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Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Februar 2015

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Umschlagabbildungen plainpicture/BY; plainpicture/Vanessa Chambard; shutterstock/Eric Isselee

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ISBN Printausgabe 978-3-499-25980-7 (1. Auflage 2015)

ISBN E-Book 978-3-644-21191-9

www.rowohlt.de

ISBN 978-3-644-21191-9

Ira Sagmeister

Wie fandet ihr das Gedicht mit der Rose, gestern? Ich bekomme es nicht aus dem Kopf.

5 Personen gefällt das

 

Silke Hernau *hach* so düster und so schön.

Irena Barić Immer sind es Rosen. Ich wünschte, die Leute würden genauer hinsehen, dann würden sie oft merken, dass die angebliche Rose eine Kamelie oder eine Tulpe ist …

Ira Sagmeister @Silke – düster und schön, genauso empfinde ich es auch.

@Irena: Manchmal kann man aber völlig sicher sein. Wer mit Rosen vertraut ist, erkennt sie sofort.

Thomas Eibner Irena, hier geht es um Poesie, nicht um Biologie. Kann es sein, dass du da etwas durcheinanderbekommst?

Helen Crontaler Das war übrigens von Hebbel, ich wundere mich, dass keiner das dazugeschrieben hat. Passt herrlich zur Jahreszeit.

Nikola DVD Ich liebe Rosen. Ich wüsste gern, wo Hebbel diese spezielle gesehen hat. Ob er sie wirklich gesehen hat oder nur in seiner Phantasie.

Ira Sagmeister Ich bin sicher, er hat sie tatsächlich gesehen. Wo? In der Nähe eines Brunnens, vielleicht. Ein Brunnen nahe einer Kirche – so stelle ich mir das vor. Und eine Rose wie keine zweite.

Thomas Eibner Ich finde eure Gespräche hier ziemlich merkwürdig.

Prolog

Dunkel. Eng. Keine Luft. Jede Unebenheit der Straße ein Schlag.

Der Knebel in ihrem Mund ließ sich nicht mit der Zunge verschieben, die Nase war vom Weinen zugeschwollen.

An sie gepresst lag der Dicke. Wimmerte. Sie fühlte das Zucken seiner gefesselten Hände. Vielleicht würden sie sich mit ihm begnügen. Im Gegensatz zu ihm war sie schnell, konnte rennen.

Sie sog Luft durch die verstopften Nasenlöcher, mit aller Kraft.

Ein weißes Schloß in weißer Einsamkeit.

Ohne dass sie es wollte, spulte ihr Hirn die Worte ein weiteres Mal ab.

In blanken Sälen schleichen leise Schauer.

Todkrank krallt das Gerank sich an die Mauer,

und alle Wege weltwärts sind verschneit.

Er war nackt gewesen, als er es ihr das erste Mal gezeigt hatte, und sie hatte nackt neben ihm gelegen. Voller Glück.

Sie presste die Lider aufeinander, versuchte, zu diesem Moment zurückzukehren. Die Zeit zu überwinden, die Monate, die vergangen waren, auszulöschen. «Düster», hatte sie gesagt. «Ein weißes Schloss, wie kann das so düster sein?»

Sie war ein Stück von ihm abgerückt, um ihm ins Gesicht sehen zu können, und war erstaunt gewesen, dass er lächelte.

Sein Vergleich hatte einen Schatten auf ihren Tag geworfen. Aber jetzt wünschte sie sich, vielleicht eines Tages an Krebs sterben zu können. In dreißig, in fünfzig Jahren. Ein Tod im richtigen Alter, bitte. Nicht heute, nicht jetzt, nicht!

In blanken Sälen schleichen leise Schauer.

Todkrank krallt das Gerank sich an die Mauer.

Zwischen ihren Fingern fühlte sie das Papier, das sie wie eine Rettungsleine mit ihm verband. Es war sein Drucker gewesen, der es ratternd ausgespuckt hatte.

Und alle Wege weltwärts sind verschneit.

Kaltes Beben überlief sie, trotz der stickigen Enge neben dem Dicken, der nach Angst stank.

Vorne wurde gesprochen. Einer der Männer klang angespannt, der andere lachte.

Holpern. Sie gab sich Mühe, den Kopf zu heben, damit er nicht bei jeder Unebenheit gegen den Boden des Kofferraums schlug.

 

Darüber hängt der Himmel brach und breit. Ihr Hirn spuckte immer weitere Verse aus. Sie klammerte sich an sie wie an ein Gebet.

hilft sich die Sehnsucht fort mit irren Händen.

Die Uhren stehn im Schloß: es starb die Zeit.

«Ich kenne das Gefühl», hatte er gesagt, und seine Hand war über ihre Wirbelsäule geglitten, auf und ab, ab und auf. «Kennst du es auch?»

«Nein», hatte sie geantwortet, aber jetzt begriff sie es, oh Gott, und wie. Die Zeit war tot und blähte sich auf wie ein verwesender Leib. Jede Sekunde war quälend lang und verging gleichzeitig viel zu schnell, jede weitere führte näher an den Moment heran, der nicht kommen durfte …

und längs den weißen Wänden

hilft sich die Sehnsucht fort mit irren Händen –

Dann hielt der Wagen. Eine Tür wurde geöffnet und wieder geschlossen. Einer der Männer sagte etwas, das sie nicht verstand.

In blanken Sälen schleichen leise Schauer, leise Schauer, leise Schauer … die Worte fraßen sich in ihr Hirn und erstickten alle Gedanken. Der Dicke gab hinter seinem Knebel gurgelnde Geräusche von sich.

Todkrank krallt das Geränk sich an die Mauer.

Schritte, die näher kamen. Metallisches Klimpern. Zwei kurze, hohe Töne. Entsperrung.

Die Heckklappe öffnete sich.

Und alle Wege weltwärts sind verschneit.

Kapitel eins

Der Tisch war gedeckt, die Gläser poliert, sogar die Wassergläser. Beatrice sah nach dem Truthahn im Rohr und kämpfte gegen das völlig unpassende Gefühl an, ein Date vor sich zu haben. So war es nicht, ganz im Gegenteil, trotzdem wollte sie unbedingt noch duschen und sich umziehen, bevor sie den Tisch deckte.

Ein Date, was für ein Wort. Als wäre sie siebzehn und nicht sechsunddreißig.

Sie schüttelte über sich selbst den Kopf, drehte die Temperatur des Ofens hinunter und stieg aus ihren Jeans. Fünfzehn Minuten noch, das würde reichen. Mit etwas Glück fanden sie nicht gleich einen Parkplatz, dann hätte sie sogar noch Zeit genug, um sich ein gelöstes Lächeln ins Gesicht zu trimmen.

Sie duschte schnell und heiß, föhnte ihr Haar halb trocken und schlüpfte in ein hellblaues Sommerkleid, über das sie eine Schürze band, bevor sie die Teller auflegte und den Truthahn aus dem Ofen beförderte.

Der Abend musste friedlich verlaufen, er musste einfach.

Der Salat stand auf dem Tisch, daneben dampfte der Reis in einer Porzellanschüssel. Es sieht aus, dachte Beatrice, als würde ich so etwas hier jeden Tag machen.

Sie hatte den Truthahn gerade fertig tranchiert, als es an der Tür läutete. Pünktlich auf die Sekunde, natürlich.

Das Lärmen der Kinder im Treppenhaus war sogar durch die geschlossene Tür zu hören, am lautesten Jakobs helle

«Ich war schneller, Mama», keuchte Jakob. «Du hast es gesehen, oder? Oder?»

Mina warf ihm einen vor Verachtung triefenden Blick zu. «Ist mir doch egal, Zwerg.» Sie drückte sich an Beatrice vorbei und schnupperte in die Wohnung hinein.

Jetzt hatte auch Achim den letzten Treppenabsatz hinter sich gelassen. Er stand abwartend da, mit einer Flasche Wein in der Hand und einem Gesichtsausdruck, der sich zwischen Lächeln und Stirnrunzeln nicht entscheiden konnte. Beatrice ging ihm entgegen und nahm ihn am Arm.

«Komm rein. Das Essen steht schon auf dem Tisch. Danke für den Wein.»

Seine Miene hellte sich auf, und er strich sich beinahe verlegen über das schüttere blonde Haar.

Es würde klappen, diesmal. Sie würden nicht streiten, sondern sich unterhalten wie Menschen, die etwas verbindet. Vielleicht würden sie sogar etwas finden, worüber sie gemeinsam lachen konnten.

«Hattet ihr eine schöne Zeit?», fragte sie.

«Ja, wir waren im Zoo in Hellbrunn», quäkte Jakob aus dem Badezimmer. Die Kinder wuschen sich freiwillig die Hände. Ein Wunder.

«Die Nashörner sind so toll, Mama. Fast so groß wie ein Haus, und die stinken wie … wie …» Er fand keinen Vergleich und schüttelte sich zur Demonstration.

Beatrice tauschte ein Lächeln mit Achim, eines der ersten seit der Scheidung. «Setzt euch, ja? Wer will Apfelsaft?» Sie fühlte, wie allmählich die Anspannung, die sie den ganzen Tag über begleitet hatte, von ihr abfiel. Das hier war ein

Scheidungsbeziehung, oh mein Gott. Vielleicht Trennungsverhältnis? Auch nicht besser.

Der Truthahn war gelungen, stellte sie nach dem ersten Bissen erleichtert fest. Das idiotensichere Rezept aus dem Internet hielt, was es versprochen hatte.

«Wein?» Achim schwenkte die Flasche über ihrem Glas.

«Ja, bitte.»

Sie prosteten einander zu. Beatrice suchte nach dem bitteren Zug um seinen Mund, der und das alles hast du weggeworfen sagte, aber heute war nichts davon zu sehen.

«Mina würde gern wieder einmal zum Segeln gehen», merkte er an, nachdem er den Wein gekostet hatte. «Ich finde, sie ist jetzt alt genug, um den Segelschein zu machen. Wäre doch ein schönes Hobby, nicht?»

«Sicher. Wenn sie das möchte.»

Mina hopste auf ihrem Stuhl auf und ab. «Ja, will ich! Dann steuere ich das Boot, und ihr sitzt nur drin und –»

Beatrices Handy klingelte. Es war der schrille, nicht zu überhörende Ton, den sie für Anrufe aus dem Büro eingestellt hatte.

«Drrring!», echote Jakob mit vollem Mund.

Ihr erster Impuls war, nicht ranzugehen. Vielleicht war es bloß Hoffmann, der einen noch fehlenden Bericht einfordern wollte.

Nein. Das konnte nicht sein. Hoffmann war für zwei weitere Tage in Wien.

«Ach, Mist.» Sie legte die Gabel aus der Hand und blickte entschuldigend zu Achim.

War sein Lächeln gönnerhaft? Oder tat sie ihm unrecht? Versuchte er, verständnisvoll zu sein? Beatrice fischte ihr Handy aus der Tasche. Florin.

Das war gut. Er würde verstehen, dass sie jetzt keine Zeit hatte, Berufliches zu besprechen. Bitte kein neuer Fall, nicht heute, nicht jetzt!

Doch sie musste nur den Klang seiner Stimme hören, um zu wissen, dass sie das Abendessen vergessen konnte.

«Bea, es tut mir leid. Eben ist ein Anruf hereingekommen, Spaziergänger haben zwei Tote gefunden, nicht weit von Schloss Aigen. Ich fahre gleich los. Kannst du direkt hinkommen?»

Sie antwortete nicht sofort, sah erst zu Achim hinüber, der ebenfalls sein Besteck abgelegt hatte. Er rieb sich übers Kinn, eine ärgerliche Längsfalte teilte seine Stirn. Anrufe dieser Art hatte es früher oft gegeben, und er hatte nie freundlich darauf reagiert.

Friedensverhandlungen einmal mehr im Ansatz gescheitert, dachte sie. «Wohin genau?» Sie kramte im Stiftehalter nach einem Kugelschreiber, der funktionierte, fand aber nur einen halb ausgetrockneten, grünen Textmarker. Der musste reichen.

Florin gab ihr eine Wegbeschreibung durch. In der Nähe des Fundorts lag ein Campingplatz, dort würde sie parken können, und dort würde er auf sie warten.

Feste Schuhe, eine Jacke, Haare zusammenbinden. Aber vorher musste sie noch mit Achim sprechen.

«Es tut mir leid, wirklich, aber …»

«Ein Notfall», führte er ihren Satz zu Ende. «Ja. Ist es das nicht immer?» Er klang resigniert, aber nicht angriffslustig, ganz anders als sonst. «Wer war dran? Wenninger?»

«Du hast es also eilig.» Achims Lächeln wirkte angestrengt, aber es war da. Er gab sich wirklich Mühe.

«Ja. Danke, dass du es verstehst», sagte sie vorsichtig. «Würdest du warten, bis ich zurück bin? Wegen der Kinder – und vielleicht können wir anschließend noch ein Glas trinken?»

Jetzt senkten sich seine Mundwinkel, aber wenigstens blieb die Stimme freundlich. «Wenn du wiederkommst, schnarche ich längst auf der Couch. Ich habe nicht vergessen, wie das abläuft, machen wir uns keine Illusionen.»

«Danke.» Sie lief ins Schlafzimmer, zog sich um, küsste die Kinder und saß innerhalb von fünf Minuten im Auto. Ein wenig beschämt über ihre eigene Erleichterung und Dankbarkeit Achim gegenüber. Als ob er etwas Besonderes geleistet hätte, indem er ihr keine Szene gemacht hatte.

 

Sie stieg aus dem Auto und roch Brathuhn. Der Duft kam aus dem Bistro des Campingplatzes und erinnerte Beatrice daran, dass sie kaum etwas von ihrem Truthahn gegessen hatte.

War vermutlich auch besser so. Florin hatte nichts über den Zustand der Leichen gesagt. Es war gut möglich, dass ein voller Magen sich mit ihrem Anblick nur schlecht vertrug.

Sie band sich die Schuhe fester zu und nahm die Jacke vom Rücksitz. Am Waldrand hatte sich eine Gruppe von Campern zusammengerottet, drei Polizisten in Uniform sprachen mit ihnen und sorgten gleichzeitig dafür, dass niemand zwischen den Bäumen verschwand.

Dann entdeckte sie Florin. Er saß an einem Tisch vor dem Campingplatzbistro und unterhielt sich mit zwei jungen

Florin winkte Beatrice dazu. «Gut, dass du da bist. Das hier sind Samuel Heilig und Daniel Radstetter. Studenten aus Freiburg, die ein paar Tage hier campen.»

Beatrice schüttelte beiden die Hand. Die von Radstetter war eiskalt und feucht, trotz der sommerlichen Temperaturen.

«Ich bin Beatrice Kaspary. Landeskriminalamt, genau wie mein Kollege. Ich vermute, Sie haben die Toten entdeckt?»

Samuel Heilig schluckte und schloss kurz die Augen. «Wir waren spazieren, mit dem Hund. Unsere Freundinnen sind im Zelt geblieben.»

Seiner Aussprache nach kam er aus Schwaben.

«Der Hund hat plötzlich wie wild zu bellen begonnen und uns weitergezerrt. Zu einer … Mulde hin. Einer Senke, wo ziemlich viel Gestrüpp wächst und dort –» Heilig unterbrach sich und warf seinem Freund einen hilfesuchenden Blick zu, aber der schüttelte nur den Kopf.

«So schlimm», flüsterte er, die Hände immer noch vor dem Mund.

«Ich gehe es mir ansehen.» Beatrice schob ihren Stuhl zurück und stand auf. «Ist Drasche schon hier?» Sie spähte zum Parkplatz hinüber, ohne das Auto des Spurensicherers zu entdecken.

«Nein, aber er ist auf dem Weg.» Florin winkte einen der uniformierten Polizisten zum Tisch. «Bleiben Sie bitte bei den beiden Zeugen.»

Mücken umschwirrten Beatrice und Florin schon am Waldrand, begleiteten sie auch, als sie in den Schatten der

Schweigend überwanden sie eine leichte Steigung. Beatrice spürte, dass Florin sie von der Seite ansah. Besorgt. Wirkte sie so mitgenommen?

«Mit mir ist alles in Ordnung», erklärte sie.

Er nickte und lächelte. «Gut zu wissen.»

Sie überlegte, ob sie ihn fragen sollte, was sie in der Senke erwartete. Auf welchen Anblick sie sich einstellen musste. Doch dann ließ sie es bleiben. Es würde ihren ersten Eindruck zunichtemachen.

 

Beatrice konnte den Fundort der Leichen hören, bevor sie ihn sah. Wütendes Summen empfing sie, als sie auf den mit rot-weißem Band abgesperrten Bereich zugingen. Sie hatte recht gehabt mit den Fliegen. Aber noch kein Geruch.

Sie kletterte unter der Absperrung hindurch und schluckte gegen das enge Gefühl in ihrer Kehle an. Doch die Anspannung blieb. Sie würde in Situationen wie dieser wohl ewig ihr Begleiter sein. Die Begegnung mit dem Tod wurde auch nach vielen Malen nicht einfacher.

Sie lagen inmitten von trockenem Laub, eine Frau und ein Mann. Er auf dem Bauch, sie auf dem Rücken. Sein Körper war klein und gedrungen, ihrer lang und überschlank. Gegensätze, dachte Beatrice.

Zwischen den Leichen kniete Dr. Vogt und war eben damit beschäftigt, mit einem Skalpell Hose und Unterhose des Mannes zu durchschneiden. Das Thermometer, mit dem er gleich die Rektaltemperatur messen würde, lag schon bereit.

Beatrice unterdrückte den Impuls, sich abzuwenden. Sie heftete ihren Blick auf das zur Seite gewandte Gesicht der Frau, die bläuliche Hautfärbung, die aus dem Mund hängen

«Erdrosselt», erklärte Vogt, bevor sie fragen konnte. «Mit einer Wäscheleine, die liegt hier noch.»

«Und der Mann?»

Der Gerichtsmediziner winkte sie heran, deutete auf den von Laub halb verdeckten Kopf der Leiche.

Ein Einschussloch an der rechten Schläfe. Eine ungleich größere Austrittswunde an der gegenüberliegenden Seite, das halbe Ohr und die Wange waren weggesprengt. Direkt neben der Hand des Toten entdeckte Beatrice nun auch eine Pistole. Wenn sie die Fingerabdrücke des Mannes darauf fanden und sich zeigte, dass die Waffe auf ihn gemeldet war, dann konnten sie von Mord und Selbstmord ausgehen. Unerfüllte Liebe, Vertrauensmissbrauch, Betrug – sie versuchte, sich vorzustellen, wie die Beziehung der beiden zueinander gewesen sein mochte.

Merkwürdig, es gelang ihr nicht.

Es lag an der Frau. Ihr Gesicht war aufgequollen und verfärbt, aber man erkannte immer noch, dass sie sehr hübsch gewesen war. Puppenartige Züge, ein durchtrainierter, langgliedriger Körper. Schicke Kleidung – ein enormer Kontrast zu den an den Schenkeln abgewetzten Jeans des männlichen Opfers, das dazu ein sandfarbenes Poloshirt in Übergröße trug.

Es war kein zulässiger Schluss, aber ein zu starker Eindruck, als dass Beatrice ihn einfach hätte ignorieren können. Mord und Selbstmord kamen hauptsächlich in Beziehungen vor, und sie glaubte nicht, dass die tote Frau ein intimes Verhältnis zu dem Mann gehabt hatte. Eher, dass er hinter ihr her gewesen war.

Unerfüllte Liebe. Stalking, vielleicht.

«Hallo, Gerd», begrüßte ihn Beatrice. «Bevor du fragst: Nein, wir haben noch nichts angefasst.»

«Gut.» Drasche stellte seinen Spurensicherungskoffer ab und entnahm ihm Handschuhe, Plastikaufsteller mit Spurennummern und sein übliches Arsenal an Behältern und Tüten.

Mittlerweile hatte auch sein Kollege Ebner den Anstieg geschafft, grüßte einmal in die Runde und packte seine Kamera aus.

«Was bringt zwei so unterschiedliche Menschen im Tod zusammen?», murmelte Beatrice, mehr zu sich selbst, doch Florin hörte ihre Worte.

«Das Leben, schätze ich. Wir wissen doch noch gar nichts über sie, Bea.»

«Ja. Trotzdem.» Sie ging ein Stück näher heran, um Drasche besser bei der Arbeit beobachten zu können. Florin gesellte sich zu Vogt, der eben unter dem Absperrband hindurchtauchte und sein Diktiergerät in die Jackentasche steckte.

«Der Mann hat einen Ausweis bei sich, die Frau nicht.» Drasche hielt ein abgewetztes Lederportemonnaie hoch, aus dem er einen Führerschein zog, einen der neuen, im Scheckkartenformat. «Gerald Pallauf, geboren 1985. Vermutlich aus der Gegend, das Dokument wurde in Salzburg ausgestellt. Alles andere später.»

Was ab jetzt will ich nicht mehr gestört werden bedeutete.

Beatrice schrieb die Daten in ihr Notizbuch, die Augen

Ebner brachte zwei Scheinwerfer in Position. Kurz darauf schnitt ihr Licht eine blendend grelle Scheibe aus der Finsternis und legte jedes Detail des Todes frei. Beatrice konzentrierte sich wieder auf Drasche, der sich gerade den Händen der Frau widmete, erst die linke, dann die rechte untersuchte. Er betrachtete die gekrümmten Finger, hielt plötzlich inne und griff nach seiner Pinzette. Förderte etwas Dünnes, Weißes ans Licht, kaum größer als eine Briefmarke.

«Ist das Papier?» Wenn man Drasche schon bei der Arbeit störte, war es Beatrices Erfahrung nach am erfolgversprechendsten, nur Ja- und Nein-Fragen zu stellen. Es funktionierte auch heute wieder, Drasche nickte und ließ den Papierschnipsel in einen kleinen Plastikbeutel fallen.

«Steht etwas drauf?»

Er sah kurz hoch, ungehaltene Querfalten auf der Stirn. «Nein. Diesmal keine Briefe an euch, wie es aussieht.»

Beatrice ging bewusst nicht auf die Anspielung ein. Der Fall vom Frühjahr war ihr immer noch allzu präsent. Einiges, was damit in Zusammenhang stand, begleitete sie täglich in die Arbeit und zurück.

Ein Stück leeres Papier also. Von einem größeren Blatt abgerissen, der Form und den Kanten nach zu schließen. Soweit sie die Senke überblickte, war dieses Blatt hier nirgendwo zu sehen.

«Wir sollten uns um die Camper kümmern.» Florin war wieder neben sie getreten. «Die Campingplatzbesitzer befragen.» Er legte ihr eine Hand auf die Schulter.

 

Sie erzählte Florin auf dem Weg zurück zum Campingplatz von dem Papierschnipsel. «Aber der Rest ist hier nirgendwo. Was die Frau zwischen den Fingern hatte, sah ganz klar so aus, als hätte sie es abgerissen, und das muss kurz vor ihrem Tod gewesen sein, sonst wäre der Schnipsel nicht mehr in ihrer Hand. Also gibt es zwei Möglichkeiten.» Beatrice stieg über einen dicken Ast, der quer auf dem Weg lag. «Erstens: Sie wurde an einem anderen Ort ermordet und hierher transportiert. Finde ich unwahrscheinlich, weil ein so kleines Stück Papier unterwegs ziemlich sicher verlorengegangen wäre.»

Folgte Florin ihrer Argumentation? Er nickte. Gut.

«Zweitens: Sie wurde hier im Wald getötet. Aber wo ist dann das Blatt, von dem sie das Stück abgerissen hat? Jemand hat es mitgenommen. Und damit haben wir einen weiteren Beteiligten. Einen potenziellen Mörder.»

«Wind», sagte Florin.

«Wie bitte?»

Florin blieb stehen und lächelte sie an. «Wind, Bea. Papier fliegt davon, wenn der Wind es erfasst. Ich kann deine Gedanken nachvollziehen, aber du ziehst gerade sehr große Schlüsse aus einem sehr kleinen Papierfitzelchen.»

Wie um ihn in seiner Argumentation zu unterstützen, kam eine leichte Brise auf und blies ihm die dunklen Strähnen aus der Stirn.

Fortgeweht. Dann musste das Blatt im Wald noch zu finden sein. Irgendwo am Fuß eines Baums. Wenn das so war, würde es Drasche nicht entgehen.

 

Ihre Augen wurden groß, und sie schlug sich die Hand vor den Mund. «Was sage ich denn da. Entschuldigen Sie bitte – viel schlimmer ist natürlich, was den beiden jungen Leuten passiert ist. Sie waren jung, oder?»

«Ja.» Florin setzte das Lächeln auf, das Beatrice insgeheim sein Wolfslächeln nannte. «Sie können mir sicherlich die Anmeldeformulare aller Personen geben, die derzeit bei Ihnen campen?»

Die Frau zögerte, dann nickte sie. «Aber es war bestimmt keiner von meinen Gästen.»

Das Wolfslächeln vertiefte sich. «Interessant. Wie können Sie da so sicher sein?»

Die Frau kratzte sich unsicher im Nacken. Sie trug das ergraute Haar kurz und praktisch, wie Beatrices Mutter es genannt hätte. «Na ja. Ich meine … die sind doch auf Urlaub hier. Zum Erholen.»

Wie um Florins Blick zu entkommen, tauchte sie hinter ihrer Theke ab und förderte eine zerfledderte Mappe zutage. «Hier. Das sind die Anmeldungen.»

Beatrice sah sie durch. Kein Gerald Pallauf.

«Vermissen Sie einen von Ihren Campern?», erkundigte

«Nein.»

Beatrice bezweifelte, dass die kettenrauchende Nichtraucherin das Kommen und Gehen ihrer Gäste zuverlässig im Blick hatte, aber gut.

«Ich werde Sie später bitten, sich die beiden Opfer anzusehen, wir müssen wissen, ob Sie Ihnen schon einmal begegnet sind.»

Wieder legte die Frau eine Hand vor den Mund. «Das kann ich nicht», drang es gedämpft dahinter hervor.

«Dann werden wir Ihnen Fotos zeigen. Die Anmeldungen können wir mitnehmen, ja? Danke für Ihre Hilfe.»

 

Die beiden jungen Männer saßen auf einer Picknickdecke vor zwei kleinen Kuppelzelten, jeder eine Flasche Bier in der Hand. Einer hatte den Arm um die Schultern seiner Freundin gelegt, der andere die Knie bis zum Kinn gezogen. Er schaukelte immer wieder vor und zurück.

Der hier wird heute Nacht Albträume haben, dachte Beatrice.

«Hat jemand von Ihnen die Toten gekannt? Oder sie schon einmal hier auf dem Platz gesehen?»

Einhelliges Kopfschütteln. Das Mädchen hatte ihr Gesicht an der Brust ihres Freundes verborgen und sah nun auf.

«Wir dürfen nicht abreisen, haben Sie gesagt.» Sie strich sich eine Haarsträhne zur Seite. «Aber ich kann doch hier nicht bleiben. Ich sterbe vor Angst. Es gibt Mörder, die besonders gern Paare umbringen, und wenn das so einer war … ich werde kein Auge zutun.»

«Heute Nacht wird Polizei hier sein. Aber wir bringen Sie gerne auch anderswo unter.»

 

Sie schob den Schlüssel millimeterweise ins Schloss und drehte ihn lautlos nach links. Geschafft. Das kurze Klacken, das beim Lösen der Verriegelung entstand, konnte niemanden aufgeweckt haben.

Beatrice schlüpfte aus ihren Schuhen und schlich über den Flur. Fast ein Uhr, Achim war sicher schon eingeschlafen. Entweder in dem Ohrensessel im Kinderzimmer, den Mina den «Geschichtensessel» getauft hatte, oder auf der Wohnzimmercouch. Beides war in Ordnung, an beiden musste sie nicht vorbei, um in ihr Schlafzimmer zu gelangen. Durch den Spalt unterhalb der Wohnzimmertür drang gedämpftes Licht. Wahrscheinlich war auch der Fernseher noch an, und Achim war bei den Spätnachrichten eingeschlafen. Egal. Hauptsache, sie liefen sich heute nicht mehr über den Weg. In etwas mehr als fünf Stunden musste Beatrice wieder aufstehen, allein der Gedanke daran ließ ihren Körper ganz schwer werden vor Müdigkeit. Und wenn sie müde war, war sie gereizt.

Mit der gleichen Behutsamkeit wie vorhin öffnete sie die Schlafzimmertür und schloss sie hinter sich. Geschafft. Nur noch aus den Kleidern schlüpfen und unter die Decke. Sie würde schnell einschlafen und nicht träumen, das fühlte sie, und das war …

«Bea?»

Sie schrak hoch, musste bereits eingedöst gewesen sein. Ihr Puls jagte. «Herrgott, Achim.»

«Warum wohl? Um euch nicht zu wecken, natürlich.» Ja, das hatte gereizt geklungen. Verdammt. Achim verschränkte die Arme vor der Brust. Sie beeilte sich, seiner beleidigten Replik zuvorzukommen.

«Entschuldige bitte. Ich habe mich nur erschrocken, und es gab einen schauderhaften Fund heute. Zwei junge Leute, sicher noch keine dreißig.»

«Mhm.»

Sie wusste, was sich hinter seiner hohen Stirn abspielte. Du müsstest das nicht tun, du könntest es so einfach haben, es ist deine Entscheidung …

«Willst du gar nicht wissen, wie es heute Abend mit den Kindern lief?»

«Doch, natürlich.»

«Warum bist du dann nicht zu mir ins Wohnzimmer gekommen und hast gefragt?»

Auf dieses Spiel würde sie sich nicht einlassen. «Wäre etwas schiefgegangen, hättest du mich angerufen. Also war alles okay, und der Bericht konnte bis zum Frühstück warten.» Beatrice zwang sich ein Lächeln ab. «Nicht wahr?»

Er kräuselte seine Lippen. «Ausgezeichnet, Frau Kommissarin. Dann gehe ich wieder zurück auf meine durchgesessene Couch. Gute Nacht.»

Ohne ihre Antwort abzuwarten, drehte er sich um und schloss die Tür hinter sich, eine Spur lauter als nötig.

Durch all ihre Müdigkeit hindurch spürte Beatrice, wie die alte Wut in ihr hochkochte. Wieso war Achim so versessen darauf, dass sie sich schuldig fühlte?

Sie vergrub ihren Kopf im Kissen, wühlte ihn tief hinein, als wäre dort unten die ersehnte Ruhe zu finden. Doch ihr

Dein Sohn will dich sehen, bitte, dein Sohn. Ich konnte dem Mädchen ansehen, wie sehr sie gehofft hat, dass allein dieses Wort sie retten würde. Was vielleicht geklappt hätte, wenn es einen Sohn gäbe, der nach mir Sehnsucht haben könnte. Aber sie selbst, sie hat sich jedes ihrer Worte geglaubt. Keine Lüge in den blauen Augen, nur blanke Angst. Nichts macht gesprächiger.

Es war merkwürdig. Ich war wie unter Schock, musste mich zusammennehmen, um nicht plötzlich zu lachen oder davonzulaufen. Es ist nicht wahr, dachte ich die ganze Zeit, natürlich nicht, warum auch. Aber an dem, was sie gesagt und mir gezeigt hatte, war nicht zu rütteln. Sie war so kooperativ. Erst, als ich sie fragte, wie mein Sohn denn hieß, kam keine Antwort mehr. Spätestens da musste sie begriffen haben.

Und so bleibe ich mit nur einem einzigen Anknüpfungspunkt zurück – und mit einem allgegenwärtigen Gefühl der Bedrohung.

Vielleicht war es nur der unglücklichste und letzte Zufall ihres Lebens, der das Mädchen an meine Ufer gespült hat. Aber darauf darf ich mich nicht verlassen.

Ihr fetter Begleiter, dem der Rotz aus der Nase lief, war ein wimmerndes Bündel, der Charakter so schlaff wie der Körper. Er konnte nichts dafür, er hatte keine Ahnung, er wusste von nichts, er würde niemandem etwas sagen, und dann dieses fortwährende bitte. Sie lernen es mit zwei Jahren und glauben dann, es würde ihnen von da an alles bescheren, was sie sich wünschen, und sie vor allem Furchtbaren bewahren.

Aber es sind nur zwei Silben, und sie bedeuten nichts.

Kapitel zwei

Die Fotos lagen ausgebreitet auf ihrem Schreibtisch, eine Collage grausiger Details. Ebners Drucker musste die halbe Nacht lang gelaufen sein. Florin war damit beschäftigt, einige der Aufnahmen an der Pinnwand zu befestigen. Dabei bildete die Großaufnahme der annähernd sternförmigen Einschusswunde am Kopf des Mannes das Zentrum.

«Drasche und Vogt sind sich einig, es ist ein absoluter Nahschuss», sagte er. «Die gefundene Patronenhülse passt zur Waffe, die Schmauchspuren an Kopf und Händen werden noch im Detail untersucht, aber wir können davon ausgehen, dass die Pistole beim Abdrücken direkt an seine Schläfe gehalten wurde.»

«Klingt also wirklich nach Selbstmord.» Beatrice hielt Ausschau nach ihrer Kaffeetasse und entdeckte sie neben dem Waschbecken. «Wissen wir schon etwas darüber, wer die Frau ist?»

«Nein. Darum müssen wir uns heute gleich kümmern, auch um das Umfeld von Gerald Pallauf. Ich möchte wieder Stefan ins Team holen, wenn du einverstanden bist.»

Das war sie, und wie. Stefan Gerlach – rothaarig, schlaksig, fast zehn Jahre jünger als sie und von ansteckendem Enthusiasmus – hatte sich bei ihrem letzten großen Fall als unschätzbar hilfreich erwiesen.

«Ich freue mich immer, ihn dabeizuhaben», sagte sie daher und untersuchte ihre Tasse auf Flecken. Sie fand keine und setzte die Espressomaschine in Gang. «Wenn wir es

Florin pinnte das nächste Foto an die Wand. Die Pistole im trockenen Laub. «Ja. Wenn. Aber sieh dir mal diese Waffe an.»

Während die Espressomaschine gurgelnd Milchschaum spuckte, trat Beatrice näher an die Pinnwand heran. «Weia, ich bin keine Expertin. Ist das eine Glock?»

«Ganz genau. Eine Glock 21, Kaliber 45.»

 

Sie betrachtete Florin von der Seite. Er roch heute ein wenig anders als sonst. Ein neues Eau de Toilette? Sie verkniff es sich, noch näher an ihn heranzurücken. «Verstehe. Und mit einer Glock 21 kann man nicht Selbstmord begehen, oder wie?»

«Doch. Aber sie hat dreizehn Schuss. Und zwölf waren noch im Magazin.»

Beatrice dämmerte, worauf Florin hinauswollte. «Er hätte die Frau erschießen können, und danach sich. Aber er hat sie erwürgt. Unter freiem Himmel, auch sehr ungewöhnlich.»

Sie ging die Bilder durch, die noch auf dem Schreibtisch lagen. Das verfärbte Gesicht der Frau, die Wäscheleine, die halb unter und halb neben ihr lag. «Es könnte natürlich sein, dass er sie bestrafen wollte, durch einen langsameren Tod voller Angst.»

Da war ein Foto, das die rechte Hand der Frau zeigte. Daumen und Zeigefinger lagen aneinander, als würden sie immer noch den Papierschnipsel halten. «Hat jemand den Rest des Zettels gefunden?»

«Nein. Drasche hat lange gesucht, und heute Morgen hat

Wenn es kein Selbstmord war, dann die zufällige Tat eines Psychopathen, dem die beiden über den Weg gelaufen waren? Oder Mord aus Eifersucht?

Beatrice holte sich ihren Kaffee, setzte sich auf ihren Drehstuhl und blätterte durch, was an offiziellen Daten zu Pallauf verfügbar war. Es war nicht viel, und es war nichtssagend. Also holte sie ihren Computer aus dem Stand-by-Modus und gab Gerald Pallauf bei Google ein.

Die schiere Anzahl der Treffer war erstaunlich. Es gab zwei Männer dieses Namens, aber der aus Salzburg war im Netz deutlich aktiver gewesen als der andere. Mitgliedschaften in einem Film-, einem Computerspiel- und einem Science-Fiction-Forum, bei Facebook und bei Twitter, und zu guter Letzt ein eigener Blog – das war allein die Ausbeute der ersten zwei Seiten, die Google anzeigte.

Zufrieden lehnte sie sich zurück. Pallauf würde ihnen vieles über sich selbst erzählen, er hatte wortreiche Spuren hinterlassen, auf die sie jederzeit zugreifen konnten. In letzter Zeit hatte Beatrice diese Hinterlassenschaften im Netz immer mehr schätzen gelernt. Sie rundeten das Bild ab, das Akten und Zeugen von Opfern, aber auch Verdächtigen zeichneten.

In Pallaufs Fall würde einer dieser Zeugen ein gewisser Martin Sachs sein. Sachs hatte sich mit Pallauf eine Wohnung in der Schumacherstraße geteilt. Florin stand bereits an der Tür und klimperte mit den Autoschlüsseln. Wenn der Verkehr nicht zu stark war, konnten sie in fünfzehn Minuten dort sein.

 

«Ich bin Martin Sachs.» Er reichte Beatrice eine weiche, feuchte Hand. «Kommen Sie herein, ich habe versucht, ein wenig aufzuräumen, aber …» Er zuckte die Schultern.

Entweder war sein Versuch nur kurzlebig gewesen, dachte Beatrice, oder das Chaos davor musste unbeschreibliche Ausmaße gehabt haben. Im Flur stapelten sich Altpapier und leere Pizzakartons, im Wohnzimmer lag gebrauchte Wäsche, verteilt auf mehrere Häufchen. Ein riesiges Bücherregal nahm die ganze Längswand ein und war so vollgestopft, dass es wirkte, als müssten die Bücher es jeden Moment sprengen. Zwei Computertische, ein Sofa, ein Couchtisch, alles bis auf den letzten Zentimeter zugemüllt.

Sichtlich verlegen raffte Sachs einen Haufen Zeitschriften, eine löchrige Wolldecke und ein Kissen zusammen und machte damit das Sofa zur Hälfte frei.

«Möchten Sie gerne etwas trinken?»

«Nein danke.» Beatrices Antwort kam ein wenig zu prompt, um höflich zu sein. Sie versuchte, das durch ein herzliches Lächeln wettzumachen. Ob Sachs lüften würde, wenn sie ihn darum bat?

Besser, sie verkniff sich die Frage, denn ihr Gegenüber rang ohnehin um Fassung. Er hatte die Finger ineinander verschränkt und sah abwechselnd Beatrice und Florin an. Trat von einem Bein aufs andere.

«Vielleicht könnten Sie sich ebenfalls setzen», schlug Florin vor. «Unsere Unterhaltung wird etwas länger dauern.»

«Sie leben hier gemeinsam mit Gerald Pallauf?», begann Beatrice. «Wie lange schon?»

«Das sind, also, das sind …» Die Finger des Mannes wanden sich immer heftiger, als versuchten sie verzweifelt, sich voneinander zu lösen. «Zweieinhalb Jahre. Ungefähr. Wir haben uns an der Uni kennengelernt. Gerry hat Germanistik studiert und ich Romanistik. Wir hatten viele gemeinsame Hobbys, und deshalb – zu zweit kann man sich eine Wohnung eben besser leisten. Ein Zimmer zur Untermiete ist auch teuer, und man lebt viel beengter.»

Beatrice nickte und sah sich um. Bei dieser Auffassung von Ordnung hätte wohl niemand einen der jungen Männer lange als Untermieter behalten.

«Wie alt sind Sie, Herr Sachs?» Florin hatte sein Clipboard gezückt und den Kugelschreiber aufs Papier gesetzt.

«Sechsundzwanzig. Seit April. Können Sie mir sagen, wie Gerry …»

«Gleich. Aber erst möchte ich Sie bitten, meine Fragen zu beantworten. Nicht erschrecken, Sie sind nicht verdächtig, aber: Wo waren Sie vorgestern Nacht zwischen einundzwanzig und fünf Uhr?»

Sachs’ Blick ging ins Leere. «Ist das die Zeit, also, ist Gerry da –»

«Ja. Unser Gerichtsmediziner sagt, dass Gerald Pallauf innerhalb dieser Zeitspanne getötet worden ist.»

Endlich löste Sachs seine Hände voneinander, aber nur, um sein Gesicht in ihnen zu verbergen. «Zu Hause. Und es gibt niemanden, der das bezeugen kann. Das wollten Sie mich doch fragen, oder? Um ungefähr halb elf habe ich mir

Das würden sie tun, auch wenn es Sachs kein Alibi verschaffte. Beatrices Blick blieb an einer leeren Keksschachtel hängen, die zusammengeknüllt unter dem Couchtisch lag, umgeben von Krümeln. Sie tat, als müsste sie husten, um hinter der vorgehaltenen Hand ein Grinsen zu verbergen. Wenn Sachs der Täter war, würden sie ihn innerhalb von zwei Tagen überführt haben. Jemand, der solches Chaos verbreitete, war unmöglich imstande, die Spuren seiner Tat mit der nötigen Gründlichkeit zu verwischen.

«Können wir das Zimmer von Herrn Pallauf sehen?», fragte sie. «Und Ihres?»

«Ja. Sicher.» Sachs führte sie mit schnellen Schritten in sein Zimmer, als wolle er es so bald wie möglich hinter sich haben. «Bitte.»

Der gleiche Anblick wie im Wohnzimmer, mit nur leichten Abweichungen. Auf dem schmalen, zerwühlten Bett machten sich Zeitschriften den Platz mit leeren CD-Hüllen und einer Fernbedienung streitig. Der Boden war praktisch vollständig bedeckt. Überall T-Shirts, Werbezettel, Bücher.

In Gerald Pallaufs Zimmer zogen bunte Plakate an den Wänden den Blick auf sich, hauptsächlich Filmposter. The Avengers, James Bond, Batman. Der Raum erweckte einen geringfügig saubereren Eindruck als der von Sachs, fast als hätte Pallauf verzweifelt versucht, die Auswirkungen jahrelangen Nicht-Putzens in einer halben Stunde ungeschehen zu machen. In einer Ecke entdeckte sie einen Stuhl, über dessen Lehne einige Jeans in Übergröße hingen. Die Bettdecke war zusammengefaltet, das Kopfkissen aufgeschüttelt. «Haben Sie seit vorgestern etwas verändert?», fragte sie Sachs.

«Können Sie uns sagen, ob er eine Waffe besessen hat?»

Sachs’ Augen weiteten sich. «Gerry? Nie im Leben. Na gut, er hat ein Laserschwert und eine Zwergenaxt, aber die ist nicht scharf.»

Das Unverständnis in ihrer und Florins Miene musste überdeutlich gewesen sein. «Gimlis Axt», ergänzte Sachs in einem Ton, als erkläre das alles. «Aus dem ‹Herrn der Ringe›. Wir sind beide große Fans.»

«Und Schusswaffen? Hat Herr Pallauf eine Pistole besessen? Oder eine für jemanden aufbewahrt?»

«Ganz bestimmt nicht. Das wüsste ich.»

Sie gingen zurück ins Wohnzimmer. Florin klebte zwei gekreuzte Streifen Absperrband über die Tür zu Pallaufs Zimmer. «Bitte nicht mehr betreten, bis unsere Leute da waren. Wenn Sie es doch tun, werden wir es merken.»

«Okay.» Sachs begann, an der Nagelhaut seines linken Daumens herumzubeißen.

Die Sonne leuchtete hinter den trüben Fensterscheiben. Beatrices Wunsch nach frischer Luft wuchs ins Unermessliche.

«Hatte Herr Pallauf eine Freundin?» erkundigte sich Florin, während er einen halben Kartoffelchip vom Sofa klaubte. «Oder auch einen Freund? Eine intime Beziehung?»

Erstmals verzog sich Martin Sachs’ Mund zu einer Art von Lächeln. «Ich dachte schon, Sie würden nie fragen!» Der kurze Anflug von Fröhlichkeit verebbte sofort wieder. «Bis vor fünf Tagen hätte ich nein gesagt, aber letztens – hat sich eine Frau für ihn interessiert. Mehr als das, um genau zu sein. Sie stand plötzlich vor der Tür und wollte zu Gerry. Er hat sie reingelassen, und sie ist geblieben, mehrere Tage

«Und das konnten Sie uns nicht gleich sagen?» Florins Stimme war nur noch oberflächlich freundlich. «Sie haben doch sicher in der Zeitung gelesen, dass er gemeinsam mit einer weiblichen Leiche gefunden wurde.»

«Sie haben mich nicht danach gefragt.»

Florin und Beatrice wechselten einen Blick. «Da haben Sie völlig recht», sprang sie ein. «Und keine Sorge, wir wären noch darauf gekommen. Wissen Sie, wie die Frau hieß? Das ist jetzt sehr wichtig für uns.»

«Sarah – so hat sie sich mir jedenfalls vorgestellt. Aber wir haben kaum miteinander gesprochen. Die meiste Zeit waren die beiden in der Stadt unterwegs, ziemlich untypisch für Gerry. Wenn sie hier waren, saß Sarah die ganze Zeit über in seinem Zimmer. Er hat nachts auf der Couch geschlafen und ihr das Bett überlassen, also waren sie vermutlich noch nicht … Sie wissen schon.»

Ja, tue ich, dachte Beatrice. Das traurige Bild der beiden Toten trieb durch ihre Erinnerung. Kein Paar. Wie sie vermutet hatte.

«Sarah – und weiter?»

«Weiß ich nicht. Hat sie nicht gesagt.» Er runzelte die Stirn. «Aber ich glaube, sie war nicht von hier. Die Art, wie sie gesprochen hat, verstehen Sie? Nicht wie die Leute in Salzburg. Sondern wie jemand aus Deutschland. Und auch nicht aus Bayern, sondern von weiter nördlich.»

Das hatte gar nichts zu bedeuten. Immer mehr Deutsche kamen nach Österreich, um hier zu arbeiten, und ganz besonders in die grenznahe Stadt Salzburg.

Beatrice sah, wie Florin Sarah aus Deutschland – ??? zu seinen Notizen hinzufügte.

«Nein.» Sachs’ Antwort kam mit aller Bestimmtheit. «Er hat sie nie erwähnt. Ich bin ziemlich sicher, er hat sie gar nicht gekannt, bis zu dem Moment, als sie an unserer Tür geläutet hat. Und selbst da hat er mehrmals nachgefragt, ob das nicht ein Irrtum wäre.»

Beatrice versuchte, das Szenario vor ihrem inneren Auge ablaufen zu lassen. Ein blondes, lächelndes Mädchen und der schüchterne, zutiefst überraschte Pallauf. «Hätte er sie denn hier übernachten lassen, wenn sie eine völlig Fremde war?»

Sachs lächelte, müde diesmal. «Das Mädchen war wirklich sehr hübsch. Solche wie die sehen Typen wie uns normalerweise nicht einmal an, und wenn doch, nur um zu warten, bis wir rot werden, damit sie sich dann kaputtlachen können.» Er zog an seinem linken Daumen, als wollte er ihn ausreißen. Als er Beatrice wieder ansah, lag etwas Herausforderndes in seinem Blick. «Sie müssen das doch selbst am besten wissen. Frauen wie Sie bemerken keine unscheinbaren Männer. Sie laufen vorbei, blond und langbeinig, und …» In offensichtlicher Ermangelung von Worten hob Sachs die Hände.

Beatrice schüttelte den Kopf. «Ich fürchte, ich bin kein gutes Beispiel für Ihre Theorie. Lassen wir mich da besser raus.»

«Okay. Sie sind ja auch schon älter … also nicht alt, natürlich, aber – Sie wissen ja.» Wie zur Demonstration dessen, was er vorhin gesagt hatte, färbte sich sein Gesicht fleckig rot.

«Danke», erwiderte Beatrice trocken. «Für wie alt hätten Sie Sarah denn geschätzt?»

Sie beließen es fürs Erste dabei. Fragten Martin Sachs noch nach Pallaufs Familie – keine Geschwister, die Mutter tot, der Vater nach Skandinavien ausgewandert. «Wir melden uns wieder. Bleiben Sie bitte in der Stadt.»

Als sie die Tür von außen hinter sich schlossen, atmete Beatrice tief durch. «Wird ein wenig dauern, bis ich mir darauf einen Reim machen kann. Und Sauerstoff wäre jetzt eine gute Sache.»

Auf dem Weg zurück zum Auto sprachen sie nicht viel. Der Tag würde warm werden. Die Flasche Wasser, die Beatrice im Auto liegen hatte, war es bereits.

«Sie haben sich nicht gekannt», sinnierte Florin und setzte sich hinters Steuer. «Eine fremde Frau steht plötzlich vor der Tür. Pallauf lässt sie rein, beherbergt sie für ein paar Tage, und nun sind beide tot.»

«Ist das normal bei jungen, schüchternen Männern?» Es sollte sachlich klingen, nicht neckisch. Misslungen. Beatrice biss sich auf die Lippen.

«Was meinst du?», hakte Florin nach.

«Dass sie hübsche Frauen bei sich aufnehmen, ohne lange nachzufragen, wer sie sind und was sie wollen.»

Florins Augenbrauen wanderten nach oben. «Du denkst, ich kann dir diese Frage beantworten?»

«Na ja.» Sie zuckte die Schultern. «Hättest du es getan? Mit Mitte zwanzig?»

«Vielleicht. Wahrscheinlich eher nicht. Ich war damals in einer festen Beziehung, die ich sehr ernst genommen habe. Darin liegt vermutlich auch der Unterschied zwischen mir und Gerald Pallauf. Keine Freundin, keine Eltern – ich könnte mir vorstellen, dass er einsam war.»

Beatrice ließ die Worte in ihrem Kopf nachklingen. Fragte sich, wie Florin wohl mit fünfundzwanzig gewesen war, und blickte dann schnell nach vorne, als sie bemerkte, wie lange sie ihn schon ansah.

Er startete den Wagen. «Einsamkeit macht uns hungrig, Bea. Nach Bestätigung, nach Zuneigung, nenn es, wie du willst. Wenn ich es mir genau überlege – wer weiß, vielleicht hat Pallauf das Mädchen doch getötet. Als er gemerkt hat, dass sie das alles wusste und seine Einsamkeit für ihre Zwecke ausgenutzt hat.»

 

Die ersten Ergebnisse, die aus der Spurensicherung kamen, sprachen für Florins Annahme. Auf der Glock hatte man Pallaufs Fingerabdrücke gefunden – nur seine. Darüber hinaus Schmauchspuren an der Hand. Aber nichts, was darauf hinwies, dass er die Waffe zum Tatort gebracht hatte – keine Faserspuren, die mit dem Stoff seiner Jacke übereinstimmten, nichts. Als hätte er die Pistole noch mal in aller Gründlichkeit saubergemacht, bevor er sich damit getötet hatte.

Konnte es trotzdem Selbstmord sein? Die Fußspuren rund um den Tatort waren laut Drasches Bericht kaum brauchbar – die beiden Studenten hatten keinerlei Rücksicht auf die Spurenlage genommen, ebenso wenig wie die anderen Spaziergänger, die den ganzen Tag über den nahen Spazierweg durch den Wald entlanggewandert waren, ohne die Leichen zu bemerken.