Kai Lüftner
Das Kaff der guten Hoffnung – Da geht noch was!
FISCHER E-Books
Kai Lüftner, geboren 1975 in Berlin, studierte Sozialpädagogik, arbeitete als Streetworker, Kabarettist und Alleinunterhalter, Sozialarbeiter, Bauhelfer, Pizzafahrer, Türsteher, Werbe-, Auftrags- und Liedtexter, Comedy-Autor, Konzertveranstalter, Komponist und Musiker, Radioredakteur sowie in Alten- und Kinderheimen.
Heute verdient er sein Geld als Hörbuchbearbeiter und Regisseur, als Texter für verschiedene Comedians und Schauspieler, als Kinder- und Jugendbuchautor und betreibt mit seiner Frau ein Café in Berlin.
Von Kai Lüftner sind außerdem bei FISCHER Sauerländer erschienen: ›Das Kaff der guten Hoffnung – Jetzt erst recht!‹ und ›Das Kaff der guten Hoffnung – Ganz oder gar nicht‹ .
Dominik Rupp, geboren 1989 in Ulm, hat Illustration an der Fachhochschule Münster studiert. Er lebt und arbeit als freiberuflicher Illustrator in Aachen.
Weitere Informationen zum Kinder- und Jugendbuchprogramm der S. Fischer Verlage, auch zu E-Book-Ausgaben, gibt es bei www.blubberfisch.de und www.fischerverlage.de
Erschienen bei FISCHER E-Books
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2015
Covergestaltung: Suse Kopp, Hamburg,
unter Verwendung einer Illustration von Dominik Rupp
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-7336-0125-6
Für Valerian Arsène Verny,
den ich sehr gern kennengelernt hätte.
www.valerian-stiftung.eu
Der dritte Teil einer Geschichte ist etwas Besonderes. Zumindest glaube ich das, denn so viele dritte Teile von Geschichten habe ich bisher noch nicht geschrieben. Aber es liegt auf der Hand: Man kennt sich schon ein bisschen, muss nicht mehr umeinander herumschnüffeln und die ganze Zeit so tun, als wäre man sich fremd.
Das ist doch toll: Wir kennen uns! Ihr kennt mich und die Figuren dieses Buches. Ich kenne euch, wenn auch nicht persönlich, aber doch irgendwie ein bisschen. Immerhin habt ihr euch bereit erklärt, auch diesen – dritten! – Teil hier zu lesen. Und das sagt doch eine ganze Menge aus, oder?
Dritte Teile sind so was wie der Nachtisch. Beim Nachtisch ist es nie schlecht, wenn dieser sehr süß und cremig und ein klein bisschen ungesund ist. Darum werde ich mich bemühen. Denn es ist mir wichtig, dass euch der Nachtisch schmeckt! Immerhin bleibt der Geschmack der Nachspeise am längsten im Mund.
Sollte mir dies nicht gelingen, tut es mir leid. Ich tue, was ich kann. Wirklich!
Schon früher haben Lehrer des Öfteren zu mir gesagt, das würde nicht genügen. Ich müsse über mich hinauswachsen und meine Ketten sprengen, die Grenzen überschreiten und all so was.
Toll! Wenn ich das dann wiederum getan habe, war es auch nicht gut. Dann war wieder etwas falsch. Irgendwas war immer falsch.
Tja, so ist das Leben, und ich halte fest, dass ich überhaupt keine Ahnung habe, was von mir erwartet wird. Weder von dritten Teilen noch vom Leben allgemein. Möglicherweise ist das aber auch gut so, denn im Grunde ist jeder Tag ein neues Abenteuer. Man weiß vorher nie, was von einem erwartet wird oder welchen Herausforderungen man sich nun wieder stellen muss.
Also – dieser dritte Teil ist einfach nur ein dritter Teil, und alles wird anders sein, als ihr es euch vorstellt, und genau deshalb möglicherweise total super.
Vielleicht aber auch nicht. Das müsst ihr selbst beurteilen. Ich wünsche euch jedenfalls guten Appetit!
Mit den leckersten Grüßen,
euer Kai
Es war ein Tag für die Tonne.
Aber nur, wenn diese Tonne mit eiskaltem Wasser gefüllt gewesen wäre und unter einem riesigen Sonnenschirm mit hellblauen Bommeln gestanden hätte. Oder einer breitblättrigen Brunzenbrötl oder einer Daddelpalme. Hauptsache, da wäre ganz, ganz viel Schatten gewesen.
Der Spätsommer ging gerade in den Frühherbst über, und die Natur explodierte noch einmal in einem Hitzeschub, den es in dieser Art noch nicht gegeben hatte. Zumindest nicht in Klein-Kalabrien, dem »Kaff der guten Hoffnung«.
Unter diesem Gesichtspunkt war es – wieder mal – der Beginn einer neuen Zeitrechnung. Allerdings hätte niemand behaupten können, der Junge ohne Namen, von dem wir mittlerweile wissen, dass er Kalle heißt, habe etwas damit zu tun.
Schwere Tropfen von Schwitzwasser ruckelten träge die Innenseiten der schmierigen Fensterscheiben des Kinderheims »Zur guten Hoffnung« hinunter. Ein altersschwacher Deckenventilator in der Eingangshalle versuchte brummend und knurrend, die dicke, teigige Luft zu durchwühlen, scheiterte aber kläglich.
Nur im Keller des Heims war es einigermaßen erträglich. Dort, wo die Makel-Kids ihr Zimmer hatten. Und heute fühlte es sich für die Unvermittelbaren gar nicht mal so schlecht an, abgeschoben worden zu sein. Nach unten, in den Keller, weit weg von allen anderen Kindern des Heims.
Ihr kühles Zimmer zählte im Moment sicher zu den angenehmsten Orten im ganzen Haus.
Trotzdem sah es aus, als ob Theobald Zuppel an einem Hitzschlag gestorben wäre. Er lag mit heraushängender Zunge auf dem Fußboden neben seinem Bett und rührte sich nicht. Seine linke Hand war gegen das einzige Fenster des Zimmers gerichtet – offenbar in dem sinnlosen Versuch, das bisschen Sonne, das es hereinschaffte, davon abzuhalten, ihm ins Gesicht zu scheinen. Dabei hätte er sich einfach nur woanders hinlegen oder wegdrehen müssen.
Als Kalle ihn darauf hinwies, hatte er nur schwach und stotternder denn je geantwortet, das ginge nicht. Dafür sei er zu schlapp und zu traurig sowieso. Und überhaupt wolle er gerade nicht reden.
Also blieb er da liegen, wo er war, und die anderen drei Makel-Kids hatten die schattigen und kühleren Bereiche des Zimmers unter sich aufgeteilt.
Magda hockte zwischen ihren selbstgebastelten Hanteln und machte gerade eine kleine Trainingspause. Nicht einmal die unglaubliche Hitze konnte sie davon abhalten, ihr tägliches Krafttraining durchzuziehen.
Sie hatte ihre körperlichen Anlagen in den letzten Wochen derart verbissen ausgebaut, dass es einen regelrecht gruselte. Dicke Adern zogen sich durch ihre getrimmten Arme, den Hals entlang, um den Nacken herum und wieder zurück. Und wenn man sah, wie sich ein normaler Stift zwischen ihren muskulösen Fingern ausnahm, bekam man unwillkürlich Mitleid. Mit dem Stift.
Aber Magda war in den vergangenen Wochen auch sonst nicht untätig gewesen. Seit dem letzten Abenteuer der Makel-Kids hatte sie mit Hilfe der Brabbel-Gums von Professor Gagga ihre Verständigung mit Georgie, dem Spatz, nahezu perfektioniert. Sie »sprach« mittlerweile flüssig mit dem Vogel und beinahe so selbstverständlich wie mit anderen Menschen. Wobei das nicht stimmte. Eigentlich sprach sie mit Tieren um einiges unverkrampfter als mit ihren eigenen Artgenossen.
Das Gute an der Sache war, dass sie durch den Sport und ihren Austausch mit Georgie unglaublich ausgeglichen, ja beinahe glücklich wirkte. Für ihre Verhältnisse zumindest.
Im Moment saß sie versonnen im Schneidersitz da und balancierte dabei eine mit Büchern gefüllte Seemannskiste auf dem Kopf.
Georgie, der Spatz, hockte in einem Schälchen mit Wasser, das auf dem Fensterbrett stand. Alle paar Sekunden tauchte er voll niedlich den Kopf unter, um sich zu erfrischen.
Röschen La Damm saß an einem erst kürzlich angebrachten Klappbrett vor ihrer Matratze und schrieb. Das tat sie ja schon in den ersten beiden Teilen dieser Geschichte regelmäßig und ausgiebig. Aber diesmal handelte es sich nicht um eines ihrer Notizbücher, das sie mit Beobachtungen füllte, sondern um einen Brief. Es hatte sich ergeben, dass sie mit Fräulein Brenner in einen regen schriftlichen Gedankenaustausch getreten war. Äußerst ungewöhnlich für dieses bekanntermaßen sehr eigenwillige, mürrische und zurückhaltende Mädchen.
Möglicherweise lag es daran, dass Röschen erstmals das Gefühl hatte, von jemandem verstanden zu werden. Vielleicht hatte sie auch eine Idee davon bekommen, was sie mit ihrer Begabung und Veranlagung später einmal würde tun können.
Jedenfalls schrieb sie Fräulein Brenner regelmäßig lange Briefe. Und erhielt auch regelmäßig ausführliche Antworten.
Und dann war da im Zimmer der Unvermittelbaren natürlich noch jemand, von dem wir bisher für mein Empfinden viel zu wenig gesprochen haben.
Er selbst würde sich niemals als die Hauptfigur dieser Serie bezeichnen. Im Gegenteil, er würde es abstreiten und vermutlich rot werden und die Vorzüge und Anteile aller anderen in den Vordergrund rücken.
Aber man kann es nicht kleinreden: Der Junge namens Kalle ist an den meisten hier aufgeschriebenen Begebenheiten nicht nur beteiligt, sondern er hat sie gewissermaßen überhaupt erst ins Rollen gebracht.
Mit seinem Eintreffen in Klein-Kalabrien und im Kinderheim »Zur guten Hoffnung« hatte eigentlich alles erst begonnen. Er besaß einen unbeugsamen Willen und die Fähigkeit, aus anderen Menschen die guten Eigenschaften herauszukitzeln, von denen sie oftmals gar nicht selbst wussten. Dadurch hatte eine Geschichte ihren Anfang genommen, mit der wohl niemand gerechnet hatte. Er am allerwenigsten. Und ich, der Erzähler dieser Geschichte, schon gar nicht.
Befand sich Kalle doch eigentlich nur auf der Suche nach seinem Bruder Georgie – der nicht von ungefähr genauso hieß wie der Spatz der starken Magda.
Es wäre schön, wenn ich hier nicht noch einmal alles haarklein wiedergeben müsste und ihr euch einfach selber die ersten beiden Teile zu Gemüte führen würdet (falls ihr es nicht schon getan habt). Bildet euch selbst ein Urteil, ob meine Beschreibung von Kalle übertrieben oder angebracht ist.
Wenn man die ersten beiden Teile unserer Serie nämlich nicht kennt, würde man vermutlich keine Sekunde lang erahnen, dass ausgerechnet mit diesem Jungen eine neue Zeitrechnung im Kinderheim »Zur guten Hoffnung« begonnen hatte. Mit diesem laschen Etwas, das da mit unter dem Kopf verschränkten Armen auf der speckigen Matratze lag und an die Decke starrte?
Kalle lähmte wieder einmal das bleierne Gefühl, keinen klaren Gedanken fassen zu können. Und da ging es ihm wie dem Autor dieses Buches gerade jetzt in diesem Moment. Auch durch dessen Kopf führt eine zwölfspurige Autobahn, vollgestopft mit Fahrzeugen, die von irgendwo kommen und nach irgendwo wollen. Jedes einzelne ein Gedanke – hupend, ausscherend, überholend, viel zu schnell unterwegs und hinter der nächsten Kurve bereits im dichtesten Stau steckend. Schrecklich!
Bei Kalle lag das allerdings nicht nur an der Hitze.
Gerade als er glaubte, sich einer Erkenntnis zu nähern, die vielleicht nicht all seine unausgesprochenen Fragen beantworten, aber doch ein kleines bisschen Licht in seine Verwirrung würde bringen können, klopfte es an der Tür.
Die Makel-Kids schauten gleichzeitig auf und hofften alle irgendetwas anderes.
Dies im Detail zu beschreiben würde zu weit führen.
Vorerst nur so viel: Jeder Einzelne wurde gleichermaßen mehr oder weniger enttäuscht.
Denn Sven Svensson, der schottische Hausmeister mit dem schwedischen Namen, den drahtigen Locken und dem roten Bart, steckte seinen Kopf herein.
Er sah genauso verschwitzt und tranig vom Wetter aus wie alle anderen. Und irgendwie auch ähnlich verwirrt. Mit seiner Reibeisen-Stimme sagte er: »Alle Mann raus in den Hof! Da ist irgendwas im Busch!«
Die Blicke, die die vier Makel-Kids tauschten, waren weniger verblüfft über die Art und Weise, in der der Hausmeister mit ihnen sprach – immerhin hatten sie einander gerade erst besser kennen- und auch mögen gelernt. Die Blicke waren verblüfft, weil bereits im ersten Kapitel dieses dritten Teils ein derart aufregender Satz fiel: »Da ist irgendwas im Busch!«
Wenn es schon so anfängt – wie wird es dann weitergehen?
Am besten mit:
Seit etwa fünf Tagen waren unregelmäßig und vor allem nachts seltsame Geräusche aus dem Gefängnis von Klein-Kalabrien zu hören. Sie wären jedenfalls für den Wachmann zu hören gewesen, der dort – eigentlich – auf die Gefangenen aufgepasst haben müsste.
Aber da war keiner.
In diesen Zeiten gab es hier niemanden, der nach dem Rechten sah und überprüfte, ob die Gitterstäbe angesägt oder die Wände noch heil waren.
Nur einmal am Tag wurden den insgesamt drei (!!!) Gefangenen von einem ehrenamtlichen halbtauben Frührentner eine Schüssel Brockiges und ein halber Apfel durch die Klappen ihrer Einzelzellen geschoben. Dann kehrte wieder Ruhe ein.
Bis auf die seltsamen Geräusche natürlich.
In diesen Tagen herrschte nicht nur Notstand bei der Polizei, dem Wachpersonal und den Busfahrern, nein, die gesamte Verwaltung Klein-Kalabriens befand sich in einer traurigen Verfassung. Keiner fühlte sich wirklich zuständig, und so war selbst an Stellen, an denen man sich eigentlich keinen Fehler leisten konnte, der sprichwörtliche Wurm drin.
Die Geräusche aus dem Gefängnis jedenfalls waren ein Schaben und Kratzen, ein Reiben und Raspeln. Auch Menschen mit sehr wenig Phantasie wären über kurz oder lang darauf gekommen, dass es sich um Geräusche handelte, die auf einen Ausbruchsversuch schließen ließen.
Es waren also wirklich haltlose Zustände in der Stadt mit dem Beinamen das »Kaff der guten Hoffnung«. Und paradiesische Zustände für Gefangene mit Fluchtgedanken.
Der Umstand, dass bereits ein äußerst intelligenter Mann dabei war, diese unhaltbaren Zustände zu erkennen, zu bewerten und Stück für Stück zu verändern, half im Moment leider noch nicht besonders viel.
Denn im Moment waren die seltsamen Geräusche verstummt. Im Moment hörte man nämlich überhaupt nichts im Gefängnis.
Und zumindest für den Erzähler dieser Geschichte ist das einigermaßen beunruhigend.
Der äußerst intelligente Mann, der sein Bestes gab und mit Sicherheit einer der fähigsten Bürgermeister war, die es in Klein-Kalabrien je gegeben hatte, hieß Dieter. Früher war er Diener gewesen, kein Bürgermeister.
Er war eigentlich nur ein Aushilfs-Übergangs-Bürgermeister. Zum einen hatte er sich für sein Amt durch seinen unfassbaren Akten- und Gesetzesüberblick sowie sein Geschick im Umgang mit Vorgesetzten und Mitbürgern empfohlen. Zum anderen durch seine erfreulich niedrigen Gehaltsvorstellungen. Genau genommen arbeitete er nämlich kostenlos (wenn auch nicht umsonst im Sinne von »für die Katz«). Das war für eine Stadt, die kaum Geld hatte, natürlich äußerst praktisch.