MICHAEL PEINKOFER

DIE ZAUBERER

Das dunkle Feuer

Roman

Piper München Zürich

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Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe

1. Auflage 2010

ISBN 978-3-492-95039-8

© Piper Verlag GmbH, München 2010

Umschlagkonzeption: semper smile, München

Umschlaggestaltung: Guter Punkt, München

Umschlagabbildungen: Alan Lathwell, London

Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Personae Magicae

Zauberer
Farawyn Ältester des Hohen Rates
Gervan sein Stellvertreter
Lhurian ehedem Granock, Zaubermeister
Thynia ehedem Alannah, Zaubermeisterin
Rothgan ehedem Aldur, Zaubermeister
Syolan Chronist von Shakara
Cysguran Sprecher des linken Flügels
Simur Sprecher des rechten Flügels
Tarana Meisterin, Botschafterin in Tirgas Lan
Filfyr Meister, Ratsmitglied
Lonyth Meister, Ratsmitglied
Atgyva Bibliothekarin von Shakara
Tavalian ein heilkundiger Zauberer
Sunan Zaubermeister
Awyra Zaubermeisterin
Rurak abtrünniges Ratsmitglied
Elfen
König Elidor Herrscher des Elfenreichs
Caia seine Konkubine
Fürst Ardghal ehemaliger königlicher Berater
Mangon Lordrichter von Tirgas Lan
Nimon Aspirant in Shakara
Una Aspirantin in Shakara
Eoghan Aspirant in Shakara
Fürst Narwan königlicher Berater
Larna Eingeweihte in Tirgas Lan
Fylon Schatzmeister von Tirgas Lan
General Irgon Oberbefehlshaber des Elfenheeres
Párnas Statthalter von Tirgas Dun
Yaloron sein Minister
Nyrwag Befehlshaber der Stadtwache
Cian Tuchhändler aus Tirgas Dun
Alurys Hauptmann im Elfenheer
Íomer Späher der Waldelfen
Menschen
Lady Yrena Herrin von Andaril
Hinrik ein Höfling
Gandor Söldnerführer
Baldrick Novize in Shakara
Kobolde
Argyll Diener Farawyns
Ariel Diener Granocks
Níobe Dienerin Aldurs
Colm Diener des Hohen Rates
Zwerge
Runar Abgesandter des Zwergenkönigs
Thanmar Anführer der Dunkelzwerge
Orks
Rambok Botschafter in Shakara, Vorfahr zweier später sehr bekannter Orks

Prolog

Der zweite Krieg der Völker hatte begonnen.

Zuerst war er nur ein ferner Schrecken gewesen, ein Schatten, der auf uns fiel und an dem wir uns nicht störten, so lange die Sonne hoch am Himmel stand. Doch in dunklen Nächten ahnten wir bereits, dass die Geschichte sich ändern würde und umwälzende Ereignisse bevorstanden. Und schließlich versank das Licht am Horizont der Zeit.

Dunkelheit brach über uns herein.

Und mit der Dunkelheit kam die Furcht.

Natürlich gab es auch solche, die diese Entwicklung vorausgesehen hatten. In all den Jahren hatten sie uns gemahnt, hatten vorausgesagt, dass der immerwährende Friede, nach dem wir uns sehnten, nur ein Traum sei und das Erwachen schrecklich würde. Aber die meisten taten diese Warnungen als Hirngespinste ab und entgegneten, dass es besser sei, einen Tag in Frieden zu verbringen, als ein ganzes Leben im Krieg. Ihre Stimmen sind längst verstummt, denn im Zuge der dramatischen Ereignisse, die über uns hereinbrachen, wurde auch dem letzten von uns klar, dass ein neues Zeitalter angebrochen war, in dem wir entweder um unseren Platz in der Geschichte kämpfen oder von ihr verschlungen werden würden.

Die Jahrhunderte währende Ära des Friedens war unwiderruflich zu Ende, ertränkt in Strömen von Blut, und schon bald erschien sie uns nur noch wie ein vager, unwirklicher Traum, dem wir uns hingegeben hatten in der Hoffnung auf eine bessere Welt.

Diese Hoffnung war gescheitert.

Geblieben war der Kampf um das nackte Überleben.

Vier Jahre waren vergangen seit jener schicksalhaften Schlacht im Flusstal, bei der das Böse sich offenbart und der Feind sein wahres Gesicht gezeigt hatte. Margok der Dunkelelf, dessen düstere Taten die Welt schon einmal in einen verheerenden Krieg gestürzt hatten, war zurückgekehrt, schrecklicher und mächtiger als je zuvor, und wie damals waren Tod und Vernichtung sein Gefolge.

Durch Rurak, ein verräterisches Mitglied des Zauberordens, wurde die Rückkehr des Dunkelelfen vorbereitet; durch Riwanon, eine weitere Magierin, die der Finsternis verfiel, wurde sie vollendet. Lange Zeit wirkte Margok im Verborgenen. Nurmorod, eine vergessene Drachenfeste tief im Süden Erdwelts, wurde sein geheimer Schlupfwinkel. Von dort aus bereitete er seinen Krieg gegen das Elfenreich vor – und gegen alles, was lebt.

Mit Ruraks Hilfe wiegelte er die Feinde des Reiches auf, nicht nur die Unholde, die er selbst einst ins Leben gerufen hatte und deren Nachkommen die unwirtlichen Lande jenseits des Schwarzgebirges bewohnen, sondern auch die Menschen, die frei sind in ihrer Entscheidung zwischen Gut und Böse, aber von niederen Trieben beherrscht werden.

Mit ihrer Hilfe formierte er ein Heer, das er mit Waffen ausstattete, wie sie noch niemals in Erdwelt gesehen worden waren, Mordmaschinen, angetrieben von magischer Kraft. Im Flusstal, das vor Urzeiten schon einmal Schauplatz einer Schlacht zwischen den Mächten des Lichts und der Finsternis gewesen war, kam es zur Konfrontation.

Margoks Heer traf auf die Verteidiger des Elfenreichs, die den Invasoren entgegentraten. Doch so tapfer die Legionen König Elidors auch kämpften – der Sieg wäre ihnen nicht vergönnt gewesen, hätten nicht die Weisen von Shakara in den Kampf eingegriffen.

In einer Erneuerung des Bundes, der in alter Zeit zwischen Königen und Zauberern geschlossen worden war, vereinten Elidor, Herrscher des Elfenreichs, und Farawyn, Ältester des Ordens von Shakara, ihre Kräfte, und nur dem Einsatz der Zauberer war es zu verdanken, dass der Ansturm der feindlichen Horden aufgehalten werden konnte. Der eigentliche Sieg jedoch wurde nicht auf dem Schlachtfeld errungen, sondern jenseits der feindlichen Linien, wo sich drei Eingeweihte des Zauberordens in der Gewalt des Dunkelelfen befanden. Indem sie dem Bösen trotzten, gelang es ihnen, Margoks Pläne zu durchkreuzen, und als Gegenleistung ernannten wir sie zu Meistern des Ordens und gaben ihnen Namen, die ihren Fähigkeiten entsprechen.

Aus Alannah, die kraft ihrer Gedanken das frostige Element zu erzeugen vermag, wurde Thynia, Blume des Eises.

Aus Aldur, dem ehrgeizigen Spross des Alduran, dessen Fähigkeit darin besteht, lodernden Flammen zu gebieten, wurde Rothgan, der mit dem Feuer spricht.

Aus Granock schließlich, dem ersten Menschen, der die Pforte Shakaras durchschritten hatte, wurde Lhurian, gemäß seiner Gabe, über die Zeit zu verfügen.

Doch obwohl wir dies taten und ihre Namen fortan mit Dankbarkeit und Respekt aussprachen, blieb ein Gefühl von Unbehagen – denn wir alle ahnten, dass für den Sieg im Flusstal ein hoher Preis entrichtet worden war.

Damals hofften zumindest einige von uns, der Triumph sei endgültig und Margok mitsamt seinen Horden geschlagen worden – heute wissen wir, dass der Kampf am Siegstein nur die erste Schlacht von vielen war, das erste Glied einer Kette der Gewalt, die noch mehr Elend hervorrufen und immer neue Opfern fordern sollte, auch unter den Zauberern.

Und das Morden dauert noch immer an …

Aus der Chronik Syolans des Schreibers

Buch III, Reflexionen

BUCH 1 GYALAS RHYFANA (Fremdes Land)

BUCH 1

GYALAS RHYFANA

(Fremdes Land)

1. PELAI GLIAN

In der Nacht des Bruchs

 

In der Kristallkammer der Ordensburg von Shakara herrschte Schweigen. Wortlose Stille, die eingetreten war, nachdem schmerzliche Wahrheiten ans Licht gekommen waren.

Wahrheiten über Freunde.

Wahrheiten über Liebende.

Wahrheiten über Väter und Söhne …

Alannah empfand das Schweigen als Qual. Unstet wechselte der Blick der Elfin zwischen Farawyn, dem Ältesten des Zauberordens, und ihrem Geliebten Aldur hin und her. Die Spannungen waren deutlich zu spüren, dennoch vermochte Alannah nicht zu sagen, was zwischen ihnen vorgefallen war.

Beide musterten einander mit Blicken, die kälter waren als das sie umgebende Eis der Ordensburg. Farawyns energische Gesichtszüge hatten sich verfinstert, seine dunklen, sonst so wachen Augen waren milchig und trübe. Den Zauberstab aus Lindenholz hielt er wohl nicht nur als Zeichen seines Standes in den Händen – er brauchte ihn, um sich darauf zu stützen.

Aldur stand ihm in unverhohlener Ablehnung gegenüber, das lange blonde Haar zum Schweif gebunden und das kantige Kinn trotzig vorgereckt. Auch er hatte seinen flasfyn bei sich, der genau wie Alannahs aus Elfenbein gefertigt war. Erst vor Kurzem hatten sie ihre Zauberstäbe erhalten, zusammen mit ihrer Ernennung zum Meister. Doch die Freude darüber war längst verblasst.

Noch war Alannah schockiert von den Ereignissen, die dazu geführt hatten, dass sie nun hier stand, in der Kammer des serentir, und darauf wartete, dass die Kristallpforte sich öffnete. Als Kind der Ehrwürdigen Gärten hatte sie nie damit gerechnet, jemals nach Shakara zu gelangen und eine Magierin zu werden – ebenso wenig wie sie damit gerechnet hatte, die Ordensburg schon so bald zu verlassen.

Und so endgültig …

»Bist du sicher, dass du diesen Schritt wirklich wagen willst?«, fragte Farawyn Aldur. Zwar brach er damit das Schweigen, aber die bedrückende Stimmung blieb bestehen. Beklommen stellte Alannah fest, dass der Älteste nicht als der väterliche Freund zu ihnen sprach, der er ihnen früher stets gewesen war, sondern als ihr Vorgesetzter. Kühl. Abweisend.

Aldurs Antwort fiel entsprechend aus. »Hätte ich mich andernfalls wohl erboten, diese Aufgabe zu übernehmen?«, hielt er dagegen, und die Respektlosigkeit, mit der er es tat, entsetzte Alannah nur noch mehr.

Die Elfin hörte die tiefe Verletztheit, die in den Worten ihres Geliebten schwang, und fragte sich zum ungezählten Mal, was Farawyn ihm angetan haben mochte. Eine Antwort erhielt sie freilich nicht, aber obwohl sie den Grund für Aldurs Verhalten nicht kannte, hatte sie eingewilligt, ihn auf die bevorstehende Mission zu begleiten.

Zum einen, weil sie wusste, dass es notwendig war.

Zum anderen, weil ihr schlechtes Gewissen sie dazu drängte …

»Und wenn eintritt, was du befürchtest?«, erkundigte sich Farawyn prüfend.

»Dann werde ich tun, was nötig ist«, erwiderte Aldur steif. »In den alten Schriften ist von einer Vorrichtung die Rede, die die Fernen Gestade vor fremdem Zugriff schützen soll. Zwei Zauberer werden benötigt, um den tarian’y’crysalon in Gang zu setzen – und wir sind zu zweit.«

»Der Kristallschild.« Farawyn nickte. »Wie so oft hast du recht. Dennoch rate ich dir zur Vorsicht. Was du ›alte Schriften‹ nennst, bezeichnen andere als verbotenes Wissen, und das aus gutem Grund.«

»Sollen sie«, konterte Aldur ungerührt. »Wenn der Dunkelelf seine Klauen nach den Fernen Gestaden ausstrecken sollte, werden die Furcht und das Entsetzen so groß sein, dass niemand moralische Erwägungen anstellt. So ist es immer gewesen, nicht wahr? Der Zweck rechtfertigt die Mittel.«

Farawyn gab sich sichtlich Mühe, das anmaßende Lächeln zu übergehen, das sich auf Aldurs blassen Zügen zeigte. Tatsächlich musste er zugeben, dass der junge Zauberer recht hatte. In Stunden der Not wurden die Methoden nicht hinterfragt, auch er selbst hatte sich dieses schlichten Grundsatzes schon öfter bedient. Wenn Margok tatsächlich nach den Fernen Gestaden griff, musste er um jeden Preis abgewehrt werden, oder Chaos und Zerstörung würden auch jenes Eiland erfassen, das für das Elfenvolk sowohl Herkunft als auch Bestimmung war.

»Dennoch«, beharrte der Älteste, »darfst du nie vergessen, dass die Macht, die den Kristallen innewohnt, höchst gefährlich ist.«

»Das werde ich nicht«, versicherte Aldur unwirsch.

Farawyn bedachte zuerst ihn, dann Alannah mit einem prüfenden Blick; schließlich nickte er. »Die Fernen Gestade sind kein Ort, an den sich ein Elf leichtfertig begibt, ohne darauf vorbereitet zu sein. Viele versuchen es, und manche gelangen nie dorthin – ihr beide jedoch seht die Wunder Crysalions noch lange vor eurer Zeit. Möge euer junger und unvorbereiteter Geist ihnen gewachsen sein.«

»Keine Sorge«, erwiderte Aldur im Brustton der Überzeugung, »das ist er gewiss.«

»Gibt es noch etwas, das ihr mir zu sagen habt?« Der Blick des Ältesten richtete sich fragend, fast hoffnungsvoll auf Aldur, der jedoch beharrlich schwieg. »Und du mein Kind?«, wandte er sich dann an Alannah.

»I-ich weiß nicht, Vater …«

»Möchtest du vielleicht noch jemandem etwas ausrichten lassen? Granock vielleicht?«

Die Erwähnung des Namens ließ Alannah wie unter einem Nadelstich zusammenzucken.

Granock 

Die Wunde war so frisch … Noch immer sah sie ihn vor sich, seine ebenmäßigen, von dunklem Haar umrahmten Züge, die für einen Menschen ungewöhnlich gut aussehend waren, seine verzagt blickenden Augen. Und was noch schlimmer war: Sie hörte auch seine Stimme. Voller Verzweiflung hallte sie durch ihre Erinnerung und rief ihren Namen, wieder und wieder …

»Ich denke nicht, dass sie dem Menschen noch etwas zu sagen hat«, entgegnete Aldur an ihrer Stelle, so hart und endgültig, dass sie nicht zu widersprechen wagte.

Farawyns Zögern währte nur einen kurzen Augenblick. »So geht«, sagte er und trat einige Schritte zurück. »Mögen Albons Licht, Glyndyrs Geist und Sigwyns Tatkraft euch begleiten.« Er hob den Zauberstab, worauf die eisfarbenen Kristalle in der Kammer zu leuchten begannen und die Verbindung öffneten. Ein flimmernder Strudel schien in der Luft zu entstehen, der sich immer schneller drehte und schließlich eine Öffnung bildete, ein Tor, das in ungeahnte Ferne zu reichen schien. In diesem Augenblick fassten Alannah und Aldur einander bei den Händen, nickten sich ein letztes Mal zu – und durchschritten die Pforte.

 

Sie reisten auf des Windes Schwingen.

Der serentir war in alter Zeit ins Leben gerufen worden, um große Entfernungen rasch zu überbrücken. König Iliador war es gewesen, der die Zauberer von Shakara um Unterstützung gebeten hatte, da sein Machtgebiet vom Zerfall bedroht war. Eine schnelle Verbindung zwischen den Zentren des Reiches sollte Abhilfe schaffen, worauf ein junger Zauberer namens Qoray den Dreistern erfand: Mit magischer Kraft brachte er Elfenkristalle dazu, Brücken über die Abgründe von Raum und Zeit zu schlagen. Diese Schlundverbindungen erlaubten es, sich im Bruchteil eines Augenblicks von einem Ort zum anderen zu begeben und dabei Entfernungen zu bewältigen, für die man auf herkömmlichem Wege mehrere Wochen benötigt hätte.

In dem Überschwang, der Iliador und seine Zeitgenossen überkam, ahnte freilich niemand, dass Qoray schon bald darauf dem Bösen verfallen, seinen Namen ändern und als Dunkelelf Margok die Kristallpforten nutzen würde, um Erdwelt mit Krieg und Vernichtung zu überziehen.

Seither wurden die magischen Pforten nur noch in Ausnahmefällen wie diesem geöffnet, wo es um das Wohl des Reiches und die Zukunft des gesamten Elfenvolks ging.

Alannah war schon früher mit dem Dreistern gereist, jedoch hatte sie die Passage nie zuvor als so berauschend empfunden.

Ferne Länder, fremde Orte, kleine und große Ereignisse – all das schien an ihr vorbeizuziehen, während sie gleichzeitig das Gefühl hatte, von einer unwiderstehlichen Kraft angesogen zu werden, einem unsichtbaren Mahlstrom, der alle Materie an sich zu raffen schien – um sie schon im nächsten Augenblick wieder auszuspeien.

Alannah fand sich auf beiden Beinen stehend, so als hätte sie die Kristallkammer von Shakara nie verlassen. Als sie jedoch blinzelnd die Augen öffnete, stellte sie fest, dass sie sich an einem gänzlich anderen Ort befand und dass der Dreistern einmal mehr das Unbegreifliche bewerkstelligt hatte.

Die neue Umgebung war überwältigend.

Zwar hatte die Elfin den Annun noch nie mit eigenen Augen gesehen, aber sie war überzeugt davon, dass es sich bei dem großen trapezförmigen Gebilde, das unter einer lichtdurchfluteten Kuppel hing und dessen sich nach oben und unten verjüngende Enden in glitzerndes Elfensilber gefasst waren, nur um den legendären Urkristall handeln konnte.

Der Saga nach war in seinem Inneren ein Strahl von calada gefangen, dem ersten Lichtschein, dem einst alles Leben entsprungen war, und in der Tat hatte Alannah nie zuvor ein strahlenderes Licht und prachtvollere Helligkeit erblickt. Sie blendete nicht in den Augen wie das grelle Sonnenlicht, sondern war voller Wärme und lebenspendender Güte. Ein Licht wie dieses konnte es an keinem anderen Ort geben, sodass nicht der geringste Zweifel bestand: Der Dreistern hatte sie an die Fernen Gestade getragen!

»Willkommen in Crysalion, Reisende.«

Jetzt erst nahm Alannah wahr, dass sie nicht allein war. Nicht nur Aldur stand neben ihr, sondern auch mehrere Elfen, ergraute Männer und Frauen, die helle Roben trugen und sich ehrerbietig vor ihnen verneigten. Sie alle waren tragwythai, Ewige, wie die Bewohner der Fernen Gestade respektvoll genannt wurden.

Sie befanden sich in einem achteckigen Raum, dessen Wände halb durchsichtig waren, sodass der blaue Himmel zu sehen war. Durch die in die Wände eingelassenen Öffnungen konnte man auf den Balkon blicken, der das Oktogon umgab und jenseits dessen Geländers sich filigran geformte gläserne Türme erhoben, in deren Prismen sich das Licht der einfallenden Morgensonne in allen Regenbogenfarben brach. Es war ein Schauspiel, wie man es sich prächtiger kaum vorstellen konnte.

Crysalion, schoss es Alannah durch den Kopf.

Die Stadt der Kristalle 

»Es ist uns eine Ehre, zwei Weise des Ordens von Shakara im Hort des Lichts zu begrüßen«, sagte einer der Greise, dessen Kinn ein weißer Bart zierte. Er verbeugte sich höflich und nickte ihnen zu, und Alannah hatte den Eindruck, dass seine Gesichtszüge ihr entfernt bekannt waren.

»Die Ehre ist auf unserer Seite«, entgegnete Aldur schneidig, der seine Fassung bereits wiedergewonnen hatte. »Ich bin Meister Rothgan, und dies ist Meisterin Thynia«, stellte er sich und Alannah vor.

»Wir wissen, wer Ihr seid«, entgegnete der Greis und deutete eine Verbeugung an. »Mein Name ist Ylorin.«

»Ylorin?«, fragte Alannah, der plötzlich klar wurde, woher sie das Gesicht des Mannes kannte. »Jener Ylorin, der in den Chroniken Nevians und Aurons Erwähnung findet? Über dessen Taten während des Großen Krieges der Dichter Varsur ein Heldenepos verfasst hat? Dem in den Ehrwürdigen Gärten von Tirgas Lan ein Denkmal gesetzt wurde?«

Ein Lächeln huschte über die faltigen, milde dreinblickenden Züge des Alten. »Es freut mich zu hören, dass die sterbliche Welt die Früchte meines irdischen Daseins nicht vergessen hat. Aber Ihr müsst wissen, dass derlei Verdienste an diesem Ort nicht mehr von Belang sind.«

»Aber Ihr seid es«, beharrte sie.

»Ich war es«, verbesserte Ylorin. »Ich war das, was man einen großen Krieger nennt. Ich habe Heere in Schlachten geführt und sie siegreich entschieden, habe unzählige Orks und andere Kreaturen der Dunkelheit erschlagen. Meine wahre Berufung jedoch«, sagte er und machte eine ausladende Handbewegung, die nicht nur das umgebende Oktogon oder die Kristallstadt, sondern die ganze Insel einzuschließen schien, »habe ich erst an diesem Ort gefunden.«

»Das wollen wir Euch gern glauben, ehrwürdiger Ylorin«, entgegnete Aldur. »Dennoch ist es möglich, dass Ihr vielleicht schon bald noch einmal jenes Wissen bemühen müsst, das Ihr Euch in der sterblichen Welt erworben habt.«

»Was meint Ihr damit?«

»Ich meine damit, dass Ihr möglicherweise noch einmal zum Schwert greifen müsst.«

»Zum Schwert?« Ylorin schüttelte den Kopf; in den Gesichtern seiner Begleiter stand Unverständnis zu lesen. »Mein Freund, ich glaube, Ihr habt aufgrund Eurer Jugend noch nicht verstanden, was für ein Ort dies ist. Wir alle, die wir hier leben, haben dem sterblichen Dasein entsagt und unseren Geist der Kontemplation geweiht. Diese Insel ist ein Hort des Friedens. Ein Schwert werdet Ihr hier vergeblich suchen, ebenso wie jemanden, der bereit wäre, es zu führen.«

»Ihr werdet dazu bereit sein müssen«, beharrte Aldur. »Denn wenn sich bewahrheitet, was ich befürchte, so wird der Dunkelelf seine Klauen nach Crysalion ausstrecken, und wir dürfen nicht zulassen, dass er sich des Annun bemächtigt.«

»Der Urkristall in Margoks Händen wäre in der Tat eine Katastrophe«, räumte der Greis ein. »Ich kannte den Dunkelelfen, als er sich noch Qoray nannte, und ich war dabei, als er zu diesem Monstrum wurde. Später habe ich in vielen Schlachten gegen ihn gekämpft und weiß, wozu er fähig ist. Dennoch ist mein Krieg zu Ende, Meister Rothgan. Also vertraut nicht auf meine Hilfe.«

»Und wenn der Dunkelelf kommt?«

»Für diesen Fall haben die Erbauer der Kristallfeste vorgesorgt«, entgegnete Ylorin ruhig.

»Der Kristallschirm wurde nie erprobt«, gab Aldur zu bedenken. »Sollten die Fernen Gestade tatsächlich angegriffen werden, werden Schwester Alannah und ich alles daransetzen, ihn zu errichten und Crysalion so dem Zugriff des Feindes zu entziehen. Aber wenn Margok das Unfassbare tatsächlich wagt, so wäre es in der Geschichte ohne Beispiel, und keiner von uns weiß, was in diesem Fall geschehen wird.«

»Dann lasst uns vertrauen«, sagte Ylorin leise. »Auf das Schicksal – und auf die Kraft der Vorsehung, die Euch hierhergeführt hat.«

»Ehrwürdiger Ylorin – was Meisterin Alannah und mich hergebracht hat, war nicht die Vorsehung, sondern einzig und allein meine Entscheidung, dem Dunkelelfen auch an diesem Ort die Stirn zu bieten. Viele in Shakara waren der Ansicht, dass dies nicht vonnöten sei, aber ich weiß es besser.«

Der Greis musterte Aldur mit einem Blick, der schwer zu deuten war. »Ihr seid hochmütig, Meister Rothgan«, sagte er schließlich. »Stolz und Hochmut stehen einem Weisen schlecht zu Gesicht, und sie passen nicht an einen Ort wie diesen.«

»Findet Ihr?« Aldur zuckte mit keiner Braue. »Solltet Ihr der Ansicht sein, dass ich die Fernen Gestade wieder verlassen sollte? Dass wir Crysalion schutzlos dem Dunkelelfen übergeben sollten, wenn er danach begehrt?«

»Das habe ich nicht gesagt.« Ylorin schüttelte das ergraute Haupt. »Aber es überrascht mich, dass der Orden jemanden wie Euch nach den Fernen Gestaden entsandt hat.«

»Jemanden wie mich?« Aldurs schmale Augen verengten sich noch weiter. »Ihr meint jemanden, der so anmaßend ist wie ich? Dem es an Demut ganz offenbar gebricht? Dessen Weisheit Euch zumindest fraglich erscheint?«

Alannah, die ihren Gefährten gut genug kannte, um zu wissen, dass er kurz davorstand, die Beherrschung zu verlieren, legte ihm beschwichtigend eine Hand auf die Schulter. Aldur jedoch schüttelte sie unwillig ab.

»Das alles sind nicht meine Worte«, entgegnete Ylorin ruhig, dem nicht daran gelegen schien, den jungen Zauberer zu provozieren.

»Aber sie drücken aus, was Ihr denkt, nicht wahr?«, blaffte Aldur. »Nun gut, ich will Euch sagen, weshalb man mich und keinen anderen geschickt hat: weil ich der Einzige bin, der die Gefahr eines Angriffs erkannt hat und Mut genug besitzt, danach zu handeln. Der Rest Eurer sogenannten Weisen gefällt sich darin, die Augen vor der Wirklichkeit zu verschließen und darauf zu hoffen, dass sich alles von allein fügen wird. Sogar unsere Abreise nach Crysalion musste in aller Heimlichkeit erfolgen, weil außer dem Ältesten keiner davon wissen durfte.«

»Zugegebenermaßen fällt es mir nicht leicht, das zu glauben …«

»Dennoch ist es so«, beharrte Aldur, während Alannah zustimmend nickte. »Seit Ihr die sterbliche Welt verlassen habt, ist dort viel geschehen, Ylorin. Die Werte, für die Ihr einst gekämpft habt, haben nicht länger Bestand. Neue Rassen sind aufgetaucht, und das Elfenreich ist im Zerfall begriffen. Um zu überleben, ist der König von Tirgas Lan gezwungen, unsichere Bündnisse zu schließen und sich auf faule Kompromisse einzulassen. Und die Zauberer«, fügte er hinzu, wobei sich seine Mundwinkel vor Abscheu nach unten zogen, »fürchten sich nicht nur vor dem, was sie sind, sondern nehmen neuerdings sogar Menschen in ihren erlauchten Kreis auf!«

»Aldur!«, rief Alannah, der nur zu bewusst war, dass er dabei an Granock dachte.

»Stimmt es etwa nicht?«, fragte er gereizt. »Sage ich etwa nicht die Wahrheit? Wir haben den Menschen die Hand in Freundschaft gereicht, und wie wurde es uns gedankt? Die Menschen haben sich unser Vertrauen erschlichen und lassen keine Gelegenheit ungenutzt, um uns hinterhältig zu betrügen.«

»Das ist nicht wahr«, bestritt Alannah.

»Es ist wahr«, versicherte er, wobei er sie mit einem vernichtenden Blick bedachte. »Auch du solltest das langsam einsehen.«

»Mein Freund«, ließ sich Ylorin leise vernehmen, »seid Ihr sicher, dass Ihr hier seid, um dem Dunkelelfen die Stirn zu bieten? Mir will scheinen, es gibt neben ihm auch innere Dämonen, gegen die Ihr zu kämpfen habt …«

»Darum habt Ihr Euch nicht zu kümmern, alter Mann«, beschied Aldur ihm streng und mit einem Tonfall, der weder ihrem Altersunterschied gerecht wurde noch der Tatsache, dass Ylorin ein gefeierter Held der alten Zeit war.

»Aldur …« Alannah konnte ihre Betroffenheit nicht länger verbergen. »Was ist nur in dich gefahren?«

»Schon gut, mein Kind«, beschwichtigte Ylorin und hob abwehrend die Arme, »ich verüble es Eurem Begleiter nicht. Meine Zeit ist längst zu Ende gegangen, während seine erst begonnen hat. Und dabei erinnert er mich an jemanden, den ich einst gekannt und geschätzt habe. Allerdings ist das ebenso lange her wie meine großen Taten.«

Den sanften Spott, der in der Stimme des Greises lag, überhörte Aldur geflissentlich. Statt etwas zu erwidern, schaute er sich in dem Oktogon um, das sich im höchsten Turm Crysalions befand und von dem aus in der Ferne das Meer zu sehen war. Der Zauberer streifte Ylorins Begleiterschar mit einem flüchtigen Blick, dann wandte er sich dem Annun zu.

»Dies also ist er«, flüsterte er, und zum ersten Mal hatte Alannah den Eindruck, dass er sich ein wenig entspannte. Die Härte wich aus seinen Zügen, und für eine kurze Weile schien er wieder jener überaus begabte und den Wundern des Lebens aufgeschlossene junge Mann zu sein, den sie schätzen und lieben gelernt hatte. Niemals würde sie den Tag vergessen, an dem er ihr seinen essamuin, seinen geheimen Namen anvertraut hatte.

Ru…

Noch während sie das Wort in Gedanken aussprach, verhärtete sich seine Miene wieder. Sie vermochte nicht zu sagen, was er dachte, und sie bezweifelte auch, dass er es gewollt hätte. Ganz offensichtlich hatte es mit dem Urkristall zu tun – und ebenso offensichtlich schien er sie nicht an seinen Überlegungen teilhaben lassen zu wollen.

Nicht nach allem, was in Shakara geschehen war, dachte sie beklommen.

Abrupt riss sich Aldur vom Ehrfurcht gebietenden Anblick des Annun los und wandte sich wieder Ylorin zu. »Seid Ihr für die Sicherheit des Kristalls verantwortlich?«

»Was meint Ihr?« Der Greis schaute ihn fragend an.

»Ihr wisst, was ich meine. Ihr scheint das Oberhaupt von Crysalion zu sein. Also müsst Ihr doch auch Verantwortung tragen für …«

»Ihr versteht noch immer nicht, junger Freund«, fiel Ylorin ihm ins Wort. »Verantwortung ist etwas für sterbliche Wesen. Wir, die wir an den Fernen Gestaden leben, sind davon entbunden. Und da es keine Entscheidungen gibt, die getroffen werden müssen, gibt es auch kein Oberhaupt, wie Ihr es versteht. Dies ist ein Ort des Friedens und der Freude, vergesst das nicht.«

»Wenn Margoks Horden die Insel erreichen, wird es die längste Zeit ein Ort des Friedens gewesen sein«, sagte Aldur düster voraus. »Ihr wollt keine Verantwortung? Aber Ihr habt sie bereits! Sie ruht auf Euren Schultern, ob es Euch nun gefällt oder nicht. Denn dieser Kristall«, er deutete auf den Annun, »wurde Euch anvertraut, und es ist Eure Pflicht, ihn mit Eurer Existenz zu beschützen!«

»Aldur«, sagte Alannah erneut, deren Entsetzen mit jedem seiner Worte wuchs.

»D-das können wir nicht«, wehrte Ylorin ab, der nun doch ein wenig in Bedrängnis geriet.

»Dann werden womöglich nicht nur die Fernen Gestade untergehen, sondern die ganze Welt«, prophezeite Aldur, aus dessen stahlblauen Augen unsichtbare Blitze zu schlagen schienen, »und Ihr tragt Schuld daran!«

»Aldur!«

Diesmal schrie Alannah seinen Namen so laut, dass er sie nicht länger ignorieren konnte. Mit einem umwilligen Schnauben fuhr er zu ihr herum. Der Zorn und der gekränkte Stolz in seinen Zügen erschreckten sie.

»Mein Name ist nicht Aldur«, fauchte er sie an, und sie konnte sehen, wie in seinen Handflächen kleine Flammen aufloderten. »Er ist eine Lüge, so wie alles andere. Rothgan ist meine wahre Berufung, denn ich gebiete über das Feuer – und mit dieser Gabe werde ich den Urkristall bewachen. Zusammen mit Euch anderen, wenn ich kann – alleine, wenn ich muss.«

 

Ihr Quartier befand sich im höchsten Turm Crysalions, unweit der Kammer, die den Annun beherbergte.

Aldur hatte darauf bestanden, damit sie den Urkristall zu jeder Zeit erreichen und ihn mit ihrer Zauberkraft beschützen konnten. Ebenso, wie er darauf bestanden hatte, seine Unterkunft mit Alannah zu teilen.

Unter Ylorin und den anderen Ewigen hatte diese Forderung für Befremden gesorgt, da die Besucher zum einen Ordensangehörige und zum anderen nicht offiziell verbunden waren. Alannah war darüber beschämt gewesen, aber Aldur hatte ihr erklärt, dass die Zeit des Versteckspielens endgültig zu Ende sei. In Shakara mochten beide gezwungen gewesen sein, ihre Zuneigung zueinander geheim zu halten, weil es Schülern nicht erlaubt war, sich zu verbinden. Inzwischen jedoch waren sie zu Meistern ernannt worden und konnten daher tun und lassen, was ihnen beliebte; und soweit es Aldur beziehungsweise Rothgan betraf, so hatte er nicht länger vor, sich durch fremde Regeln einengen zu lassen.

Mit dem Rücken zum Fenster stehend, vom dem aus sich ein atemberaubender Blick auf die glitzernden Türme der Kristallfeste bot, betrachtete Alannah ihren Geliebten, der sich auf das karge Lager gebettet hatte, um zu ruhen.

Ähnlich wie in Shakara gab es auch in Crysalion wenig Annehmlichkeiten für den äußeren Bedarf; das Glück, das jene fanden, die nach den Fernen Gestaden reisten, war immaterieller Natur und betraf die Erfüllung des Geistes, nicht des Körpers. Und soweit Alannah es von Ylorin und den anderen tragwythai sagen konnte, hatten sie ihr Glück gefunden …

»Geliebter?«, wandte sie sich vorsichtig an Aldur. Seine Robe hatte er abgelegt und trug nur die graue Tunika, und obwohl er die Augen geschlossen hatte, wusste sie, dass er nicht schlief.

»Ja?«

»Warum sind wir hier?«, stellte Alannah die Frage, die sie am meisten beschäftigte.

»Was sollen diese Worte?« Er schlug die Augen auf und sandte ihr einen verwunderten Blick. »Wir sind hier, weil ich den Verdacht hege, dass der Dunkelelf eine geheime Schlundverbindung nach den Fernen Gestaden unterhält. Und weil wir verhindern müssen, dass ihm der Annun in die Hände fällt.«

»Das meine ich nicht.« Sie schüttelte den Kopf. »Warum die überstürzte Abreise? Was ist heute Abend geschehen?«

Sein Blick wurde eisig, und in seinen kantigen Zügen spiegelten sich Empfindungen, die sie noch nie zuvor darin gesehen hatte und die sie erschreckten. »Ich denke nicht, dass du mir diese Frage stellen solltest. Schließlich weißt du besser als ich, was geschehen ist.«

Sie senkte schuldbewusst den Blick und fragte sich unwillkürlich, ob er ihr jemals verzeihen würde. »Auch davon spreche ich nicht«, erwiderte sie leise. »Ich meine die Reise, die wir unternommen haben. Wir sind an jenen Ort gelangt, von dem andere ihr Leben lang nur träumen. Nur wenigen ist es vergönnt, das Wunder des Annun bereits in so jungen Jahren zu erblicken.«

»Und?«

»Dennoch sehe ich bei dir keine Spur von Ergriffenheit …«

»Wie auch?«, unterbrach er sie spöttisch. »Wir sind schließlich nicht hier, um unser beider Bewusstsein zu erweitern, oder?«

»… oder auch nur Respekt«, fuhr sie unerbittlich fort. »Du beschimpfst die Menschen für ihre Rohheit und dafür, dass sie keine Traditionen haben. In Wahrheit jedoch bist du keinen Deut besser als sie.«

»Nimm das zurück!«, verlangte er.

»Keineswegs. Gegenüber dem Ewigen Ylorin, der ein gefeierter Held unseres Volkes ist, hast du dich hochmütig und anmaßend verhalten. So sehr, dass ich mich für dich geschämt habe, Aldur.«

»Rothgan«, verbesserte er. »Aldur existiert nicht mehr.«

»Diesen Eindruck gewinne ich mehr und mehr«, pflichtete sie ihm bei, während sie zögernd vortrat und sich zu ihm auf die Bettkante setzte. »Was ist mit dir, Geliebter?«, fragte sie sanft. »Was ist in Shakara passiert?«

»Fragst du mich das allen Ernstes?«

»Zwischen Granock und mir ist nichts geschehen«, stellte sie flüsternd klar. »Ich gebe zu, dass ich mich zu ihm hingezogen fühlte, aber es ist nichts vorgefallen, was dich kränken müsste.«

»Wenn du das sagst.«

»Ich spreche die Wahrheit, Geliebter, und ich erwarte, dass auch du ehrlich zu mir bist.«

»Inwiefern?« Er sah sie herausfordernd, fast ein wenig belustigt an.

»Ich möchte wissen, was zwischen dir und Farawyn vorgefallen ist«, eröffnete Alannah rundheraus, worauf das angedeutete Lächeln aus seinem Gesicht verschwand.

»Das brauchst du nicht zu wissen.«

»Ich brauche es nicht zu wissen? Und von mir verlangst du Ehrlichkeit?« Sie schüttelte den Kopf. »Ich bin dir gefolgt, ohne Fragen zu stellen, Geliebter, bis ans Ende der Welt und darüber hinaus. Aber nun verlange ich eine Antwort: Was ist mit Farawyn? Weshalb konntet ihr einander nicht mehr in die Augen sehen?«

»Ich sagte es dir schon, es geht dich nichts an«, fauchte Aldur so feindselig, dass sie sich unwillkürlich bedroht fühlte. »Frage nicht weiter, oder es wird dir leidtun.«

»Du hast dich verändert«, stellte sie fest.

»Wir alle haben uns verändert. Die glücklichen Jahre unserer Jugend sind vorbei. Dort draußen tobt ein Krieg, Thynia, hast du das schon vergessen?«

Sie biss sich auf die Lippen. Sie schätzte es nicht, wenn er sie mit ihrem Zaubernamen ansprach, der sich in ihren Ohren gefühllos und offiziell anhörte, fast wie ein Titel. »Das ist es nicht«, wehrte sie ab. »Was der Krieg und unsere Erfahrungen aus uns gemacht haben, ist eine Sache – hier jedoch geht es um dich, Aldur. Wenn ich mit dir spreche, erkenne ich dich kaum wieder. Wo ist der junge Mann, den ich meinen Liebsten nannte?«

»Dieser junge Mann«, entgegnete er voller Bitterkeit, »war mit Blindheit geschlagen. Doch ihm wurden die Augen geöffnet, und er hat erkannt, was für ein Narr er gewesen ist. Er hat verräterischen Freunden vertraut und auf falsche Lehrer gehört. Er glaubte, einem höheren Ideal zu dienen, dabei war er in Wahrheit nur eine Figur in einem Spiel. Aber damit ist es nun vorbei, hörst du?« Er schüttelte unwirsch den Kopf. »Ich habe die Wahrheit erkannt und sehe die Dinge klarer als je zuvor in meinem Leben. Selbst dich …«

Damit streckte er die Hand aus und berührte sie an der Schulter, nicht tröstend oder freundschaftlich, sondern in unverhohlenem Verlangen. Schon hatte er den Träger ihrer Tunika abgestreift und ein Stück ihrer makellos weißen Haut entblößt.

»Nein«, hauchte sie und zuckte unwillkürlich zurück. »Bitte nicht.«

»Weshalb nicht?« Er grinste wölfisch. »Ich dachte, der gute Granock hätte dich nicht angefasst?«

»Das hat er auch nicht. Nicht auf diese Weise …«

»Dann sehe ich nicht, weshalb wir nicht …« Abermals wollte er sie berühren, aber sie stand von der Bettkante auf und wich einen Schritt zurück.

»Was soll das?«, fragte er.

»Ich möchte es nicht«, erklärte sie. »Nicht heute. Und nicht auf diese Weise.«

»Also hast du mich doch betrogen.«

»Nein, Geliebter.«

»Dann beweise es!«

»Das muss ich nicht«, verteidigte sie sich kopfschüttelnd, »denn mein Geist und mein Herz gehören dir. Ich habe mich von Granock abgewandt und bin dir an diesen Ort gefolgt, von dem es womöglich keine Rückkehr mehr für uns gibt. Ist das nicht Beweis genug für meine Liebe?«

»Worte, nichts als Worte.« Aldur machte eine wegwerfende Handbewegung. »Du bist genau wie all diese Schwächlinge im Hohen Rat, die immer nur reden, aber niemals Taten zeigen, sich niemals entscheiden.«

»Ich habe mich entschieden – für dich.«

»Dann zeige es mir«, verlangte er und erhob sich von seinem Lager, trat langsam auf sie zu. »Reiße die Zweifel, die mich noch immer quälen, ein für alle Mal aus meiner Brust, hier und jetzt.«

»I-ich …« Sie wich vor ihm zurück, bis sie mit dem Rücken zur kristallenen Wand stand, die sich unter der Wärme ihrer Berührung rötlich verfärbte.

»Ich habe dir meinen essamuin genannt«, brachte er ihr in Erinnerung. »Ich habe dich ausgewählt, also verweigere mir nicht, was mir als dein athan zusteht.«

»Ru…« Alannahs Augen füllten sich mit Tränen. »Bitte nicht. Zwinge mich nicht dazu!«

»Keine Sorge.« Er schüttelte den Kopf. »Wenn du die Frau bist, die du zu sein vorgibst, brauche ich dich nicht zu zwingen, nicht wahr?«

Ein Ausdruck von Unglauben schlich sich auf ihr Gesicht. »Willst du das wirklich?«, flüsterte sie.

»Allerdings«, bestätigte er ohne Zögern.

Sie schaute ihm tief in die Augen, sah die erbarmungslose Härte darin, und zum ersten Mal fragte sie sich, ob sie sich richtig entscheiden hatte, als sie ihm gefolgt war.

Er schien ihre Zweifel zu bemerken, denn leiser Spott verzerrte seine Mundwinkel. Alannah wurde bewusst, dass sie keine andere Möglichkeit hatte. Sie liebte Aldur aufrichtig und wollte ihn nicht verlieren, also würde sie ihm zugestehen müssen, wonach er verlangte. Zumal sie selbst die Schuld daran trug, dass er an ihrer Liebe zweifelte.

Während sie auch den anderen Träger herabzog und ihre Schulter vollends entblößte, verwünschte sie sich für jenen Augenblick der Schwäche, in dem sie Granock ihre Zuneigung gezeigt hatte. Fieberhaft redete sie sich ein, dass alles gut werden würde, wenn sie Aldur nur innig genug ihre Liebe versicherte. Aber in den Blicken, mit denen er sie bedachte, lag weder Hingebung noch Zärtlichkeit, sondern nur rohes Begehren. Der Vergleich mit einem Raubtier, das sein Revier markieren wollte, drängte sich ihr auf, und zum ersten Mal in ihrem Leben schämte sie sich ihrer Nacktheit, als sie die Verschnürung der Tunika löste, den Stoff langsam an sich herabgleiten ließ und sich entblößte.

Sie fröstelte, nicht so sehr, weil sie unbekleidet war, sondern weil sie das Gefühl hatte, als wolle Aldur sie mit Blicken verschlingen. Einen endlos scheinenden Augenblick lang stand er vor ihr und starrte sie an, weidete sich so unverblümt und lüstern am Anblick ihrer nackten Brüste und ihrer unverhüllten Weiblichkeit, dass sie nicht anders konnte, als sie mit den Händen zu bedecken. Ein Grinsen huschte daraufhin über die Gesichtszüge des Elfen, dann trat er auf sie zu, umfasste ihre Handgelenke und presste sie gegen die Wand.

Sie versuchte redlich, seiner Begehrlichkeit mit zarten Liebkosungen zu begegnen, um ihm ihre Zuneigung zu zeigen. Er jedoch schien genau jenen niederen Trieben verfallen, die er stets so verachtet hatte. Fiebrig und heiß wanderten seine Hände über ihren Körper und betasteten ihn, dann zerrte er sie zu Boden und warf sich auf sie.

In dem Moment, als er keuchend in sie eindrang, wurde Alannah schmerzlich bewusst, dass der Elf namens Aldur tatsächlich nicht mehr existierte.

Und in dieser Nacht hörte Rothgan die Stimme zum ersten Mal.

2. CYSGURA DORYS SHAKARA

Vier Jahre später

 

Die Hand war fest um den Zauberstab geschlossen, der im Licht des Deckenkristalls weißlich schimmerte; die blauen Augen, die nicht schmal waren wie die eines Elfen, sondern ihren menschlichen Besitzer verrieten, starrten matt und blicklos.

Sie hatten vieles gesehen, Freude und Leid, Sieg und Niederlage, Triumph und Verzweiflung. Sie hatten größere Wunder geschaut als je ein Mensch zuvor, aber auch in tiefere Abgründe geblickt; und sie waren Zeuge jener dunklen Stunde gewesen, die in mancher Hinsicht Granocks Leben beendet hatte.

Die Stunde des Abschieds.

Die Stunde des Bruchs.

Du blutest, Meister 

Granock brauchte den Blick nicht zu heben. Er wusste auch so, wem die Stimme gehörte, die er in seinem Kopf hörte, obwohl die eisige Stille, die in der Kammer herrschte, nicht gestört worden war. Es war kein anderer als Ariel, sein Koboldsdiener, der zu ihm sprach und der sich wie alle Angehörigen seiner Art der Gedankenübertragung bediente, um sich mitzuteilen.

Dein Zauberstab 

Granock blickte auf den flasfyn in seiner Hand und stellte fest, dass tatsächlich ein rotes Rinnsal an dem aus Elfenbein gefertigten Schaft rann. Er hatte die Finger so fest in das glatte Material gekrallt, dass unter den Nägeln Blut hervorgetreten war. Granock scherte sich nicht darum. Im Gegenteil, wenn er den Schmerz gefühlt hatte, so hatte er ihn genossen. Es war einer der vielen Wege, die er gefunden hatte, um sich für seine Verfehlung zu bestrafen.

Er zuckte gleichmütig mit den Schultern und wischte das Blut mit seiner Robe ab. Dass es auf dem grauen Stoff dunkle Flecken hinterließ, scherte ihn ebenso wenig wie die Besorgnis, die sich auf Ariels pausbäckigen Gesichtszügen zeigte. Der Kobold vor ihm, trotz der Kälte barfüßig und in grüne Kleidung gehüllt, die an diesem Ort seltsam fehl am Platz schien, stemmte in gespielter Entrüstung die Ärmchen in die Hüften. In dieser Haltung hatte er Granock früher gern verspottet, weil dieser als Mensch die Geheimnisse der Zauberei zu erforschen trachtete. Doch die Unkenrufe des Kobolds waren längst verstummt. Zum einen, weil Granock gelungen war, was kein anderer Mensch vor ihm geschafft hatte, und er in den Orden der Zauberer aufgenommen worden war; zum anderen, weil er schon lange nicht mehr der einzige Sterbliche war, der durch die geheiligten Hallen Shakaras schritt.

Die Zeiten hatten sich geändert.

Krieg war über Erdwelt gekommen wie eine Seuche, und wie in jedem Konflikt galt es, Verbündete zu suchen, die das Überleben sicherten. Ideale und Prinzipien, so schien es, hatten schon vor langer Zeit ihre Bedeutung verloren und waren der bitteren Notwendigkeit gewichen; Granock jedenfalls hatte den Grund, in diesem Krieg zu kämpfen und sich mit aller Macht dafür einzusetzen, dass die gute Seite triumphierte, vor langer Zeit eingebüßt, an jenem schicksalhaften Tag, der nun fast vier Jahre zurücklag …

Denkst du wieder an sie?

Granock erwiderte nichts. Ariel war der Einzige, dem er je erzählt hatte, was sich damals ereignet hatte – schon deshalb, weil das beständige Abschirmen seiner Gefühle und Gedanken ihn mehr Kraft gekostet hätte, als er aufzubringen in der Lage war. Ein kaum merkliches Nicken war seine einzige Antwort.

Es war nicht deine Schuld, und das weißt du. Ihr alle habt Fehler gemacht. Auch sie 

Granock verzog das Gesicht. Er nahm dankbar zur Kenntnis, dass Ariel ihren Namen nicht erwähnte, aber Granock empfand trotzdem jenen dumpfen Schmerz, der seit vier Jahren sein Begleiter war und der in all der Zeit nicht nachgelassen hatte, sondern immer noch zuzunehmen schien.

Warum bist du hier?, wechselte Ariel das Thema. Der Ausdruck in seinem kleinen blassen Gesicht wechselte von Besorgnis auf Neugier.

»Was soll die Frage?«, hörte Granock sich selbst sagen. Er erschrak über den matten, kraftlosen Klang seiner Stimme, ließ es sich jedoch nicht anmerken.

Warum bist du hier?, wiederholte der Kobold, statt zu antworten.

»Warum wohl? Weil Farawyn es mir befohlen hat. Weil es meine verdammte Pflicht ist, diese unbedarften Idioten in den Wegen der Magie zu unterweisen.«

Unbedarft wie du einst warst, versetzte Ariel mit – jedenfalls kam es Granock so vor – einer Spur Genugtuung.

»Ich habe meine Lektion gelernt«, versicherte Granock düster. »Für Unbedarftheit ist kein Platz mehr.«

Ebenso wenig wie für Wohlwollen. Oder Geduld.

»Was soll das heißen?«

Weißt du, wie die Schüler dich nennen?

»Wie denn?«

Tailyr – den Schleifer. Die Aspiranten fürchten dich, und selbst die Eingeweihten gehen dir aus dem Weg. Und was die Novizen betrifft 

»Meine Aufgabe besteht nicht darin, die Freundschaft dieser Grünschnäbel zu gewinnen«, stellte Granock klar, »sondern sie auf das vorzubereiten, was sie dort draußen in der Welt erwartet – und das ist Krieg, Ariel, ein erbarmungsloser Kampf um das Überleben. Entweder, du stellst dich ihm, oder du hast schon verloren.«

Dennoch brauchten die Schüler dich nicht zu fürchten 

»Sie sind jung und leicht einzuschüchtern«, verteidigte sich Granock. »Außerdem hat ein wenig Respekt noch niemandem geschadet. Auch ich habe mich einst vor Meister Cethegar gefürchtet.«

Cethegar war hart, das ist wahr, aber er hat es nie an Fürsorge gegenüber seinen Schülern fehlen lassen. Und ist nicht er es gewesen, der dir einst vertraut hat? Der dich gestärkt hat, als es darauf ankam?

Granock hätte gern widersprochen, aber das konnte er nicht. Der gestrenge Zauberer Cethegar, der ihn im Umgang mit dem flasfyn unterwiesen hatte, hatte ihn zwar mit unnachgiebiger Härte geschult, seinen Schüler jedoch tatsächlich zu jeder Zeit gerecht behandelt, was sich von Granocks Unterrichtsmethoden nicht unbedingt behaupten ließ …

»Und?«, fragte er gereizt. »Was hat es ihm gebracht? Cethegar ist tot, genau wie Vater Semias, Meisterin Maeve, Haiwyl und so viele andere, die diesem Orden gedient haben.«

Das ist wahr, räumte Ariel ein, und du solltest ihr Andenken in Ehren halten, statt es zu beflecken.

»Was fällt dir ein?« Granock, der auf einem schlichten Hocker gekauert hatte, sprang auf. Der Kobold, der ohnehin nur eine Elle maß, schien vor ihm noch weiter zu schrumpfen.

Ich spreche nur aus, was viele denken, Meister, versicherte Ariel gelassen.

»Und das wäre?«

Es heißt, dass du dein Herz verloren hast, damals, bei jener Schlacht im Flusstal – und dass du es seither nicht zurückgewonnen hättest.

Granock ließ ein verächtliches Grunzen vernehmen, aber es klang nicht sehr überzeugend. Er lebte inzwischen lange genug unter Elfen, um zu wissen, dass sie eine Vorliebe für blumige Worte und schwülstige Metaphern hatten. In diesem Fall allerdings traf der Vergleich den Nagel auf den Kopf.

Er hatte in jenen Tagen tatsächlich etwas verloren, das er in all den Jahren nicht wiedergefunden hatte.

Seine Liebe.

Seine Ehre.

Seine Freundschaft …

Sieh dich nur einmal an, Meister, fuhr der Kobold in seiner Rüge fort. Dein Haar ist lang und ungepflegt, dein Bart wuchert über dein Gesicht, als wolle er es verschlingen. Von deiner Robe ganz zu schweigen. Du bist verwahrlost, im Inneren wie im Äußeren – wie lange, glaubst du, wird der Rat sich das noch gefallen lassen?

»Ah«, machte Granock. »Darum also geht es dir. Du hast Angst, dass sie mich vor die Tür setzen könnten – und dich gleich mit dazu. Hab keine Sorge. Wenn es das ist, was deinem kleinen Dickschädel Kopfzerbrechen bereitet, dann entlasse ich dich aus meinen Diensten, damit du dir einen neuen Herrn suchen kannst, der deinen Ansprüchen besser gerecht wird.«

Du roher, ungehobelter Klotz von einem Menschen!, ereiferte sich Ariel, wie er es schon lange nicht mehr getan hatte. Glaubst du wirklich, es ginge mir um mich? Wenn es so wäre, wäre ich Diener des Hohen Rates geblieben und hätte gewiss nicht darum gebeten, einem Menschen dienen zu dürfen. Hast du dich nie gefragt, was mich zu diesem Schritt getrieben hat?

»Doch«, gestand Granock, »schon unzählige Male. Aber ich finde einfach keine Antwort darauf.«

Dann will ich sie dir geben: Ich glaubte, dass du etwas Besonderes seist. Jemand, der das Vertrauen, das man in ihn setzt, nicht enttäuschen wird. Aber nun sieh dir an, was aus dir geworden ist: ein Schatten deiner selbst, der am ganzen Körper zittert vor Angst!

»Sei vorsichtig mit dem, was du sagst …«