Das Buch

Viele Jahrhunderte wuchs das Heilige Reich Salischer Völker, bis es beinahe ganz Elyrdan umschloss. Nun ist der Vormarsch seiner Armeen zum Erliegen gekommen. Sein Herrscher, der alte Kaiser, ist gebrechlich, die Fürsten streiten sich um ihre Pfründe, und die Seher kehren immer öfter ohne Antworten von den Traumfeldern zurück. Doch die eigentliche Gefahr ahnt noch niemand. Denn unbemerkt hat die ehrgeizige Oberbefehlshaberin des Nachbarlandes Chimrien ein Artefakt erlangt, das ihr unbegrenzte Macht zu verheißen scheint – eine seltsam schimmernde Krone. Als sie mit ihrem Heer über den Grenzfluss Tern zieht und das Kaiserreich überfällt, ist niemand dort auf diesen Überfall vorbereitet, erst recht nicht auf die gewaltigen Kräfte, die sie mithilfe der Krone entfesselt. Eine Stadt nach der anderen fällt, und schon bald brennt der Chimmgau, die Westgrenze des Salenreiches. Und während die Fürsten eilends Truppen mobilisieren, droht von einer ganz anderen Seite neue Gefahr – denn auf den Traumfeldern, wo die Seher nach den Ewigen Wispern der Prophezeiung suchen, breitet sich ein namenloses Grauen aus. Das Ende eines Zeitalters dämmert herauf …

Der Autor

Matthias Oden studierte Geschichte, Politikwissenschaft und Ethnologie. Nach einem Volontariat bei der Financial Times Deutschland arbeitete er als Redakteur in verschiedenen Zeitschriften und wurde mit dem Hans-Strothoff- und dem Deutschen Journalistenpreis ausgezeichnet. Sein Debütroman »Junktown« erregte bereits Aufsehen, und nun legt er mit »Die Krone der Elemente« sein großes Fantasy-Epos vor. Matthias Oden lebt mit seiner Familie in München.

MATTHIAS ODEN

Die Chroniken der Träume

Erster Roman

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

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Redaktion: Catherine Beck
Copyright © 2019 by Matthias Oden
Copyright © 2019 dieser Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Karten und Illustrationen: Andreas Hancock
Umschlaggestaltung: DAS ILLUSTRAT, München
Satz: Leingärtner, Nabburg
ISBN: 978-3-641-22815-6
V002
@HeyneFantasySF
www.heyne.de

Meiner Frau

Inhalt

PROLOG

DIE KRONE DER ELEMENTE

Verzeichnis der handelnden Personen

Verzeichnis der Länder und Völker

Danksagung

Karten

Die Welt von Elyrdan

Der Chimmgau

PROLOG

Winter

Seit er wusste, dass sie ihn töten würden, träumte er vom Sommer. Es war immer derselbe Traum. Marwult durchlebte noch einmal die Reise, zu der er und sein Erster Reiter Einarc vor fünf Monaten aufgebrochen waren. Von Streitheim aus ging es nach Norden, immer den Tern entlang und dann hinein in den Schwarztann. Schon einmal hatten sie dorthin ihre Pferde gelenkt, vor sieben oder acht Jahren, aber sie waren nur durch die Randgebiete des Walds gereist. Dieses Mal ging es tief hinein. Der Traum folgte ihrer Reise, setzte seine Erinnerungen an jene Wochen fließend aneinander und arrangierte sie neu. Er baute aus den Bildern etwas, das noch immer vertraut war, aber eine zusätzliche, märchenhaftere Dimension bekam. Der Schwarztann war die abgeschiedenste Gegend seiner gesamten Mark, ein Gebiet, das einen großen Teil von ihr bedeckte, aber nur spärlich besiedelt war. Die wenigen verschlungenen Wege, die es in ihm gab, führten zu entlegenen Ortschaften, die ein eigenbrötlerischer Schlag Menschen bewohnte, wortkarg und misstrauisch gegenüber Fremden und vor allem daran gewöhnt, von der Welt da draußen in Ruhe gelassen zu werden. Nicht wenige der Pfade endeten im Nichts, verliefen sich und zwangen sie zur Umkehr, wenn der Wald zu dicht wurde, um sich einen eigenen Weg zu suchen. Oft mussten sie absitzen und die Pferde hinter sich führen. Auf ihrer Reise kamen sie an einsamen Gehöften und Meilern vorbei, die plötzlich unter den Tannen auftauchten und ebenso schnell wieder verschwanden, an kleinen Erdschreinen, auf denen frische Votivgaben lagen, obwohl niemand in der Nähe zu sein schien, und an halb wieder zugewucherten Lichtungen, die einmal Siedlungen gewesen, aber aus wer weiß welchen Gründen aufgegeben worden waren. Einmal im Jahr unternahm er eine Reise durch seine Mark, um Land und Leute auf eine Art kennenzulernen, die vom Grafenthron aus nicht möglich war. Viel hatte er so gelernt in den vergangenen drei Jahrzehnten, doch keine seiner Fahrten war von solch fremdartiger Schönheit gewesen wie diese letzte.

Der Traum machte aus ihr ein Kaleidoskop aus Grün und Braun und Schwarz und Licht, in dem eine Szene auftauchte, um langsam in eine andere hinüberzugleiten, manchmal mehr Stimmung als Bild. Immer weiter drangen sie in den Schwarztann vor, bis sie schließlich auch die letzten Zeugnisse menschlicher Anwesenheit hinter sich ließen und Gebiete des Walds betraten, in denen seit Jahrhunderten niemand mehr gewesen war. Weiß leuchtende Schmetterlinge tanzten flatternd zwischen den Stämmen; Wildkatzen sonnten sich auf umgestürzten Baumriesen und blinzelten ihnen träge hinterher, Rotwild sah bei ihrem Anblick zwar verwundert, aber ohne Scheu vom Äsen auf. Der Schwarztann war ein wundersamer Ort, und je tiefer sie in ihn eintauchten, desto mehr verloren sie sich in seinem von der Zeit vergessenen Zauber. Galt das schon für den echten, so zog ihn der Schwarztann seines Traums noch in einen ungleich stärkeren Bann. Er wusste, dass er träumte, aber das änderte nichts daran, dass er voll Ehrfurcht die Wunder bestaunte, die ihm der Wald offenbarte. Er wusste auch, wie der Traum enden würde, aber es spielte keine Rolle, weil Zeit bedeutungslos war. Hier gab es nur einen ewigen Spätsommernachmittag, an dem der Blütenstaub reglos und golden in der Luft hing. Und still war es. Ab und an hörten sie einen Specht hämmern oder einen Kauz rufen, raschelte das Unterholz, wenn ein Dachs ihren Weg kreuzte oder ein Fuchs. Aber von diesen wenigen Momenten abgesehen blieb der Wald erfüllt von andächtiger Lautlosigkeit, die nach Moos duftete und nach Tannenharz und alten, längst vergessenen Geheimnissen.

Natürlich rankten sich Sagen und Märchen um den Schwarztann, von verwunschenen Türmen, Kobolden und Ewigen Jägern, von Quellen, die Wünsche erfüllten, und Übergängen auf die Traumfelder, durch die das Dunkelvolk herüberkam. Natürlich fanden sie nichts dergleichen, nicht einmal in seinem Traum. Was sie fanden, war durch und durch von dieser Welt; es sollte Einarc das Leben kosten und ihn selbst schier verzweifeln lassen über der Suche nach einem Sinn.

Sie fanden ein Loch.

Jede Nacht war es dasselbe: Die Atmosphäre des friedlich schlummernden Walds änderte sich abrupt mit den Hammerschlägen, die durch sein Unterholz drangen. Sie wurde gleißend und scharf, und die Aufregung pulste durch seinen Körper. Die schrille Kadenz der Schläge von Metall auf Metall trieb sie nach vorne, und zusammen mit Einarc stolperte er auf die große, kreisrunde Lichtung, auf der Holzhütten und Zelte standen, Werkstätten und ein Sägewerk, und auf der Ochsenkarren Aushub aus einem Loch karrten, das den Durchmesser eines Dorfplatzes hatte.

Der Traum türmte diese Eindrücke schnell aufeinander, hart wie die Schläge, die aus der holzverschalten Grube hallten: die Rampe für die Karren, die Erdmassen am anderen Ende der Lichtung, die Arbeiter mit ihren Schaufeln, Spitzhacken und Setzhämmern und die Waffenröcke mit dem feindseligen Wappen des Herzogtums.

Er hatte sein Leben lang ein wachsames Auge auf die andere Seite des Terns gehabt; es war sein heiliger Auftrag, das Reich vor dem Land im Westen zu schützen. Über den Fluss hatte es sich nie gewagt, aber es hatte auch nie seinen Frieden damit gemacht, dass die Macht des Kaisers bis an seine Ufer reichte. Der Chimmgau war sein, war Marwults Lehen, seine Mark, aber für das Herzogtum Chimrien war es ein Land, das ihm entrissen worden war. Und die Wacht am Tern war alles, was es daran hinderte, sich dieses Land zurückzuholen. Es war ein Schock für ihn, jede Nacht aufs Neue, die Männer und Frauen mit dem schwarzen Falken auf der weißen Brust zu sehen. Dort auf der Lichtung, auf ihrer Seite des Terns, auf Boden, der dem Reich gehörte.

Jede Nacht war dies der Moment, in dem er sich aufzuwachen wünschte. Aber nie ließ ihn der Traum gehen.

Er musste erst noch einmal den Schrecken durchleben, der ihn an jenem Sommertag übermannt hatte. Noch einmal den Ruf hören und das Deuten sehen, mit dem eine der Wachen die anderen auf sie aufmerksam machte. Noch einmal in wilder Panik zurück in den Wald stürzen, durchs Unterholz hindurch zu den Pferden, die sie zurückgelassen hatten, als sie den Schlägen entgegengestürmt waren.

Noch einmal musste der Schwarztann um sie herum plötzlich in Bewegung geraten, als die Verfolger von allen Seiten zu kommen schienen, sie einholten und umzingelten. Und noch einmal musste Einarc zum Schwert greifen, um sich den Weg freizukämpfen, und einen Speer durch die Brust bekommen.

Dann erst, mit dem brechenden Blick seines Gefährten vor Augen, wachte er auf.

Wie in jeder der Nächte zuvor war er auch dieses Mal durchnässt von Schweiß.

Er lag im Dunkeln, regungslos, und wartete darauf, dass sich sein Atem wieder beruhigte. Wie immer blieben die Gedanken bei diesem Tag im Sommer, der Einarc das Leben und ihm die Freiheit genommen hatte. Er versuchte, sich einen Reim auf das Gesehene zu machen, aber das war inzwischen nur noch eine Gewohnheit: Er hatte längst die Hoffnung aufgegeben, einen zu finden.

Das Herzogtum grub im Chimmgau, in der tiefsten Tiefe des Schwarztanns, ein Loch. Es tat dies heimlich, ohne jedes Recht, und es tötete, um dieses Geheimnis zu wahren. Auch er wäre zweifellos noch an Ort und Stelle umgebracht worden, hätte nicht einer ihrer Häscher den Siegelring erkannt, den er an der Hand trug. Namenlose, zufällig des Wegs kommende Fremde zu töten war eine Sache, aber eine andere, dasselbe mit einem der höchsten Edlen des Reiches zu machen. Nur änderte das nichts an der Rätselhaftigkeit des Ganzen.

Das Herzogtum suchte etwas, so viel stand für ihn fest. Aber was dieses Etwas sein mochte, entzog sich seiner Vorstellungskraft. Nichts, was er sich ausdenken konnte, gab diesem gewaltigen Loch auf der Lichtung einen Sinn. Wofür riskierte das Herzogtum so viel, was war es wert, dass man ihn, einen Markgrafen des Reiches, gefangen nahm?

Natürlich hatte er diese Fragen gestellt, erst Einarcs Mördern, dann jenem jungen Mann im Hütergewand, dem er auf der Lichtung vorgeführt worden war und der die Ausgrabung zu leiten schien. Schließlich, als man ihn fort und über den Tern gebracht hatte, seiner Kerkermeisterin, der Edelfreien Dagrun, einer Frau, die er mehrmals bei sich in Streitheim zu Gast gehabt hatte. Schweigen war stets die einzige Antwort gewesen. Und so war bis jetzt nur eines klar: Was immer auch das Herzogtum suchte, es gehörte dem Kaiser, nicht dem Kind auf dem Hohen Thron in Arikskilde. Dort draußen im Schwarztann ging ein Diebstahl vonstatten oder war inzwischen bereits beendet, und er war der Einzige, der dem Reich davon Kunde bringen konnte.

Wie immer, wenn seine Grübeleien ihn an diesen Punkt gebracht hatten, beschleunigte sich sein Puls abermals. Zorn und Hilflosigkeit ließen ihn endgültig wach werden.

Was hatte er getobt, als sie ihn auf die Skjorborg zu Dagrun brachten! Die ersten Tage waren die schlimmsten gewesen. Er raste und schrie und fluchte, er wünschte Dagrun und ihre Leute in einem Moment nach Dunkelwelten, im nächsten an die höchsten Galgen des Reiches. Er malte die düstersten Szenarien für das Herzogtum an die Wand, das sich erdreistete, ihn gegen seinen Willen festzuhalten, seinen Ersten Reiter ermordet hatte und sich widerrechtlich auf kaiserlichem Boden aufhielt. Krieg beschwor er herauf, denn nichts anderes bedeuteten diese Frevel, und die gnadenlose Vergeltung seiner Familie. Nichts von alldem half. Schließlich hatte er sich müde gerast und wurde stiller. Seine Unruhe aber war geblieben.

Zeit verstrich, Wochen gingen ins Land und brachten den Herbst mit sich, dann Monate, und der Winter kam. Er ließ sich Bücher aus Dagruns Bibliothek in das Turmzimmer bringen, in das sie ihn gesperrt hatten, und verbrachte seine Tage mit Lesen. Oft betete er. Dass es auf der Skjorborg nur einen Luftschrein gab, betrübte ihn. Er opferte den Elementen wie jeder andere auch, aber Geborgenheit und Kraft fand er nur im Schoß der Heiligen Familie. Und so blieb ihm nichts übrig, als auf seinem Stuhl zu sitzen, mit gefalteten Händen, und die Gebete im Stillen aufzusagen. Sie halfen ihm über die dunkelsten Stunden hinweg, und davon hatte er viele. Manchmal ging er auch an das schmale Turmfenster in der Ostseite seines Gefängnisses und blickte hinaus. Viel konnte er nicht sehen, dafür war es zu tief, und die Skjorborg stand hoch oben auf einer Klippe über dem Tern. Aber wenn er sich auf die Zehenspitzen stellte, war da ein bisschen Horizont, der Heimat bedeutete. Stets lenkte der Anblick die Gedanken auf seine Frau Swenja und seine Söhne, Golo und Volkwin. Das Herz quoll ihm dann über vor Kummer, weil er wusste, dass sie sich seinetwegen Sorgen machten und er nichts dagegen tun konnte.

Er würde sie nie wiedersehen. Lange bevor ihm Dagrun mitteilte, dass man seinen Tod beschlossen hatte, war ihm das klar gewesen. Seine Kenntnis von der Ausgrabung im Schwarztann hatte das Herzogtum in eine unmögliche Position gebracht. Würde er jemals wieder freikommen, wäre die Konsequenz ein Waffengang, den es verlieren würde. Das Herzogtum war hochgerüstet und hatte über die letzten Jahrzehnte unablässig Krieg an seiner Südgrenze geführt, aber gegen die geballte Macht des Reiches konnte es nicht bestehen. Und solange er am Leben war, bestand das Risiko, dass es genau dazu kommen würde. Den Markgrafen des Chimmgaus verschwinden zu lassen war ein Schritt, den niemand leichtfertig gehen würde, der im Herzogtum etwas zu sagen hatte, doch am Ende aller Abwägungen war es der einzig sinnvolle. Nur sein Tod garantierte, dass das Herzogtum mit seinem Verbrechen davonkam. Als ihm Dagrun vor zwei Wochen nervös und betreten sein Schicksal verkündet hatte, war er daher alles andere als überrascht gewesen. Er hatte ihr Gestammel mit kaltem Gleichmut ertragen und sich lediglich erbeten, durch das Schwert zu sterben. Die Chimren richteten am Schindpfahl hin, an den sie die Verurteilten annagelten, oder mit dem Würgeeisen – beides Todesarten, die den Opfern die Luft nahmen und sie erstickten. Eines Salen waren sie nicht würdig, eines Edlen schon gar nicht. Dagrun hatte ihm zugesichert, dass es so geschehen würde, dankbar für seine gefasste Reaktion.

Er stand auf. Es war kalt im Zimmer, aber im Bett hielt es ihn nicht mehr. Unruhig trat er ans Fenster. Sie ließen ihm kein Licht über Nacht, und so musste er den Riegel im Dunkeln ertasten. Er schob ihn zurück und öffnete die Läden. Eisige Luft strömte ins Zimmer, sie schmeckte nach Schnee und ließ ihn frösteln. Er achtete nicht auf die Kälte und blickte hinaus. Ganz tief im Osten war ein heller Streif zu erahnen, aber so kurz nach der Wintersonnenwende würde der Morgen nur zögerlich kommen.

»Swenja«, sagte er leise. Er schloss die Augen und genoss den Klang ihres Namens.

Hinter ihm wurde der Schlüssel im Türschloss gedreht. Er wusste sofort, was das bedeutete.

Es gab keine andere Möglichkeit, sie kamen sonst nie vor Sonnenaufgang. Noch einen Augenblick hielt er die Augen geschlossen, atmete tief ein und öffnete sie wieder. Es machte ihm keine Angst. Der Schein einer Laterne fiel ins Zimmer und über seine Schultern. Er drehte sich um.

»Markgraf.« Es war Grimna, die Waffenmagd, mit der er sich so oft über Rezepte unterhalten hatte. Ein paar Mal hatte sie ihm sogar etwas gekocht und mit ihm gegessen. Bis zuletzt hatten sie sich nicht einig werden können, ob Schnittlauch für eine Kartoffelsuppe eine zwingend notwendige Zutat sei oder nicht. Er mochte sie, ein aschbraunes, freundliches Wesen mit leise gurrendem Lachen und Gliedern, die irgendwie zu lang für ihren Körper wirkten. Zwar hatte sie ihm gegenüber nie ihre schüchterne Ehrerbietung abgelegt, aber sie war die einzige seiner Bewacher, zu der er eine Verbindung hatte herstellen können. Im Schein ihrer Lampe sah er, wie blass sie war. Wahrscheinlich hatte sie nicht kommen sehen, wie es enden musste. Armes Ding, dachte er und schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln.

»Es … es ist so weit.« Sie schluckte. »Es tut mir leid.«

»Ich weiß. Aber es ist alles gut. Ich bin schon viel zu lange hier oben eingesperrt.«

Sie nickte stumm, das Kinn angespannt.

Er ging hinüber zum Stuhl, auf dem seine Kleider lagen, und streifte sie sich über sein Nachthemd. Er hatte keinen Spiegel, weil er ihn zerschlagen und als Waffe hätte benutzen können, und so sah er Grimna fragend an. Sie nickte wieder.

»Gut«, sagte er. »Dann wollen wir mal.«

»Dagrun hat einen Priester kommen lassen. Einen der Heiligen Familie.«

Er war überrascht. Damit hatte er nicht gerechnet. »Das … ist sehr gütig von ihr.«

»Es war nicht leicht, einen zu finden. Er ist aus Dramnen gekommen.«

Dramnen war ein kleines Städtchen etwa vier Tagesreisen von hier. Er verstand. Der Glaube der Heiligen Familie war im Herzogtum kaum verbreitet. Deshalb waren also zwei Wochen verstrichen seit Dagruns Ankündigung: Sie hatte ihm einen Betvater beschaffen wollen. Das war tatsächlich ein feiner Zug von ihr.

Noch einmal sah er sich im Zimmer um. Es stimmte, was er zu Grimna gesagt hatte: Vier Monate waren genug. Es war gut, dass es zu Ende ging, er würde sich nicht mehr quälen müssen. »Komm«, sagte er zu ihr. Er ging an ihr vorbei und die Treppen hinunter. Unten wartete Dagrun mit zwei weiteren Wachen. In der Düsternis des Burggangs wirkte ihr Gesicht noch grauer als sonst.

»Markgraf Marwult.«

»Edelfreie Dagrun. Ich danke dir für die Gelegenheit, einen Priester zu sehen.«

»Ich gehe davon aus, dass du dasselbe für mich getan hättest.«

»Du irrst. Ich hätte dich nie widerrechtlich und gegen jede Sitte gefangen gehalten.«

Sie zuckte zusammen, als hätte er sie geschlagen, verzichtete aber auf eine Rechtfertigung. »Es gibt nur eine Bedingung: Er darf nicht erfahren, wer du bist.«

»Natürlich. Damit das Geheimnis gewahrt bleibt, richtig? Damit niemand erfährt, wen ihr hier umbringt.« Er war selbst überrascht von der Schärfe, die in seinen Worten lag.

Gequält sah sie ihn an. »Habe ich dein Ehrenwort?«

Kalt erwiderte er ihren Blick. »Das hast du.«

»Also dann.«

Sie geleiteten ihn durch die Skjorborg, ein altes, trutziges Gemäuer, klein, aber massig, wie es die meisten Ternburgen waren, diesseits wie jenseits des Flusses. Vor der Kapelle mit dem Luftschrein blieben sie stehen. Grimna öffnete ihm die Tür und schloss sie wieder hinter ihm.

Der Andachtsraum dahinter war nur spärlich erleuchtet. Er hatte große Fenster, wie es für einen Ort üblich war, der einen Schrein der Luft beherbergte, weiß gestrichene Wände und eine hohe Decke, die ein blauer Himmel mit Wolken schmückte. Von ihr hing an dünnen Ketten der Schrein herab. Helle, feine Schleier verhüllten ihn. Zwischen den Betbänken der Kapelle stand der Priester.

Er ging auf ihn zu. »Vater.«

Der Priester war alt, graues Haar hing ihm in losen Strähnen vom Kopf herab. In einem Gesicht voller Falten suchten wässrige, aber herzliche Augen seinen Blick. »Mein Sohn«, sagte er, »ich bin Vater Rolleif. Man hat nach mir geschickt. Ich hörte, ein Mitglied unseres Glaubens wolle sich auf seinen letzten Weg vorbereiten.«

»Es ist, wie du sagst. Ich werde sterben und will vorher beten. Lange musste ich auf den Beistand eines Betvaters oder einer Betmutter verzichten. Meine Seele dürstet nach Trost.«

»Trost sollst du bekommen. Ich weiß nicht, welche Umstände dich dem Tode weihen, mein Sohn, und mir wurde gesagt, dass ich nicht nach deinem Namen fragen darf. Mag es ein Verbrechen sein, das du sühnen musst, oder eines, das an dir begangen wird, für die Heilige Familie spielt es keine Rolle. Ein gläubiger Mensch macht sich auf den Weg zu ihr, das ist alles, was zählt.« Vater Rolleif deutete auf eine der Betbänke. »Du kennst den Segen der Letzten Stunde?«

»Ja«, sagte er und kniete hinter der vordersten Bank nieder, »ich kenne ihn.« Aus den Kleidern nestelte er sein Symbol der Heiligen Familie hervor, das er um den Hals hängen hatte: ein vierblättriges Kleeblatt, eingefasst in einen münzgroßen goldenen Ring. Er nahm es in die gefalteten Hände. Der Priester breitete die Arme aus.

»Mutter, Vater, Sohn und Tochter«, fing er an zu sprechen, »Heil sei euch Ewigen. Heil sei auch der Menschenseele, die sich aufmacht, euch zu sehen. Heute noch sei ihr in Frieden die Stätte bereitet.« Nach den Einleitungsworten trat er an Marwult heran und legte ihm die Hände zum eigentlichen Segen auf den Kopf. Marwult schloss die Augen. »Lass ab von Angst und Sorgen, sie gehören dir nicht mehr. Lass ab von Weh und Klagen, sie vermögen dir nichts mehr. Was dich umgetrieben, lass zurück und wirf es ab. Nichts kann dir noch Leid zufügen. Aufs Jenseits wende deinen Blick, dorthin, wo kein Leid bestehen kann. Du bist Mitglied der Familie, die dort herrscht in Ewigkeit. Deine Brüder und Schwestern frohlocken, deine Eltern warten. Du bist willkommen, jetzt und immerdar. Zeit ist es aufzubrechen.« Der Priester küsste ihn auf die Stirn. »Gehe auf im Heil.«

»Möge es auch dir vergönnt sein«, beendete Marwult die rituelle Abschlussformel. Er spürte, wie ihm die Tränen kamen. Nicht aus Angst vor dem Kommenden, er war ein gläubiger Mensch, der Tod schreckte ihn nicht. Es waren Tränen der Rührung und Erleichterung, für die er sich nicht schämte. Er blickte auf. »Ich danke dir, Vater«, mühte er sich zu sagen.

»Es gibt nichts zu danken, mein Sohn.«

Er stand auf, atmete durch und wischte sich übers Gesicht. »Ich werde jetzt gehen.«

»Ja, geh. Du hast nur die Ewigkeit zu gewinnen.« Vater Rolleif schritt an ihm vorüber und öffnete die Tür. »Ich werde dich begleiten.«

Draußen dämmerte es. Über Nacht war wieder Schnee gefallen, alles war von einem zarten Weiß bedeckt. In der Mitte des Hofs der Skjorborg stand ein Block auf einem Kreis aus Stroh. Daneben wartete seine Scharfrichterin, das blanke Schwert in der Hand. Ein paar Schritte davon stand Dagrun, die bereits vorausgegangen war, mit ihrem Ersten Reiter und dem Rest ihrer Gefolgsleute.

Er blieb kurz stehen und betrachtete die Szene. »So also endet es«, sagte er leise. Er sah hinunter auf seine Hände. Die Ringe hatten sie ihm gelassen. Seinen Siegel- und seinen Ehering würde er mit ins Grab nehmen, aber den dritten, einen goldenen Ring mit violettem Beryll, zog er ab. Er drehte sich um und drückte ihn Grimna in die Hand. »Hier«, sagte er.

»Markgraf!«, stieß sie erstaunt hervor.

»Schon gut. Für den Schnittlauch. Danke.«

Grimna wollte etwas antworten, brachte aber keinen Ton hervor. Ihre Nasenflügel bebten. Er lächelte sie noch einmal an, verabschiedete sich mit einem Blick von Vater Rolleif und ging zu Dagrun hinüber.

»Ich bin bereit«, sagt er zu der Edelfreien, die sich sichtlich unwohl fühlte. »Ich nehme an, es wird keine Urteilsverkündung geben?«

»Markgraf Marwult«, sagte ein Mann hinter Dagrun, der sich jetzt nach vorne schob, »das Herzogtum hat bestimmt, dass du sterben sollst. Das ist Urteil genug.«

Überrascht blickte er den Sprechenden an. Es war der junge Mann, dem er auf der Lichtung vorgeführt worden war. Auch jetzt trug er Haartracht und Kleidung eines Hüters der Luft, und wieder war sie von dunkelgrauer statt weißer Farbe. »Du hier«, sagte er. Vielleicht hatte Dagrun seine Hinrichtung doch nicht nur wegen der Suche nach einem Betvater aufgeschoben. Vielleicht hatte man auf diesen Hüter gewartet. Es spielte keine Rolle, aber jetzt, da ihm der Mann gegenüberstand, der wissen musste, weshalb er sterben sollte, war er es sich schuldig, einen letzten Versuch zu unternehmen. »Was ist in dem Loch?«, fragte er.

Der Hüter sah ihn lange an. Schließlich verzog sich sein Mund zu einem spöttischen Lächeln. »Nur das Ende der Welt.«

Marwult legte alle Verachtung, die er aufbieten konnte, in seinen Blick und wandte sich ab. Keinen Moment länger würde er diesen Menschen mit Beachtung würdigen. »Habe ich noch einen Wunsch?«, fragte er Dagrun.

»Wenn wir ihn erfüllen können.«

Er deutete zu der Mauer, hinter der der Morgen heraufkam. »Ich möchte noch einmal meine Heimat sehen.«

Dagrun überlegte kurz, dann nickte sie. Sie bedeutete zweien ihrer Leute, ihn auf die Mauer zu begleiten. Zu dritt stiegen sie die Treppe zum Wehrgang empor.

Oben angekommen, trat er zwischen zwei Zinnen an die Brüstung heran, um nach Osten zu blicken. Es brach ihm fast das Herz. Am Horizont ging die Sonne auf, blass und farblos im Winterhimmel. Von dort bis hier zu ihnen erstreckten sich die schneebedeckten Wipfel des Schwarztanns, dicht an dicht standen sie, ein endloses Meer schweigender Bäume. Und tief unter ihm: das breite graue Band des Terns, das sich durch den Wald schlängelte. Jene ewige Landesmark, die seine Familie zu verteidigen geschworen hatte.

Er versank in diesem Anblick.

Wie lange er dort gestanden hatte, wusste er nicht, doch musste es lange gewesen sein. »Markgraf Marwult«, rief Dagrun von unten herauf, Ungeduld in der Stimme. »Es ist Zeit!«

»Ja, das ist es«, sagte er. Dann schwang er sich auf die Brüstung und sprang.

Frühling

Sie sah der Mulde nach, wie sie langsam bis ganz nach oben entschwebte, wo sie mit Hakenstangen auf einen Steg gezogen wurde, um sie zu leeren. Es gab nur noch die drei Kräne; Anfang des Herbsts hatten sie die Rampe zurückgebaut. Die Grube war zu tief und damit zu eng geworden, um mit ihr noch den Boden zu erreichen. Jetzt hatten sie eine Tiefe von rund siebzig Fuß erreicht, und wenn es stimmte, was der Hüterseher sagte, würde es nicht mehr viel tiefer gehen. Wenn es stimmte, würden sie bald finden, was sie suchten – was auch immer das sein mochte. Es gab keinen Grund für sie, an Lyndeman Windsingers Worten zu zweifeln. Bislang hatten sich seine Vorhersagen immer als erstaunlich präzise erwiesen, viel präziser als alles, was sie jemals von seinesgleichen gehört hatte. Läge er auch dieses Mal richtig, würde sie dem Himmel danken, dass das alles hier nun endlich zu einem Ende käme.

Sie ließ den Blick vom Rand der Grube nach unten gleiten und drehte sich dabei langsam um sich selbst. Das hier war ihr Meisterwerk. Die Kräne, die Holzverschalung, das Zusammenspiel der Mannschaften, die Berechnungen, die hinter der Betriebsamkeit steckten, ja sie erst ermöglichten – all das hätte sie nicht besser bewältigen können. Im ganzen Herzogtum kannte sie niemanden, der dazu in der Lage gewesen wäre. Und doch empfand sie weder Freude noch Stolz. Sie wusste nicht, welchem Zweck ihr Schaffen diente, und ohne Ziel vor Augen war ihr die Befriedigung einer sich ihrem Abschluss nähernden Arbeit verwehrt. Vor allem aber war zu viel schiefgegangen.

Als der Hüterseher sie an diese merkwürdig kreisrunde Lichtung im Schwarztann geführt hatte, wusste sie, dass dies kein normaler Ort war. Und die Zwischenfälle bestätigten sie in dieser Überzeugung.

Ausgrabungen waren immer gefährlich. Unfälle konnten reduziert, aber nie ganz vermieden werden. Nur war das, was sie im letzten Jahr alles gesehen hatte, etwas anderes. Im Gegensatz zu vielen ihrer Mannschaften glaubte sie nicht an Flüche oder Verwünschungen; auch Pech war etwas, das es in ihrer Vorstellung immer nur in begrenzter Menge gab. Und so ließ dieser Ort sie ohne eine Erklärungsmöglichkeit für die Dinge, die hier geschahen. Es war eine Erfahrung, die sie zutiefst verstörte.

Beinahe von Anfang an hatte es Unglücksfälle gegeben. Leute waren zu Tode gekommen, weil die Verschalung nachgegeben hatte und die niederstürzenden Erdmassen und Steine sie erschlugen. Giftige Dämpfe, die plötzlich aus Erdspalten wichen, hatten ihre Männer und Frauen vergast, sie waren vom Rand der Grube und in ihre Werkzeuge gestürzt. Asta, ihre Sägemeisterin, hatte sie zusammen mit drei ihrer Gesellen verloren, als sie auf eine Wasserader stießen, die die Grube unterspülte, und zwei ihrer besten Vorarbeiter waren in einem Feuer umgekommen, das in der Grube ausbrach. Bis heute wusste sie nicht, wie es dazu hatte kommen können. Am unheimlichsten aber waren ihr jene Todesfälle, bei denen die Arbeiter einfach zusammengebrochen waren. Ohne erkennbare Fremdeinwirkung, ohne Vorzeichen. Nicht ausgezehrte Strafgefangene, deren Tod man auf Entkräftung hätte schieben können, waren so gestorben, sondern kräftige, wohlgenährte Soldaten. Als hätte man Marionetten die Fäden durchgeschnitten. Sechs solcher Fälle hatte es gegeben. Sie schauderte bei dem Gedanken. Alles in allem hatte die Grube binnen eines Jahres siebenundzwanzig Leben gefordert. Dazu kamen noch etwa sechs Dutzend Verletzte. Und das, obwohl sie nicht hatten arbeiten können, solange der Boden gefroren war. Nicht einmal in den schlimmsten Minen, die sie kannte, gab es einen ähnlich hohen Blutzoll.

Und dann war da der Boden selbst. Er widersprach allem, was sie jemals gelernt hatte. Der Tern war nicht weit von hier, viel früher also hätten sie auf Grundwasser stoßen müssen, als sie es tatsächlich taten. Es erleichterte ihre Arbeiten: Das Kalfatern und Pechen der Verschalung stellte eine zusätzliche Herausforderung dar und konnte das Eindringen von Wasser in die Grube trotzdem nicht ganz verhindern. Aber es gab dafür keine Erklärung, ebenso wenig wie für die Gesteinsschicht, auf die sie im Sommer gestoßen waren. Auf der anderen Seite des Terns erhob sich Kjelds Bogen unter dem Schwarztann, aber sein Gesteinssockel reichte nicht bis ans östliche Ufer. Der Fels hätte also gar nicht existieren dürfen, aber da war er nichtsdestotrotz. Wie ein Deckel versperrte er ihnen den Weg. Es hatte sie Monate gekostet, sich durch ihn hindurchzuarbeiten. Zu dieser Zeit hatte sie auch der Markgraf entdeckt. Der Markgraf. Sie schüttelte den Kopf. Es hatte unbedingt der Herr des Chimmgaus sein müssen, der plötzlich auf die Lichtung platzte. Von all den merkwürdigen Zufällen, die es während ihrer Ausgrabung gegeben hatte, war das vielleicht der unglaublichste gewesen. Der Schwarztann war riesig, weitgehend unbewohnt und in dieser Region dermaßen dicht, dass nach allen Regeln der Vernunft und Wahrscheinlichkeit niemand auf sie hätte stoßen dürfen. Und doch war es geschehen.

Was aus dem Grafen geworden war, wusste sie nicht, es war ihr auch gleichgültig. Lyndeman hatte ihn über den Tern gebracht, und damit war das Problem für sie erledigt. Es hatte Dringlicheres gegeben. Die Moral der Grabmannschaften etwa. All ihre Männer und Frauen waren Soldaten, abkommandiert von der Fünften Schar, die am nördlichen Ende des Schwarztanns am Tern stationiert war. Die ihnen eigene Disziplin half dabei, die Wirkung der Zwischenfälle gering zu halten. Aber natürlich hatte es Desertionen gegeben, und im Sommer war die Stimmung auf einen Tiefpunkt gesunken: Bis zum Herbst hatten sie knapp zwei Dutzend Schindpfähle errichten müssen. Von den Unglücklichen hingen nur noch die Arme und Füße an den Nägeln; als das Tauwetter einsetzte, hatte es ihre verrotteten Körper heruntergerissen, und die Tiere des Waldes hatten sie sich geholt. Sie verzog das Gesicht. Es war Zeit, dass sie fanden, was sie suchten, und von hier verschwänden. In zwei Wochen war Baumblütenfest in Skyrvik, ihrer Heimat. Wenn sie sich beeilte, konnte sie es noch schaffen.

»So nachdenklich, Minenmeisterin?«

Sie zuckte zusammen. Es war ihr nicht klar gewesen, dass der Hüterseher bereits hier unten war. Er musste mit der letzten leeren Mulde runtergekommen sein, was bedeutete, dass er sich bereits eine ganze Weile in der Grube aufhielt. Wider besseres Wissen fühlte sie sich ertappt. Der Mann war ihr unheimlich. Die wenigen Seher, denen sie in ihrem Leben begegnet war, waren dumpf brütende Algenfresser gewesen oder aufgekratzte Wahrsager, die mindestens genauso häufig danebenlagen, wie sie recht hatten, und diese Unzulänglichkeit durch wirres Orakeln zu verstecken suchten. Nicht so Lyndeman Windsinger. Er war weder das eine noch das andere. Klar sowohl im Wesen wie auch in seinen Äußerungen. Und er war der einzige Seher, von dem sie wusste, der sich dem Dienst in der Elementaren Gemeinschaft verschrieben hatte.

Weil ihr auffiel, dass sie noch nichts geantwortet hatte und Lyndeman sie abwartend ansah, beeilte sie sich, etwas zu sagen. »Es ist nichts, Herr. Wir sind nur einen weiten Weg gekommen. Das war es, was mir durch den Kopf ging.«

Lyndeman war hochgewachsen und schlank, und wie immer sah er aus, als würden der Schmutz und der Staub der Baustelle ihn fliehen. Das lange Haar war nach hinten geflochten, der Bart sauber konturiert und beinahe bis auf den Kiefer ausrasiert. Lyndeman war ein Hüter der Luft, aber seine Augen glichen Steinen. Er sah sie an, als wüsste er, dass sie ihm nur die halbe Wahrheit erzählte, wandte sich dann aber den Grabungen zu. »Das sind wir in der Tat«, sagte er. »Und heute geht es zu Ende.«

»Wenn du es sagst.«

»Ich sage das nicht nur. Es wird so kommen. Ich sah es in meinen Träumen.«

»Ja, Herr.«

Sie schwiegen beide und beobachteten die Erdarbeiten. »Du kannst stolz sein auf das, was du hier vollbracht hast«, sagte der Hüterseher schließlich und beschrieb einen Bogen mit dem Arm.

»Danke, Herr.«

»Es waren wirklich außerordentliche Umstände, unter denen du diese Grabung geleitet hast.«

»Das waren sie.«

Er warf ihr einen Blick zu. »Du bist froh, diesen Ort verlassen zu können.«

Es war keine Frage gewesen, und sie traute sich nicht, ihn anzulügen. Sie nickte.

»Das ist die Tragik mit uns Menschen: Großes wollen wir erleben, aber den Preis nicht dafür zahlen.«

Sie runzelte die Stirn. Ihr war nicht ganz klar, was er damit meinte, doch sie schwieg.

»Die Toten«, fing er wieder an, »sie sind nicht durch einen Fluch gestorben.«

Nun war es an ihr, dem Hüterseher einen Blick zuzuwerfen. »Ich weiß«, sagte sie, »Flüche gibt es nicht.«

»Nein. Flüche gibt es nicht. Auch wenn die da das nicht wahrhaben wollen.« Er machte mit dem Kopf eine Bewegung in Richtung der Grabenden. »Willst du wissen, was sie getötet hat?«

»Weißt du es denn?«, fragte sie erstaunt.

»Natürlich.«

Mit den Augen folgte er den Arbeitern, die auf ihren Rücken Weidenkörbe voller Erde zum Rand der Grube trugen. Dort angekommen, schütteten sie den Inhalt in die mit Metallbändern verstärkte Mulde und gingen wieder zurück zur Mitte der Grube. Dort tauschten sie ihre Körbe gegen andere, die von dem Dutzend Männern und Frauen gefüllt wurden, das sich an dieser Stelle mit Spaten und Picken tiefer in den Boden hineinarbeitete. Dann ging das Ganze von vorne los. So konzentriert beobachtete der Hüterseher die Korbträger, dass sie beinahe glaubte, er hätte seine eigene Frage vergessen.

»Die Elemente.«

Sie verstand nicht. »Was meinst du?«

»Die Elemente – sie haben sie getötet.« Während Lyndeman sprach, fixierte er weiter die Reihe der Träger.

»Die Elemente?« Sie versuchte, die Skepsis aus ihrer Stimme herauszuhalten, weil sie den Hüterseher nicht provozieren wollte, aber es gelang ihr nicht.

»Ich wusste, dass du mir nicht glauben würdest.« Er schien nicht erbost zu sein.

»Herr …«, begann sie, nach Worten suchend. Sie war keine besonders religiöse Frau. Natürlich ehrte sie die Elemente, vor allem Stein und Metall, weil es die zwei waren, die ihren Alltag bestimmten. Und Luft, weil es das Element ihrer Heimat war. Sie opferte ihnen regelmäßig und achtete sie. So war es Sitte, und so war es ihr auch Bedürfnis. Aber die Elemente waren, was sie waren: Bausteine der Welt. Sie waren keine Götter, denen man ein Eingreifen in den Lauf der Dinge unterstellte oder von denen man sich das zumindest erhoffte. Dass sie für all die Toten verantwortlich sein sollten, empfand sie geradezu als absurd. Selbst für einen Hüter der Elemente war das eine reichlich abenteuerliche Vorstellung. Vielleicht war Lyndeman doch mehr Seher, als sie geglaubt hatte. Nur konnte sie ihm das natürlich nicht sagen. »Ich habe noch nie von etwas Ähnlichem gehört«, antwortete sie stattdessen.

»Was nichts bedeutet.«

»Natürlich nicht, Herr. Ich …«

Mit einer Bewegung der Hand schnitt ihr der Hüterseher das Wort ab. »Da!«, rief er aus und deutete auf einen det Träger, der unter seinem Korb zusammengebrochen war. Auch sie hatte ihn stürzen sehen, und sie wusste, was dieses urplötzliche Erschlaffen der Glieder bedeutete. Ein weiterer dieser gespenstischen Todesfälle. Erschrockene Rufe ertönten, während in der ganzen Grube Männer und Frauen ihre Arbeiten liegen ließen und zur Unglücksstelle eilten.

»Bleib!«, forderte der Hüterseher sie auf, als auch sie loswollte. »Du kannst nichts mehr für ihn tun.« Aufmerksam sah er zu, wie ihre Leute bestürzt den Toten untersuchten. Unruhe brach aus. Rufe vom Rand der Grube erschollen.

Es kostete sie alle Mühe, Lyndeman zu gehorchen und ruhig neben ihm stehen zu bleiben, aber sie wusste, dass er in dieser Sache keinen Widerspruch dulden würde. Der Hüterseher konnte äußerst unangenehm werden, und sie wollte seinen Zorn nicht herausfordern.

»Er ist der Letzte«, sagte er.

»Was meinst du?«, fragte sie, dann begriff sie. »Du wusstest, was passieren würde.«

Er nickte. »Ich habe es gesehen, ja. Aber ich wusste nicht, wer von den Trägern es sein würde. Meine Gesichte zeigen mir nicht alles.«

Es war warm in der Grube; die Sonne stand hoch und brannte auf sie herab, aber trotzdem merkte sie, wie sie Gänsehaut bekam.

»Die Toten, Minenmeisterin, letztlich sind sie gute Zeichen.«

Fassungslos sah sie ihn an.

»Sie sind Zeichen dafür, dass wir an der richtigen Stelle graben. Daran bestand zwar kein Zweifel, aber auch der Sicherste schätzt es, wenn er ab und an einen Fingerzeig bekommt, dass er nicht irregeht.«

»Herr, du sprichst von meinen Leuten …«, wagte sie sich an einen Einwand.

»Deine Leute?« Spöttisch erwiderte er ihren Blick. »Soldaten des Herzogtums, das sind sie. Sie erfüllen ihren Eid, wenn sie sterben. Aber ich verstehe deine Sentimentalitäten und versichere dir: Niemand wird mehr verunglücken. Wir werden gleich finden, weshalb wir hier sind.« Er sah zu, wie die Leiche in grobes Tuch gewickelt und zur Mulde getragen wurde. Verunsichert blickten die Leute zu ihnen hinüber; die Minenmeisterin nickte. Zögerlich begaben sich alle wieder zurück an ihre Plätze. Die Arbeiten gingen weiter.

»Willst du wissen, wonach wir suchen?«

Langsam schüttelte sie den Kopf. »Ehrlich gesagt, nein, Herr.« Sie war müde, und sie wollte von diesem Menschen weg. Gerade eben noch hatte sie ihn nicht erzürnen wollen, jetzt war es ihr egal.

Wider Erwarten lächelte er. »Ich glaube, ich verstehe. Aber von diesem Moment wirst du deinen beiden Töchtern erzählen. Merk dir meine Worte. Du wirst dabei gewesen sein, als alles begann.«

Ihr ging gerade auf, dass sie ihm nie von ihren Kindern erzählt hatte, als Vragi, einer ihrer Vorarbeiter, herübergelaufen kam. »Hüterseher, Reidun!«, rief er ihnen entgegen. »Wir haben etwas gefunden! Kommt schnell!«

Sie sah den Hüterseher an, der ihren Blick erwiderte. Zum ersten Mal sah sie so etwas wie Aufregung in seinen Augen blitzen. Schnellen Schrittes gingen sie los.

Das Loch, das sie am Fuße der Grube gegraben hatten, war etwa hüfttief. In ihm drängten sich aufgeregt die Arbeiter und bildeten einen dichten Kreis.

»Raus!«, rief der Hüterseher, »alle raus!«

Sie gehorchten augenblicklich. Lyndeman sprang hinein. Am Rand stehend konnte sie sehen, dass etwas im Boden steckte. Aus dieser Entfernung aus hätte sie es für einen Knochen halten können.

»Asvald ist mit dem Spaten drauf gestoßen«, hörte sie neben sich einen der Arbeiter sagen, »aber es ist nicht kaputt gegangen.«

»Was ist es?«, rief ein anderer.

»Zeig es uns!«, forderte jemand von der gegenüberliegenden Seite des Lochs.

Lyndeman machte eine abwehrende Geste, und das Gerede erstarb. Er kniete sich in den Lehm und fing an, das Objekt mit den Händen freizulegen.

»Minenmeisterin, komm«, forderte er sie auf.

Sie ließ sich ins Loch hinab und hockte sich neben ihm nieder.

»Knie«, gab er ihr zu verstehen. »Du bist auf heiligem Boden.«

Sie tat wie geheißen. Zu ihrer eigenen Überraschung stellte sie fest, dass ihr das Herz bis zum Hals schlug. Lyndemans Hände verwehrten ihr einen klaren Blick auf das, was im Erdreich steckte, aber sie sah, dass es leicht schimmerte. Als er es herauszog, konnte sie es endlich sehen.

»Ist es das?«, fragte sie.

Der Hüter gab ihr keine Antwort, zu versunken war er in den Anblick des Reifs in seinen Händen, aber sie kannte die Antwort auch so.