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DAS GESETZ DES PHÖNIX

 

1

Der Phönix beobachtet dich.
Er weiß alles.

 

2

Maschinen bringen Tod und Leid.
Niemals darfst du sie bauen.

 

3

Dunkelheit ist dein Feind.
Niemals darfst du dein Dorf bei Nacht verlassen.

Prolog

Welch seltsame Vorstellung, dass das Gesetz des Phönix noch immer Gültigkeit besaß – in manchen Teilen dieser Welt, die sehr viel größer war, als wir es je vermutet hätten.

Die Menschen in den Dörfern glaubten nach wie vor an den Phönix und das Gesetz, und seine Abgesandten fürchteten sie so sehr, wie sie den Schnitter fürchteten, jene furchterregende Kreatur, die des Nachts in den Wäldern ihr Unwesen trieb.

Von der Wahrheit ahnten sie nichts.

Sie wussten nicht, wer die Schnitter in Wahrheit waren, so wie sie nichts über die Welt wussten, die sich jenseits der Wälder erstreckte, nichts über den Krieg, der dort tobte. Nichts über ihre Schwestern und Brüder, die dort ums Überleben kämpften. Und ebenso wenig wussten sie, dass das mächtige Wesen, das alle verehrten und fürchteten, in Wirklichkeit eine Maschine war, seelenlos und unerbittlich.

Doch selbst wir, die wir von diesen Geheimnissen erfahren hatten, standen noch ganz am Anfang, waren gerade erst dabei, das große Ganze zu durchschauen. Der Nebel, der die Welt einhüllte, hatte sich ein wenig gelichtet und uns einen Blick auf die Wahrheit gewährt. Doch nun lag die Welt wieder im Dunkel. Obschon wir wussten, dass es Zusammenhänge gab, offenbarten sie sich uns noch nicht, und vielleicht war dies auch besser so.

Denn hätten wir geahnt, welcher Abgrund sich vor uns öffnen würde und was uns dort in der Tiefe erwartete, hätten wir womöglich von unserem Tun abgelassen und wären schreiend und zitternd in die Sicherheit unserer Dörfer zurückgekehrt.

 

Caleb Sully
Chronist der neuen Zeit

BUCH I

DIE INSEL

1

Das alte Gebäude hatte ihnen Zuflucht gewährt.

Obwohl Caleb nur vermuten konnte, welchem Zweck das gewaltige Bauwerk einst gedient hatte, die Aura des Friedens, die darin herrschte, hatte Jona und ihm auf der verzweifelten Flucht vor den Maschinen wenigstens eine Nacht lang Ruhe beschert, und sie hatten neue Kraft geschöpft.

Kraft, die sie dringend brauchten, wenn sie am Leben bleiben wollten.

Sie verließen das ehrwürdige Gebäude mit den grün überwucherten steinernen Säulen und Mauern auf demselben Weg, auf dem sie hereingelangt waren, nämlich durch einen Mauerspalt auf der Nordseite. Die eisenbeschlagenen Tore, die einst Zutritt gewährt hatten, ließen sich längst nicht mehr öffnen. Dafür hatten Schlinggewächse und dichtes Wurzelwerk gesorgt.

Die Luft an diesem Morgen war kühl und feucht. Nebel lag über dem Fluss, der die einstige Hauptstadt Aris durchquerte und die Insel umgab, auf der sie sich befanden. Mit knapper Not hatten sie sich hierhergerettet, auf der Flucht nicht nur vor den Destruktoren, sondern auch vor den mutierten Aalen, die im Fluss lebten und zu riesenhafter Größe angewachsen waren[1]. Nun standen sie vor der Herausforderung, die Insel wieder zu verlassen.

»Wir könnten ein Floß bauen«, schlug Caleb vor. »Damit lassen wir uns den Fluss hinuntertreiben.«

»Wohin bringt es uns?«, fragte Jona. Die blauen Augen im sommersprossigen Gesicht des Elfjährigen musterten Caleb voller Neugier.

»Nach Süden, wie ich hoffe. Von dort schlagen wir uns nach Stützpunkt 8 durch. Mit etwas Glück stoßen wir unterwegs auf weitere Flüchtlinge aus Aris.«

»Und Cally?«

Caleb seufzte. Diese Frage hatte er erwartet … und wusste noch immer keine Antwort darauf. So wenig wie in der vergangenen Nacht, als Jona jene beunruhigende Vision gehabt hatte. Oder was immer es gewesen sein mochte.

Demnach war die Mission gescheitert, den Phönixtempel von Bêlin zu infiltrieren und Informationen über den Feind zu sammeln. Jonas Schwester Callista war eine Gefangene der Maschinen, und allem Anschein nach hatte ausgerechnet derjenige, dem sie am meisten vertraut und den sie geliebt hatte, sie im entscheidenden Moment verraten.

»Im Augenblick können wir nichts für sie tun, Jona«, stellte Caleb fest. »Wir müssen nach Süden und die Basis des Widerstands erreichen. Vielleicht kann Akronymus deiner Schwester helfen. Wir jedenfalls sind nicht in der Lage dazu.«

Er sah, wie der Junge den Kopf senkte, und schalt sich innerlich für seine harschen Worte. Er fühlte sich überfordert, wie so oft in letzter Zeit. Und wie sollte er auch nicht überfordert sein? Er war kein Kämpfer, kein Held und erst recht kein großer Bruder. All das hätte Jona aber gebraucht anstelle eines ehemaligen Novizen im Hort des Feuers.

»Tut mir leid, Kleiner.« Caleb fuhr Jona tröstend durch das zerzauste Haar. »Ich verspreche dir, so gut wie nur irgend möglich auf dich aufzupassen. In Ordnung? Wir finden einen Weg nach Süden, und wenn wir dort ankommen, können wir …«

Er unterbrach sich, als Jona plötzlich eine Hand hob.

»Was ist?«

Jona wandte sich zu Caleb um. »Geister«, flüsterte er.

In Caleb verkrampfte sich etwas.

Geister oder fantomes wurden jene Menschen genannt, die in den Ruinen der Städte lebten, oft genug im Untergrund und das Tageslicht scheuend. Weder gehörten sie dem Widerstand an noch jenen Menschen, die weitab von den Ruinen in den Dörfern lebten. Sie vegetierten in wüsten Horden, oftmals dem Irrsinn verfallen und Tieren ähnlicher als Menschen. Die Maschinen kümmerten sich nicht um sie und sahen in ihnen auch keine Gefahr. Ein argloser Wanderer jedoch, der in ihre Gewalt geriet, hätte für seine Unvorsichtigkeit mit einem grässlichen Tod bezahlt. Denn nicht wenige der fantomes, die in den Trümmern der Vergangenheit hausten, hatten sich in Zerrbilder von Menschen verwandelt und waren zu Kannibalen geworden.

Caleb verspürte den jähen Drang, augenblicklich von diesem Ort zu verschwinden. Einen Moment lang überlegte er noch, ob sie sich wieder in den Schutz der großen Halle zurückziehen oder versuchen sollten, über den Fluss zu entkommen.

Dann war es schon zu spät.

Das Gebüsch, das die Uferböschung säumte, teilte sich, und mehr als zwei Dutzend Gestalten setzten heraus, nachdem sie eben noch völlig unsichtbar gewesen waren. Übergangslos verschmolzen sie mit ihrer Umgebung, als wären sie keine Wesen aus Fleisch und Blut, sondern bloße Schatten.

Geister …

Männer und Frauen waren nicht zu unterscheiden. Ihre Kleidung bestand aus grob zusammengenähten Fell- und Lederfetzen. Hier und dort waren auch olivgrüne oder tarnfarbene Stoffteile zu erkennen, die zweifellos von den Uniformen getöteter Widerstandskämpfer stammten. Die Gesichter der Angreifer waren mit Mustern bemalt, von denen Caleb einige als Zahlen oder Buchstaben erkannte. Für die Geister, die nichts von derlei Zusammenhängen wussten, mochten es Zeichen von geheimnisvoller Bedeutung sein, Symbole dunkler Gottheiten. Ihr Haar war lang und verwildert, weit aufgerissene Augen starrten Jona und Caleb mit Blicken an, in denen der Irrsinn flackerte.

Bewaffnet waren die Geister mit Fundstücken aus den Ruinen, schartigen Schwertern aus grob gehämmertem Metall, Keulen mit mörderischen Dornen, Speeren mit rostigen Spitzen, die sie gegen Caleb und Jona richteten. Auch so hätten die Geister schon einen fürchterlichen Anblick geboten. Ungleich grausiger waren jedoch die Gürtel um ihre Hüften, von denen Knochen und Schädel herabhingen wie aufgereihte Trophäen.

Menschliche Knochen und Schädel.

Der Gestank von Fäulnis und Verwesung, der die Krieger umgab, war so scheußlich, dass sich Caleb fast übergeben musste. Unwillkürlich wich er zurück und zog Jona mit sich. Gleichzeitig rückten die Geister nach und umzingelten sie von drei Seiten. Mit der massiven Mauer im Rücken saßen Caleb und Jona in der Falle.

Einer der Krieger, vermutlich der Anführer der Horde, trat nach vorn. Er überragte die anderen nicht nur durch seine Körpergröße, sondern auch, weil er eine aus einem Menschenschädel gefertigte Kopfbedeckung trug. Caleb hatte das Gefühl, dass die leeren Augenhöhlen des Totenkopfs ihn genauso durchdringend anstarrten wie der irrsinnige Krieger.

»Résista!«, rief dieser, offenbar außer sich vor Wut und Empörung. »Résista!«

Caleb war überrascht. Lieutenant Degas hatte behauptet, dass die wenigsten Geister zur Artikulation fähig seien. Offenbar waren sie aber auf ein solch seltenes Exemplar gestoßen. Sein Frankisch war allerdings primitiv und setzte sich nur aus Brocken jener Sprache zusammen, die in alter Zeit in dieser Gegend gesprochen worden war. Immerhin glaubte Caleb, ihn zu verstehen.

»Ja«, bestätigte er, »wir gehören zum Widerstand.«

»Ter enterdé!«, schnarrte der Anführer und stieß seinen Speer in den Boden. »Ter tusa enterdé!«

»Das wussten wir nicht«, beteuerte Caleb und hob beschwichtigend die Hände. »Wir hatten keine Ahnung, dass dies verbotenes Land ist.«

»Trangrassé lega, punita«, kündigte der Hüne an. Caleb wusste nicht, was diese Worte zu bedeuten hatten. Aber die Art, wie er dabei die Zähne fletschte, verhieß nichts Gutes. Ebenso wenig wie die Tatsache, dass die anderen Krieger dumpfe, bedrohliche Laute ausstießen und ihren Kreis immer enger zogen.

»Was passiert jetzt?«, stieß Jona hervor. Sie waren bis an die Mauer zurückgewichen und standen buchstäblich mit dem Rücken zur Wand.

»Das weiß ich nicht«, erwiderte Caleb leise, obschon er eine unheilvolle Ahnung hatte. Trotz der morgendlichen Kälte trat ihm der Schweiß auf die Stirn. Sein Mund war trocken, sein Pulsschlag raste.

Es tut mir leid, Callista, dachte er, unendlich leid. Ich sollte deinen Bruder beschützen und habe kläglich vers…

Sein Gedanke brach ab, als ihn etwas Hartes heftig an der Schläfe traf. Greller Schmerz flammte auf und blendete sein Bewusstsein. Nur noch verschwommen nahm er wahr, wie auch Jona von einem Stein getroffen wurde und niedersank.

Dann wurde es dunkel.

Er bekam nicht mehr mit, wie die Geister ihn und Jona packten und zum Ufer schleppten, wo ihre behelfsmäßigen Flöße lagen.

2

Es war leise.

Verdächtig leise.

Hal Parker konnte sich das nicht erklären. Als Pilot des Widerstands hatte er schon oft Maschinen geflogen, und nach allem, was er über die Gesetze der Avionik wusste, war ein lärmender Motor unabdingbar vonnöten, um ein Flugzeug in die Luft zu bringen.

Für den Airoskaph jedoch, jenes riesige Gefährt, auf das er sich heimlich geschlichen hatte, schien diese Regel nicht zu gelten. Weder hatte er Flügel, um ihn in die Luft zu tragen, noch Räder, auf denen er starten und landen konnte. Dennoch befand sich das gewaltige Gebilde, das in seiner Form mehr an einen Käfer erinnerte als an ein Flugzeug, unbestreitbar in der Luft. Hal spürte, dass der Boden unter seinen Füßen schwankte, und merkte auch, dass die Luft im Laderaum dünner geworden war.

Bislang hatte er die riesigen, an die neunzig Meter langen Luftschiffe der Maschinen immer nur aus weiter Ferne gesehen. Majestätisch waren sie durch die Luft geglitten, von lautlosen Propellern angetrieben und den Gesetzen der Natur scheinbar trotzend. Die Haut bestand aus schimmerndem Metall, in dem sich der Himmel spiegelte. Dass er einmal selbst an Bord eines solchen Schiffs reisen würde, hätte sich Hal nicht träumen lassen. Dennoch war er hier, gegen jede Vernunft und auch gegen den Befehl, den sein Vater ihm erteilt hatte.

Seinem letzten Befehl …

Es war sein Vater gewesen, der Hal aus dem Gefängnis von Port Bêlin befreit hatte[2]. Schwer verletzt und sterbend hatte er sich auf den Weg gemacht und war in die Anlage eingedrungen, geschützt von einem geheimnisvollen Umhang, der ihn für mechanische Augen unsichtbar machte. Winzig kleine, in den Stoff eingearbeitete Schaltkreise störten die Sensoren der Maschinen. Hals Vater hatte keine Gelegenheit mehr gehabt, ihm die Herkunft des Umhangs zu verraten. Kurz nachdem er ihn seinem Sohn übergeben hatte, war er in dessen Armen gestorben. Und ganz gleich, ob Hal die Augen geschlossen oder offen hielt, immerzu sah er den geschundenen, blutüberströmten Körper seines Vaters vor sich, der zugleich auch sein Vorgesetzter gewesen war, sein befehlshabender Offizier. Hector Parker war der Anführer von Widerstandszelle CNT-4 gewesen, der sie alle noch vor wenigen Wochen angehört hatten … bis die Ereignisse sich überschlagen hatten und es zu jenen Vorfällen gekommen war, die Hal am liebsten ungeschehen gemacht hätte. Doch das war nicht möglich, und deshalb blieb ihm nichts anderes übrig, als sich mit der bitteren Wahrheit auseinanderzusetzen.

Sein Vater war tot.

Der Mann, der seine Familie gewesen war und zu dem er sein Leben lang bewundernd aufgeblickt hatte, war nicht mehr bei ihm. Die Schuld daran trug ein Verräter, der sich das Vertrauen aller erschlichen und sie bitter dafür hatte bezahlen lassen – Lukan Tallamach. Oder, wie er inzwischen offiziell hieß, Troyaner 448.

Allein beim Gedanken an den Verräter, der in seinem Alter war und sich doch so sehr von ihm unterschied, beschleunigte sich Hals Pulsschlag. Vor Wut und Hass konnte er kaum einen klaren Gedanken fassen. Alles, was ihm und seinen Gefährten seither widerfahren war, war Lukans Verschulden.

Die gescheiterte Mission.

Der Tod seines Vaters.

Die Entführung von Callista Brooke.

Cally …

Sie war der Grund dafür, dass Hal hier war, dass er sich der letzten Anweisung seines Vaters auf dieser Welt widersetzt und sich an Bord des Airoskaphs geschlichen hatte. Der eigentliche Befehl hatte gelautet, nach Aris zurückzukehren und sich dort um Callistas Bruder Jona zu kümmern, doch Hal hatte den Gehorsam verweigert. Zum ersten Mal in seinem Leben war er nicht der Pflicht, sondern dem Herzen gefolgt. Denn Callista in der Hand der Feinde zurückzulassen, hätte sie dem sicheren Tod überantwortet.

Und das konnte er nicht.

Beim Widerstand von Aris, so hatte sich Hal gesagt, war Jona zumindest einigermaßen sicher, und dort gab es noch andere, die sich um ihn kümmerten, allen voran Caleb Sully. Callista jedoch war allein. Allein unter Feinden. Allein unter Maschinen.

Allein mit Lukan.

Der Gedanke, dass sie jetzt irgendwo dort oben waren, in den Korridoren und Kabinen, die sich über dem Laderaum des Airoskaphs erstreckten, brachte Hal schier um den Verstand. Er musste an sich halten, um sein Versteck zwischen den Containern nicht aufzugeben und die Leiter in die höher gelegenen Bereiche des Luftschiffs zu erklimmen, um nach Callista zu suchen. Aber selbst wenn ihm das unwahrscheinliche Kunststück gelänge, sie zu finden und zu befreien – wohin sollten sie fliehen? Ringsum war nichts als Leere, und Hal verstand nicht einmal das Prinzip, aufgrund dessen sie in der Luft blieben, statt wie ein Stein zur Erde hinabzustürzen.

So schwer es ihm auch fallen mochte, er musste in seinem Versteck bleiben und abwarten, was weiter geschah. Im Vertrauen darauf, dass der Umhang seines Vaters ihn vor den Überwachungssensoren im Laderaum schützte und die Luft nicht so dünn wurde, dass er sie nicht mehr atmen konnte.

Weder wusste Hal, wie lange die Reise dauern würde, noch wohin sie ging. Ebenso wenig, wie er wusste, ob er das Ziel dieser Reise lebend erreichen würde.

Nur eins wusste er sicher.

Dass er seine Entscheidung, den Befehl seines Vaters zu missachten und sich an Bord des Airoskaphs zu schleichen, nicht bereute. Denn Callista Brooke war nicht irgendjemand.

Es hatte ihn Überwindung gekostet, es sich einzugestehen. Lange genug hatte er sich selbst betrogen, doch hier, eingekeilt zwischen den vielen Transportkisten, auf sich gestellt und den Tod vor Augen, konnte er sich nicht länger vor der Wahrheit verstecken.

Und die Wahrheit lautete, dass er Callista liebte.

3

Von ihrem Platz aus, die Handgelenke an die Armlehnen des Sitzes gefesselt, konnte Callista durch eins der runden Sichtfenster des Airoskaphs spähen.

Im Vordergrund, durchsichtig und wegen der Wölbung des Glases seltsam verzerrt, sah sie ihr eigenes Spiegelbild – ein blasses Gesicht, das von wirrem kastanienbraunem Haar umrahmt wurde. Die blauen Augen, die ihr daraus entgegenblickten, hatten jeden Glanz verloren, wirkten leer und traurig.

Im Hintergrund entdeckte sie Wasser. Ein tiefes Blau, so weit das Auge reichte. Die Sonne spiegelte sich darin, und es glitzerte tausendfach bis zum fernen Horizont, der übergangslos mit dem azurblauen Himmel verschwamm. Sie hatte die See gesehen, als sie ihre Heimat verlassen hatte und aufs Festland übergesetzt war. Vom Meer im Süden und vom großen Wasser im Westen hatte sie bislang nur gehört. Früher, als Callista noch in Moonvale gelebt hatte, dem kleinen Dorf am Rand des Vergessens, hatte sie nicht einmal geahnt, dass es überhaupt so viel Wasser auf dieser Welt gab.

Wie sollte sie auch?

Die Menschen in den Dörfern wurden bewusst unwissend gehalten. Sie blieben ungebildet und waren somit nicht in der Lage, die bittere Wirklichkeit zu erkennen. Dass die Menschen nämlich nicht frei waren, sondern unmündige Sklaven; dass sie unterdrückt wurden von Maschinen, die ihre Zivilisation ausgelöscht hatten; dass der mächtige Phönix, an den sie voller Überzeugung glaubten und dessen Zorn sie fürchteten, in Wahrheit selbst nichts anderes war als eine Maschine, wenn auch die größte und bei Weitem ausgefeilteste, die Menschen je gebaut hatten. Doch am Ende war alles Blendwerk, eine einzige Lüge, die zu durchschauen nur wenigen vergönnt war.

Callista gehörte zu jenen, die einen Blick hinter den Vorhang geworfen hatten, hinter die Illusion, die den Menschen vorgespielt wurde. Zusammen mit Lukan hatte sie ihr Dorf verlassen und in der Folge die bittere Wahrheit erkannt … jedenfalls eine davon. Hätte sie geahnt, wie viele bittere Erkenntnisse noch auf sie warteten, hätte sie sich womöglich niemals danach gesehnt, Moonvale zu verlassen und nach den Sternen zu greifen, deren glitzernde Lichter einst ihre Neugier geweckt hatten wie ein Lockruf in eine andere, bessere Welt.

Ein Irrtum, wie sie inzwischen wusste.

Die Wirklichkeit war nicht besser.

Sie war nur wirklich.

Es kostete sie Überwindung, den Blick vom Fenster abzuwenden und den jungen Mann anzusehen, der ihr gegenübersaß. Früher einmal hatte sie jede Kleinigkeit an ihm gemocht, einfach alles – seinen starken Wuchs, seine ebenmäßigen Züge, sein dunkelblondes Haar, die grauen Augen und die kleine Narbe am Kinn. Sie hatte ihn geliebt, so sehr, dass es wehtat, hatte mit ihm den Rest ihres Leben verbringen und eine Familie mit ihm gründen wollen.

Obwohl es ihnen verboten gewesen war, hatten sie Zeit miteinander verbracht, viele Stunden, ob auf ihrer geheimen Lichtung im Wald oder auf dem Dach ihres Elternhauses, wo sie sich oft heimlich getroffen hatten. Über zahllose Themen hatten sie gesprochen, hatten gemeinsam geträumt und geplant und dabei festgestellt, dass ihre Seelen einander ähnlich waren. Und auch ihre Körper waren einander nahe gewesen.

Daran zu denken, war Callista inzwischen unerträglich geworden. Reue schüttelte sie wie ein Fieberkrampf und führte ihr das eigene Versagen deutlich vor Augen, ihre Dummheit und ihre Naivität … und ihren größten Irrtum.

»Wie konntest du nur?«, fragte sie zum wiederholten Mal.

Zwar erwartete sie keine Antwort, kam über diese Frage aber einfach nicht hinweg.

Lukan war ihr Leben gewesen.

Der Einzige, der sie verstanden und ihr das Gefühl gegeben hatte, sie selbst zu sein. Oder war auch das nur eine Lüge gewesen? Warum aber hatte er sie dann aus der Gefangenschaft im Hort des Feuers befreit? Weshalb hatte er sie auf ihrer Flucht durch den Wald begleitet und damit auch seine eigene Zukunft zerstört? Und hatte er nicht ohne Zögern sein Leben für sie aufs Spiel gesetzt, als sie in Londenton von den Maschinen überrascht und angegriffen worden waren?

Sie hätte es sich einfach machen und einreden können, dass die Maschinen ihn verändert hatten, dass sie ihn unter Drogen gesetzt, dass sie sein Gehirn gewaschen und neu programmiert hatten, so wie sie es bei ihresgleichen taten. Aber so einfach war es nicht. Denn auf erschreckende Weise war Lukan noch immer er selbst … und doch auch wieder nicht.

Sie war gewarnt worden.

Mehr als einmal.

Major Hachette und Lieutenant Degas aus dem Hauptquartier des Widerstands hatten Lukan nie getraut. Und auch Hal hatte seine Zweifel mehrfach zum Ausdruck gebracht. Doch Lukan lebend und unversehrt wiederzusehen, nachdem sie seinen Tod so schmerzlich betrauert hatte, war so überwältigend gewesen, dass sie alle Zweifel in den Wind geschlagen hatte. Und noch etwas hatte eine Rolle gespielt, vielleicht mehr, als sie sich bislang hatte eingestehen wollen – Lukan war ein Determinierter.

Genau wie sie hatte auch er eine besondere Fähigkeit. So wie Callista die Gabe besaß, die Gefühle und bisweilen sogar die Gedanken anderer Menschen zu erspüren, verfügte Lukan über die Kraft der Selbstheilung. Genau wie sie selbst hatte auch er lange Zeit nichts von dieser Gabe gewusst. Aber genau sie war es wohl, die ihn zu dem gemacht hatte, der er nun war, in jeder erdenklichen Hinsicht. Callista hatte gehofft, dass Lukans Fähigkeit zur Selbstheilung ihn vor den Folgen der Folter und den Manipulationen bewahrt hatte, die die Maschinen ihm hatten angedeihen lassen. Doch auch in dieser Hinsicht hatte sie sich nur selbst betrogen.

Lukan hatte getan, womit sie nie gerechnet hätte – er hatte sie alle verraten.

Gründlich gescheitert war ihre Mission, das Geheimnis von Port Bêlin zu erkunden, jener furchterregenden Festung, die die Maschinen im Osten unterhielten. Hals Vater war inzwischen sicher tot, und Hal selbst lebte vermutlich auch nicht mehr.

Hal …

Nachdem sie Lukan verloren hatte, hatte sie geglaubt, niemals wieder für einen Mann etwas empfinden zu können. Hal war anders als Lukan. Kein unbekümmerter Draufgänger, sondern sehr viel nachdenklicher, dabei allerdings nicht weniger mutig. Callista hatte sich wohlgefühlt in seiner Nähe, und bisweilen hatte sie sich dabei ertappt, dass sie sich zu ihm hingezogen fühlte. Doch dann war Lukan wieder aufgetaucht, und seine Rückkehr hatte sie in eine Wirrnis von Gefühlen gestürzt, in einen Irrgarten widersprüchlicher Empfindungen. Es war Hal gegenüber nicht fair gewesen, das war ihr inzwischen klar, doch auch diese Erkenntnis kam zu spät.

Hal ist tot.

Und ich bin schuld daran.

Meine Dummheit und Naivität haben ihn getötet …

»Diese Frage habe ich dir bereits beantwortet«, erwiderte Lukan in diesem Moment. So wie er vor ihr saß in seinem schwarzen Kampfanzug, die Züge fahl und das Haar kurz geschnitten, erinnerte er sie nur noch entfernt an den Jungen, den sie mehr geliebt hatte als ihr eigenes Leben. Es war der Klang seiner Stimme, der sie nach wie vor verwirrte. Dies und der Ausdruck in seinen Augen …

»Tust du das mit Absicht?«, fragte sie und musterte ihn mit müdem Blick. Sie hatte lange nicht geschlafen, fand einfach keine Ruhe. Eine grässliche Mischung aus Trauer, Zorn und Reue brodelte in ihr. Vor allem aber fühlte sie eine tiefe Verletzung.

»Was meinst du?«

»Spielst du mit mir?«, hakte sie nach. »Noch immer?«

»Ich habe nie mit dir gespielt.«

Sie bedachte ihn mit einem vernichtenden Blick. »Du hast mich hintergangen, hast meine Zuneigung missbraucht. Du hast dir unser Vertrauen erschlichen und uns in eine Falle gelockt, aus der es kein Entkommen gab.«

»So lautete mein Auftrag«, erfolgte Lukans knappe Antwort.

»Dein Auftrag? Mehr hast du dazu nicht zu sagen? Du hast deine Kameraden ans Messer geliefert, deine Freunde … und mich.«

»Ich weiß«, räumte er kurz angebunden ein.

Keine Reue in seinen Zügen, kein Bedauern in seinem Blick. Und sein Inneres, das Callista mit ihren Sinnen zu erforschen suchte, eine kalte, abweisende Wand.

»Und du empfindest nichts dabei? Ich habe dich geliebt, Lukan Tallamach, und du hast mich geliebt …«

»Was gewesen ist, spielt keine Rolle mehr.«

»Haben sie dir so etwas eingeredet?« Sie musterte ihn durchdringend. Trotz seines Verrats fiel es ihr nach wie vor schwer, einen Feind in ihm zu sehen.

Ich muss es endlich begreifen, sagte sie sich selbst. Der Mann, den ich liebe, steht jetzt auf der anderen Seite. Früher hatte ich einen Platz in seinem Herzen, doch mittlerweile ist etwas anderes an diese Stelle getreten. Oder ist auch das ein Irrtum gewesen?

»Was soll das?«, beharrte Callista und zerrte zur Bekräftigung an ihren Fesseln. »Halten mich die mächtigen Maschinen für eine solch große Gefahr?«

»Du bist eine Kämpferin des Widerstands«, erwiderte Lukan. »Es ist viel Zeit vergangen, seit du heimlich auf jener Lichtung im Wald geübt hast. Pfeil und Bogen sind in deinen Händen inzwischen zu tödlichen Waffen geworden.«

»Das alles weißt du noch?«

Er nickte, und sie spürte einen Stich im Herzen. Die Erinnerung an jene sorglosen Tage, die eine Ewigkeit zurückzuliegen schienen, hatte ihr bislang Trost und Kraft geschenkt. Nun aber konnte sie auch daran nicht mehr ohne Bitterkeit zurückdenken. Sie kannte Lukan bereits ein Leben lang, hatte kaum Erinnerungen, in denen er nicht vorkam. Nun waren sie alle durch seinen Verrat entwertet.

»Sprich nicht von der Vergangenheit!«, bat sie beinahe flehend.

»Warum nicht?«

»Empfindest du denn nichts dabei? Keine Reue? Keinen Schmerz?«

»Nein, denn in diesem Kampf stehe ich auf der richtigen Seite. Mein Meister hat mir die Augen für die Wahrheit geöffnet, Callista. Und wahr ist, dass die Maschinen uns beschützen. Der Widerstand hingegen, wie du ihn siehst …«

»Was weißt du über den Widerstand?«, schnitt Callista ihm das Wort ab. »Nichts, denn du hast ihm niemals angehört. Alles, was du zu wissen glaubst, hast du aus Geheimdienstberichten und Dossiers erfahren …«

»… so wie das, was du über die Maschinen zu wissen glaubst«, konterte Lukan gelassen und mit einer Schlagfertigkeit, die ihm früher nicht zu eigen gewesen war. Auch das hatte sie an ihm festgestellt – er war spitzzüngig geworden. Hart in der Wahl seiner Worte. Zynisch …

»Und was jetzt?«, fragte sie deshalb spöttisch. »Willst du mir erzählen, dass die Mär vom Phönix doch der Wahrheit entspricht? Dass er die Menschheit aus der Asche gerettet hat? Ernsthaft?«

»Diese Geschichte ist ein Bild«, entgegnete Lukan, ohne mit der Wimper zu zucken. »Die einfache Fassung eines komplizierten Sachverhalts. Doch die zugrunde liegende Wahrheit bleibt dieselbe. Nicht die Maschinen haben die große Katastrophe herbeigeführt, sondern die Menschen.«

Callista nickte. Auch der Operator von Port Bêlin hatte ihr dies weismachen wollen.

»Die Menschen waren untereinander uneins und stritten sich um die Vorräte dieses Planeten«, fuhr Lukan fort. »Die einen hatten alles und die anderen nichts, und so kam es zum Krieg. In der Stunde größter Not baten sie die Maschinen dann um Hilfe …«

»… die ihnen halfen, indem sie ihre Zivilisation auslöschten«, versetzte Callista voller Bitterkeit. »Sie haben die alte Welt vernichtet.«

»Und eine neue erschaffen! Die alte Welt war im Ungleichgewicht, überall herrschten Krieg und Chaos. Dem setzte der Phönix ein Ende. Er bewahrte die Menschheit davor, sich selbst zu vernichten, und gab ihr seine Ordnung. Ihr müssen die Menschen gehorchen, ohne Ausnahme.«

»Früher hast du anders gesprochen.«

»Früher war ich ein anderer. Doch ich habe mich geändert. Auch du musst dich ändern.«

»Hat dich dein Meister deshalb auf diesen Stuhl gesetzt?«, fragte Callista befremdet. »Damit du mich bekehren sollst?« Sie schnaubte verächtlich. »Dann sag ihm, dass dazu mehr nötig ist als mein ehemaliger Freund, der mich verraten und mein Herz gebrochen hat.«

Sie spürte ihren Worten nach, versuchte zu ergründen, ob sie ihn damit verletzt, seine aalglatte Oberfläche zumindest angekratzt hatte. Doch wie immer, wenn sie Lukans Gefühle und Gedanken zu erforschen suchte, stieß sie auf eine unsichtbare Mauer. Was auch immer sie seit seiner Rückkehr in seiner Gegenwart verspürt zu haben glaubte, waren wohl nur Reflexionen ihrer eigenen Empfindungen gewesen. Sein Meister hatte ihm offenbar nicht nur beigebracht, keine Gefühle zu zeigen, sondern sie erst gar nicht zu empfinden. Maschinengleich …

Lukan selbst hatte es im Augenblick seines Verrats gesagt.

Kein Zweifel an meinem Auftrag.

Kein Mitleid mit meiner Person.

Kein Erbarmen mit den Feinden der Ordnung.

In diesem Moment begriff Callista, dass Hals Vermutung falsch gewesen war. Die Konditionierung durch die Maschinen hatte Lukan nicht seines Gedächtnisses, nicht seiner Erinnerungen an ihre gemeinsame Vergangenheit beraubt. Sondern der Gefühle, die er damit verband. Der Fähigkeit, nicht nur wie eine Maschine bloße Fakten zu memorieren, sondern dabei wie ein Mensch zu empfinden.

»Was haben sie dir nur angetan?«, flüsterte sie, und ihre Augen füllten sich mit Tränen.

»Es ist zum Besten der Menschheit«, erklärte Lukan voller Überzeugung. »Der Phönix ist nicht unser Feind, Callista. Er ist es nie gewesen.«

»Nein?«, schluchzte sie. »Warum hat er mir dann alles genommen? Meine Eltern, meine Heimat, so viele meiner Freunde … und auch dich?«

»Er hat dein Leben geschont, oder etwa nicht?«

Nicht Lukan hatte das gesagt, sondern eine schlanke Gestalt, die lautlos hinzugetreten war. Callista blickte auf. Es war Lukans Meister, Insistor 1138, der ihn ausgebildet hatte und in dessen Auftrag er handelte.

Es hatte eine Zeit gegeben, damals in Moonvale, da hatte sich Callista vor den Insistoren gefürchtet. Wie alle Dorfbewohner hatte auch sie geglaubt, dass sie die obersten und mächtigsten Diener des Phönix seien. Ein Irrtum, wie sie hatte erkennen müssen. Die Insistoren in ihren glänzend weißen Rüstungen mochten die Herren über die Administratoren und die Befehlshaber der Drohnen und Kampfmaschinen sein. Aber letztlich waren auch sie nur kleine Räder in einem ungleich größeren Mechanismus. Denn über ihnen standen die Operatoren, und sie wiederum standen in direkter Verbindung mit dem Phönix selbst.

Durch den Sehschlitz seines Helms starrte der Insistor auf Callista herab. War er ein Mensch oder eine Maschine? Callista wusste es nicht, und es war ihr auch gleichgültig geworden. In den Diensten des Phönix gab es beides, Maschinen, die wie Menschen aussahen, und Menschen, die wie Maschinen handelten.

Sie empfand tiefe Verachtung.

Und unbändigen Zorn …

»Es ist wahr, der Operator hat mein Leben geschont«, räumte sie ein und bezähmte nur mühsam ihre Wut. »Aber nicht, weil er mir Gnade erweisen wollte, sondern weil ich über gewisse Informationen verfüge. Das hat ihm Angst gemacht.«

»Callista Brooke, Maschinen verspüren keine Angst«, stellte Lukans Meister klar, womit er zweifellos recht hatte. »Und mit gewissen Informationen meinst du fraglos den Anix«, fuhr er wie beiläufig fort.

Callista erstarrte innerlich.

Die alte Ada hatte ihr den Begriff telepathisch übermittelt. Sie wurde in Port Bêlin gefangen gehalten, zusammen mit unzähligen anderen Determinierten, die dort grausamen Experimenten unterzogen wurden. Callista war überzeugt gewesen, dass es sich um ein streng gehütetes Geheimnis der Maschinen handelte. Und nun sprach ein einfacher Insistor es laut und offen vor ihr aus.

»Der Anix ist der Schlüssel«, fuhr Lukans Meister fort.

»Ich weiß«, bestätigte Callista.

Der Insistor durchbohrte sie mit seinem Blick. »Vielleicht«, räumte er dann ein. »Aber ich bezweifle, dass du noch mehr darüber weißt. Dies, Callista Brooke, ist nicht der Grund, warum du noch am Leben bist. Aber du darfst sicher sein«, fügte er hinzu, beugte sich zu ihr herab und sprach ganz leise, »dass es eine andere Bestimmung für dich gibt.«

»Welche?«, fragte sie.

»Sei unbesorgt, Callista Brooke!«, erwiderte der Insistor, ohne dabei erkennen zu lassen, was in seinem Innern vor sich ging. »Der Phönix wird es dir schon bald offenbaren.«

4

Als Caleb wieder zu sich kam, dröhnte ihm der Schädel.

Der heftig pochende Schmerz begann an der rechten Schläfe und schien von dort aus am ganzen Körper hinabzurinnen, quälend und pulsierend. Stöhnend wollte er sich bewegen, doch es misslang ihm. Seine Hände waren gefesselt, ebenso wie seine Beine. Und durch den Schleier der Benommenheit wurde ihm klar, dass er aufrecht stand und an einem Baum festgebunden war.

Vor Entsetzen riss er die Augen auf.

Zu seiner Überraschung war es dunkel.

Baumkronen und Himmel über ihm verschmolzen zu einer schwarzen Masse. Sterne waren nicht zu sehen, den Mond konnte er nur erahnen. Licht kam lediglich von einem Feuer, das in einiger Entfernung loderte und von mehreren Gestalten umringt war. Ihre Gesichter waren bemalt, Kleidung und Bewaffnung wirkten primitiv.

Geister.

Die Erinnerung an alles, was geschehen war, kehrte schlagartig zurück.

Jona!

Erschrocken sah sich Caleb um, nur um festzustellen, dass der Junge dicht neben ihm stand und an einen dünnen Birkenstamm gefesselt war. Auch er schien gerade erst zu sich zu kommen. Je wacher er wurde, desto deutlicher stand ihm die Angst ins Gesicht geschrieben.

»Ich bin hier, Jona«, raunte Caleb ihm zu.

»Wo…wo sind wir?« Kaum erwacht, zerrte der Junge an seinen Fesseln. Leicht beschämt stellte Caleb fest, dass er selbst noch gar keinen Befreiungsversuch unternommen hatte. Vermutlich weil er ahnte, dass es sinnlos war.

»Offenbar haben sie uns aufs Festland gebracht«, mutmaßte Caleb flüsternd und behielt die Silhouetten am Feuer genau im Auge. »Das Rauschen des Flusses ist nicht mehr zu hören.«

»Was haben die vor? Was stellen sie mit uns an?«

»Das weiß ich nicht«, behauptete Caleb.

Die Antwort war gelogen. Tatsächlich war ihm nur allzu klar, was die Geister mit ihnen vorhatten und welch grausiges Ende ihnen drohte.

Es sei denn …

»He, ihr da!«, rief Caleb entgegen seiner sonst so bedächtigen Art zum Feuer hinüber. Seine Stimme bebte, und mit Gewalt zwang er sich zur Ruhe. »Ja, euch meine ich!«

Die Krieger am Feuer – Caleb glaubte zu erkennen, dass es sich um einen Mann und zwei Frauen handelte – wechselten Blicke. Ob sie nicht mit ihm reden durften oder es schlicht und einfach nicht konnten, erfuhr Caleb nicht. Aber einer der drei huschte davon und kehrte kurz darauf in Begleitung des Mannes mit dem Schädelhelm zurück.

»Ke vulé?«, herrschte er die Gefangenen an. Dabei stürmte er so ungestüm und grimmig auf sie zu, als wollte er ihnen bei lebendigem Leib das Herz aus der Brust reißen.

»Warum haltet ihr uns gefangen?«, fragte Caleb trotz aller Bemühungen mit zitternder Stimme und kratzte das wenige Frankisch zusammen, dass die Kinder von Basis 4 ihm beigebracht hatten. »Purkwa nu prisonn?«

Die fiebrigen Augen des Kriegers musterten ihn. Dabei zog er die Mundwinkel so geringschätzig nach unten, als betrachtete er einen Dunghaufen. »Punita«, wiederholte er dann nur das Wort, das er schon auf der Insel gebraucht hatte. Caleb dämmerte, dass es wohl so etwas wie Strafe bedeutete …

»Punita purkwa?«, fragte er.

Der Anführer der Geister, der schon wieder im Gehen begriffen war, blieb unvermittelt stehen. In einer einzigen fließenden Bewegung fuhr er herum, zog etwas aus seinem Gürtel und stach damit auf Caleb ein. Einen Lidschlag später spürte dieser eine klingenförmige Glasscherbe an der Kehle, scharf wie ein Rasiermesser.

»Taita, résista!«, stieß der Angreifer zwischen zusammengebissenen gelben Zähnen hervor.

Sein schlechter Atem und der Verwesungsgeruch drehten Caleb schier den Magen um. Trotzdem nahm er seinen ganzen Mut zusammen und sprach weiter. »Warum soll ich schweigen?«, fragte er. »Ihr werdet uns sowieso töten, oder etwa nicht? Nu mor«, fügte er in gebrochenem Frankisch hinzu, »nespa?«

Der Geist starrte ihn an.

Das Flackern in seinen Augen verriet Caleb, wie viel Unrast der Mann verspüren musste, wie viel Hass, Schmerz und nur mühsam gebändigten Irrsinn. Plötzlich verzog sich der Mund des Anführers zu einem breiten Grinsen.

»Vi, vu mor«, bestätigte er. »Mancee pur nu forta!«, fügte er etwas leiser hinzu.

Mit der freien Hand deutete er auf das Feuer. Und Caleb begriff, dass dies nicht nur ein Lagerfeuer war. Über den Flammen sollten Jona und er …

Es geschah so unerwartet, dass auch Caleb erschrak. In einem plötzlichen Ausbruch verstärkte sich das Feuer, wurde zu einer lodernden Säule, die fünf, sechs Meter hoch züngelte und an den Kronen der Bäume leckte.

Die Geister, die am Feuer gestanden hatten, sprangen entsetzt zurück, ihr Anführer riss mit einer jähen Bewegung die Klinge von Calebs Kehle. Mit schreckgeweiteten Augen sahen seine Leute und er, wie das Feuer noch höher wuchs und auf die Kronen der Birken übergriff. Die noch jungen Blätter welkten im Bruchteil eines Augenblicks. Zweige und Äste gerieten in Brand, orangerote Glut regnete herab. Caleb bezweifelte keine Sekunde lang, wem dieses unerwartete Feuerwerk zu verdanken war. Er brauchte nur einen Blick auf Jona zu werfen und erkannte, dass seine Vermutung richtig war. Wie versteinert stand der Junge an seinem Stamm, die Augen starr geradeaus gerichtet. Der Widerschein des Feuers spiegelte sich in seinen blassen Zügen, vor Anstrengung stand ihm der Schweiß auf der Stirn.

Jona mochte zwar nicht verstanden haben, was der Anführer der Geister gesagt hatte, doch vermutlich hatte er dessen dunkle Absichten erspürt … und entsprechend gehandelt.

Durch das Geschrei ihrer Artgenossen alarmiert, drängten weitere Geisterkrieger zum Feuer. Lauthals kreischend umringten sie die Säule, deren plötzlichen Ausbruch sie sich nicht erklären konnten. Die einen reckten die Arme in die Luft und huldigten der Flamme, die sie wohl für ein übernatürliches Zeichen hielten, die anderen warfen sich ehrerbietig zu Boden. Wieder andere hatten Funken des Glutregens abbekommen und schlugen wie von Sinnen auf sich ein. So wollten sie verhindern, dass sie Feuer fingen. Als Einziger bewahrte der Anführer einen einigermaßen kühlen Kopf und bemühte sich, dem chaotischen Treiben Einhalt zu gebieten. Doch die Versuche, seine Leute zu beruhigen, gingen in panischem Geschrei unter.

In seiner Not packte er einen seiner Krieger und schlug ihn kurzerhand nieder. Ein anderer hatte das Pech, ihm am nächsten zu stehen, und bekam sein Schwert zu spüren.

Plötzlich schien dem Mann jedoch ein Gedanke durch den Kopf zu schießen. Wie angewurzelt verharrte er in seiner Bewegung, fuhr herum, die blutige Klinge noch in der Hand … und starrte Jona an.

Ob es bloßer Instinkt war oder eine Ahnung, jedenfalls schien der Anführer der Horde erkannt zu haben, dass dieser unscheinbare Junge der Urheber des feurigen Infernos war.

Mit langen Schritten eilte er heran, das Schwert zum Schlag erhoben und Mordlust in den Augen.

»Nein!«, rief Caleb entsetzt, und auch Jona schrie erschrocken auf. Die Feuersäule fauchte und türmte sich noch höher, doch den Mann mit dem Schwert erreichte sie nicht. Schon war er mit der Klinge herangekommen und holte aus, um den wehrlosen Jungen zu töten …

… als ein peitschender Laut zu hören war.

Der Anführer der Geister prallte zurück, als wäre er auf ein unsichtbares Hindernis gestoßen. Er taumelte einige Schritte zurück und ließ sein Schwert fallen. Dann brach er zusammen und blieb reglos liegen.

Im nächsten Moment waren Caleb und Jona nicht mehr allein. Dunkle Gestalten brachen aus dem Unterholz. Sie trugen tarngefleckte Ponchos und hatten Schusswaffen bei sich. Ihr Anführer war eine schlanke Frau mit kurz geschnittenem schwarzem Haar. Caleb traute seinen Augen nicht, als er Lieutenant Degas erkannte. So oft waren er und die Soldatin in der Vergangenheit gegensätzlicher Ansicht gewesen. Nun war er unendlich froh, sie zu sehen.

Nicht so die Geister.

In heller Aufregung waren sie ohnehin schon gewesen, jetzt kam noch blinder Zorn hinzu. Mit erhobenen Waffen stürmten sie auf die Widerstandskämpfer zu, die ohne Zögern feuerten. Wieder krachten Schüsse, und Mündungsfeuer flammte auf. Zwei weitere Geister brachen in die Knie, eine Frau wurde verwundet. Noch einmal rannten sie wutentbrannt gegen Degas und ihre Leute an, doch als die Waffen abermals Tod und Verderben spuckten, gewann ihre Furcht die Oberhand.

Schreiend wandten sich die Geister zur Flucht und rannten davon, verschwanden in der Dunkelheit, die jenseits der Feuersäule herrschte. Die Widerstandskämpfer verzichteten auf ihre Verfolgung. Stattdessen befahl Degas, die Lichtung zu sichern, während sie und ihr Unterführer die Gefangenen befreiten.

»Lieutenant!«, rief Caleb erleichtert. »Sie zu sehen, macht mich glücklich!«

Die Soldatin nickte nur, während sie ihr Messer zückte und ihm die Fesseln durchschnitt. Er rieb sich die Handgelenke und merkte erst jetzt, wie heftig sie schmerzten. Dann wandte er sich an Jona, den der Corporal inzwischen ebenfalls losgeschnitten hatte. Vor Erschöpfung wäre der Junge zusammengebrochen, hätte Caleb ihn nicht aufgefangen.

Das Feuer auf der Lichtung hatte sich wieder beruhigt und war auf seine ursprüngliche Größe geschrumpft. Lediglich in den Bäumen schwelten hier und dort noch Brandnester, aber das Holz war nicht trocken genug, als dass sich das Feuer weiter ausbreiten konnte. »Es ist gut, Jona«, raunte Caleb dem Jungen zu. »Du kannst dich ausruhen, es ist vorbei.«

»Noch längst nicht«, bemerkte Degas kühl, wie es ihre Art war. Falls sie froh war, die beiden gerettet zu haben, so wusste sie es gut zu verbergen. »Kann der Junge gehen?«

»Jona ist in Ordnung«, versicherte ihr Caleb. »Er muss nur etwas ausruhen.«