Als Ravensburger E-Book erschienen 2012

Die Print-Ausgabe erscheint in der Ravensburger Verlag GmbH.
© 2012 Ravensburger Verlag GmbH

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ISBN 978-3-473-47261-1

www.ravensburger.de

Die Anzeige

Janko schnaubte leise und warf den Kopf zurück. Dann scharrte er unruhig mit den Vorderfüßen auf dem Stallboden.

„Ist ja schon gut.“ Sina griff nach dem Striegel und fuhr mit schnellen, kurzen Strichen über den Hals des dunkelbraunen Quarterhorses. „Du hast Hunger, ich weiß.“

Normalerweise machte sie bei ihrem Nachmittagsausritt immer eine halbe Stunde Pause auf der Waldwiese und ließ Janko grasen. Aber heute war keine Zeit dafür gewesen. Heute hatte Sina noch etwas vor.

Sie ließ den Striegel zurück in den Korb fallen und klopfte Janko gegen die Flanken. „Genug für heute, Alter.“

„Und was ist mit den Hufen?“

Sina fuhr herum. In der Stallgasse stand Tori und grinste.

„Was hast du denn so Wichtiges vor, dass du dein Pferd nicht ordentlich putzt?“

Sina angelte wortlos den Hufkratzer aus dem Korb, zog Jankos rechten Vorderfuß auf ihren Schenkel und begann ihn zu säubern. Tori war ihre Freundin seit dem Kindergarten, aber in letzter Zeit ging sie Sina mit ihrer Besserwisserei ganz schön auf die Nerven.

„Zufrieden?“, fragte sie, als sie alle vier Hufe ausgekratzt hatte.

Keine Antwort. Tori war verschwunden. Sina hörte sie draußen im Hof mit den anderen Pferdemädchen lachen.

Sie füllte Jankos Heuraufe auf, wuschelte ihm zum Abschied durch die Mähne, brachte den Korb mit dem Putzzeug zurück in die Sattelkammer und rannte aus dem Stall. Ein schneller Blick auf die Armbanduhr. Kurz vor fünf. Wenn sie sich beeilte, konnte sie sich noch duschen und umziehen, bevor sie zur Eisdiele auf dem Marktplatz radelte. Um David zu treffen.

Wie immer, wenn sie an ihn dachte, begann Sinas Herz zu galoppieren.

„Ganz ruhig, Sina“, murmelte sie.

Vielleicht kam David ja gar nicht. Vielleicht hatte er ihre Verabredung vergessen. Oder er hatte etwas Besseres vor.

Als Sina ihr Fahrrad aus dem Ständer schob, hörte sie Sues Stimme.

You must be joking!“ Immer wenn die Ranchbesitzerin aufgeregt oder wütend war, fiel sie in ihre Muttersprache zurück. Und jetzt musste sie fuchsteufelswild sein, das merkte man daran, dass auch ihr Deutsch wie Amerikanisch klang. „Das kann doch nicht Ihr Ernst sein. Von wem haben Sie denn einen solchen Blödsinn?“

„Nun beruhigen Sie sich doch bitte“, entgegnete eine Männerstimme, die Sina nicht kannte. „Wir sind ganz bestimmt nicht hier, um Sie zu ärgern. Aber wir müssen jedem Hinweis nachgehen.“

„Tierquälerei!“, keuchte Sue. „Wie können Sie es wagen, mir so etwas vorzuwerfen! Ausgerechnet mir. That’s just ridiculous!

Tierquälerei? Das war tatsächlich absurd. Sue liebte Tiere über alles. Sie brachte es nicht einmal übers Herz, eine Kellerassel zu töten. Einmal hatte Sina sie dabei beobachtet, wie sie eine halb erfrorene Wespe so lange angehaucht hatte, bis sie wieder weiterfliegen konnte.

Die Stimme der Ranchbesitzerin kam aus dem offenen Bürofenster. Davor hatten sich die Reitermädchen versammelt und lauschten.

Die Reitermädchen, das waren Tori, Juliana, Hannah, Ayla, Myriam – und Sina natürlich. Vormittags gingen sie in die Klasse 7a des Friederike-Fliedner-Gymnasiums, nachmittags trafen sie sich auf der Sunshine Ranch. Jede von ihnen hatte ein Pflegepferd, für das sie ganz allein zuständig war, das sie ausritt, fütterte und versorgte.

„Ohne euch könnte ich die Ranch zumachen“, sagte Sue immer. „Ich würde die Arbeit ja nie und nimmer alleine schaffen.“

Das war natürlich übertrieben. Sue war nicht allein. Sie hatte Mike, einen ausgebildeten Reitlehrer und Pferdepfleger, der sich auch um alle anderen Tiere kümmerte. Denn auf der Sunshine Ranch gab es nicht nur zehn Pferde, sondern auch Gänse, Enten, Hängebauchschweine, Hühner, eine Ziege und einen Esel. Und Washington, den riesigen Neufundländer, der immer im Weg herumstand. Wie jetzt, als Sina über den Hof zu den anderen Mädchen rannte.

„Was ist denn los?“, fragte sie und drückte sich an dem zotteligen Hund vorbei.

„Schschsch!“, machten die anderen.

„Sue hat Ärger“, erklärte Tori mit gesenkter Stimme. „Mit der Polizei.“

„Mit der … was?“

„Schsch!“, machte Tori noch einmal, obwohl Sina ganz leise gesprochen hatte.

„Ich bestehe darauf, zu erfahren, wer mich angezeigt hat!“, donnerte Sue im Büro.

„Die Anzeige war anonym, das sagte ich doch bereits“, erwiderte der Polizeibeamte geduldig. „Wir haben natürlich keinen Durchsuchungsbeschluss, aber wenn Sie uns freiwillig einen Einblick in die Räumlichkeiten gewähren, könnten wir die Angelegenheit vermutlich sehr schnell klären.“

You’re welcome!“, herrschte Sue ihn an. „I’ve got nothing to hide.

„Sie hat nichts zu verbergen“, übersetzte Tori, die keine Gelegenheit ausließ, mit ihren Englischkenntnissen zu protzen. Als ob die anderen den Satz nicht auch ohne sie verstanden hätten!

Die Pferdemädchen wichen zurück. Sue stürmte mit hochrotem Kopf aus dem Büro. Zwei atemlose Polizeibeamte folgten ihr.

„Kommen Sie, worauf warten Sie noch?“, rief Sue den Männern über die Schulter zu und stolperte dabei fast über Washington. Es war wirklich erstaunlich, wie der Hund es schaffte, immer genau dort zu stehen, wo man ihn gerade nicht brauchen konnte.

Sue hastete über den Hof zum Stall, die Polizisten eilten hinterher und die sechs Freundinnen folgten neugierig.

„Sehen Sie? Alles in bester Ordnung.“ In der Stallgasse breitete Sue beide Arme aus wie eine Sängerin auf einer Showbühne. Allerdings waren alle Boxen leer. Nur Janko hatte seinen Kopf tief in die Futterkrippe gesenkt und malmte Heu.

„Wo sind denn die Tiere?“ Der kleinere Beamte strich sich irritiert über den Schnurrbart.

„Auf der Weide, wo sonst?“, gab Sue zurück. „Oder soll ich sie bei diesem Wetter etwa im Stall lassen?“

Der Polizist hob entschuldigend die Hände. Sue stürmte aus dem Stall, die rotblonden Locken wehten hinter ihr her wie Flammen.

Die beiden Beamten wechselten einen Blick. Der Größere zuckte mit den Schultern. Bloß nicht reizen, sagte sein Gesichtsausdruck. Dann wollte er Sue folgen und stolperte über Washington.

„Verdammt! Kann mal jemand dieses Kalb an die Leine nehmen?“ Er starrte die Pferdemädchen so drohend an, als wollte er sie allesamt verhaften.

Ayla zog den Hund am Halsband aus dem Weg und streichelte ihm über den Kopf. „Sei schön brav, Washington. Sonst machst du alles nur noch schlimmer.“

Washington wedelte freundlich und ließ sich direkt vor dem Stallausgang fallen, sodass die Mädchen über seinen Rücken steigen mussten, um nach draußen zu kommen.

Die Prozession führte hinunter zur Weide, wo neun wohlgenährte, zufriedene Pferde und ein kleiner Esel grasten, in die Sattelkammer, die ausnahmsweise einmal aufgeräumt war, durch die Scheune in den Schuppen und schließlich in die Futterkammer.

Dort wurden die beiden Polizeibeamten fündig.

„Was ist das denn?“, fragte der Schnurrbart und zeigte angewidert auf die Schimmelschicht, die auf dem Sack mit dem Pferdemüsli wucherte wie Moos.

„Das Futter ist verdorben“, konstatierte sein Kollege und zückte sein Notizbuch.

That’s impossible!“ Sue blickte zuerst auf das Futter, dann starrte sie die Pferdemädchen an. Die Pferdemädchen starrten genauso fassungslos zurück.

Sue hatte Recht. Das war unmöglich. Verschimmeltes Müsli, noch dazu ein ganzer Sack voll! Sue war kein übertrieben ordentlicher Mensch, aber die gesunde Ernährung der Tiere ging ihr über alles. Sie achtete immer darauf, dass die Futterkammer aufgeräumt und sauber war, jeden Abend wurde der Raum ausgefegt und altes Futter entsorgt. Und jetzt stand hier ein Sack mit verdorbenem Futter mitten in der Kammer.

„Das Müsli war gestern Abend noch nicht hier“, erklärte Juliana. „Ich weiß das ganz genau, weil ich nämlich einen neuen Sack Leinsamen aus dem Regal geholt habe. Da wär mir das Zeug doch aufgefallen.“

„Und was ist damit?“ Der Schnurrbart zog einen Korb mit trockenem Brot aus dem Regal, das ebenfalls von einer grünblauen Schimmelhaube überzogen war. Angeekelt kippte er den Inhalt des Korbes zu dem Pferdemüsli. „Ich würde Ihnen empfehlen, die Futterkammer gründlich zu reinigen. Wir verzichten heute auf eine eingehende Überprüfung, aber wir werden uns Ihre Ranch in den nächsten Tagen noch einmal vornehmen. Sie haben eine Verantwortung gegenüber Ihren Tieren, das ist Ihnen hoffentlich bewusst.“

Die Pferdemädchen schnappten alle gleichzeitig nach Luft. Sie haben eine Verantwortung gegenüber Ihren Tieren. Als ob Sue das nicht wüsste! Für die Sunshine Ranch und das Wohlbefinden der Tiere hätte sie ihr letztes Hemd gegeben. Oder vielmehr: Sie hatte ihr letztes Hemd dafür gegeben.

Seitdem die Schauspielerin vor vier Jahren ihren alten Beruf an den Nagel gehängt und den Pferdehof gekauft hatte, hatte sie jeden Cent ihres Vermögens in den Aufbau der Ranch gesteckt. Bis auf das Wohnhaus waren alle Gebäude abgerissen worden. Sue hatte einen hellen, luftigen Stall und neue Wirtschaftsgebäude errichten lassen. Die kränkelnden, depressiven Pferde, die sie von ihrem Vorbesitzer übernommen hatte, waren heute nicht mehr wiederzuerkennen. Sie strotzten geradezu vor Gesundheit und Lebensfreude. Und auch die anderen Tiere, die sich auf Sues Sunshine Ranch sammelten, als wäre es Noahs Arche vor der Sintflut, hätten es nirgendwo besser treffen können.

„Ich verwarne Sie hiermit offiziell.“ Der größere Polizist kritzelte etwas in sein Notizbuch, dann ließ er es mit einem lauten Knall zuschnappen und verstaute es in seiner Jackentasche.

Sina wechselte einen nervösen Blick mit den anderen Mädchen. Sie wusste nur zu gut, was die beiden Beamten jetzt erwartete: einer von Sues schrecklichen Wutanfällen. Denn so liebevoll und langmütig Sue im Umgang mit ihren Tieren war, so ungeduldig war sie gegenüber Menschen, die ihr auf die Nerven gingen. Hoffentlich wurde sie nicht so ausfällig, dass sie am Ende eine Anzeige wegen Beamtenbeleidigung kassierte.

Sina verschränkte die Arme vor der Brust und wartete darauf, dass Sue ausrastete. Aber nichts geschah.

I just don’t get it“, murmelte die Ranchbesitzerin nur. „Ich verstehe es einfach nicht.“

„Ich auch nicht!“, rief Juliana. „Wirklich, ich kann beschwören, dass gestern alles noch in bester Ordnung war …“

„Schon gut“, unterbrach sie der kleinere Polizist. „Wir drücken noch mal ein Auge zu. Wenn bei der nächsten Kontrolle alles einwandfrei ist, dann bleibt unser heutiger Besuch ohne Konsequenzen.“

„Falls wir allerdings beim nächsten Mal auf ähnliche hygienische Mängel stoßen sollten, werden wir uns gezwungen sehen, den Hof für eine Weile zu schließen“, ergänzte sein Kollege.

„Vielleicht ist das gar nicht mehr nötig“, erwiderte Sue. Ihre Stimme klang dabei so kraftlos und schwach, als sei sie in der letzten halben Stunde um zwanzig Jahre gealtert.

Eiszeit

„Was meint sie denn damit?“, flüsterte Tori fassungslos. Nachdem die beiden Polizisten beim Verlassen der Futterkammer noch einmal über Washington gestolpert waren, waren sie in ihren Dienstwagen gestiegen und weggefahren. Sue war wortlos in ihrem Büro verschwunden. Ohne einen Wutausbruch und ohne eine Strafpredigt darüber zu halten, wie wichtig peinliche Sauberkeit und Hygiene bei der Pferdeernährung waren. Ohne ein einziges Wort hatte sie die Freundinnen einfach stehen lassen.

„Es klingt, als ob sie selbst schon darüber nachgedacht hätte, die Ranch zu schließen“, wisperte Ayla.

„Aber das wäre ja …“, begann Sina und verstummte.

Den anderen schienen ebenfalls die Worte zu fehlen. Tori kaute auf einer Strähne ihrer langen weißblonden Haare herum. Das tat sie immer, wenn ihr nichts mehr einfiel.

Es ist einfach undenkbar, dachte Sina. Wenn Sue die Sunshine Ranch dichtmachen würde – das wäre, als ob wir alle miteinander unser Zuhause verlieren würden. Wo sollten wir unsere Nachmittage verbringen, worüber würden wir reden? Seit vier Jahren trafen sie sich jeden Tag auf der Ranch. Nicht nur an Schultagen, sondern auch am Wochenende und in den Ferien. Die Pferdemädchen waren immer füreinander da. Wenn eine von ihnen krank war oder in Urlaub fuhr, übernahm eine andere ihre Pflichten auf der Ranch. Wobei sie ohnehin nur gezwungenermaßen verreisten, weil die Eltern darauf bestanden oder weil die Großeltern verlangten, dass sie sich endlich einmal wieder blicken ließen. „Warum sollten wir wegfahren?“, hatte Ayla es neulich auf den Punkt gebracht. „Besser als hier ist es nirgendwo.“

„Ist ja wohl klar, was jetzt ansteht“, bestimmte Tori. „Wir treffen uns morgen Nachmittag hier. Dann wird zuerst die Futterkammer ausgeräumt. Alles, was nicht tipptopp in Ordnung ist, wird entsorgt. Danach nehmen wir uns den Stall und die Scheuer vor. Wir dürfen nichts übersehen.“

Normalerweise hätte sich Sina über Toris Kommandoton geärgert, aber nun war sie einfach nur froh über die entschiedene Art ihrer Freundin.

„Glaubst du denn, das bringt was?“ Hannah blinzelte nervös unter dem langen, dunklen Pony hervor, der ihr Kindergesicht noch runder erscheinen ließ.

„Na klar. Wenn die Polizisten beim nächsten Mal nichts mehr finden, lassen sie Sue in Ruhe, das hast du doch gehört.“

„Aber vielleicht nützt das Aufräumen ja gar nichts“, wandte Ayla leise ein.

„Wie meinst du das?“ Tori zog fragend die Augenbrauen hoch.

Aber Sina hatte verstanden. „Du meinst, dass da irgendjemand seine Finger im Spiel hat?“

„Ganz genau. Der Sack mit dem schimmeligen Müsli wäre Juliana doch gestern aufgefallen. Wenn er schon in der Kammer gestanden hätte.“

„Aber da war nichts“, ergänzte Juliana.

„Versteht ihr? Das bedeutet, dass irgendjemand den Sack heute in die Kammer gebracht hat. Zusammen mit dem verdorbenen Brot.“

„Und wer immer das getan hat“, fuhr Tori nachdenklich fort. „Der hat Sue auch angezeigt.“

Von einer Sekunde auf die andere war Sinas Mund ganz trocken.

„Wer könnte so etwas tun?“, flüsterte Ayla.

„Und warum?“, wisperte Hannah.

Sina raste über den holprigen Trampelpfad in Richtung Stadtzentrum. Mit etwas Glück würde sie es noch einigermaßen pünktlich zur Eisdiele schaffen. Wenn sie mit aller Kraft in die Pedale trat und alle Ampeln grün waren und die Schranke am Bahnübergang offen stand …

Aber natürlich standen sämtliche Ampeln auf Rot, die Schranke war zu und Sina traf erst mit zwanzigminütiger Verspätung bei Alberto ein. Als sie in die Eisdiele stürmte, wollte David gerade gehen.

„Entschuldigung! Ich bin viel zu spät“, keuchte sie.

„Ist nicht so schlimm.“ David zuckte mit den Schultern, aber sein Gesichtsausdruck sagte etwas anderes. Sein Gesichtsausdruck sagte: Ich bin total genervt.

Sina wollte ihm von dem verdorbenen Futter erzählen, aber sie war noch völlig außer Atem. Während sie nach Luft rang, starrte David sie an. Und plötzlich sah Sina sich selbst, wie er sie sehen musste.

Die widerspenstigen dunklen Locken standen in alle Richtungen ab, ihre Stirn glänzte und auf ihrem Kinn prangten drei große Pickel. Sie trug immer noch ihre dreckigen Reitklamotten, die ausgebeulte Jeans mit den Grasflecken und das verschwitzte T-Shirt, auf dem zu allem Überfluss ein großes Herz mit der Aufschrift „I’m your darling“ gedruckt war.

Sie sah definitiv nicht gut aus. Und sie roch auch nicht gut. Sie stank nach Pferd.

„Pferde stinken nicht“, widersprach Sina ihrer Mutter immer, wenn die ihre dreckigen Reitklamotten mit spitzen Fingern in die Waschmaschine beförderte. „Sie duften!“

Aber in diesem Moment war ihr Jankos warmer, durchdringender Pferdegeruch ausgesprochen unangenehm.

„Tut mir leid“, flüsterte sie.

„Schon gut.“

„Ich lad dich zum Eis ein. Als Entschädigung dafür, dass ich dich so lange hab warten lassen“, sagte Sina.

„Nee. Ich muss … leider weg. Mir ist gerade eingefallen, dass ich … äh … noch Hausaufgaben machen muss“, stotterte David.

Das war so offensichtlich eine Ausrede, dass Sina gar nicht mehr versuchte, ihn zum Bleiben zu überreden. Er hob unsicher seine Hand und grüßte. Dann war David weg.

Sina sah durch die Schaufensterscheibe, wie er auf sein Fahrrad stieg und losfuhr, ohne sich noch einmal umzuwenden. „Verdammt“, murmelte sie. „Verdammt, verdammt, verdammt.“

David ging seit Beginn des Schuljahres in ihre Klasse. Er war aber kein Sitzenbleiber wie Tilman oder Jan, obwohl er ein bisschen älter war als die anderen Jungs. Seine Eltern waren in den Sommerferien aus Hamburg in ihre Stadt gezogen.

David sah richtig gut aus. Er war groß und dunkelhaarig und trug seine Haare so lang, dass sie ihm in die Augen fielen. Nur wenn er den Kopf zurückwarf, um sie aus der Stirn zu schütteln, sah man, dass er strahlend blaue Augen hatte.

David war von Anfang an der Schwarm aller Mädchen gewesen. Er schien das gar nicht zu bemerken. Vielleicht merkte er es auch und es ließ ihn einfach kalt. Jedenfalls behandelte er die Mädchen nett und freundlich, aber gleichgültig. Alle, bis auf Sina.

David und Sina saßen in Kunst nebeneinander. Nur in diesem einen Fach und das auch nur zufällig. Aber beim Zeichnen hat man viel Zeit zum Quatschen und so hatten sie sich besser kennengelernt und festgestellt, dass sie sich eigentlich ziemlich ähnlich waren.

Dinge, die David und ich gemeinsam haben, hatte Sina in ihr Tagebuch geschrieben.

1. Wir lieben Pferde. David ist mal geritten und überlegt, ob er wieder damit anfangen soll.

2. Wir brauchen beide genau sieben Minuten zur Schule (mit dem Fahrrad). Leider kommen wir aus unterschiedlichen Richtungen.

3. Unser Lieblingsessen ist Spaghetti Carbonara.

4. Unsere Lieblingsfarbe ist Orange.

5. Wir stehen beide auf Linkin Park.

6. Unsere Lieblingseissorten sind Erdbeere und Pfirsich.

7. Unser meistgehasstes Fach ist Mathe.

8. Unsere meistgehasste Lehrerin ist Frau Rottman-Ermisch.

9. Unser Lieblingsfach ist Kunst. Davids, weil er unheimlich gut zeichnen kann. Meins, weil ich dann neben David sitze.

In der Zeit von einer Kunststunde zur nächsten dachte Sina ziemlich viel an David. Genau genommen dachte sie pausenlos an ihn.

Sie redete auch viel von ihm. Tori war jedenfalls schon misstrauisch geworden.

„Hast du dich etwa verknallt?“, hatte sie Sina vor Kurzem gefragt.

„Quatsch!“, hatte Sina mit fester Stimme und großer Empörung erwidert. „Wie kommst du denn darauf? Ich find ihn ganz nett, das ist alles.“ Sie hätte sich lieber die Zunge abgebissen, als Tori zu verraten, dass ihre Knie immer zu zittern begannen, wenn sie David irgendwo traf.

„Wenn du in ihn verknallt wärst, wär das auch ziemlich bescheuert“, hatte Tori gesagt. „David steht nämlich total auf Lucie aus der 7c.“

Sina hätte Tori zu gerne gefragt, woher sie das wusste und vor allem: ob sie sich da wirklich sicher war. Aber das ging natürlich nicht. Denn wenn sie damals nicht sofort das Thema gewechselt hätte, wäre Tori noch viel misstrauischer geworden.

Vielleicht hat sie ja Recht, hatte Sina in ihr Tagebuch geschrieben. Vielleicht bin ich wirklich in David verknallt.

Aber wenn es so war, dann sollte es keiner wissen. Tori nicht. Und David selbst schon gar nicht.

Warum auch?, dachte Sina. Wir verstehen uns prima, wir quatschen und lachen und haben eine Menge Spaß, wenn wir in Kunst nebeneinandersitzen. Mehr ist da nicht.

Dann hatte David vorgeschlagen, dass sie auch mal ein Eis zusammen essen könnten. Oder war das mit dem Eis Sinas Idee gewesen? So ganz genau konnte sie sich nicht mehr erinnern.

Auf jeden Fall hatten sie sich über ihre Lieblingseissorten unterhalten und dabei hatte Sina zufällig herausgefunden, dass David Albertos Eisdiele am Markt nicht kannte. „Aber bei Alberto gibt es das beste Eis der ganzen Stadt!“, hatte Sina gerufen und daraufhin hatte David gemeint, dass sie sich mal dort treffen könnten. Um herauszukriegen, ob das Eis wirklich so gut war.

Und Sina hatte alles vermasselt. Zwanzig Minuten hatte sie ihn warten lassen! Und warum? Wegen eines blöden Sacks mit verdorbenem Pferdemüsli und eines Korbs mit verschimmelten Brot!

„Ciao, bella!“

Sina fuhr zusammen. Neben ihr stand Viktor Hagenbusch. Blondes Wuschelhaar, unzählige Sommersprossen auf Wangen, Nase, Kinn und Stirn, auf Hals, Nacken, Armen und Beinen und vermutlich auch auf dem Rest seines schlaksigen Körpers.

Viktor und Sina kannten sich auch aus der Schule. Viktor ging in die Parallelklasse. Außerdem war er ein paar Monate lang zum Reiten auf die Sunshine Ranch gekommen, bis er dann im Sommer … Nein, daran wollte Sina jetzt lieber nicht denken.

„Hi, Viktor“, sagte sie lahm. „Was machst du denn hier?“ Blöde Frage. Was macht man wohl in einer Eisdiele? Klamotten kaufen?

„Ich wollte mir grade ein Eis holen. Soll ich dir eins mitbringen?“, erkundigte sich Viktor und steuerte schon auf die Theke zu. Hinkte er immer noch leicht oder bildete sich Sina das bloß ein?

„Welche Sorten willst du denn?“, rief er über die Schulter zurück.

Sina unterdrückte ein Seufzen. Erst vermasselte sie die Sache mit David und nun hatte sie auch noch Viktor am Hals. Warum war er überhaupt so freundlich zu ihr? Nach der Sache im Sommer hatten sie kaum ein Wort miteinander gewechselt.

„Lass mal!“, rief sie ihm nach. „Ich wollte hier nur jemanden … ich hab jemanden gesucht.“

Jetzt kam er wieder zurück. „Echt? Schade. Na, auch gut. Hast aber was verpasst, ich hätte dich nämlich eingeladen.“ Er steckte sein Portmonee zurück in die Hosentasche. Anscheinend hatte er auch keine Lust mehr auf Eis.

„Ich muss los“, sagte Sina. „Hausaufgaben machen.“

Sie wurde rot. Dieselbe blöde Ausrede, die David benutzt hatte! Und Viktor glaubte ihr offensichtlich genauso wenig, wie sie David geglaubt hatte.

Als Sina die Eisdiele verließ, spürte sie seinen Blick im Rücken. Aber genau wie David vorhin drehte sie sich nicht mehr zu ihm um.