MARY BEARD
POMPEJI
DAS LEBEN IN EINER
RÖMISCHEN STADT
Aus dem Englischen
von Ursula Blank-Sangmeister
unter Mitarbeit von Anna Raupach
FISCHER E-Books
Mary Beard lehrt an der Cambridge University Alte Geschichte. Sie gilt in der angelsächsischen Welt als die bekannteste lebende Althistorikerin und zugleich als eine der streitbarsten. Immer wieder schaltet sie sich in aktuelle Debatten ein, u.a. in ihrem Blog »A Don's Life«. Sie ist Herausgeberin des Bereichs Altertumswissenschaften für das »Times Literary Supplement«, Kuratorin zahlreicher Ausstellungen sowie Autorin und Moderatorin der berühmten BBC-Serie »Meet the Romans«. Für ›Pompeji‹ erhielt sie 2008 den Wolfson History Prize. Im Juli 2010 wurde Mary Beard zum Fellow of the British Academy gewählt.
Bei S. Fischer erschienen von ihr 2017 ›Cleopatras Nase. Neue Begegnungen mit der Alten Geschichte sowie 2016 ›SPQR. Die tausendjährige Geschichte Roms‹.
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
Die weltweit bekannte Historikerin Mary Beard erzählt die faszinierende Geschichte Pompejis und nimmt uns mit auf einen Spaziergang durch eine versunkene Welt.
Im Jahr 79 n. Chr. regnete glühende Asche auf Pompeji nieder. Lava überflutete Menschen, Tiere und Gebäude – und konservierte sie für die Ewigkeit. Jahrhunderte später ist Pompeji eine der wichtigsten Fundstätten der Archäologie. Mary Beard schildert, wie die Menschen dort gelebt und geliebt haben, beschreibt Häuser, Kneipen und Gärten, Kunstwerke und Dinge des Alltags. Zugleich entlarvt sie die Irrtümer, die Forschern immer wieder unterliefen, und zeigt, wie es wirklich war. Sie erweckt Pompeji zum Leben, und mit jedem faszinierenden Rätsel, das sie präsentiert, wächst die Sehnsucht, diesen Ort mit eigenen Augen zu sehen.
Erschienen bei FISCHER E-Books
Die englische Originalausgabe ist 2008
unter dem Titel ›Pompeji. The Life of a Roman Town‹
bei Profile Books Ltd., London, erschienen.
© 2008 Mary Beard
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© 2017 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: hißmann, heilmann, Hamburg
Coverabbildung: Bob Eames
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-490470-2
In den frühen Morgenstunden des 25. August des Jahres 79 n.Chr. ließ der Bimssteinregen über Pompeji ein wenig nach. Anscheinend war dies ein günstiger Augenblick, um die Stadt zu verlassen und sich in Sicherheit zu bringen. Eine versprengte Gruppe von mehr als 20 Flüchtenden, die, als der entsetzliche Regen am heftigsten niederprasselte, innerhalb der Mauern Schutz gesucht hatten, strebte zu einem der östlichen Stadttore, weil sie hoffte, so dem Bombardement aus vulkanischen Gesteinsbrocken zu entkommen.
Ein paar andere hatten bereits einige Stunden zuvor versucht, diesen Weg einzuschlagen. Ein Paar hatte auf seiner Flucht nur einen kleinen Schlüssel bei sich (vermutlich in der Hoffnung, eines Tages zu dem zurückzukehren, was er verschloss – ein Haus, eine Wohnung, eine Truhe oder Kassette) sowie eine einzelne Bronzelampe (Abb. 1). Sie kann gegen die nächtliche Dunkelheit und die Schuttwolken kaum viel ausgerichtet haben, doch es handelte sich um ein teures und modisches Objekt in Gestalt des Kopfes eines Schwarzafrikaners – ein Hinweis auf die (uns) irritierenden einfallsreichen Formen, denen wir in Pompeji häufig begegnen werden. Das Paar hat es nicht geschafft. Vom Bimssteinregen überwältigt, wurden die beiden 1907 dort gefunden, wo sie zu Boden gestürzt waren, in der Nähe eines der großen Grabmäler, die diese wie andere Ausfallstraßen säumten. Sie brachen neben der aufwendigen Gedenkstätte einer Frau zusammen, die vermutlich 50 Jahre früher gestorben war, Aesquillia Polla, der Frau des Numerius Herennius Celsus. Mit ihren gerade einmal 22 Jahren (wie wir auf dem Stein noch lesen können) dürfte sie kaum halb so alt wie ihr reicher Ehemann gewesen sein, der als Angehöriger einer der prominentesten Familien Pompejis als Offizier in der römischen Armee gedient hatte und zweimal in das höchste Amt der Stadtregierung gewählt worden war.
Abb. 1. Kleine Lampen in Form menschlicher Köpfe (oder Füße) waren im 1. Jahrhundert n.Chr. in Mode. Bei dieser wurde das Öl in das Loch auf der Stirn gegossen, wobei die Flamme aus dem Mund kam. Mit den Blütenblättern, die den Griff bilden, misst die Lampe nicht mehr als zwölf Zentimeter.
Die Bimssteinschichten hatten schon eine Höhe von mehreren Fuß erreicht, als die andere Gruppe sich entschloss, denselben Fluchtweg zu wagen. Man kam nur langsam und unter großen Schwierigkeiten voran. Die meisten dieser Flüchtenden waren junge Männer, viele trugen nichts bei sich, entweder weil sie nichts hatten oder weil sie ihre Wertsachen nicht mehr an sich nehmen konnten. Ein Mann hatte sich vorsichtshalber mit einem in einer eleganten Scheide steckenden Dolch bewaffnet (er hatte auch noch eine zweite Scheide bei sich, die aber leer war, vielleicht weil er die zugehörige Waffe verloren oder verliehen hatte). Die wenigen Frauen in der Gruppe hatten schon etwas mehr. Eine führte eine kleine Silberstatuette der – auf einem Thron sitzenden – Glücksgöttin Fortuna mit sich, außerdem eine Handvoll goldener und silberner Ringe – an einem war, wohl als Talisman, ein winziger Phallus aus Silber (ein weiterer Gegenstand, dem wir im Laufe des Buches des öfteren begegnen werden) mit einer Kette befestigt. Andere hatten ihren eigenen kleinen Bestand an Kostbarkeiten mitgenommen: einen silbernen Medizinkasten, einen kleinen Sockel für eine (nicht erhaltene) Statuette und etliche Schlüssel, alles in einer Stofftasche verstaut; ein hölzernes Schmuckkästchen mit einer Halskette, mit Ohrringen und einem silbernen Löffel – und noch mehr Schlüsseln. Sie hatten auch alles Bargeld, das sie auftreiben konnten, mitgebracht. Die einen nur etwas Kleingeld, andere alles, was sie zu Hause versteckt hatten, oder auch die Einnahmen aus ihrem Laden. Es war jedoch nicht viel. Alles in allem verfugte die Gruppe über insgesamt knapp 500 Sesterze – nach pompejanischen Verhältnissen etwa der Gegenwert eines Maultieres.
Einige aus dieser Gruppe schafften eine etwas längere Strecke als die zuvor Geflüchteten. Ungefähr 15 hatten die nächste große Gedenkstätte, 20 Meter weiter stadtauswärts, erreicht, das Grabmal des Marcus Obellius Firmus, als sie von dem, was wir jetzt als den »pyroklastischen Strom« des Vesuvs kennen, dahingerafft wurden – einem tödlich brennenden Gemisch aus Gasen, Vulkanschutt und geschmolzenem Fels, das mit riesiger Geschwindigkeit dahinraste und dem nichts standhalten konnte. Ihre Leichname wurden teils in einem Gewirr von Ästen, die sie anscheinend noch immer umklammert hielten, gefunden. Vielleicht hatten die Agileren unter ihnen bei dem aussichtslosen Versuch, sich zu retten, unter den um die Grabmäler stehenden Bäumen Zuflucht gesucht. Es ist aber wahrscheinlicher, dass der Strom, der die Flüchtenden tötete, auch die Bäume auf sie niederkrachen ließ.
Dem Grabmal des Obellius Firmus selbst erging es um einiges besser. Obellius war ebenfalls ein pompejanischer Grande, der einige Jahrzehnte zuvor gestorben war und dessen Tod so lange zurücklag, dass die Wände seines Monumentes als lokales Anschlagbrett genutzt werden konnten. Hier können wir noch die Ankündigungen der einen oder anderen Gladiatorendarbietung entziffern sowie zahlreiche Kritzeleien von Leuten, die bei den Grabstätten herumstreunten: »Hallo Issa, von Habitus«, »Hallo Occasus, von Scepsinianus« usw. (Habitus’ Freunde antworteten offenbar mit einem großen Phallus samt Hoden und der Botschaft »Hallo Habitus, von deinen Kumpeln überall«). Weiter oben verkündete der Text des offiziellen Epitaphs von Obellius Firmus, dass seine Bestattung vom Rat der Stadt bezahlt worden sei und 5000 Sesterze gekostet habe – zusätzliche 1000 Sesterze hätten ein paar andere lokale Amtsträger für Weihrauch und »einen Schild« (wahrscheinlich ein Schild-Porträt, eine typisch römische Form des Gedenkens) ausgegeben. Diese Bestattungskosten überstiegen mit anderen Worten gut das Zehnfache dessen, was die gesamte Gruppe für ihre Flucht in die Sicherheit hatte aufbringen können. Pompeji war eine Stadt von Armen und Reichen.
Abb. 2. Die Gipsabgüsse der Körper der Opfer sind eine bleibende Erinnerung an ihre Menschlichkeit – sie waren genauso wie wir. Dieser eindrucksvolle Abguss eines sterbenden Mannes, der die Hände vors Gesicht hält, befindet sich aus Sicherheits- und Konservierungsgründen in einem Lagerraum der Ausgrabungsstätte. Jetzt scheint er seine eigene Gefangenschaft zu beklagen.
Viele andere Geschichten von Fluchtversuchen lassen sich nachzeichnen. Fast 400 Leichname wurden in den Bimssteinschichten entdeckt und an die 700 in den jetzt festen Überresten der pyroklastischen Flut – viele von ihnen konnten dank einer im 19. Jahrhundert ersonnenen Technik so anschaulich dargestellt werden, dass sie wie zum Zeitpunkt ihres Todes aussehen: Bei dieser raffinierten Technik wird der Hohlraum, der sich infolge des Zerfalls von Körper und Kleidung gebildet hat, mit Gips aufgefüllt. So kann man die hochgezogenen Tuniken, die zum Schutz verhüllten Gesichter und den trostlosen Gesichtsausdruck der Opfer erkennen (Abb. 2). Eine auf einer Straße beim Forum aufgefundene Vierergruppe deutet darauf hin, dass hier eine ganze Familie zu entkommen versuchte. An der Spitze ging der Vater, ein kräftiger Mann mit großen buschigen Augenbrauen (wie der Gipsabguss zeigt). Er hatte den Mantel über den Kopf gezogen, um sich vor den herabfallenden Asche- und Schuttmassen zu schützen, und trug etwas Goldschmuck (einen schlichten Fingerring und einige Ohrringe) bei sich sowie eine Reihe von Schlüsseln und, anders als oben, eine ordentliche Summe Bargeld, fast 400 Sesterze. Seine beiden kleinen Töchter folgten ihm, während die Mutter den Schluss bildete. Sie hatte ihr Kleid hochgezogen, um sich das Gehen zu erleichtern, und führte in einer kleinen Tasche wertvolle Haushaltsgegenstände mit sich: das Familiensilber (etliche Löffel, zwei Becher, ein Medaillon mit der Gestalt der Fortuna, einen Spiegel) und die gedrungene Figurine eines kleinen Jungen, der in einen Mantel gehüllt ist, unter dem seine nackten Füße hervorschauen (Abb. 3). Es ist ein plumpes Werkstück, gefertigt allerdings aus Bernstein, der von der nächstgelegenen Bezugsquelle im Baltikum eine Reise von vielen Hunderten von Kilometern zurückgelegt haben muss; das machte ihn so wertvoll.
Abb. 3. Ein wertvolles Besitztum? Diese gedrungene kleine Figurine aus rotem baltischem Bernstein wurde bei einem der gescheiterten Flüchtlinge gefunden. Sie ist acht Zentimeter hoch und sollte vielleicht einen der Standardcharaktere des römischen Mimus darstellen, einer populären Form der Unterhaltung in Pompeji (vgl. S. 351f.).
Andere Funde erzählen von anderen Leben. Da gab es den Arzt, der, seinen Instrumentenkasten umklammernd, die Flucht ergriff, um dann doch nur von dem tödlichen Strom erfasst zu werden, als er auf dem Weg zu einem der südlichen Stadttore die beim Amphitheater gelegene palaestra (großer freier Platz oder Trainingsgelände) überquerte; es gab den Sklaven, gefunden im Garten eines großen Hauses in der Stadtmitte, dessen Bewegungsfreiheit durch die Eisenketten an seinen Fußgelenken gewiss eingeschränkt war; da war der Priester der Göttin Isis (oder vielleicht auch ein Tempeldiener), der für die Flucht einige Wertobjekte des Tempels zusammengepackt und nicht mehr als 50 Meter zurückgelegt hatte, bevor er ebenfalls umkam. Und dann gab es natürlich jene mit Juwelen reich behängte Dame, die man in einem Raum der Gladiatorenkaserne entdeckte. Dies galt oft als nette Illustration der Vorliebe von Römerinnen der Oberschicht für muskelbepackte Gladiatorenkörper. Hier scheint eine von ihnen zur falschen Zeit am falschen Ort überrascht worden zu sein, vor den Augen der Geschichte des Ehebruchs überführt. Doch in Wahrheit ist dies eine sehr viel unschuldigere Szene. Höchstwahrscheinlich war diese Frau gar nicht verabredet, sondern hatte in der Kaserne Schutz gesucht, als ihr die Flucht aus der Stadt zu beschwerlich wurde. Falls sie sich tatsächlich mit ihrem Gespielen getroffen hatte, dann hatten sich zu diesem Rendezvous immerhin noch 17 andere Personen und etliche Hunde eingestellt – all deren Überreste wurden in demselben kleinen Raum gefunden.
Die Leichname von Pompeji gehörten schon immer zu den eindrucksvollsten Bildern und Attraktionen der in Trümmern liegenden Stadt. Bei den frühen Ausgrabungen des 18. und 19. Jahrhunderts wurden die Skelette in Gegenwart königlicher Besucher und anderer Würdenträger in geziemender Weise »entdeckt« (Abb. 4). Romantische Reisende gerieten außer sich beim Gedanken an die grausame Katastrophe, die über die armen Seelen, deren sterbliche Überreste sie betrachteten, hereingebrochen war; darüber hinaus führte das, was sie hier erlebten, zu allgemeineren Überlegungen über die prekäre Zerbrechlichkeit der menschlichen Existenz. Nachdem sie 1786 die Ausgrabungsstätte besucht hatte, beschrieb Hester Lynch Piozzi – die englische Schriftstellerin, die ihren Nachnamen der Ehe mit einem italienischen Musiklehrer verdankte – diese Reaktionen (und parodierte sie ein wenig): »Wie schrecklich sind die Gedanken, die einem bei einem solchen Anblick kommen! Wie entsetzlich die Gewissheit, dass sich eine solche Szene morgen wiederholen könnte; und dass heutige Betrachter möglicherweise zu Schauobjekten für Reisende eines späteren Jahrhunderts werden, die unsere Gebeine für die von Neapolitanern halten und sie vielleicht wieder in ihre vermeintliche Heimat zurückbringen könnten.«
Abb. 4. Berühmte Pompeji-Besucher ließen sich die Ausgrabungen noch einmal vor Augen fuhren. 1769 begutachtet hier der Kaiser von Österreich ein Skelett, das in einem Haus aufgefunden wurde, das nach ihm den Namen »Haus des Kaisers Joseph II.« trägt. Die Dame in der Gruppe bekundet ein deutlich größeres Interesse.
Eines der bekanntesten Objekte der ersten Ausgrabungsjahre war der Abdruck einer weiblichen Brust, den man in den 1770er Jahren in einem großen Haus (der sogenannten Villa des Diomedes) direkt vor der Stadtmauer entdeckt hatte. Fast ein Jahrhundert bevor die Technik der vollständigen Gipsabgüsse der Körperhohlräume perfektioniert worden war, konnten die Ausgräber hier in den festen Ablagerungen die in der Lava abgebildete komplette Gestalt der Toten, ihre Kleidung und sogar ihre Haare erkennen. Der einzige Teil dieses Materials, das sie mit Erfolg freilegen und erhalten konnten, war diese eine Brust, die, im nahe gelegenen Museum ausgestellt, rasch zu einer Touristenattraktion wurde. Über kurz oder lang wurde sie auch zur Inspirationsquelle von Theophile Gautiers berühmter Novelle Arria Marcella (1852). Diese handelt (in einer verwirrenden Kombination aus Zeitreise, Wunschdenken und Fantasie) von einem jungen Franzosen, der, betört von der Brust, die er im Museum gesehen hat, in die antike Stadt zurückkehrt, um seine Geliebte zu finden oder neu zu erfinden – die Frau seiner Träume, eine der letzten römischen Bewohnerinnen der Villa des Diomedes. Traurigerweise ist die Brust selbst, trotz all ihrer Berühmtheit, schlichtweg verschwunden, und eine größere Suche nach ihr in den 1950er Jahren erbrachte keinerlei Hinweis auf ihr Schicksal. Nach einer Theorie führte die Serie invasiver Tests, die von wissbegierigen Forschern des 19. Jahrhunderts durchgeführt wurde, schließlich zu ihrem Zerfall: Asche zu Asche, könnte man sagen.
Die Macht der pompejanischen Toten ist auch in unserer Zeit noch wirksam. Primo Levis Gedicht »Das Mädchen von Pompeji« bezieht sich auf den Gipsabguss eines kleinen Mädchens, das sich an seine Mutter klammert (»… Mädchen,/Das du dich krampfhaft an die Mutter klammerst,/Als suchtest du von neuem in sie einzudringen,/Zur Mittagsstunde, als sich der Himmel schwärzte«), um über das Schicksal der Anne Frank und eines namenlosen Schulmädchens von Hiroshima nachzusinnen – Opfer eher von menschengemachten als von natürlichen Katastrophen (»Uns genügen vollauf die Leiden, die der Himmel uns schenkt./Bevor ihr den Knopf drückt, haltet ein und sinnt nach.«). Zwei Abgüsse spielen auch in Roberto Rossellinis Film Reise nach Italien (1953) eine kleine Nebenrolle, einem Film, der als »das erste Werk des modernen Kinos« gefeiert wurde, aber kommerziell ein totaler Misserfolg war. In inniger Umarmung, Liebende noch im Tod, erinnern diese beiden Opfer des Vesuvs zwei moderne Touristen (Ingrid Bergman – deren Ehe mit Rossellini damals schon auf der Kippe stand – und George Sanders) auf schmerzliche und erschütternde Weise daran, wie distanziert und leer ihre eigene Beziehung geworden ist. Doch es gibt nicht nur menschliche Opfer, die durch solche Abgüsse erhalten sind. Einer der bekanntesten und eindrucksvollsten ist der eines noch immer an seinen Pflock angeketteten Wachhundes im Hause eines wohlhabenden Walkers (Wäschers und Tuchmachers). Noch im Sterben versuchte er verzweifelt, sich von seiner Kette loszureißen.
Gewiss tragen Voyeurismus und Pathos wie auch makabre Lüsternheit allesamt zur Anziehungskraft dieser Abgüsse bei. Selbst die abgebrühtesten Archäologen ergehen sich bisweilen in reißerischen Beschreibungen ihrer Todeskämpfe oder der Auswirkungen der pyroklastischen Flut auf den menschlichen Körper (»ihre Hirne müssen gekocht haben …«). Die Besucher der Ausgrabungsstätte, wo manche der Abgüsse noch in der Nähe der Fundorte ausgestellt sind, reagieren auf sie wie auf die ägyptischen Mumien: Kleine Kinder pressen mit Schreien des Entsetzens ihre Nase an die Glaskästen, während Erwachsene zu ihren Kameras greifen – wobei auch sie ihre grimmige Faszination über diese Überreste der Toten kaum verbergen können.
Doch Lüsternheit ist nicht alles. Die Wirkung dieser Opfer (ob vollständig in Gips gegossen oder nicht) hängt nämlich auch mit dem Eindruck zusammen, dass sie uns in unmittelbaren Kontakt mit der antiken Welt treten lassen. Dank ihrer können wir menschliche Geschichten ebenso rekonstruieren wie die Alternativen, Entscheidungen und Hoffnungen wirklicher Menschen, in die wir uns über die Jahrtausende hinweg einzufühlen vermögen. Wir müssen keine Archäologen sein, um uns vorzustellen, wie es wäre, wenn wir unser Heim nur mit dem, was wir tragen können, verlassen müssten. Wir können uns in den Arzt hineinversetzen, der sich dazu entschied, die Werkzeuge seines Metiers mitzunehmen, und teilen beinahe sein Bedauern über das, was er zurückzulassen hatte. Wir sind in der Lage, den vergeblichen Optimismus derjenigen zu verstehen, die den Haustürschlüssel in die Tasche steckten, bevor sie sich auf den Weg machten. Sogar jene hässliche kleine Bernstein-Figurine bekommt eine spezielle Bedeutung, wenn wir wissen, dass jemand sie besonders mochte und sie beim endgültigen Verlassen des Hauses schnell noch an sich nahm.
Die moderne Wissenschaft kann diese individuellen Lebensgeschichten ergänzen. Besser als frühere Generationen können wir alle möglichen persönlichen Informationen von den noch erhaltenen Skeletten ableiten: angefangen bei so relativ einfachen Messungen von Größe und Körperbau (die antiken Pompejaner waren, wenn überhaupt, etwas größer als heutige Neapolitaner) über aufschlussreiche Spuren von Kinderkrankheiten und Knochenbrüchen bis hin zu Hinweisen auf Familienbeziehungen und ethnische Herkunft, die sich jetzt durch DNA- und andere biologische Analysen nachweisen lassen. Wahrscheinlich treibt man die Interpretation zu weit, wenn man, wie manche Archäologen es getan haben, behauptet, der spezielle Entwicklungsstand eines jugendlichen Skeletts liefere genügend Indizien dafür, dass der junge Mann einen großen Teil seines kurzen Lebens als Fischer verbracht habe und dass der Verschleiß seiner Zähne auf der rechten Seite dadurch verursacht worden sei, dass er auf der Angelschnur, an der sein Fang hing, herumkaute. Anderswo bewegen wir uns allerdings auf sichererem Boden.
In zwei Hinterzimmern eines herrschaftlichen Hauses wurden z.B. die Überreste von zwölf Personen entdeckt, vermutlich der Eigentümer mit seiner Familie und seinen Sklaven. Sechs Kinder und sechs Erwachsene, darunter eine knapp zwanzigjährige junge Frau, die bei ihrem Tod im neunten Monat schwanger war – die Knochen des Fötus befinden sich noch in ihrem Leib. Möglicherweise war die fortgeschrittene Schwangerschaft der Grund dafür, dass sie alle, das Beste hoffend, beschlossen, lieber im Inneren des Hauses Schutz zu suchen, als eine überstürzte Flucht zu wagen. Die Skelette sind seit ihrer Auffindung im Jahre 1975 nicht allzu sorgfältig konserviert worden (wenn, wie ein Forscher kürzlich darlegte, »die unteren vorderen Backenzähne [eines der Schädel] irrtümlicherweise in die Höhlen der oberen mittleren Schneidezähne eingesetzt wurden«, ist dies kein Beleg für eine dilettantische antike Zahnbehandlung, sondern für eine dilettantische moderne Restaurierung). Fügt man jedoch die verschiedenen anderen Hinweise zusammen – das relative Alter der Opfer, den reichen Juwelenschmuck der schwangeren Frau, die Tatsache, dass sie und ein neunjähriger Junge an derselben genetisch bedingten leichten Rückgratverkrümmung leiden –, können wir uns durchaus ein Bild von der in diesem Haus lebenden Familie machen. Ein älteres Paar, er in den 60ern, sie um die 50 mit deutlichen Zeichen einer Arthritis, waren höchstwahrscheinlich die Hauseigentümer und die Eltern oder Großeltern der jungen Schwangeren. Aufgrund des reichen Schmucks können wir einigermaßen sicher sein, dass sie keine Sklavin war, und die gemeinsamen Rückgratprobleme deuten darauf hin, dass sie eine Blutsverwandte war und nicht in die Familie hineingeheiratet hatte – der neunjährige Junge war also ihr jüngerer Bruder. Wenn dies zutrifft, dann lebte die junge Frau mit ihrem Mann (er war wahrscheinlich in den 20ern und hatte, wie das Skelett zeigt, einen ausgeprägten, entstellenden und zweifellos schmerzvollen Schiefhals nach rechts) entweder bei ihrer Familie, oder die beiden waren für die Geburt in das Elternhaus der Frau zurückgekehrt. Natürlich können sie an dem verhängnisvollen Tag auch nur zufällig zu Besuch gewesen sein. Die anderen Erwachsenen, ein Mann in der 60ern und eine Frau in den 30ern, waren entweder Sklaven oder auch Verwandte.
Ein genauer Blick auf ihre Zähne, mögen sie nun wiedereingesetzt worden sein oder nicht, offenbart weitere Details. Die meisten von ihnen weisen eine Reihe von verräterischen Ringen im Zahnschmelz auf, hervorgerufen durch wiederholte kindliche Infektionskrankheiten – ein klarer Hinweis auf die Gefahren, denen Kleinkinder in der römischen Welt ausgesetzt waren, in der die Hälfte der Neugeborenen nicht einmal zehn Jahre alt wurde. (Die gute Nachricht ist, dass man, wenn man das Alter von zehn erreicht hatte, erwarten konnte, noch 40 oder mehr Jahre zu leben.) Die klar nachweisbare Karies, auch wenn sie nicht so verbreitet war wie in den modernen westlichen Ländern, deutet auf eine zucker- und stärkereiche Ernährung. Bei den Erwachsenen waren nur beim Ehemann der schwangeren Frau keine Zeichen von Karies festzustellen. Allerdings litt er, wie sich wiederum aus seinem Zahnstatus erschließen lässt, an einer Fluoridvergiftung, weil er vermutlich außerhalb von Pompeji aufgewachsen war, in einem Gebiet mit einem ungewöhnlich hohen Anteil an natürlichen Fluoriden. Am auffälligsten ist, dass alle Skelette, selbst die der Kinder, einen starken Zahnsteinbefall aufweisen – manchmal von mehreren Millimetern. Der Grund dafür liegt auf der Hand. Es mag Zahnstocher gegeben haben, sogar die eine oder andere raffinierte Mixtur zum Polieren und Aufhellen der Zähne (in einem Buch pharmakologischer Rezepturen beschreibt der Leibarzt des Kaisers Claudius die Mischung, die angeblich der Kaiserin Messalina zu ihrem schönen Lächeln verhalf: gebranntes Hirschhorn, Harz und Steinsalz). Doch es war eine Welt ohne Zahnbürsten. Pompeji muss eine Stadt mit einem sehr üblen Mundgeruch gewesen sein.
Frauen vor der Niederkunft, noch immer an ihre Pflöcke angekettete Hunde und eine deutliche Wolke üblen Mundgeruchs … Das sind denkwürdige Vorstellungen vom normalen Alltag in einer römischen Stadt, der plötzlich mittendrin unterbrochen wurde. Und es gibt noch sehr viel anderes: die in einem Ofen gefundenen Brotlaibe, die man, während sie noch buken, dort zurückgelassen hatte; die Gruppe von Malern, die, als sie gerade einen Raum renovierten, das Weite suchten und ihre Farbtöpfe und einen Eimer mit frischem Gips hoch oben auf einem Gerüst stehen ließen – als dieses bei dem Vulkanausbruch einstürzte, verbreitete sich der Inhalt des Eimers über die sorgfältig präparierte Wand und hinterließ eine dicke Kruste, die man noch heute sehen kann (vgl. S. 167–172). Aber wenn man ein wenig an der Oberfläche kratzt, zeigt sich, dass die Geschichte Pompejis noch viel komplizierter und faszinierender ist. In vielerlei Hinsicht ist Pompeji nicht das antike Gegenstück der Marie Céleste, des im 19. Jahrhundert auf mysteriöse Weise verlassenen Schiffs, bei dem (angeblich) die gekochten Eier noch auf dem Frühstückstisch standen. Pompeji ist keine einfach nur jäh eingefrorene römische Stadt.
Zunächst einmal hatten die Menschen von Pompeji bereits Stunden, wenn nicht Tage vorher die Warnzeichen gesehen. Der einzige uns vorliegende Augenzeugenbericht des Vulkanausbruchs besteht aus zwei – 25 Jahre nach den Ereignissen verfassten – Briefen, die der Historiker Tacitus von seinem Freund Plinius, der zum Zeitpunkt der Katastrophe am Golf von Neapel weilte, erhalten hat. Diese Briefe, die erst im nachhinein geschrieben wurden und zweifellos fantasievoll ausgeschmückt sind, machen deutlich, dass eine Flucht sogar noch möglich gewesen wäre, nachdem sich die Wolke »in Form einer Schirmpinie« über dem Krater des Vesuvs gezeigt hatte. Plinius’ Onkel, das berühmteste Opfer des Vulkanausbruches, kam nur um, weil er Asthmatiker war und weil er den Mut – oder die Dummheit – besaß, im Interesse der Wissenschaft einen näheren Blick auf das, was vor sich ging, zu werfen. Und wenn es, wie manche Archäologen heute meinen, mehrere Erdstöße und kleinere Beben in den Tagen oder Monaten vor der endgültigen Katastrophe gegeben habe, dann müssen diese auch den Menschen nahegelegt haben, das Gebiet zu verlassen. Denn nicht nur Pompeji selbst wurde bedroht und schließlich verschlungen, sondern auch weite Landstriche südlich des Vesuvs, einschließlich der Städte Herculaneum und Stabiae.
Viele haben tatsächlich die Flucht ergriffen, wie die Zahl der in der Stadt gefundenen Leichname beweist. Etwa 1100 wurden bei den Ausgrabungen zutage gefördert. Wir müssen aber noch diejenigen hinzurechnen, die in den bisher nicht ausgegrabenen Teilen der Stadt ums Leben kamen (etwa ein Viertel des antiken Pompeji ist noch unerforscht) sowie die menschlichen Überreste derer, die bei früheren Ausgrabungen übersehen wurden (Kinderknochen können leicht für Tierknochen gehalten und folglich aussortiert werden). Aber selbst wenn man all dies berücksichtigt, dürften nicht mehr als 2000 Bewohner der Katastrophe zum Opfer gefallen sein. Wie hoch die Einwohnerzahl auch gewesen sein mag – die Schätzungen bewegen sich zwischen 6400 und 30000 (abhängig von der angenommenen Bevölkerungsdichte und dem gewählten modernen Vergleichsmaßstab) –, es war nur ein kleiner oder sehr kleiner Prozentsatz.
Die Menschen, die vor dem Bimssteinregen flohen, hatten wohl nur das, was sie an sich nehmen und tragen konnten, bei sich. Wer mehr Zeit hatte, konnte gewiss mehr von seinem Besitz retten. Als sich die Mehrheit der Bevölkerung auf den Weg machte, kam es, so müssen wir uns vorstellen, zu einem Massenauszug aus der Stadt mit Eseln, Wagen und Schubkarren, vollbeladen mit der größtmöglichen Menge an Hausrat. Weil sie zurückkehren wollten, wenn die Gefahr vorüber wäre, trafen manche die falsche Entscheidung und versteckten ihre wertvollsten Besitztümer. So lassen sich einige der herrlichen Schätze erklären – in Häusern in und um Pompeji hat man z.B. atemberaubende Sammlungen von Silbersachen gefunden (vgl. S. 299f.). Doch was den Archäologen heute hauptsächlich zu erforschen bleibt, ist eine Stadt nach dem Auszug der Bewohner, die in aller Eile ihre Sachen packten und die Flucht ergriffen. Teilweise mag dies der Grund dafür sein, wieso die Häuser von Pompeji so spärlich möbliert und so aufgeräumt zu sein scheinen. Die ästhetischen Vorlieben des 1. Jahrhunderts n.Chr. können unmöglich einer Art modernistischem Minimalismus entsprochen haben. Sehr wahrscheinlich waren ganze Wagenladungen mit Haushaltskrimskrams von den Eigentümern, die sich nicht davon trennen konnten, in großen Mengen abtransportiert worden.
Auf diesen eiligen Aufbruch könnten ebenfalls manche der Seltsamkeiten, denen wir in den Häusern der Stadt begegnen, zurückzuführen sein. Wenn man z.B. in einem Raum, der offenbar ein prächtiger Speisesaal war, auf eine Reihe von Gartengeräten stößt, könnte man annehmen – so überraschend das auch für uns sein mag –, dass sie üblicherweise dort aufbewahrt wurden. Es könnte aber auch sein, dass in der Aufregung des Abschieds, als die Habseligkeiten zusammengesucht wurden und man überlegte, was man mitnehmen solle und was nicht, der Spaten, die Hacke und die Schubkarre hier zufällig zurückgeblieben sind. Selbst wenn einige Bewohner ihren täglichen Geschäften weiter nachgingen, so als gäbe es ein Morgen, war dies keine normale Stadt mit ihrer normalen Betriebsamkeit. Es war eine Stadt auf der Flucht.
In den Wochen und Monaten nach dem Vulkanausbruch kamen auch tatsächlich viele Überlebende zurück, um die zurückgelassenen Dinge wieder an sich zu nehmen oder um wiederverwendbares Material, so wie Bronze, Blei oder Marmor, aus der verschütteten Stadt zu bergen (oder zu stehlen). Da man hoffte, sie später in Besitz zu nehmen, mag das Verstecken der Wertsachen nicht ganz so unklug gewesen zu sein, wie es heute scheint. In vielen Teilen Pompejis gibt es nämlich deutliche Hinweise auf ein erfolgreiches Eindringen in die Häuser, durch die vulkanischen Schuttmassen hindurch. Ob es nun die rechtmäßigen Eigentümer oder ob es Räuber und Schatzsucher waren, die hier ihr Glück versuchten: Sie gruben Tunnel in die Häuser der Reichen, wobei sie manchmal, da sie sich von einem verschütteten Raum zum nächsten vorarbeiteten, eine Spur von Löchern hinterließen. Einen erhellenden Einblick in ihre Aktivitäten geben zwei Wörter, die an den Haupteingang eines großen Hauses geritzt sind, das, als es von Ausgräbern des 19. Jahrhunderts gefunden wurde, fast leer war: Sie lauten: »Haus durchsucht« und können kaum von einem Eigentümer stammen. Also wollte vermutlich ein Plünderer dem Rest der Bande mitteilen, dass dieses Haus »erledigt« sei.
Wir wissen fast nichts über die Identität dieser Tunnelgräber (doch die Tatsache, dass die Nachricht zwar in lateinischer Sprache, aber in griechischen Buchstaben verfasst ist, beweist, dass sie zweisprachig waren und der griechisch-römischen Gesellschaft Süditaliens, mit der wir uns in Kapitel 1 befassen werden, angehörten). Ebenso wenig wissen wir, wann genau sie ihre Raubzüge durchführten: Römische Münzen, die nach dem Vulkanausbruch geprägt und in den Ruinen Pompejis aufgefunden wurden, datieren aus der Zeit zwischen dem ausgehenden 1. und dem Beginn des 4. Jahrhunderts n.Chr. Doch wann und warum auch immer spätere Römer den Entschluss fassten, sich einen Weg in die verschüttete Stadt zu graben – es war ein äußerst riskantes Unterfangen, getragen von der Hoffnung, größere Mengen des Familienvermögens wiederzufinden oder reiche Beute zu machen. Die Tunnel müssen gefährlich, düster und eng gewesen sein und teilweise konnten – wenn man nach der Größe der Löcher in manchen Wänden gehen kann – nur Kinder durch sie hindurchkriechen. Selbst wenn man sich in Hohlräumen, die von Vulkanschutt frei waren, einigermaßen ungehindert bewegen konnte, musste man immer mit dem plötzlichen Einsturz der Wände und Decken rechnen.
Ironischerweise sind einige der aufgefundenen Skelette mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht die Überreste von Opfern des Vulkanausbruchs, sondern von Menschen, die in den späteren Monaten, Jahren oder Jahrhunderten eine Rückkehr in die Stadt riskierten. So wurden z.B. in einem eleganten Raum an einem als Garten angelegten Innenhof des Hauses des Menander – ein moderner Name, abgeleitet von dem hier gefundenen Gemälde des griechischen Dramatikers Menander (vgl. Abb. 44) – die Überreste von drei – mit Pickel und Hacke ausgestatteten – Personen entdeckt, zwei Erwachsenen und einem Kind. Waren sie, wie manche Archäologen glauben, Bewohner, vielleicht Sklaven, die, als das Haus verschüttet wurde, versuchten, sich einen Weg aus dem Haus zu bahnen und bei dieser Aktion ums Leben kamen? Oder handelte es sich, wie andere vermuten, um eine Gruppe von Plünderern, die in das Haus eindringen wollten und vielleicht getötet wurden, als der unsichere Stollen über ihnen zusammenbrach?
Dieses Bild einer paralysierten Stadt ist durch eine frühere Naturkatastrophe noch komplizierter geworden. 17 Jahre vor dem Vesuvausbruch, im Jahre 62 n.Chr., wurde die Stadt durch ein Erdbeben schwer beschädigt. Nach dem Historiker Tacitus »stürzte ein großer Teil von Pompeji ein«. Und dieses Ereignis ist mit ziemlicher Sicherheit auf zwei Reliefplatten dargestellt, die im Hause eines pompejanischen Bankiers, Lucius Caecilius Iucundus, gefunden wurden. Sie zeigen zwei Örtlichkeiten der Stadt, die von dem Beben erschüttert wurden: das Forum und das Gelände um das nördliche in Richtung Vesuv gelegene Stadttor. Auf einem Relief neigt sich der Tempel des Iuppiter, der Iuno und Minerva auf beängstigende Weise nach links; die Reiterstatuen auf beiden Seiten des Tempels scheinen fast lebendig zu werden, die Reiter haben sich aus ihren Sätteln erhoben (Abb. 5). Auf dem anderen Relief schwankt die Porta Vesuviana verdächtig nach rechts und entfernt sich von dem großen Wasserturm zu ihrer Linken. Dieses Unglück wirft einige der kniffligsten Fragen in der Geschichte von Pompeji auf. Wie wirkte es sich auf das städtische Leben aus? Wie lange brauchte die Stadt, um sich wieder zu erholen? Erholte sie sich überhaupt? Oder lebten die Pompejaner im Jahre _79 noch immer in einem Trümmerhaufen, da das Forum, die Tempel und Thermen, ganz zu schweigen von zahlreichen Privathäusern, noch nicht wiederaufgebaut waren?
Abb. 5. Der Kupferstich zeigt eine von zwei fast einen Meter breiten Reliefplatten. Dargestellt ist das Erdbeben des Jahres 62 n.Chr. Auf der linken Seite sieht man den zur Seite schwankenden Tempel des Iuppiter, der Iuno und Minerva auf dem Forum. Rechts wird ein Opfer vollzogen. Ein Stier wird zum Altar gebracht, während um die Szene verschiedene Opferwerkzeuge verstreut sind – ein Messer sowie Schüsseln und Opferschalen.
Dazu gibt es jede Menge Theorien. So soll es z.B. in Pompeji nach dem Erdbeben zu einer sozialen Revolution gekommen sein. Viele der alteingesessenen Aristokraten hätten sich entschlossen, der Stadt für immer den Rücken zu kehren, höchstwahrscheinlich um sich in einem anderen Anwesen der Familie niederzulassen. Ihre Abreise habe nicht nur den Aufstieg von ehemaligen Sklaven und anderen Neureichen ermöglicht, sondern auch zum »Niedergang« von einigen der eleganteren Häuser Pompejis geführt, die umgehend in Walkereien, Bäckereien und Wirtshäuser umgewandelt oder für andere kommerzielle oder industrielle Zwecke genutzt worden seien. Tatsächlich könnten die Gartenwerkzeuge im Speisesaal auf eine solche Nutzungsänderung hindeuten: Einer einst exklusiven Villa war durch neue Bewohner, die aus ihr einen Gärtnereibetrieb gemacht hatten, ein dramatischer Abstieg beschieden.
Mag ja sein. Und hier könnte ein weiterer Grund dafür vorliegen, weshalb der Zustand der Stadt, als sie im Jahre 79 verschüttet wurde, keinesfalls als »normal« zu bezeichnen ist. Wir können jedoch nicht sicher sein, dass alle diese Veränderungen eine unmittelbare Folge des Erdbebens waren. Vermutlich wurden manche dieser Häuser bereits vor der Katastrophe einfach so zu Gewerbetrieben umfunktioniert. Einige – wenn nicht die meisten – dieser Umwidmungen sind höchstwahrscheinlich auf die üblichen Verlagerungen von Reichtum, Nutzung und Prestige zurückzuführen, die die Geschichte einer jeden – antiken wie modernen – Stadt kennzeichnen. Ferner sollte man die etwas dünkelhaften Vorurteile bei so manchen modernen Archäologen nicht übersehen, die soziale Mobilität und den Aufstieg eines neuen Geldadels ohne große Bedenken mit Revolution oder Verfall gleichsetzen.
Es wird auch gerne die Behauptung aufgestellt, im Jahre 79 seien die langwierigen Reparaturmaßnahmen in Pompeji noch nicht abgeschlossen gewesen. Soweit uns die archäologischen Befunde darüber Auskunft geben, war Tacitus’ Feststellung, dass »ein großer Teil Pompejis einstürzte«, eine ziemliche Übertreibung. Aber der Zustand etlicher öffentlicher Gebäude (79 war z.B. nur eine einzige öffentliche Thermenanlage voll betriebsfähig) und die Tatsache, dass, wie wir noch sehen werden, zum Zeitpunkt des Vulkanausbruchs in so vielen Privathäusern Dekorateure am Werk waren, deuten nicht nur auf beträchtliche Schäden, sondern auch auf ihre noch ausstehende Beseitigung. Wenn in einer römischen Stadt 17 Jahre lang die meisten öffentlichen Bäder außer Betrieb, etliche Haupttempel unbenutzbar und die Privathäuser in keinem ordnungsgemäßen Zustand sind, lässt dies entweder auf eine schwere Finanznot schließen oder auf einen beunruhigenden Grad institutioneller Unfähigkeit oder beides. Was um Himmels willen hatte der Stadtrat fast zwei Jahrzehnte lang gemacht? Hatte er sich zurückgelehnt und zugesehen, wie der Ort zerfiel?
Aber auch hier ist nicht alles so, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag. Können wir sicher sein, dass all die Reparaturen, die zum Zeitpunkt der Katastrophe durchgeführt wurden, durch das Erdbeben verursacht worden waren? Wenn man einmal von der offenkundigen Tatsache absieht, dass es in jeder Stadt fast immer eine ausgedehnte Bautätigkeit gibt (die Instandsetzungs- und Bauindustrie bildet das Zentrum des städtischen Lebens, in der Antike ebenso wie in der Moderne), stellt sich die Frage, ob es ein oder mehrere Erdbeben gegeben hat. In diesem Punkt sind die Archäologen, die Pompeji erforschen, heftig zerstritten. Manche sind noch immer fest davon überzeugt, dass es nur im Jahre 62 ein verheerendes Beben gegeben habe und dass die Stadt in der Tat ein solcher Trümmerhaufen gewesen sei, dass viele Reparaturen auch Jahre später noch nicht abgeschlossen waren. Die Mehrheit der Wissenschaftler weist jetzt daraufhin, dass es in den Tagen und vielleicht Monaten vor dem Vulkanausbruch zu etlichen Erdstößen gekommen sein müsse. Das wäre, wie uns Vulkanologen bestätigen, vor einem größeren Vulkanausbruch zu erwarten und stimmt auf jeden Fall mit der Darstellung des Plinius genau überein: »Vorangegangen waren mehrere Tage lang nicht eben beunruhigende Erdstöße.« Falls gerade so viele Malerarbeiten ausgeführt wurden, dann, so wird argumentiert, galten sie viel eher der Ausbesserung von unlängst aufgetretenen Schäden und waren kein verspäteter oder zeitlich unpassender Versuch, das Chaos von 17 Jahren endlich zu beheben.
Abb. 6. Der Isis-Tempel gehörte zu den Hauptattraktionen für frühe Touristen, Schriftsteller und Musiker. Sowohl der junge Mozart als auch Edward Bulwer-Lytton, der Autor von Die letzten Tage von Pompeji, ließen sich von ihm inspirieren. Dieser Kupferstich zeigt in der Mitte den Haupttempel und links die kleine gemauerte Einfriedung, in der sich ein Becken mit Wasser befand, das bei den Isis-Ritualen verwendet wurde.
Was den Zustand der Stadt im allgemeinen und besonders den der öffentlichen Gebäude betrifft, so wird auch hier wieder das Bild durch die späteren Plünderungen verkompliziert. Zweifellos lagen im Jahre 79 einige öffentliche Bauwerke in Trümmern. Ein mit Blick aufs Meer errichteter riesiger Tempel, nach verbreiteter Ansicht der Göttin Venus geweiht, war noch immer eine Baustelle – anscheinend sollte er in noch größerem Stile als der ursprüngliche Tempel wiederaufgebaut werden. Andere Heiligtümer waren wieder voll funktionsfähig. Im Isis-Tempel beispielsweise, der neu gebaut und mit Gemälden, die heute zu den berühmtesten der Stadt zählen, reich geschmückt worden war, nahm alles seinen gewohnten Gang (vgl. Abb. 6).
Die Beschaffenheit des Forums zur Zeit des Vesuvausbruchs stellt uns jedoch erst recht vor ein Rätsel. Nach Meinung mancher war es eine kaum restaurierte halbverlassene Ruine. Wenn dies zutrifft, würde es zumindest darauf hindeuten, dass die Prioritäten der Pompejaner, um es freundlich zu formulieren, nicht mehr dem kommunalen Leben galten. Schlimmstenfalls könnte man auf den völligen Zusammenbruch staatlicher Institutionen schließen, dem aber (wie wir noch sehen werden) andere Befunde eindeutig widersprechen. Vor nicht allzu langer Zeit hat man anklagend auf Bergungstrupps oder Plünderer verwiesen, die nach der Katastrophe hier ihr Unwesen trieben. Demnach wären große Teile des Forums wieder instandgesetzt und renoviert worden. Aber da sie von all den unlängst angebrachten teuren Marmorverkleidungen wussten, führten die Einheimischen Grabungen durch, um diese Platten kurz nach der Verschüttung der Stadt an sich zu bringen. Sie schlugen sie von den Mauern ab, die dann für alle Welt so aussahen, als seien sie nicht wieder aufgebaut worden oder einfach nur zerfallen. Die Marodeure dürften es natürlich auch auf die zahlreichen teuren Bronzestatuen, die diese Piazza schmückten, abgesehen haben.
Diese Debatten und Meinungsverschiedenheiten sorgen auf den archäologischen Kongressen weiterhin für Zündstoff. Sie führen zu Kriegen unter den Gelehrten und liefern den Studenten Stoff für ihre Referate. Aber zu welchen Ergebnissen man letztlich (wenn überhaupt) kommen mag, eines ist absolut klar: »Unser« Pompeji ist keine römische Stadt, die ihren normalen Tagesgeschäften nachging und die dann einfach »jäh eingefroren wurde«, wie so viele Reiseführer und Touristenbroschüren behaupten. Der Ort ist weitaus faszinierender und verlangt uns sehr viel mehr ab. Paralysiert und zerstört, evakuiert und geplündert, zeigt er die Merkmale (und Narben) von allen möglichen unterschiedlichen Geschichten, die wir in diesem Buch erzählen werden und die das unterstreichen, was wir als das »Paradox von Pompeji« bezeichnen könnten: Wir wissen über das antike Leben hier unendlich viel und zugleich sehr wenig.
Abb. 7. Diese aus Pompeji stammende antike Version unserer gynäkologischen specula erscheint uns auf unheimliche Weise vertraut. Obwohl einige Teile fehlen, ist klar, dass die »Arme« des Instruments durch das Drehen des T-förmigen Griffs geöffnet wurden.
Selbstverständlich gibt es kaum einen anderen Ort der römischen Welt, wo uns wirkliche Personen und ihre Lebensrealität so anschaulich vor Augen geführt werden wie in Pompeji. Wir treffen auf unglücklich Verliebte (»Der Weber Successus liebt Iris, die Magd der Schankwirtin, die sich aber nichts aus ihm macht«, wie ein hingekritzeltes Graffito lautet) und auf schamlose Bettnässer. (»Wir haben ins Bett gepinkelt, Wirt, ich gestehe, wir haben etwas falsch gemacht. Wenn du fragst: Warum? Es war kein Nachttopf da«, heißt es in einem großspurigen Vers an der Schlafzimmerwand einer Herberge.) Wir können die Spuren pompejanischer Kinder nachverfolgen. Da gibt es den Knirps, dem es großen Spaß gemacht haben muss, ein paar Münzen in den frischen Putz der großen Halle, des Atriums, eines eleganten Hauses zu stecken, wobei er mehr als 70 Abdrücke genau über dem Fußboden hinterließ (damit lieferte er unbeabsichtigt auch einen schönen Beleg für die Datierung der Dekoration); ferner die gelangweilten Kinder, die am Eingang zu einer Badeanlage eine Reihe von Strichmännchen auf Kinderhöhe zeichneten, als sie, vor sich hinkritzelnd, vielleicht darauf warteten, dass ihre Mütter aus dem Dampfbad kämen. Ganz zu schweigen von den Pferdegeschirren mit ihrem Glockengeläut, den schauerlichen medizinischen Instrumenten (vgl. Abb. 7), den merkwürdigen Küchengeräten von (falls unsere Interpretation stimmt) Eierpochiertöpfen bis hin zu Mousseformen (vgl. Abb. 78) oder jenen irritierenden Darmparasiten, deren Spuren sich noch nach 2000 Jahren am Rand eines Toilettenbeckens nachweisen lassen – all dies hilft uns nachzuvollziehen, was die Pompejaner sahen, hörten und fühlten.
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