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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe

1. Auflage Oktober 2012

ISBN 978-3-492-95739-7

© 2011 Konrad Theiss Verlag GmbH, Stuttgart

© 2012 Piper Verlag GmbH, München

Umschlaggestaltung: semper smile, München, nach einem Entwurf von Stefan Schmid Desgin, Stuttgart

Umschlagfoto: Stefan Schmid

Datenkonvertierung E-Book: Kösel, Krugzell

Diese Geschichte ist selbstverständlich frei erfunden.

Eine Stadt namens Stuttgart hat also nie existiert.

Vorspann:
Die Dinge, Tiere, Personen und ihre Handlungen

Die Hauptmänner

Rosenblüt, der Kommissar. Ein in die Jahre gekommener Robert Redford und elitärer Kriminalist, der dem lieben Gott versprochen hat, nie wieder nach Stuttgart zu reisen. – Versprechen kommen in die Welt, um gebrochen zu werden.

Hans Tobik, der Stuttgartforscher. Ein Mann, der den Mächtigen die Angst zurückbringen möchte, auf daß sie sich wieder in Menschen verwandeln.

Wolf Mach, der Archäologe. Mach ist der Österreicher, denn für jede Geschichte braucht es einen Österreicher. Der Österreicher symbolisiert das Leben und den Tod.

Kepler, der Hund. Vermutlich die Reinkarnation des Mischlingsrüden Lauscher, der einst den Detektiv Cheng begleitete. Dieser Kepler begleitet nun Rosenblüt. Wie Lauscher ist er, weil völlig untierisch, das perfekte Tier: philosophisch – ohne ein Wort zu sagen, ohne ein Zeichen zu setzen, ohne auch nur mit dem Schwanz zu wedeln, philosophisch dank purer Anwesenheit.

Die Hauptfrauen

Alicia Kingsley, Wolf Machs Aufpasserin. Ein lebendig gewordener Panzer von polarer Schönheit. Höchstwahrscheinlich englisch, höchstwahrscheinlich Androide. Jedenfalls gefährlich. Gefährlich für wen, das ist die Frage.

Teska Landau, Kriminalhauptmeisterin, Rosenblüts Assistentin. Eine kleine, blasse Person, die eine neue Stuttgarter Leidenschaft kultiviert: Courage. Und zwar eine kluge Courage.

Der Schloßgarten-Mechanismus, ein vorchristliches Artefakt. Eine schlafende Maschine. Steckt unverrückbar in der Erde.

Die Nebenmänner

Felix Palatin, wie Kingsley womöglich Androide, aber keiner von der netten Sorte. Von der Stadt Stuttgart beauftragt, das Entfernen der schlafenden Maschine zu überwachen und die Dinge nicht aus dem Ruder laufen zu lassen. – Aber welche Dinge halten schon am System der Ruder fest?

Lynch, Türke in München. Cineast und elitär wie Rosenblüt. Förderer einer Hip-Hop-Band. Vermittler krummer Geschäfte, die sowieso nie ein Ruder gesehen haben.

Sami Aydin, Lynchs Cousin in Stuttgart-Bad Cannstatt. Nicht minder elitär. Macht den Eindruck, trotz seiner Jugend genauso alt wie Cannstatt zu sein, Cannstatter Urgestein im eigentlichen Sinne. Logischerweise Waffenhändler.

Doktor Thiel, Rosenblüts ehemaliger Mitarbeiter in Stuttgart, dort jetzt Dezernatsleiter für Organisierte Kriminalität. Zyniker, aber reinen Herzens. Holt Rosenblüt zurück in die Landeshauptstadt, wie um einen Giftpfeil ins Herz der finsteren Mächte zu schießen.

Doktor Gotthard Fabian, emeritierter Professor der Geologie in Stuttgart. Haupt der Burschenschaft der Adiuncten – unnahbar, grandios, verdächtig. Ein Lodenanzug, ein Mann.

Doktor Christoph Uhl, Professor der Geologie in München. Der Überfall auf seinen Sohn Martin ruft Rosenblüt auf den Plan. Der Überfall ist die Wunde, die bis nach Stuttgart aufreißt und nicht zu bluten aufhört.

Die Nebenfrauen

Aneko Tomita, Rosenblüts Lebensgefährtin. Japanerin in München. Fotografin. Zeichnet sich durch die maskuline Eigenschaft aus, ständig unterwegs zu sein.

Doktor Ursula Procher, Rosenblüts Chefin als Leiterin des Kriminalfachdezernats 1 in München. Eine Frau, die auf ihre Zehen aufpaßt.

Die Unerklärlichen

„Ratcliffe“ (auch „York“), der Projektsprecher von Stuttgart 21. Ist niemals in dieser Geschichte sichtbar und dennoch das Ziel von Spott und Verachtung. Nicht zuletzt das Ziel einer Kugel.

Die weinenden Löwen, fünf an der Zahl. In deren Zentrum befindet sich der „Gott aus der Maschine“, der Deus ex machina der Geschichte. Dieser besitzt eine frappante Ähnlichkeit mit dem Schloßgarten-Mechanismus.

Die Stuttgart-21-Betreiber, darunter Stuttgarts politische Elite, die gerne das Herz der Stadt in Schutt und Asche legen würde mit dem nicht ganz unrichtigen Argument, es handle sich dabei um ein Infrastrukturprojekt. Eine Elite, die zudem bemüht ist, Gott in Schutt und Asche zu legen, auch wenn das kein Infrastrukturprojekt ist.

Teil I

Schächte! Warum sind es immer Schächte?

Sigourney Weaver in Dean Parisots Film Galaxy Quest – Planlos durchs Weltall

Was soll denn das hier? Ich versteh überhaupt nicht,
für welchen Zweck da so ein Haufen stampfender,
krachender Dinger mitten im Weg steht.
Ich meine, dafür gibt es keinen vernünftigen Grund.
Das ist überhaupt nicht logisch. Wieso ist das da?

Nochmals Sigourney Weaver im selben Film, konfrontiert mit einer zwar funktionslosen, jedoch mit lebensgefährlichen Elementen ausgestatteten Tunnelröhre

Der Autor, der diese Folge geschrieben hat,
sollte selbst da durch.

Abermals Sigourney Weaver nach der aufreibenden Überwindung jener Röhre

1 Tränen

Ein erster warmer Strahl traf sein Gesicht. Ihm kam vor, als tippe ein Geist ihm gegen die Stirn, nicht unfreundlich, nicht aggressiv, sondern in der Weise, mit der man ein Aschenkreuz auf die Stirn gemalt bekommt. Gewiß, die Fastenzeit war längst vorbei, der Juni ging zu Ende, und ein heftiger Sommer – eine Entzündung von Sommer, eine lepröse Hitze – bestimmte das Leben der Stadt. Doch anstatt sich zu verstecken, strömten die Leute nach draußen, freilich wenige so früh wie er. Er liebte die Zeit der Morgendämmerung, wenn das Licht im Zweifel war und die Welt menschenleer.

Er war mit seinen fünfzehn Jahren ein wenig ein Misanthrop, aber keiner von der schlimmen Sorte. In seinem Köpfchen spukten keinerlei Gewaltphantasien, er war kein Außenseiter, kein Waffenfreak, er war bloß von schwächlicher Statur. Der Umstand einer frühen Geburt hatte sich über die ganze Zeit erhalten, nicht nur körperlich, auch geistig. Allerdings war er kein Depperl, sondern ein guter Schüler und höchst talentierter Schachspieler. Trotzdem – er empfand so vieles in seinem Leben als eine Verspätung. Und als einen Ausdruck falscher Verortung. Im Brutkasten statt im Bauch zu sein. Wenn er seine Mutter sah, ihre energische, vitale Art, mit der sie alles und jeden organisierte, dann wurde er das Gefühl nicht los, sie habe ihn mit Absicht so früh in die Welt entlassen, um eben diesen Bauch loszuwerden, diese Behinderung beim Organisieren. Natürlich ließ er seine Mutter dies nicht fühlen und glaubte auch gar nicht, diese gänzlich fremde „liebe Frau“ aus der Fassung bringen zu können. Er war der Sohn, sie die Mutter, mehr war da nicht zu sagen.

In erster Linie kam er so früh an die Isar, um Sport zu treiben. Nicht, daß er ein großer Freund der Körperertüchtigung war, aber er erkannte angesichts seiner knöchernen Gestalt die Notwendigkeit, Muskeln auszubilden, wenn die Muskeln schon nicht von selbst kamen. Er verhielt sich in dieser Hinsicht durchaus pragmatisch. Er war zu klein, und er war zu dünn. Ersteres mußte er dem lieben Gott überlassen, zweiteres konnte er selbst in die Hand nehmen. Und tat es eben, verzichtete jedoch auf eins dieser Studios in der Art von Hamsterställen. Da war es ihm lieber, seinen Wecker auf halb fünf zu stellen, in den Trainingsanzug zu schlüpfen und über die Brücke und hinunter zum Fluß zu laufen, den er bei sich immer nur das „Tiroler Wasser“ nannte. Er fühlte sich auf eine irrationale Weise mit dem österreichischen Ursprung der Isar verbunden, als sei dort die Welt besser. Kein Wunder, daß ihm der Ausdruck „heiliges Land Tirol“ gefiel. Allerdings war er noch nie in diesem heiligen Land gewesen. Er dachte manchmal, daß er dorthin zum Sterben gehen würde. Vielleicht stand Tirol für den Mutterbauch, den er zu früh hatte verlassen müssen.

Vor dem Sterben aber ist das Leben und sind die Liegestütze. Er kniete sich auf den noch kühlen, feuchten Boden, atmete mehrmals kräftig durch und ging dann in Parallelposition zur Erde. Zehn Stück, saubere zehn Stück, das mußte er hinbekommen. Bei jedem Abwärts-tauchen küßte er das Gras, verharrte einen Moment im Kuß und im Anhalten der Luft, bevor er sich kräftig ausatmend nach oben stieß. Ein Schmerz zog sich durch seine Arme. Jener Schmerz, der Muskeln produzierte. Also war es gut so.

Was nicht so gut war, war der plötzliche Druck auf seinen Schulterblättern. Seine Arme knickten ein, und sein Gesicht tauchte ins Gras. Zum Küssen kam er nicht mehr, statt dessen schmeckte er die Erde. Da unten war es noch tiefe Nacht. Einen Moment dachte er, etwas in der Art eines plötzlichen Herztodes hätte ihn ereilt als Strafe dafür, dümmliche Gymnastik zu betreiben. Aber er lebte. Jemand nannte ihn schwul. Jemand befahl ihm, sich umzudrehen. Er drehte sich um. Über ihm waren mehrere Gesichter, zinnoberrot im Licht der über München aufgegangenen Sonne.

Das war jetzt der Moment, da er sich wünschte, viel früher in seinem Leben mit dem Krafttraining begonnen zu haben. Wobei sehr fraglich war, ob eine noch so intensive Liegestützerei geholfen hätte, es mit diesen Gestalten aufzunehmen: fünf Burschen, junge Türken, die ärmellose Shirts trugen, damit man ihre Oberarme besser sehen konnte. Schöne Oberarme, geradezu poliert, braun, glänzend, Bronze im warmen Schein, heldische Gestalten, mit denen etwas ordentlich schiefgelaufen war. Auch die Silberkettchen und die Sonnenbrillen glänzten. Eine Gangstertruppe wie aus dem Bilderbuch von MTV, als würden sie gleich zu tanzen anfangen. Aber sie tanzten nicht, sondern redeten im Klang jener Sprache, die aus einem Rasenmäher zu kommen schien. Eine Sprache im latenten Zustand der Selbstverarschung. Die Jungs, aus deren stark verzogenen Mündern Worte wie „Arschnloch“ und „Scheißndreck“ behende schlüpften, vermittelten den Zustand einer zur Gänze materialisierten Karikatur. Und genau darin bestand ja ihre Macht: kein Theaterstück zu sein, keine Überhöhung, keine auf ein Blatt Papier gezeichnete Überzeichnung, kein Videoclip, sondern leibhaftig. Die Karikatur in Fleisch und Blut und Kult. Allerdings doch um einiges kunstvoller und verspielter, als ihre Freunde, die Neonazis, das hinbekamen. Was nun für Martin, der da im Gras lag und das Zittern seiner Beine nicht unter Kontrolle bekam, wenig von Bedeutung war: der gewisse Reiz dieser Selbstverarschung mittels eines Soziolekts. Er verstand kaum etwas von dem, was man ihm entgegenspuckte, zu rasch wurden die von sch-Lauten dominierten Salven abgeschossen. Aber wahrscheinlich sollte er sowieso nichts verstehen, das Bedrohliche ergab sich aus dem Geheul eben jenes Rasenmähers.

Das war tatsächlich der springende Punkt: wie sehr nämlich die Würde dieser Stänkerer und Schläger daraus erwuchs, beim anderen – dem „Bastard“, der „Mißgeburt“ – Angst hervorzurufen. Auf diese Weise bekamen sie den Respekt gezollt, den ihnen die Integrationsbeamten nicht hatten verschaffen können. Nur, daß der Respekt nicht ihrer orientalischen Aura galt, sondern dem Messer, das da aus ihrer Sprache ragte, genauer: dem Messer aus der Tasche. Dem Mörderblick, der Breitbeinigkeit, dem Kriegsschmuck. Ja, sie waren Krieger in einem ganz unheiligen Krieg, krasse Krieger, im Sinne der Verwandtschaft von kraß und gräßlich. Wenn sie sich gegenseitig fragten „Was geht ab, ey?“, dann hätte man das eigentlich wörtlich nehmen müssen. In der Tat ging ihnen etwas ab. Denn der Krieger, jeder Krieger, entwickelt sich aus einem Defizit, einer Lücke. Immer dort, wo ein Vakuum entsteht, ein Loch, eine Spalte, keimt der Krieger hoch.

Die anderen Jungs, die, welche so offenkundig deutsch aussahen, sollten sich fürchten. Davor fürchten, blöd in der Straßenbahn herumzustehen und in die falsche Richtung zu glotzen. Wobei mit „den“ Deutschen gar nicht die mit den Springerstiefeln gemeint waren, die ja derselben Gattung angehörten und bloß eine andere Varietät der Respekt-durch-Angst-Gruppe darstellten. Martin hingegen war ein braver Junge mit Rehaugen, „so ’n Spasti aus Villaville“, keiner von der Straße, sondern aus begütertem Haus: blaß, mit dünnen, blonden Haaren, androgyn, im Nobelghetto beheimatet, in den Privatschulen, dem Klavierunterricht, der Fürsorglichkeit putzfrauengeputzter Badezimmer.

Martin war in eine Elite eingesperrt, ohne dafür aber ein echtes Bewußtsein zu besitzen. Er verfügte im Grunde über keine Sprache, mit der er sich identifizierte, außer der Sprache des Schachspiels. Doch wer verstand die schon? Ein paar ältere Herren, mit denen er sich im Park traf, ein paar Leute, mit denen er über das Netz Kontakt hatte, aber bereits seine Eltern wußten nicht, was er meinte, wenn er eine bestimmte Lebenssituation mit der Robatsch-Verteidigung verglich. Ganz klar, dieses Schachzeug war nicht ihre Idee gewesen. Für sie war Schach wie Lyrik, beides ganz okay, da partikelhafter Teil einer höheren Bildung, jedoch nichts, mit dem man Furore machen konnte, wurde man nicht Schachweltmeister oder Büchnerpreisträger. Wobei seine Eltern im Grunde auch auf einen Büchnerpreisträger verzichten konnten, weil man das ja nur einmal wurde.

„Arsch hoch, Schwuchtelgoi!“ sagte der, der hier der Anführer zu sein schien und eine Spur älter wirkte, vielleicht siebzehnjährig.

Goi? Martin war irritiert. Hatte er sich verhört? Wie kam ausgerechnet ein Türkenjunge dazu, ihn einen Goi zu schimpfen? Nun, er war ja auch einer, dennoch ... Die fünf Kerle traten jetzt nahe an ihn heran, er spürte ihren Atem, stand da wie in einem warmen Gebläse. Einer griff ihm in die Seitentasche seiner Laufweste und zog das Handy heraus, ein anderer das kleine Portemonnaie mit Ausweis und etwas Geld darin und dem Schlüssel zur Wohnung.

„Lachscht du, du Penner? Willscht du was aufs Maul?“

Nein, er hatte ganz sicher nicht gelacht. Dennoch senkte er den Blick, starrte hinunter auf den Boden und dachte: „Verdammt, ich will mich nicht anpissen.“ Das war seine Angst: die Kontrolle über seine Blase zu verlieren. Nicht, weil ihm das schon mal passiert war, aber er war ja auch noch nie in einer derartigen Situation gewesen.

Als hätte einer von den Türkenjungs genau das vermutet, genau diese konkrete Angst vor einer Selbstverstümmelung mittels ungewollten Harnlassens durchschaut, wies er Martin an, sich auszuziehen. Martin rührte sich nicht. Ein anderer, der bisher im Hintergrund geblieben war, mischte sich ein. Mit Ruhe in der Stimme, einem fast wehmütigen Klang, frei vom Rasenmäherton der anderen, meinte er: „Komm, Goi, bring’s hinter dich, is’ ja nicht zu ändern.“

Doch Martin verharrte in seiner Versteinerung. Er war jetzt bereit, sich Schmerzen zufügen zu lassen. Lieber das, als sich nackt ausziehen. Er sagte: „Nein.“ Er sagte es in der gleichen Weise, mit der man in aussichtsloser Position ein Remis anbietet in der Hoffnung, der Gegner sei zu faul oder zu müde für ein anstrengendes Endspiel.

Aber das hier war ja nicht anstrengend, nicht für die Jungs, die nun begannen, Martin zu stoßen, gar nicht heftig, ein lässiges Anrempeln bloß.

„Ey, schieb mal den Wecker rüber!“ rief einer. Er meinte die Armbanduhr.

„Nein“, wiederholte Martin leise, tonlos. Das war jetzt kein Remis mehr, was er anbot. Er bot an, sich köpfen zu lassen. Seine Stimme war dünnes Papier, über das der Wind pfiff, der die Buchstaben verwehte.

Einer kam von hinten und legte seinen Arm um Martins Hals. Er zog die Armschlinge zu. Zwei andere fixierten den Oberkörper und drückten ihre Knie gegen Martins Schenkel, während ein dritter die Uhr vom Handgelenk löste. Eine schöne Uhr, die sein Großvater Martin geschenkt hatte. Seine Mutter hatte ihm geraten, die Uhr nicht zu tragen. Aber eine Uhr nicht zu tragen, war ihm so komisch erschienen wie die Leute, die Brot kaufen, um dann die Rinde wegzuschneiden.

Der letzte näherte sich, der mit dem ruhigen Tonfall, kniete sich vor Martin hin und ging daran, die Schnürsenkel seiner Sportschuhe zu öffnen. Er tat auch dies erstaunlich behutsam, kontrolliert, als wollte er Martin nicht verletzen. Vielleicht schonte er aber auch nur die Schuhe. Jedenfalls entfernte er ein Kleidungsstück nach dem anderen von Martins erstarrtem Körper. Es glich einem Zauberkunststück, wie er die Schuhe, Socken und Trainingshose von diesem menschlichen Fossil löste. Es war, als schäle er eine Orange. Wozu gleichermaßen gehörte, daß er mit einem Messer Martins Sweater von unten nach oben aufschnitt. Auch dies bedächtig, sorgsam, geometrisch. Auf die gleiche Weise entfernte er abschließend noch die Boxershorts, fügte alle Teile zu einem Packen zusammen und schmiß ihn in hohem Bogen in die Isar.

Von fern sah Martin einen Jogger. Aber er war zu weit weg. Und Schreien ging nicht.

Nach einer Weile wurde er losgelassen, die Angreifer traten zur Seite. Martin war nun völlig nackt. Der Orangenschäler hob sein Messer an, richtete es auf Martins kleines Glied und bemerkte: „Oh fick dich, Mann, der is’ schon beschnitten!“

Alle fünf lachten. Einer erklärte, Martin habe ein Scheißglück, seine Vorhaut bereits los zu sein. Da könne man sich das sparen. Schade drum. Ein anderer meinte was von wegen „dann schneid dem Spasti halt ganze Schwanz runter“. Woraufhin sie sich in einer Weise angrinsten, in welcher der Ernst und der Spaß sich verschränkten und es für das Opfer keine Möglichkeit gab, die beiden auseinanderzuhalten. Das Grinsen der fünf glühte kreiselnd. Doch gleich darauf, mit einer unerwarteten Plötzlichkeit, wandten sie sich um und gingen.

Es war kaum anzunehmen, daß sie ernsthaft vorgehabt hatten, eine spontane Zirkumzision vorzunehmen. Es war allein um die Demütigung gegangen, eine Demütigung, die sich jetzt fortsetzte, indem Martin frierend und nackt im Gras stand, minutenlang unfähig sich zu bewegen, völlig in seiner Scham eingeschlossen. Die so lange zurückgehaltenen Tränen flossen nun rasch. Gläserne Perlen, wie auf diesem Foto von Man Ray, schmerzhaft groß, Tränen, die beim Rinnen ein rollendes Geräusch verursachten. Tonnen von Tränen. Lauter als das Schluchzen aus dem Mund. Er empfand eine große Leere dort, wo einst seine Armbanduhr gewesen war. Geradezu durchtrennt. Er konnte die Hand kaum noch fühlen. Dafür jedoch den warmen Urin an seinen Beinen. Er wäre jetzt gerne für einen Moment tot gewesen. Fünf oder zehn Minuten. Wie am Ende eines Schachspiels, wenn die Figuren mit einem Handstreich vom Brett befördert werden. Aber das spielte es nicht. Der Tod verschenkt keine Zeit.

Kurz darauf wurde er von zwei Joggern entdeckt. Sie zogen ihre Jacken aus und hüllten den Jungen ein, dann riefen sie die Polizei.

2 Ein Lauscher namens Kepler

Rosenblüt hatte eigentlich beschlossen gehabt, Stuttgart für immer hinter sich zu lassen. Ein frommer Wunsch! Obgleich einige Jahre ja alles gutgegangen war. Nicht, daß er ein richtiger Freund von München geworden wäre. Die Stadt war ziemlich abhängig vom Wetter beziehungsweise schien sie in einem chamäleonartigen Gleichklang mit dem Wetter zu sein. Lachte die Sonne und strahlte der Himmel, dann auch die Stadt. War das Wetter beschissen, dann München dito. Das war schlimmer als in den anderen Städten, die sich ja oft gegen schlechtes Wetter wenigstens zu wehren versuchten, bemüht waren, sich vom Wetter nicht völlig herunterziehen zu lassen. München aber ... egal. Er war hier gut aufgehoben, bewohnte eine Dachgeschoßwohnung nahe dem Englischen Garten, war mit einer japanischen Fotografin liiert und wurde von den Kollegen im Kriminalfachdezernat 1 respektiert, mitunter sogar geschätzt.

Auch wenn üblicherweise Strafversetzungen in Richtung Provinz erfolgen, so war in seinem Fall die Degradierung mittels München geschehen. Der Wechsel von einem Bundesland in ein anderes widersprach zwar den Regeln, andererseits konnten die beiden Dienstherren damit die Weichheit der Regeln unterstreichen. Zudem meinte man Rosenblüt auf diese Weise besser und eindringlicher strafen zu können, als ihn in eine baden-württembergische Wüstenei abzukommandieren. Man hoffte, in München würde ihn das Schicksal von Wollsocken ereilen, die in einen nimmer endenden 90-Grad-Waschgang geraten waren.

Rosenblüt hatte sich nämlich nach erfolgreichen Jahren als leitender Ermittler mit seinen Stuttgarter Vorgesetzten angelegt, indem er entgegen einer Weisung von höchster Stelle in einem wichtigen Fall weitergeforscht hatte. Er war in dieser Sache von seiner eigenen Sturheit überrascht gewesen. Schließlich war er weder ein geborener Revoluzzer noch ein Don Quichotte, eher zählte er zu den dandyhaften Genießern. Keiner, der die Welt zu verändern suchte. Er glaubte nicht an Veränderbarkeit. Vielmehr begriff er die Verwandlungen der Welt in die eine oder andere Richtung als bloße Schaukelbewegung. – Die Schaukel hängt immer am gleichen Baum, sie fliegt nie davon, sosehr man das, am jeweils höchsten Punkt angelangt, auch glauben mag.

Rosenblüt war Polizist geworden, weil er das Odeur dieses Berufs mochte. Die Kriminalistik hatte einfach besser als vieles andere geduftet, an dem er als junger Mann geschnuppert hatte. Etwa Kunstgeschichte, wo sein Vater, Professor in selbigem Fach, ihn gerne gesehen hätte. Doch die Kunstgeschichte hatte verdorben gerochen, die Kriminologie hingegen frisch und verführerisch, geradezu frühlingshaft, trotz der meist häßlichen Thematik. Das war freilich nicht das Vokabular, um es anderen zu erklären. Aber für ihn selbst war es genau so gewesen. – Aus dieser tiefen, geradezu kreatürlichen Beziehung zu den diversen Erscheinungsformen des Verbrechens hatte sich dann wohl der Umstand ergeben, daß fast jeder es unterließ, selbst noch im Privatbereich, Rosenblüt mit seinem Vornamen anzusprechen, sondern immer nur mit „Kommissar“ oder „Rosenblüt“ oder „Kommissar Rosenblüt“. Einer seiner Freunde hatte einmal gesagt: „Vornamen sind was für normale Menschen.“ Schwer zu sagen, ob das ein Kompliment gewesen war.

Wie auch immer – Rosenblüts Ehrgeiz war zu jeder Zeit gewesen, Fälle zu lösen und nicht etwa die Verlogenheit des Systems zu offenbaren. Weisungen gehörten nun mal zum Spiel dazu, selbst wenn sie den Duft seines Berufs beeinträchtigten. Da hätte er im Fach der Kunstgeschichte, deren Bösartigkeit gerne übersehen wird, mindestens soviel aushalten müssen. Aber er war in diesem einen Moment wie blind gegen das drohende Schicksal gewesen, hatte die Ermordung einer jungen Prostituierten nicht auf ein milieubedingtes Allerweltsverbrechen herunterspielen lassen und in der Folge begonnen, die Rolle einiger bedeutender Herren in dieser Sache zu untersuchen. Und das, obwohl er mehrmals aufgefordert worden war, Ruhe zu geben. Offiziell wie unter vier Augen. Dazu kam, daß Rosenblüt in einem anderen Fall, dem sogenannten Zweiffelsknoter Skandal, die Machenschaften des BND aufgedeckt hatte, nicht zu aller Freude, wenngleich Rosenblüt dabei das Herz der Öffentlichkeit erobert hatte. Aber öffentliche Herzen sind die, die rasch verwelken, verschrumpeln, zerbröseln, und als Rosenblüt aus Stuttgart verbannt und nach München geschickt wurde, war da kaum einer gewesen, den das aufgeregt hatte.

Auch Rosenblüt nicht, der froh gewesen war, aus der Landeshauptstadt fortzukommen, allerdings aus eher privaten Gründen. Er war ein gutaussehender Mann, so in der Robert-Redford-Richtung, blond und kompakt, wie einem After-Shave-Flakon entstiegen – und jemand, der diesen Vorteil zu nutzen wußte. Doch leider nicht optimal, wenn man das Optimale als das Ganzheitliche sieht. Denn in all den Jahren in Stuttgart hatte er sich schwergetan, eine Beziehung ordentlich zu Ende zu führen. Beziehungsweise war er der absurden Theorie gefolgt, durch das Betreiben einer neuen Beziehung automatisch die alte erledigt zu haben, was ein Irrtum ist, ein bekannter. Viele kennen ihn und machen fröhlich weiter.

Mit seinem Wechsel nach München hatte Rosenblüt somit nicht nur viele verwelkte, sondern auch einige blutende Herzen zurückgelassen. In der neuen Stadt hingegen begegnete er einer Frau, die ihn von genau dieser Unart heilte, indem sie seine absolute Treue einforderte. Nun, das hatten die meisten anderen ebenfalls getan. Aber diesmal war es anders. Rosenblüt erkannte nicht nur den tiefgehenden Reiz dieser Person, er erkannte vor allem, in einem Alter angelangt zu sein, in dem von allen Winkeln aus, erst recht dem Winkel der Liebe, die Gefahr der Lächerlichkeit drohte. Eine Frau mußte absolut genügen. Und diese eine genügte ja auch: Sie hieß Aneko, Aneko Tomita, aus Kyoto stammend, fünfzig Jahre schön, ein Gesicht wie aus einer Billardkugel herausgeschnitzt. Sie war einst eine erfolgreiche Judokämpferin gewesen, Teilnehmerin an zwei Olympischen Spielen, hatte dem Sport aber mit einer gewissen Verachtung den Rücken gekehrt, um nach Europa und in die Fotografie zu wechseln, Modefotografie, Architekturfotografie und manchmal auch Sachen, die man als Pornografie bezeichnet hätte, hätte man sie nicht als Kunst bezeichnen müssen.

Rosenblüt kümmerte sich nicht um die Arbeit seiner Freundin. Und sie sich nicht um die seine. Die beiden hatten zu wenig Zeit füreinander, um sich auf diese Weise zu belästigen, den eigenen Kram, die eigene Bedeutung ausbreitend. Nein, wenn sie zusammen waren, dann genossen sie die Stunden: Essen, Natur, Liebe, manchmal Kino, manchmal Einkaufen, manchmal ein bißchen Fesseln, ohne jedoch übers Ziel hinauszuschießen. Die gemeinsame Wohnung, die eher in die japanische Richtung tendierte, wurde von einer älteren Dame in Schuß gehalten, die im Nachbarhaus wohnte und als eine der größten Jägerinnen von Staub in die Geschichte hätte eingehen müssen, wäre je eine solche Geschichte geschrieben worden. Aber leider wurde Geschichte nun mal von Mördern geschrieben, nicht von Putzfrauen.

„Bin ich die Liebe deines Lebens?“ fragte Aneko gerne.

„Absolut“, antwortete Rosenblüt ebenso gerne.

Es war somit alles in bester Ordnung.

Daß es bei dieser Ordnung nicht bleiben würde, begriff Rosenblüt in dem Moment, als da der Hund vor ihm stand.

„Verdammt, Lauscher, was tust du hier?!“ entfuhr es Rosenblüt mit einem Stöhnen angesichts einer Kreatur mit langen Ohren und kurzen Beinen, die etwas schräg nach außen standen, die Beine, um den angefetteten Körper stabil zu halten. Der Hund erinnerte an einen Zwerg, der früher einmal ein Kraftsportler gewesen war, Ringer oder Gewichtheber, und dessen Kraft nun gerade noch ausreichte, selbst das Gewicht zu sein und von der Erde getragen zu werden. Gewichte sind in der Regel eher statische Objekte, weshalb solche Zwerge oder Hunde es vorziehen, stillzustehen.

Auch dieser Hund stand still und schaute aus seinen von Schäferhundohren flankierten Dackelaugen zu Rosenblüt hoch. Rosenblüt war bei diesem Anblick automatisch der Name Lauscher eingefallen – Lauscher, so hatte der Hund von Markus Cheng geheißen, einem Wiener Privatdetektiv chinesischer Abstammung, der in der BND-Geschichte eine entscheidende Rolle gespielt hatte. Aber Lauscher konnte es ja gar nicht sein. Rosenblüt wußte, daß Chengs Hund vor Jahren gestorben war, altersschwach, inkontinent, blind und taub. Das alles galt für diesen Hund hier nicht. Obgleich er kein junger Hund mehr war, war er sowenig ein Greis wie ein Geist. Dennoch sah er dem Rüden, der Lauscher gewesen war, zum Verwechseln ähnlich, dem Lauscher von damals.

Welch dummer Zufall! Nun gut, solche Dinge geschehen, müssen aber nicht ernst genommen werden. Darum sagte sich Rosenblüt: Das hat nichts zu bedeuten. Gleichzeitig dachte er: Was aber, wenn doch?

Rosenblüt herrschte den Hund an, um auch wirklich gehört zu werden: „Geh weg!“ Und, noch lauter: „Hau ab, du Mistvieh!“

Das Mistvieh haute nicht ab. Zudem hatte das Mistvieh keine Hundemarke. Und da war niemand, der etwa nach ihm gerufen hätte. Nein, er stand eisern vor dem Kommissar, welcher natürlich einen Bogen um ihn hätte machen können. Aber der Bogen gelang ihm nicht, und so stand Rosenblüt seinerseits da wie angewurzelt, keine zwanzig Meter von seinem Wohnhaus entfernt, gleichwohl unfähig, die rettende Flucht anzutreten.

„Was sollen wir mit einem Hund?“ fragte Aneko am selben Abend.

„Ich weiß es nicht“, antwortete Rosenblüt.

„Du solltest ihn ins Tierheim bringen.“

„Ich glaube, er ist kein Tierheimhund.“

„Aha. Glaubst du also.“

„Ich will damit sagen, er gehört zu denen, die man nicht abschieben kann.“

„Soll ich dir beweisen, daß man das kann?“ fragte Aneko, die nichts gegen Tiere hatte, solange sie nicht ihre Haare und sonstigen Dreck auf blendendweißen Designersofas verteilten.

„Das glaube ich gerne“, sagte Rosenblüt, „daß du das kannst. Aber der Hund ist ja nicht wegen dir da, sondern wegen mir.“

„Soll das heißen, er ist ein Bote? Ein göttliches Zeichen?“

„Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß er dazugehört.“

„Wo dazugehört?“

Rosenblüt konnte es nicht erklären. Er schwieg, wobei er einen Blick aufsetzte, der wohl Mitleid erzeugen sollte.

Aneko legte nach: „Frau Kepler wird toben.“

Frau Kepler war die Frau gegen den Staub. Nun, ganz sicher würde sie toben. Doch Rosenblüt schwieg fortgesetzt. In dieses Schweigen hinein grunzte der Hund in der seufzenden Weise philosophischer Ohnmacht. Er bettete seine Schnauze auf das Parkett und schloß die Augen.

„Er gehört sicher zu jemand, der ihn sucht“, meinte Aneko.

Rosenblüt schüttelte den Kopf. „Er gehört zu mir. Ob ich will oder nicht.“

„Ach was, du kennst ja nicht mal seinen Namen.“

Richtig, der Name. Sollte er ihn Lauscher nennen? Nein, lieber nicht. Er sah sich um, als sei irgendwo im Raum der Name versteckt. Sein Blick fiel auf die Klimtzeichnung an der Wand. Doch Hunde nach berühmten Malern zu benennen, war Blödsinn. Er hielt weiter Ausschau. In diesem Moment klingelte es. Der Hund rührte kein Ohr und keine Wimper. Er war ja auch nicht hier, um zu wachen oder sonstwas Sinnvolles zu tun. Er war nicht einmal ein Bote, sondern die Botschaft selbst.

Aneko ging zur Türe und öffnete sie. Es war Frau Kepler. Sie brachte die Abrechnung für den Monat.

Kepler? Genau! Das war der Name! Der Hund hieß Kepler, obschon es im ersten Moment komisch erscheinen mochte, wenn sowohl die Putzfrau als auch der Hund diesen Namen trugen. Zudem konnte man der Ansicht sein, daß, wenn es Blödsinn ist, Haustiere nach Malern zu benennen, es nicht minder Blödsinn ist, sie mit den Namen von Astronomen auszustatten. Dennoch! Für Rosenblüt stand die Sache fest.

„War das Frau Kepler?“ fragte er scheinheilig, den Namen der Putzfrau betonend und mit einer als beifällig getarnten Bewegung den Kopf schwenkend, um hinüber zu dem dösenden Hund zu sehen. Und wirklich, sowenig das Geklingel den Mischling aus seiner Ruhe geholt hatte, die deutliche Betonung des Namens führte dazu, daß seine Lider kurz hochklappten, als sei er eben gerufen worden.

Man kann sich solche Dinge natürlich einbilden. Doch auch die Einbildung besitzt eine Gravitation, die unbestechlich ist.

Am nächsten Morgen brach Rosenblüt etwas später ins Büro auf, und es war nun ein echter Zufall, ein dummer dazu, daß er gerade in dem Moment nach dem Hund rief – der quasi über Nacht sein Hund geworden war –, als Frau Kepler, die zum Reinigen der Böden gekommen war, den großen Wohnraum betrat.

„Ja bitte?“ fragte sie, etwas irritiert, weil sie es eigentlich gewohnt war, mit „Frau“ tituliert zu werden. Dann sah sie den Hund. Der Schock war doppelt. Der Hund an sich und weil sie zudem begriff, wer hier mit „Kepler“ gemeint gewesen war.

„Oh ... das ist ... ungünstig“, stammelte Rosenblüt, „aber ich kann wirklich nichts dafür, daß der Hund so heißt.“

Und das stimmte ja, wenn auch nicht auf den ersten Blick.

„Bleibt der hier?“ fragte Frau Kepler voller Verachtung für Hunde, die nach Menschen hießen.

„Ja. Ich weiß, daß das mehr Arbeit macht. Aber wir bezahlen es natürlich.“

Doch Frau Kepler erklärte knapp und mit der eindringlichen Wirkungsweise einer rasch verabreichten Injektionsnadel: „Ich bespreche das mit Frau Tomita.“

„Wie Sie wünschen.“ Rosenblüt schob seinen Hund in den Flur hinaus.

„Hör zu, Kepler“, sagte er, als sie im Aufzug standen, „manchmal wäre es gut, sich zu beeilen, ich habe nicht immer Zeit.“ Dann dachte er: „Verdammt, jetzt rede ich schon mit dem Köter. Das sollte ich mir gar nicht erst angewöhnen.“

Als wäre das möglich.

„Der schaut ziemlich komisch aus“, urteilte ein Kollege aus Rosenblüts Mannschaft. Rosenblüts Sekretärin hingegen beugte sich zu Kepler hinunter und sprach mit ihm in jener entspannten Art, mit der sich Frauen nur mit Tieren und schwulen Männern unterhalten: in einer Vertrautheit allein zur Freude Gottes. Auch vermied sie es vorerst, nach den Umständen zu fragen, die diesen Hund in dieses Büro geführt hatten, bereitete ihm einen Platz in der Ecke und kramte ein Leckerli hervor, als züchte sie selbige in ihrer Handtasche. Zu Rosenblüt sagte sie nur, die Chefin habe nach ihm gerufen. Es eile.

„Den Hund lass’ ich da“, erklärte Rosenblüt.

Wie damals bei Lauscher würde dies ohnehin die Regel werden. Auch Kepler war kein Freund großer und häufiger Bewegungen. Er stand, saß oder lag. Auf diese Weise füllte er einen bestimmten Raum. Im Moment kleidete er perfekt die Ecke aus, die Rosenblüts Sekretärin ihm liebevoll zugewiesen hatte. In solchen Augenblicken besaß Kepler die Wirkung eines Objekts von Joseph Beuys. Wozu also den Ort wechseln? Nur, um in eine andere, vielleicht sehr viel schlechtere Ecke zu gelangen?

Menschen freilich fühlen sich von schlechteren Ecken magisch angezogen. Oder unterliegen dem Sachzwang. Rosenblüt also mußte nach oben, zu Polizeirätin Doktor Ursula Procher, die fast gleichzeitig mit seiner Ankunft in München die Leitung des Kriminalfachdezernats übernommen hatte und deren unnahbare Art Rosenblüt durchaus zu schätzen wußte. Er brauchte keine gute Freundin als Chefin.

„Die beiden Herren kennen sich ja“, sagte Procher, nachdem Rosenblüt eingetreten war. Die Herren, die sich kannten, gaben sich die Hand. Bei dem anderen handelte es sich um einen Beamten des Kriminaldauerdienstes, einen Hauptkommissar Svatek.

Man nahm Platz. Procher lehnte sich zurück und überließ es dem KDD-Polizisten zu erklären, weshalb man hier zusammengekommen war.

Am Vortag war Svatek von einer Streife angefordert worden. Zwei Jogger hatten einen fünfzehnjährigen Jungen entdeckt, der nackt am Ufer der Isar stand, weil er, wie er angab, von einer fünfköpfigen Bande attackiert, bedroht und sodann ausgezogen worden war. Man hatte ihm eine Beschneidung angedroht, sich aber auf Grund des Faktums, daß eine solche bereits vorlag, damit begnügt, ihn verängstigt und gedemütigt und bar seiner Kleider zurückzulassen.

„Sie können sich denken, wie verstört der Bursche war“, sagte Svatek. „Wir haben ihn nur kurz befragt und dann so schnell wie möglich nach Hause gebracht. Beide Eltern waren da. Vermögende Leute, aber weder superreich noch prominent. Die Mutter ist Anwältin, der Vater Geologe, hat hier einen Lehrstuhl, was Geologisches halt.“

Svatek machte eine Pause, wirkte unsicher. Er äußerte, bei der Sache sofort ein komisches Gefühl gehabt zu haben.

„Komisches Gefühl?“

„Ja, ich weiß schon, mit komischen Gefühlen sollte man zum Arzt gehen und nicht die Kollegen belästigen.“

Rosenblüt nickte. Dieser Meinung war er auch.

Desungeachtet berichtete Svatek weiter, daß die Eltern des Jungen auf ihn den Eindruck gemacht hätten, als seien sie bereits informiert gewesen. Nicht aber von der Streife. Bei aller Betroffenheit hätten sie kontrolliert gewirkt, in der Art von Leuten, die sich abgesprochen haben. Und deren Ziel es ist, die Polizei soweit als möglich herauszuhalten.

„Ich bitte Sie, Herr Svatek“, wandte Rosenblüt ein, „eine Anwältin und ein Geologe, solche Leute haben sich von Natur aus im Griff. Da muß schon mehr passieren. Ich kann noch nichts Komisches erkennen. Das Kind wurde schließlich nicht entführt. Es wurde gequält, das ist sicher schlimm. Aber solche Überfälle geschehen leider nun mal, das muß ich Ihnen nicht sagen. Die Jugend spinnt heutzutage.“

„Das tut sie, keine Frage. Aber das ist es nicht. Ich sage Ihnen, die Eltern haben gewußt, daß wir kommen und ihren Sohn bringen. Sie kennen mich, Rosenblüt, ich bin kein Phantast. Ich sage Ihnen, daß da was faul ist.“

„Aber der Sohn lebt doch, oder?“ fragte Rosenblüt, mit den beiden Zeigefingern auf sich weisend und solcherart bekundend, lediglich für vorsätzliche Tötungsdelikte zuständig zu sein.

Es war jetzt Procher, die das Wort ergriff. Sie bat Rosenblüt, sich kurz die Zeit zu nehmen, den Jungen und die Eltern ein zweites Mal zu befragen. Nur, um sicherzugehen.

Rosenblüt schaute noch immer verwirrt. Endlich rückte Procher damit heraus, sie sagte: „Die Eltern sind Stuttgarter. Sie sind erst vor einem Jahr nach München gekommen. Wegen des Lehrstuhls.“

Rosenblüt öffnete seine Hände zu einer fragenden Geste. „Ja und? Was wollen Sie mir damit sagen? Daß das Tansanier sind, die leider Gottes nur Suaheli sprechen, und weil ich auch ein Tansanier bin, muß ich jetzt ...“

„Herr Hauptkommissar Rosenblüt“, unterbrach ihn Procher mit einer Stimme von der Art einer knisternden Bluse, „wir wollen uns in dieser Sache auf den Instinkt des Kollegen Svatek verlassen, ohne gleich alle Pferde scheu zu machen. Sie opfern eine halbe oder eine Stunde Ihrer Dienstzeit und verschaffen sich einen Überblick. Danach geben Sie mir einen Bericht, den ich weiterleite. Wir wollen Fehler vermeiden. Es stimmt, ein komisches Gefühl ist zu wenig. Genau darum möchte ich Sie bitten, dort hinzufahren, um das Gefühl des Kollegen zu bestätigen oder zu entkräften. Sie können das, Sie sind der Richtige. Und daß Sie aus Stuttgart stammen, daß Sie dort ein Held waren, daß Sie ein Gefühl für Ihre Landsleute haben ... nun, ein Nachteil ist das doch wirklich nicht.“

„Ein Held? Hm! – Was meinen Sie, was ich mit den Eltern des Jungen veranstalten sollte: ein schwäbisches Opferritual?“

„Ob ich so was gutheiße, hängt von der Art des Opfers ab.“ Frau Doktor Procher hatte völlig ernst gesprochen.

„Also gut, geben Sie mir die Adresse, und ich schau mir diese Bantu-Neger an.“

„Lieber Herr Kollege“, sagte die Dezernatsleiterin, „könnten Sie vielleicht Ihre Ausdrucksweise mäßigen? Sie sind doch sonst nicht so.“

„Es hängt wohl mit Stuttgart zusammen. Ich fühle mich verkrampft, wenn ich den Namen dieser Stadt höre.“

„Sie sind dort aufgewachsen. Jeder fühlt sich verkrampft, wenn er an die Heimat denkt. Das ist trotzdem kein Grund, so zu reden.“

„Stimmt, da haben Sie recht“, meinte Rosenblüt und erhob sich. Im Stehen fragte er, ob es Hinweise auf die fünf Typen gebe, die den kleinen Uhl angegriffen hatten.

„Noch nicht“, sagte Svatek, hielt Rosenblüt aber eine Mappe hin: „Hier sind die Aussagen des Jungen. Ziemlich spärlich. Dazu die Aussagen der Eltern, noch spärlicher. Außerdem ein paar Fakten über die beiden. Ich habe mich da schon mal kundig gemacht.“

„Na gut.“ Rosenblüt nahm die Akte, dankte knapp, empfahl sich und verließ das Büro.

Rosenblüt kannte das Gerücht, die verheiratete Frau Doktor Procher sei mit einem aus dem KDD liiert. Jetzt glaubte er es auch.

Zurück an seinem eigenen Schreibtisch, sah er sich die Aussage des Jungen an, Martin Uhl. Die Beschreibung der fünf Angreifer reduzierte sich auf den Sachverhalt, sie hätten das typische Türkendeutsch gesprochen, Sechzehn-, Siebzehnjährige, trainierte Kerle, Kraftkammer, Goldkettchen, einer mit Schnauzer, einer von ihnen der Anführer. Doch genauer wurde der Bericht nicht, bloß das gestohlene Handy sowie der Inhalt der Geldbörse waren ebenso exakt beschrieben wie die Kleidungsstücke, die in die Isar geworfen worden waren. In Ermangelung einer genauen Täterbeschreibung war gewissermaßen eine genaue Opferbeschreibung vorgenommen worden. Auch über die Eltern, Gabriele und Christoph Uhl, hatte Svatek einiges zusammengetragen. Allerdings nichts, was sich auf den ersten Blick angeboten hätte, ein Verbrechen zu erklären, welches über den sadistischen Raubüberfall einer Jugendbande hinausging und etwa Dinge wie Erpressung einschloß.

Rosenblüt machte sich auf den Weg.

„Kann ich den Hund hierlassen?“ fragte er seine Sekretärin, eine junge Frau, die in der Tat lieber in einem Zoofachgeschäft gearbeitet hätte. Sie nickte, merkte aber an, daß man so einen Hund hin und wieder füttern und hin und wieder auf die Straße führen müsse und daß dieser hier nicht einmal über ein Halsband und eine Marke verfüge.

„Könnten Sie das für mich erledigen?“ bat Rosenblüt und erklärte, der Hund sei ihm zugelaufen.

„Wie heißt er überhaupt?“

„Kepler.“

„Klingt wie der Name einer Waschmaschine oder einer Autovermietung“, fand die junge Frau.

„Ist aber nicht mehr zu ändern“, erklärte Rosenblüt. „Sie machen das für mich, oder?“

„Alles“, antwortete sie. Sie meinte damit den Hund, nicht den Mann.