Am schönsten wird es zumeist, wenn die Arbeit getan und der Kassettenrekorder ausgeschaltet ist. Die Anspannung verfliegt und Joachim Löw etwa lehnt sich zurück. Der Bundestrainer spricht nun zwar nicht ganz anders, aber auch er redet selbstverständlich lieber jenseits eines offiziellen Interviews über Fußball. Dann kann er freier über das Defensivspiel der Italiener sprechen, offener die Stärken seiner Stürmer abwägen, und bald geht es beim Gespräch mit dem ersten Trainer des Landes nicht viel anders zu als überall dort, wo über Fußball geredet wird.
Eigentlich ist es seltsam, dass es in der deutschen Sprache keinen Begriff für das gibt, was die Italiener calcio parlato nennen. Denn auch bei uns ist der gesprochene Fußball nicht minder wichtig als der auf dem Rasen gespielte. Der Stoff ist schließlich nicht nur für einen Nationalcoach uferlos. Die Fragen gehen auch seinen Kollegen, ihren Spielern, den Reportern, vor allem aber den Fans nie aus. Warum ging dieses Spiel verloren und wurde jenes gewonnen? Wer ist gerade der beste Spieler in welcher oder für welche Mannschaft? Oder wir diskutieren bis zur Erschöpfung die Zukunftsverläufe im Fußball, ob nur jene der zweiten Halbzeit eines Spiels oder die Aussichten für die kommende Partie, den Rest der Saison oder folgende Spielzeiten.
Ein besonderes Privileg des Fußballjournalisten ist es, mit dem Bundestrainer darüber zu reden, oder all den anderen, die bestimmen, was gespielt wird. Doch ihre Einschätzungen sind nicht notwendigerweise anregender als jene von normalen Fans, die oft verblüffend scharfsinnig verfolgen, was auf dem Rasen passiert, und darüber hinaus oft ein besseres Gefühl für die Kultur des Fußballs haben. Sind sie es doch, die das Spiel mit ihren Gefühlen so aufladen, dass es erst Bedeutung bekommt. Die Anhänger sorgen oft für die obsessivsten Redebeiträge, doch erst alle zusammen tragen zu der Vielstimmigkeit beim Sprechen über Fußball bei, die es so reich und weitverzweigt macht.
Auch dieses Buch ist gesprochener Fußball einerseits ganz einfach deshalb, weil viele der hier aufgeschriebenen Geschichten aus Gesprächen über Fußball erwachsen sind. Dazu gehören für mich denkwürdige Begegnungen wie jene mit Ottmar Hitzfeld, in der er noch einmal das Grauen der letzten Minuten des Finales der Champions League 1999 durchschritt, als er mit dem FC Bayern gegen Manchester United verlor. Es war das nicht unkomische Ringen des Weltmeisters Bernd Hölzenbein mit den Schatten der Vergangenheit oder ein schlicht schöner Abend bei einem Spiel der dritten Liga in Österreichs Hauptstadt Wien. Weil es beim Fußball selten nur um Fußball geht, drehen sich diese Geschichten um brasilianische Rodeos und rätselhaftes Leberweiß, um den Donner von Überschriften und die Welt der Fernsehbeweise. Sie spielen um die Ecke in Siegen und im fernen Seoul, unter Brücken und in Zügen, auf Ascheplätzen und in Elektromärkten.
Überall wird über oder vom Fußball gesprochen, und die Texte in diesem Buch sind als Redebeiträge zu verstehen. Sie versuchen, mal die Antworten auf vielfach gestellte Fragen, mal zu solchen, die seltener oder nie aufgeworfen werden, zu geben. So geht es nicht nur darum, welche Rolle das Glück bei Sieg und Niederlage spielt, sondern auch um ein bizarres Handyverbot im ägyptischen Nationalstadion. Die Geschichten sind persönlich bei reißenden Muskelfasern während eines Hobbykicks oder sind bei der Erörterung der zehn besten Sprechchöre ganz grundsätzlich. Sie erkunden mal die Kunst des perfekten Freistoßes oder ein dunkles Königreich der Fußballgewalt.
Ein Buch kann selbstverständlich kein Gespräch führen, aber dieses soll sich so lesen, als würde man einem Gespräch lauschen, und bestenfalls gleich die Vorlagen für mehr gesprochenen Fußball liefern. Auf dass wir uns eines Tages auch in unserer Sprache einen Begriff dafür verdient haben.
Köln, März 2007
Endlich wollte ich auch mitmachen, hob die Hände, begann zu klatschen und stimmte mit in den Sprechchor ein. Zuvor hatte ich mich dem Fanblock auf der Osttribüne eher vorsichtig genähert. In meinen ersten Jahren im Stadion an der Castroper Straße, das später Ruhrstadion heißen sollte, bevor es den Namen eines Sponsors bekam, hatte ich zunächst bei den Rentnern gestanden, die halblaut unter ihren Schiebermützen hervormaulten, oder mich an einzelgängerischen Tagen in die Ecke verzogen, wo die wenigsten Besucher standen. Inzwischen aber war die neue Stehtribüne fertiggestellt worden, unter deren Dach sich die Rufe für den VfL Bochum zu einem – wie ich fand – Orkan verstärkten. Da musste ich hin.
»Oh Leberweiß, oh Leberweiß, olé«, riefen Hunderte direkt hinterm Tor des Gegners. Ich weiß nicht mehr, gegen wen es ging und wie das Spiel stand, aber das war in diesem Moment auch nicht wichtig. Den viele Meter langen Schal in den blau-weißen Farben mehrfach um den Hals geschlungen, war ich zu einem Teil des Fanblocks geworden. Wir alle zusammen würden den Gegner aus dem Stadion singen. Die Fransen des Schals wischten über meine Schuhe, denn ich wippte hin und her, klatschte in die Hände und sang: »Oh Leberweiß, oh Leberweiß, olé!«
Mein Bruder stellte noch Jahre später auf dem Weg ins Stadion immer die Frage, ob wir »inne Fans« gehen würden. Er sagte das überbetont und lustvoll, denn »inne Fans« war eine Entscheidung fürs Rumschreien, Mitsingen, aber auch dafür, sich beim Tor etliche Treppenstufen nach unten schubsen oder mit Bier überkippen zu lassen. Eigentlich entschieden wir uns fast immer dafür, »inne Fans« zu gehen, außer bei Auswärtsspielen, wo es gefährlich werden konnte.
Man ging aber nicht einfach so »inne Fans«. Auch wenn die Soziologie eines Fanblocks nicht so kompliziert war, wie manche Forscher damals erklären wollten (angesichts ihrer Beschreibungen schienen Mafiafamilien oder Ameisenhaufen vergleichsweise simpel strukturiert), konnte man sich da nicht einfach so hinstellen. Es kam mir jedenfalls so vor, als würde es dauern, bis man wirklich dazugehörte.
»Oh Leberweiß«, sang ich jetzt aber mit, obwohl der Etablierungsprozess noch nicht abgeschlossen war. Ich tat das, obwohl ich mir schon die Frage stellte: Was sollte das sein, dieses Leberweiß? Schließlich gab es keinen Leberweiß, der für den VfL Bochum spielte. In den Vereinsfarben gab es so wenig Leberweiß wie ein Maskottchen, das so hieß. Die anderen Sprechchöre leuchteten mir ein, auch wenn Originalität Ende der siebziger Jahre noch nicht angesagt war. »Musst du mal scheißen und hast kein Papier, dann nimmst du den Wimpel von Schalke 04« wurde für lustig gehalten. Wirklichen Witz hatte die Adaption des Liedes vom Bruder Jakob, die ich nur im Ruhrstadion hörte: »VfL Bochum, VfL Bochum, schläfst du noch? Hörst du nicht die Glocken? Bim Bam Bum!« Das würde noch heute gut passen.
Ich sang »Oh Leberweiß« auch in den folgenden Wochen, aber langsam wurde mir das in seiner Sinnlosigkeit unheimlich. Verdammtes Leberweiß, was hatte es damit auf sich? Wen konnte ich fragen? Sollte ich einfach irgendwen anquatschen: »Hömma, wer is’ eigentlich Leberweiß?« Wo ich vielleicht besser »Wat is’ ’n Leberweiß?« hätte fragen müssen. 16-Jährige mögen heutzutage cooler sein, aber für mich war das damals ein echtes Problem.
Irgendwann hielt ich es nicht mehr aus und fragte mit äußerster Beiläufigkeit einen mir unbekannten Nebenmann, der nicht so wirkte, als würde er mich hinterher öffentlich verspotten: »Hömma, was singst du da?« Er schaute mich freundlich an und sagte: »Olé Blau-weiß, olé Blau-weiß!« Ich nickte ihm ein Na-klar-Nicken zu, wäre am liebsten aber sofort durch einen Erdspalt für immer unter Tage verschwunden. Gut nur, dass damals niemand von meiner Version erfahren hat.
PS: Das späte Bekenntnis ermöglicht hat erst Axel Hacke, der als bekennender Verhörer in einem schönen, lustigen Buch beschrieben hat, dass Adornos Rede »vom wahren Leben im Falschen« bei ihm zu einem »raren Beben in Flaschen« wird, in leberweißen wahrscheinlich.
Vor mehr als drei Jahrzehnten habe ich den heiligen Schwur abgelegt, ein Stadion nicht mehr vor dem Schlusspfiff zu verlassen. Damals hatte Theo Homann für Westfalia Herne in der Nachspielzeit noch den Siegtreffer gegen Wattenscheid 09 geschossen. Doch wir hatten das Tor nur gehört, weil mein Onkel vor allen anderen am Auto sein wollte. Da Bilder von Regionalligaspielen damals im Fernsehen nur selten gezeigt wurden, wird dieses Tor für mich immer ungesehen bleiben. Das ist mir danach nicht mehr passiert, weshalb ich auch eine 1:7-Niederlage des VfL Bochum am Bökelberg in Mönchengladbach bis zur letzten Minute tapfer ertrug. Was auf den Tisch kommt, wird auch aufgegessen.
Vorher das Stadion verlasse ich nur dann, wenn mir das Ergebnis herzlich wurscht ist. Gerd aber war es gewiss nicht egal, wie das Spiel in der Champions League zwischen Werder Bremen und Panathinaikos Athen ausgehen würde. Schließlich hing davon ab, ob Werder nach der Winterpause im aufregendsten Fußball-Wettbewerb der Welt würde weiterspielen dürfen. 3:0 führten seine Jungs bereits zur Pause, da sollte eigentlich nicht mehr viel anbrennen, zumal die Griechen am Ausgang des Spiels desinteressiert schienen.
Also beratschlagten Gerd und sein Bruder Günther, was zu tun sei. Die letzte Zugverbindung zwischen der Hansestadt Bremen und Leer in Ostfriesland besteht nämlich abends um 21:51 Uhr. Gut siebzig Minuten ist man im Intercity bis Oldenburg und anschließend mit dem Regionalexpress bis Leer unterwegs. Da Spiele in der Champions League immer um 20:45 Uhr angepfiffen werden, geht der letzte Zug für Gerd also 20 Minuten nach dem Halbzeitpfiff. Anschließend gibt es erst um vier Uhr morgens wieder eine Verbindung, und aufs Bahnfahren ist Gerd angewiesen, weil er seit seinem schweren Autounfall nicht mehr selber fahren möchte. Manchmal legt Bruder Günther daher auf seinem Rückweg nach Köln eine Zwischenstation in Leer ein, oder Gerd bleibt bis zum Abpfiff und fährt mit dem letzten Zug nur bis Oldenburg, wo er sich für 75 Euro ein Taxi nach Hause gönnt.
Doch warum sollte er jetzt noch bleiben, wo der Sieg doch so gut wie feststand? Obwohl: Auch beim vorangegangenen Heimspiel hatte es zur Pause 3:0 für Bremen gestanden. Günther hatte ihn damals heimgeschickt und Gerd deshalb eine der dramatischsten Halbzeiten der Vereinsgeschichte verpasst, in der Udinese innerhalb von sieben Minuten ausglich, Werder aber schließlich doch 4:3 gewann.
Jetzt aber schien wirklich nur noch von Belang, ob Barcelona mit einem Sieg bei Udinese helfen würde. Also verließ Gerd das hell erleuchtete Stadion und eilte zum Bahnhof, nahm Platz im Zug und hörte das Spiel im Radio weiter. Werder schoss noch ein viertes und fünftes Tor, auch die Griechen trafen, doch Gerd konnte mithören, wie es im Weserstadion leise wurde. Ohne einen Sieg von Barcelona in Norditalien könnte Werder noch zehn Tore schießen, ohne weiterzukommen – und in der Ferne blieb es torlos.
Nur wenige Minuten waren noch zu spielen, als Gerd in Oldenburg die Treppe zum Bahnsteig erklomm und sein Regionalexpress einfuhr. Auf den letzten Stufen brach er in Jubel aus, der Lokführer sah ihn in seinem grün-weißen Schal und winkte Gerd aufgeregt zu sich. Er solle einfach reinkommen, für einen ordentlichen Zustieg sei es sowieso zu spät. Wahrscheinlich war das geschummelt, denn der Lokführer war ebenfalls Werder-Fan, und so hörten die beiden zwischen Oldenburg und Bad Zwischenahn, wie die Spanier bei Udinese noch ein zweites Tor schossen und Bremen es wirklich geschafft hatte. Auch die verbleibende halbe Stunde durfte Gerd auf der Lok bleiben und rollte glücklich in Leer ein.
Er hatte eine vorweihnachtliche Bescherung erlebt, mit der wohl exemplarisch all jene belohnt werden sollten, die Opfer zu später Anstoßzeiten und ausgedünnter Fahrpläne sind. Selbst wenn ihnen diese Geschichte wahrscheinlich nur ein kleiner Trost ist. Für alle anderen aber gilt: Nie vor dem Abpfiff gehen!
Der bekannte 1.-FC-Köln-Ethnologe und Buchautor Manuel Andrack brachte von einer Expedition nach Jena einen interessanten Gesang mit, den er dort anderen mitgereisten Fans abgelauscht hatte. Ja, er hörte ihn nicht nur, sondern sah auch noch dessen Aufführung. Denn die Sänger hielten eine weiße Unterhose hoch, auf die hinten ein Stück brauner Stoff und vorne ein Stück gelber genäht worden waren. Dazu sangen sie so begeistert wie unablässig: »Ein Leben lang, dieselbe Unterhose an.«
Eine Erklärung für diesen Unsinn fand er nicht, und diese rätselhafte Feier des Analen soll hier auch weder freudianisch noch anderswie psychologisch ausgedeutet werden, sondern vielmehr als Vorwand gelten, auf den Mangel an seltsamen bis komischen Sprechchören in Fußballstadien hinzuweisen. Denn wohin auch immer man seine Schritte lenkt, hört man die gleichen Gesänge und Schlachtrufe, nur die Vereinsnamen sind andere. Das ist langweilig, aber kein Grund für Kulturpessimismus, schließlich gibt es dennoch eine Top Ten skurriler, eigenartiger und kreativer Fan-Gesänge:
Ein Musterbeispiel für die ironische Wendung von Stigmatisierung ist beim so genannten »Pillenclub« aus Leverkusen zu hören: »Wir schlafen nicht auf Betten, wir schlafen nicht im Stroh, wir schlafen auf Tabletten, das ist bei Bayer so.«
Ebenfalls sehr elegant ist der Umgang mit dem gleichen Problem beim FC St. Pauli, dessen Fans oft als linke Zecken geschmäht werden: »Auf geht’s, Zecken, schnorrt ein Tor.«
Überhaupt nicht selbstironisch und zudem schwach gereimt, aber unfreiwillig komisch ist dieser Schlachtruf bei Schweinfurt 05: »Schweinfurt am Main, dreckig und gemein.«
Schon lange wissen wir, dass die Idee der Region im Fußball sehr beliebt ist, wenn Abstiege angeblich schlecht oder Meisterschaften ganz toll für eine Region sind, aber dass in Erfurt ein Drei-Städte-Eck der Gewalt gefeiert wird, ist schon ziemlich verblüffend: »Erfurt, Leipzig, Halle – Fußballkrawalle.«
Das Genre der Fahrstuhllyrik hat dort ein besonderes Qualitätsniveau erreicht, wo man zuletzt mit großer Begeisterung die Ligen wechselte. In Bochum hieß es: »Wir steigen auf, wir steigen ab und zwischendurch Uefa-Cup.« In Köln wurde zur Melodie der Polonaise Blankenese gesungen: »Erst steigen wir ab, dann steigen wir wieder auf, dann steigen wir wieder ab, dann steigen wir wieder auf. Das finden wir lustig, weil wir bescheuert sind.«
Kreativ sein kann man auch in der fünften Liga. Das beweisen die Fans von Mosella Niederemmel, die sich als lustige Provinzler auch noch »N-Town Ultras« nennen, mit rätselhaftem und leicht dadaistischem Gesang. Zu betonen ist dabei die jeweils zweite Silbe: »Hallo, hallo, hallo, hallo, bitte!«
»Love will tear us apart« von Joy Division ist das wahrscheinlich traurigste Stück der Popgeschichte. Daraus eine Huldigung für Manchester Uniteds Ryan Giggs zu machen, darauf muss man erst einmal kommen: »Giggs will tear you apart.«
Wenn an der Hafenstraße im Essener Norden ein paar tausend Fans der Rot-Weißen das Idiom ihrer Heimat feiern, ist das beeindruckend und zugleich richtig komisch: »Ja wat denn, ja wat denn.«
Eine schöne Adaption des Klassikers von John Denver und eine elegante Umsetzung des bei allen Fußballfans beliebten Motivs der Heimat kommt vom Main: »Country Roads take me home, to a place I belong! Offenbach-Bieber, meine Heimat. Bieberer Berg, OFC!«
Im Rhythmus des allgegenwärtigen Schlachtrufs »Alles außer XY ist scheiße« trugen Anhänger des SC Rot-Weiß Oberhausen eine Frage vor, die sich Wochenende für Wochenende Tausende Fans stellen: »Warum sind die Ordner so hässlich?«
Als Günther ging, sagte er, dass er sich nun etwas dösig fühlen würde. Kein Wunder, er hatte siebeneinhalb Stunden im Sessel gesessen und Fernsehen geguckt. Steffen war später gekommen und früher gegangen, hatte es aber auch noch auf knapp fünf Stunden gebracht. Peter war erst Mitte der zweiten Halbzeit des deutschen Länderspiels erschienen und hatte sich schon vor dem Argentinienspiel verabschiedet, das machte allenfalls zweieinhalb Stunden. Regina war am kürzesten da gewesen, hatte sich und Günther nach dem Kino was zu essen beim Vietnamesen geholt (wir anderen hatten keinen Hunger). Danach war sie zu unserem Bedauern relativ schnell heimgefahren, aber irgendwie war ein Acht-Stunden-Fußball-Tag vor dem Fernseher eben doch ein Jungsding.
Obwohl: Beweisen wollten wir nichts. Wir saßen halt da, schauten Fußball, nur halt so lange wie noch nie. Ich hielt die Fernbedienungen und durfte den Gang durch die verschiedenen televisionären Ebenen lenken. Es galt schließlich, nicht nur das Angebot des freien Fernsehens mit dem des Bezahlfernsehens zu koordinieren, dieses offerierte auch noch diverse Unterebenen. So musste man sich etwa entscheiden, ob man Iran gegen Deutschland im Zweiten oder Schweden gegen Ungarn, Tschechien gegen Rumänien oder die WM-Konferenzschaltung auf Premiere anschauen wollte. In diese Konferenz wiederum wurde mitunter Ottmar Hitzfeld völlig unvorbereitet im Studiogespräch eingeblendet. Er gab seine Expertisen ab, während man im Hintergrund sah, wie sich die Rumänen in Prag abmühten.
Streitereien darum, was wir und wie lange wir welches Spiel anschauen wollten, gab es nicht. Vielleicht hielt sich Steffen aber auch nur zurück, obwohl er gerne mehr vom Spiel der Argentinier gegen Uruguay gesehen hätte. Er war nämlich schon einige Male am La Plata gewesen und wusste uns gleich Spieler zu identifizieren, deren Namen wir noch nie gehört hatten. Aber irgendwie sahen wir vom Spiel in Buenos Aires nicht viel, während wir das der Deutschen bis zu den vielen Auswechselungen fast komplett anschauten. Später ließen wir uns ins Drama der Schlussphase von Zagreb fallen, als Bulgarien (seltsamerweise vom DSF übertragen) kurz vor Abpfiff bei den Kroaten noch ausglich. Anschließend – oder war es zwischendurch? – stöhnten wir erstaunlich synchron auf, als die Iren in Paris beste Chancen vergaben. Ansonsten hatten wir auch unterschiedliche Vorlieben, Günther etwa drückte den Norwegern die Daumen, ich hielt wie eigentlich immer zu den Schotten. Günther gewann 1:0.
So trieben wir durch die Stunden, vom Nachmittag über den Frühabend bis in die Nacht. Die Spiele zogen an uns vorbei, mal hier angepfiffen und dort abgepfiffen wurde in Stockholm, Istanbul, Manchester, Santander oder Kiew, und ich fügte mich diesem Rhythmus gern, weil meine verschnupfte Nase sowieso zu einem eher vegetierenden Leben auf dem Sofa einlud.
Bevor die anderen gekommen waren, hatten Günther und ich gefunden, dass Konferenzschaltungen dann helfen, wenn Spiele so langweilig sind wie das von England gegen Wales oder Schottland gegen Norwegen. Später diskutierten wir die Frage nicht mehr. Wir redeten sowieso immer weniger. Zogen wir überhaupt noch neue Erkenntnisse aus dem, was wir sahen? Machte uns das noch Spaß? Wir sprachen nicht darüber, als wir von Spielschnipsel zu Spielschnipsel wechselten und uns von den Rufen der Reporter (»Tor in Istanbul«) anlocken ließen.
Als Steffen ging, verabredete er mit Günther für den nächsten Tag den Besuch eines Oberligaspiels. Ich mochte nicht mitkommen, konnte sie aber verstehen. Die Stunden vor dem Fernseher hatten nicht Hunger auf mehr gemacht. Sie hatten die Sehnsucht nach richtigem Fußball ohne Umschaltoption geweckt – und sei er auch nur viertklassig.
Günther sagte, dass wir das nicht noch einmal zu machen brauchten. Dann war er auch schon weg, und ich schaltete um und schaute mir im Sportstudio des Zweiten noch an, wie Italien in Slowenien hatte verlieren und Polen in Österreich gewinnen können.
Große Siege auf dem Rasen werden stets von einer Fülle kleiner Geschichten auf den Rängen umschwirrt. Denn irgendwie muss sich der Fan doch erklären, wie unmögliche Erfolge möglich werden konnten und auf welche Weise die Anhänger daran beteiligt waren. Als der VfL Bochum im Februar 2004 seinen ersten Heimsieg über den FC Bayern München seit fast zwei Jahrzehnten feierte, konnte das nicht allein aufgrund einer laut des damaligen Trainers Peter Neururer vom Zeugwart erarbeiteten Taktik gelungen, dem stahlgeschienten Mittelfinger des Torhüters zu danken oder schlicht durch eine gute Leistung zu erklären sein.
Hatte der historische Sieg also mit Claudias neuem blau-weißen Schal und dem Bettler unter der Brücke zu tun? Obwohl Claudia vor dem Spiel verdammt aufgeregt ins Stadion kam, weil Bettler Mike ihr seine Unterstützung aufgekündigt hatte. Mike geht seiner Tätigkeit unter einer Bochumer Brücke nach, die auf dem Weg von Claudias Wohnung zum Stadion liegt. Einige Monate vor dem Sieg über die Bayern hatte Claudia ihm einen Euro in seinen Hut geworfen, und er wünschte ihr daraufhin »viel Glück und drei Punkte«. So kam es, und bei den folgenden Heimspielen wurde ein Ritual daraus: Claudia spendete, Mike gab ihr die besten Wünsche mit auf den Weg, der VfL Bochum siegte.
Das Motiv, durch milde Gaben an die Armen das persönliche Schicksal freundlich zu beeinflussen, kennt fast jede Weltreligion. Warum sollte es beim Fußball anders sein? Und gegen die Bayern sollte es selbstverständlich so weitergehen, doch zunächst fand Claudia den Talisman nicht an seinem Platz. Sie war aber noch mehr beunruhigt, als er doch noch auftauchte und der Euro in seinem Hut landete, Mike die guten Wünsche aber trotzdem versagte. »Heute geht das nicht, ich bin seit 27 Jahren Bayern-Fan«, sagte er. Dies war eine Katastrophe, zumal Claudia auch noch den von ihrer Tante aus Oberbayern gestrickten Fanschal trug. Er war ein Geschenk zum Geburtstag, der jedoch erst am Tag nach der Partie anstand. Die Tante hatte den Schal per Post geschickt, das Päckchen nicht mit einer Warnung versehen, Claudia es ausgepackt und den Schal unvorsichtigerweise vor der Zeit umgelegt.
Spielten Claudia, der Schal und das Ritual mit Mike also keine Rolle beim Sieg von David gegen Goliath? Half beim Sieg das Erkalten der Fanfreundschaft zwischen den Anhängern des VfL Bochum und denen des FC Bayern? Mochte diese auch tief in den siebziger Jahren wurzeln und dereinst ehrlichen Herzens betrieben worden sein, hatte sie irgendwann die Züge des Stockholm-Syndroms angenommen. Diese Identifikation von Opfern mit ihren Tätern wurde zum ersten Mal 1973 bei einem Banküberfall in der schwedischen Hauptstadt beschrieben, als die Geiseln mit den Geiselnehmern paktierten.
Ähnlich war die Stimmung im Ruhrstadion, wenn Bochumer und Münchner bei den Spielen ihrer Teams zwar gemeinsam jubelten, aber halt immer nur der FC Bayern gewann. Gerne auch durch zweifelhafte Elfmeter. Einmal führte der VfL zur Pause mit 4:0 und unterlag 5:6. Und das sollte man auch noch feiern?
Inzwischen jedoch findet man den FC Bayern auch im vom Syndrom befreiten Bochum so blöd wie überall sonst, was Claudia übrigens schon lange propagiert hatte. Dem Bettler Mike hatte sie übrigens in Aussicht gestellt, im Falle eines Sieges über die Bayern vor dem nächsten Heimspiel drei Euro zu spenden. Zufällig traf sie ihn abends auf dem Heimweg wieder. »Kein Scheiß, ich habe gerade an dich gedacht«, sagte er. Und als sie ihm noch einmal die erhöhte Gabe ankündigte, wehrte er ab. Das wäre schon in Ordnung. Mike hat seine Bettlerehre und wollte sich seinen Schmerz über die Niederlage seiner Bayern nicht abkaufen lassen.
Wobei auch diese Geschichten vom Gabenwesen und dem Ende des Stockholm-Syndroms nur ein Teil der Wahrheit des Sieges über die Bayern sind. Denn in Wirklichkeit wurde der Erfolg durch den richtigen Umgang mit einem Kaffeebecher in einer Wohnung fern von Bochum gesteuert. Wie, das kann ich aber wirklich nicht verraten.