Jahren, alle ärmlich gekleidet. Auch Zett gab für Kleidung nur wenig Geld aus. Er dachte: Eigentlich habe ich fast jeden Tag die gleiche Jacke an. Für einen Moment sah er seine Reflexion im Glas: ein Mann von schwer zu schätzendem Alter, näher an den Fünfzig als an den Vierzig, eher mager denn athletisch. Die neu zugestiegene Familie war kaum noch zu sehen, sie hatten sich in einiger Entfernung niedergelassen. Eines der Mädchen stand noch. Sie sehen sich alle ähnlich, dachte Zett. Und: es ist nicht sicher, dass sie ein Elternpaar mit Kindern sind. Alle schienen sie leicht übergewichtig, mit runden Gesichtern, ihr Umgang miteinander war freundlich.

Die Bahn hielt an einer Ampel. Parallel dazu hielt der Straßenverkehr. Zett sah durch die beschlagene Scheibe. Die Autos waren überwiegend schwarz und schienen beinahe organisch Teil ihrer nassen, kalten Umwelt zu sein. Eine Welt, fast ohne Farben.

Nur der bunte Prospekt, den ihm das Mädchen an der Haltestelle gegeben hatte entzog sich dieser Gesetzmäßigkeit. Neugierig betrachtete er das bedruckte Papier. Eine Sekte, war seine erste Vermutung. Von Jesus war die Rede, von Dinosauriern und von Erlösung. Er versuchte sich an das Mädchen zu erinnern. Eine junge Frau, mit Mütze und Schal. Das was man vom Gesicht sehen konnte, rot von der Kälte. Wie kommt ein Mensch dazu, an einer Haltestelle religiöse Schriften zu verteilen. Mir fällt dazu nichts ein, sagte Zett, allerdings habe ich, wenn ich das an dieser Stelle sagen darf, auch nicht gerade viel Fantasie. Ich bin kein kreativer Mensch. Wohin sollte das auch führen. Er dachte kurz an einen Bekannten, der sich gerne zu Menschen in Straßencafés oder anderen Orten Geschichten ausdachte. Aber Geschichten gibt es doch genug. Des Bücherschreibens ist kein Ende. Woher dieser Bibelspruch. Wann war er das letzte Mal in einem Gottesdienst. Ein Tumult unterbrach seine Gedanken. Zett konnte nicht sofort feststellen, was los war. Schon seit einigen Minuten war es laut geworden. Es schien, dass ein Geisteskranker mit anderen Passagieren der Bahn in Streit geraten war. Vielleicht, überlegte sich Zett, ist der Begriff geisteskrank hier vorschnell verwandt. Der Mann war stark erregt. Das kann aber, aus welchen Gründen auch immer, eigentlich jedem passieren. Zett beobachtete. Da er aber den Streit nicht genau verstehen konnte, verlor er das Interesse. Ich neige nicht zu Ängsten, dachte er für sich.

Es folgte eine Zeitspanne schwer zu schätzender Länge in der sich der Fokus der Gedanken bei Zett auflöste, in der er in einem gewissen Sinn nichts dachte, was er mit Worten hätte ausdrücken können. Danach tauchten Objekte und Bilder wieder auf. Sein Gesicht entstand wieder als Reflexion im Glas. Ein Objekt, das er in seinen Gedanken nicht in Worte formulierte. Er vertiefte sich darin und erkannte schließlich, dass es nicht sein Gesicht war, sondern das eines Mitfahrers. Vom Winkel unter dem er das Bild betrachtet hatte, war das verständlich und er war einen Augenblick nicht wachsam gewesen, was auch vorkommen kann, aber doch gab es ihm einen Stich, dass er sich hier getäuscht hatte. Er widerstand der Versuchung sich zur Scheibe umzudrehen um seinem Spiegelbild ins Gesicht zu sehen. Er hielt noch immer den Zettel in der Hand, den ihm die Frau an der Haltestelle gegeben hatte. Mit wenigen Worten wurden Himmel und Hölle, Erlösung und Verdammnis abgehandelt. Die Religion als Rechtfertigung oder gar Verpflichtung zum Leben. Das setzte schon einiges voraus, neben den abstrakten Begriffen von Gut und Böse auch die Unwandelbarkeit und Individualität der Person. Wenn einer schlafen geht und als ein anderer aufwacht, dann hätte das alles keinen Sinn.

Die Dinosaurier standen für einen Trick Satans, den Menschen glauben zu machen, die Welt wäre älter als achttausend Jahre. Das sind alles sehr weit reichende Gedanken, dachte Zett. Auch war nicht klar, wie aus einer Abstraktion des Bösen der Teufel als Person entstehen konnte. Er betrachtete den Fensterrahmen der Straßenbahn. Diese kleine Schraube, dachte er, klammert sich schon von ihrer Form her an ihre Existenz. Sie sitzt sehr fest an der Oberfläche der Erscheinungen und weigert sich, wieder darunter zu verschwinden in das Ungewisse. Man hätte mit Gewalt gegen sie vorgehen müssen, um ihr diesen Triumph, diesen festen Platz zu nehmen. Auch der Teufel hatte in einem gewissen Sinn einen festen Platz in der Welt. Man hat sofort ein Bild vor Augen, dachte Zett, wenn man das Wort sagt. Der Teufel war eine Art aufrecht gehender Ziegenbock mit höhnischer Fratze und Hörnern. Gott kann man sich weniger gut vorstellen, führte er den Gedanken weiter. Er schien ein Geist und weit weg und nur wenig greifbar. Für einen kurzen Moment tauchte die Vorstellung der Welt als Gottes Schöpfung in Zetts Gedanken auf, aber dieses Bild hatte wenig Substanz für ihn. Diese nasse, kalte Welt, der Straßenbahnwagen, die Menschen darin. Dies alles schien aus sich selbst heraus zur Existenz gekommen, aus einem tieferen Urgrund heraus, in einem Akt, in dem sich das Formlose formt, nicht als Schöpfung aus dem Nichts. Eher dem Nichts als dem Sein verwandt, bedurfte es den Akt der Schöpfung nicht.

Zett wurde schwindlig. Obwohl er auf einem der Sitze der Bahn saß, griff er nach einer Haltestange. Er fühlte Schmerzen in seinem rechten Fuß. Der Schmerz war schon die ganze Zeit da gewesen, aber er nahm ihn erst jetzt zur Kenntnis. Der Schmerz verband ihn mit der Wirklichkeit. Es fühlte sich an, als wäre ein Nagel durch seinen Fuß geschlagen worden. Zett überlegte, wo er sich eine solche Verletzung zugezogen haben könnte, aber es fiel ihm nichts dazu ein. Wäre er wirklich in ein Brett mit einem rostigen Nagel getreten, hätte er es in diesem Augenblick merken müssen. Zett beschloss, bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit den Schuh auszuziehen und seinen Fuß zu untersuchen. Die Toilette des Theaters zu dem er unterwegs war, würde eine solche Gelegenheit bieten. Sein Bewusstsein breitete sich aus und umfasste nun die Zeit von da, wo er in die Straßenbahn gestiegen war, bis kurz nach seiner Ankunft im Theater. Aus dieser gedehnten zeitlichen Perspektive heraus verband sich nun vieles mit einer gewissen Logik. Die Fahrt mit der Bahn hatte einen Anfang und ein Ende. Sie hatte auch ein Ziel und einen Zweck. Das Betrachten eines kompletten Zeitraums, der zudem teils in der Vergangenheit und teils in der Zukunft lag, brachte eine andere Form der Erkenntnis als das reine Wahrnehmen des So-Seins der Dinge. Mit ihm kamen das warum und der Begriff von Wert und Bedeutung. Warum sieht ein Mann eine Komödie. Und wann hatte er den Entschluss gefasst, ins Theater zu gehen.

Zett dachte an die Zeit, bevor er in diese Straßenbahn gestiegen war, aber in einem gewissen Sinn nur kurz und ungenau und dann in einer eher allgemeinen Form an seine Vergangenheit. Er wohnte alleine in einer kleinen Zwei-Zimmer-Wohnung in einem mäßig angesehenen Stadtteil, der aber noch zum Innenstadtbereich gehörte. Vorher hatte er in einer großen Wohnung in einem Hinterhaus gewohnt. Eine Wohnung, die den Nachteil hatte, dass sie weder über eine Heizung noch über ein Bad verfügte. Davor hatte Zett bei seinen Eltern gelebt. Zetts Aufmerksamkeit richtete sich wieder auf seine Umgebung und er dachte, dass diese Situation, diese Zusammenstellung von Menschen nur für Minuten existieren würde. Seine Existenz reichte aber darüber hinaus. Das war im Grunde eine Selbstverständlichkeit, stärkte aber sein Selbstbewusstsein. Er hatte die Vorstellung, dass er, genau wie die Schraube aus dem Fensterrahmen der Bahn, seinen Platz hatte und sich an diesem festhielt. Sein Denken dehnte sich nach allen Richtungen aus und er nickte selbstgefällig. Ich will das einmal so sagen, sagte Zett: Bescheidenheit ist jetzt nicht am Platz, schließlich gehe ich ins Theater.

Ein scharfer, glühender Schmerz in seinem Fuß riss ihn aus dieser beinahe hochmütigen Betrachtung seiner selbst. Wie kann das sein, dachte er. Wo kommt diese Verletzung her. Er konnte sich schlichtweg nicht erinnern, in der letzten Zeit einen Unfall gehabt oder auch sonst nur in einen Nagel oder einen ähnlichen Gegenstand getreten zu sein. Vielleicht war das nur eine Kleinigkeit. Eine Unaufmerksamkeit die keinen weiteren Gedanken wert war. Und doch beunruhigte es ihn. Es war eine Unstimmigkeit in seiner Existenz, die das ganze Universum seines Denkens gefährdete, als würde ein unsichtbarer Feind die Gesetzmäßigkeit und Verlässlichkeit seines Seins auf perfide Weise attackieren. Wütend zog er den Schuh an dem betreffenden Fuß aus. Zett trug leichte Laufschuhe, die schon etwas abgewetzt und für sein Alter und seine biedere Erscheinung eine Spur zu sportlich waren. Der Schuh hatte nur dünne Gummisohlen mit Profil, dann eine Schicht aus Schaumgummi und eine Textilschicht innen. In der Sohle war ein Loch. Es war eindeutig, dass ein Gegenstand, von vielleicht drei oder vier Millimetern Durchmesser, die Schuhsohle durchdrungen hatte. Zett glaubte Spuren von Rost zu erkennen. Ein rostiger Nagel also, ganz so, wie vermutet. Die Bahn hielt. Es war die letzte Haltestelle vor dem Theater. Viele Menschen stiegen hier aus, aber auch einige ein. In dem Durcheinander blieb Zett, der auf die Sohle seines Schuhs starrte, unbeachtet. Nur ein Mädchen, das eingestiegen war, sah ihn entgeistert an, wurde aber von seiner Mutter weiter ins Innere des Waggons gezerrt. Zett zog seinen Schuh wieder an und es war ihm nun peinlich, dass er ihn in einer Straßenbahn ausgezogen hatte. Damit hätte ich auch warten können, dachte er bei sich. Aber es gab ihm zu denken, dass es etwas Unerklärliches gab in seinem Leben, etwas, das ihn in seiner Gesamtheit in Frage stellte. Etwas, bei dem er sagen musste: Das gibts doch gar nicht. Ein Bruch der Logik und der Naturgesetze. Wenn ich nur wüsste, wann und wo ich in diesen Nagel getreten bin.

Davon abgesehen, war sein Leben ganz normal. Zett lebte sehr zurückgezogen. Er arbeitete als Angestellter in der Personalabteilung eines großen Unternehmens und das schon seit mehreren Jahren ohne Veränderung. Dort verwaltete er Urlaubstage und Krankmeldungen, stellte Schichtpläne zusammen und war auch schon mal bei einem Bewerbungsgespräch mit dabei. Wenn das nicht solide ist. Sein Umgang mit den Kollegen war freundlich aber distanziert. Auch hatte er einige Freundschaften aus seiner Schulzeit und der Zeit seiner Ausbildung bewahrt. Seine Aufmerksamkeit richtete sich wieder nach draußen, da sich nun die Haltestelle näherte, an der er aussteigen musste. Gut, dachte er, dass ich den Schuh rechtzeitig wieder angezogen habe. Er machte sich bereit aufzustehen. Andere Passagiere standen auf und drängten zu den Türen. Die Bahn konnte jedoch nicht in die Haltestelle einfahren, da sie dazu über zwei Fahrspuren der Straße hätte abbiegen müssen. Auf diesen aber war Stau. Und bei der nachfolgenden Grünphase fuhren weitere Autos nach vorne und stauten sich nun ihrerseits an dem halb abgebogenen Gelenkzug. Was, dachte Zett, wenn es mir nicht gelingt, an dieser Haltestelle auszusteigen. Wer weiß, wie weit die nächste entfernt ist. Und was ist, wenn es mir in diesem Fall nicht gelingt, diese Strecke zu Fuß zurückzulegen, weil mich meine Verletzung, die ich mir ja offensichtlich zugezogen habe, daran hindert.

Er empfand es als unangenehm, dass ein so einfacher Vorgang, wie die Fahrt mit der Bahn zum Theater so ungewiss war und jederzeit ins Unkalkulierbare abgleiten konnte. Er war mit dieser Straßenbahnlinie noch nie weiter gefahren als bis zur Haltestelle Theater. Danach konnte man sehen, dass die Gleise auf eine Brücke führten. Die Brücke überquerte einen Kanal, in dem Binnenschiffe im gelben Licht von Natriumlampen lagen.

Als Junge hatte Zett für eine kurze Zeit eine Netzkarte der Verkehrsgesellschaft besessen, mit der er im Stadtbereich mit jedem Bus und mit jeder Bahn fahren konnte. Das kam ihm als großes Abenteuer vor und er beschloss, mit jeder Bahn und jedem Bus bis zu dessen Endhaltestelle zu fahren. Aber schon der zweite Bus, den er nahm, führte in ein trostloses Industriegebiet. Als der Bus hielt, traute er sich kaum auszusteigen. Er war der einzige Passagier. Es gab keine Wohnhäuser, nur Mauern, teilweise mit Stacheldraht darauf und rostige Eisentore. In der abblätternden Farbe der Schrifttafeln entzifferte er Worte wie Kettenschmiede, Apparatebau oder Schweißerei und es lag ein Geruch von heißem Metall und Maschinenöl in der Luft. Es gab nichts, wo er hingehen konnte. Er und der Busfahrer, der in seinem Fahrzeug wartete, waren die einzigen Menschen hier. Ihm wurde klar, dass er sich entscheiden musste: er konnte so tun, als hätte er einen ernsthaften Grund, hier zu sein, warten, bis der Bus abfuhr und dann an der Haltestelle auf den nächsten warten. Oder er könnte in den Bus, mit dem er gekommen war, wieder einsteigen und zurückfahren. Der Mut verließ ihn. Unter dem kritischen Blick des Busfahrers stieg er ein, setzte sich nach hinten und beschloss, auf weitere Erforschung der Endhaltestellen zu verzichten. Bald darauf gab er die Netzkarte zurück.

Die Bahn rückte einen Meter vor. Durch die Fenster auf der gegenüberliegenden Seite sah Zett das Theaterfoyer, das warm erleuchtet war. Das war ein enormer Kontrast zu der vermuteten Finsternis in die die Bahn mit ihm weiterfahren würde, wenn es ihm nicht gelänge, sich hier zur Tür durchzukämpfen. Der zitternde Mann, den er beobachtet hatte, war aufgestanden und wurde nun in seine Richtung gedrängt, als ein kräftiger Bursche sich zum Ausgang vorarbeitete. Er zitterte jetzt noch mehr, vermutlich weil er länger hatte stehen müssen, als die Nähe der Haltestelle erwarten ließ. Für einen Menschen in derart schlechtem Zustand ist das wohl eine kleine Tragödie, dachte Zett. Aber dann stieg Widerwillen in ihm auf und verdrängte sein Mitleid. Er sollte den anderen nicht den Platz wegnehmen. Das war ein für Zett überraschend kalter und harter Gedanke. Dann ging alles ganz schnell und die Bahn glitt fast geräuschlos in die Haltestelle. Diejenigen, die sich direkt hinter der Tür gestaut hatten, stiegen schnell aus. Aber Zett hatte den zitternden Mann vor sich, der nun, überraschenderweise, keinerlei Anstalten machte, auszusteigen. Das darf doch nicht wahr sein, dachte er. Er hatte kaum Platz aufzustehen und der Zitterer ging ihm nicht aus dem Weg. Ich steige hier aus, lassen sie mich vorbei, sagte er laut in einem Tonfall, in dem sich Wut und aufkommende Panik mischten. Der zitternde Mann murmelte etwas. Zett verstand ihn nicht, aber es schien, als fühle er sich ungerecht behandelt. Dement oder vielleicht auch schwachsinnig, verstand er den Ernst der Lage nicht. Er wich ein wenig zurück, wurde aber von der freundlichen und übergewichtigen Unterschichtfamilie, die hier ebenfalls ausstieg, wieder in Zetts Richtung gedrängt. Zett sah in ihre fröhlichen Mondgesichter. Er unterdrückte Wut und Furcht, stand wackelig auf, weil er dazu nicht genug Platz hatte, drängte sich an dem zitternden Mann vorbei und folgte der Familie zum Ausgang. Als letzter stieg er aus. Eines der Mädchen hinderte mit beherztem Griff die Tür daran, vor Zetts Nase zu schließen. Danke murmelte er und trat auf den nassen Bahnsteig, wo er erst einmal tief Luft holte.

II