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Originalausgabe

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Dezember 2016

Copyright © 2016 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages

Lektorat Katja Sämann

Umschlaggestaltung Anzinger und Rasp, München

Satz CPI books GmbH, Leck, Germany

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved. Bitstream Vera is a trademark of Bitstream, Inc.

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-644-00047-6

www.rowohlt.de

ISBN 978-3-644-00047-6

Handeln, auch Scheitern

Erste Zürcher Poetikvorlesung

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

liebe Anwesende,

 

zugegeben: Abstinenz ist möglich. Es muss gar nicht regelmäßig zu dergleichen kommen! Die Zugfahrt, neun Stunden vom Bahnhof Leer in Ostfriesland, hierher, nach Zürich, hätte mir gute Gelegenheit gegeben, mich zumindest eine Zeitlang in Enthaltung zu üben. Aber bereits in Münster/Westfalen setzte sich eine Frau meines Alters auf den Platz vis-à-vis. Sie heißt im Leben und im Folgenden Dagmar, ein Vorname, der unter meinen Altersgenossinnen gar nicht selten vorkommt. Auch ihr Nachname ist mir bekannt. Denn kaum dass sie mir gegenübersaß, klingelte ihr Mobiltelefon, und sie meldete sich mit allen Silben ihres vollen Namens. Dagmar L., Dagmar L-Punkt werde ich sie im Weiteren nennen.

«Sehr gut, dass du dich meldest!», sagte Dagmar L., bevor die anrufende Person groß Worte machen konnte. «Du wirst nicht glauben, was mir gerade passiert ist!»

Natürlich merkte ich auf. Selbstverständlich hörte ich hin. Was hätte ich sonst auch auf die Schnelle machen können? In meiner Aktentasche, die neben mir auf dem freien Fensterplatz lag, befanden sich zwar die Schaumstoffstöpsel, die ich mir gelegentlich auf Bahnfahrten in die Ohren stecke, wenn ich mich, lesend, schreibend oder dösend, gegen die akustischen Einwirkungen meiner Mitreisenden abschirmen will. Aber nun zu diesen Hilfsmitteln zu greifen, sie eilends zwischen Daumen und Zeigefinger zu zwirbeln und in meine Gehörgänge zu stopfen, hätte ein übertrieben starkes und missverständliches Signal gesetzt. Das ostentativ geschwinde Einführen dieser Schalldämm-Utensilien hätte bei Dagmar L. unweigerlich den Eindruck erwecken müssen, dass ich mich von dem, was sie zu erzählen anhob, belästigt fühlte.

Dem war nicht so. Im Gegenteil: Ihr war offenbar, gerade vorhin erst, etwas Außerordentliches zugestoßen, das nun unaufschiebbar ins Erzählt-Werden drängte. Hiervon sollte die Anrufende, eine gute Freundin, zu der sie, wie ich bald erfahren würde, unterwegs war, sofort fernmündlich erfahren. Und offensichtlich gehörte das Geschehene trotz seiner akuten Brisanz nicht zu jenen Ereignissen, die man geflissentlich erst dann in Worten heraufbeschwört, sobald kein fremdes Ohr mehr in Hörweite ist. Und weil an diesem Vormittag kurz hinter Münster offenbar keine besondere Diskretion oder Vorsicht geboten war, gehe ich davon aus, dass ein Weitererzählen durch mich, den zufälligen Mithörer, nichts Verwerfliches darstellt.

Um es kurz zu machen: Dagmar L. hatte beim Verlassen des ICs, mit dem sie bis Münster gefahren war, nach ihrem Rollkoffer gegriffen und dabei nicht registriert, dass dieser auf dem ersten Teilstück ihrer Reise anscheinend selbsttätig an Gewicht verloren hatte. Dem jungen Mann allerdings, der vielleicht ein halbes Minütchen später seinen mutmaßlichen Trolley, ein Exemplar des gleichen Bautyps, an sich nahm, fiel sogleich auf, dass dieser schwerer war, als er sein durfte. Ruckzuck zog der Jüngling den richtigen Schluss, erspähte gerade noch rechtzeitig die bereits mit seinem Gepäckstück Richtung Unterführung Marschierende und konnte so deren Fehlgriff, bevor die beiden ihre Reisewege womöglich Hunderte von Kilometern weit auseinanderführten, im letzten Augenblick rückgängig machen.

Bestimmt nicht so innig wie ihre Freundin am anderen Ende der Mobilfunkverbindung, aber doch merklich mitempfindend, war auch ich erleichtert, dass das verflixte Missgeschick derart schnell eine Wendung ins Gute genommen hatte. Und als das Telefongespräch der beiden unversehens in einem Funkloch abriss, gab ich mich mit einem «Na, da haben Sie aber wirklich Glück gehabt!» als verständiger und empathischer Mithörer ihrer kleinen Erzählung zu erkennen.

Kein Wunder, dass wir im Nu in ein Gespräch verwickelt waren, welches in lockerer Folge Erlebnisse auf Bahnfahrten aneinanderreihte: was Dagmar L. oder mir passiert war. Aber auch was uns andere berichtet hatten und uns beiden nun weitererzählenswert erschien. Manchmal war halt Bekannten oder Freunden das Effektvollere zugestoßen. Wir gaben zum Besten, was uns in den Sinn kam, wir machten das einfach aus dem Ärmel des Augenblicks heraus, so wie Sie es in vergleichbaren Situationen vermutlich auch schon gemacht haben und wir alle es bei Gelegenheit wieder machen werden.

Mich lenkte hierbei als eine Art Zufall die gemeinsam zu absolvierende Wegstrecke, die Reihung der kommenden Bahnhöfe, in eine bestimmte Richtung. Denn auf dem Hauptbahnhof in Essen war mir einige Jahre zuvor etwas zugestoßen, das mir nun, erneut Essen entgegenrollend, unweigerlich ins Erinnern und auf die Zunge drängte. Damals wollte ich, ebenfalls an einem Vormittag, die Rückreise von einem Lesungstermin antreten. Im Zeitungs- und Zeitschriftenshop beugte ich mich, noch unschlüssig, über die ausgelegten Blätter. Neben mir stand mein Rollkoffer. Auf diesen hatte ich meine Aktentasche gestellt. Ich blätterte mit beiden Händen in den Tageszeitungen, als das braune Leder meiner Tasche aus dem linken unteren Winkel meines Sichtfelds wischte. Ich fuhr herum und sah einen recht großen, sehr mageren jungen Mann, meine alte Aktentasche in der rechten Hand, durch die offene Glastür des Ladens davonstürmen.

So weit, so kurz, so schnell. Das sind, hier und jetzt vom Blatt gelesen, gerademal sieben Hauptsätze und ein temporaler Nebensatz. Für Dagmar L. zog ich das Ganze natürlich ein bisschen in die Länge, aber mehr als eine halbe Erzählminute brauchte es dennoch nicht. Das leibhaftige und dingbezogene Geschehen, der schiere Diebstahl, mein Bemerken desselben, mein Herumfahren und Ins-Auge-Fassen des Fliehenden, all dies hatte dereinst in Essen wohl nicht viel mehr als eine einzige Sekunde in Anspruch genommen.

«Um Gottes willen! Was war denn in der Tasche? Hat Ihnen der Kerl etwas Wertvolles oder etwas Wichtiges gestohlen?»

Mit dieser Frage, zumindest mit einem ähnlichen Nachfragen meiner Zugbekanntschaft, hatte ich gerechnet. Instinktiv, ich will das gar nicht verheimlichen, hatte ich sogar eine winzige Sprechpause eingelegt, um Dagmar L. ein Nachhaken, zum Beispiel ein solches Sicherkundigen nach den erlittenen Verlusten, zu ermöglichen.

Damals, frisch beraubt in Essen, habe ich, soweit ich mich entsinne, an keinen der Gegenstände gedacht, die nun verlorenzugehen drohten. Was jenem Blick auf den durch die Tür Entschwindenden gefolgt sein muss, ist mir derart tief entfallen, dass es mir bis heute partout nicht gelingt, ein erstes Empfinden, einen primären Gedanken, einen unwillkürlichen Ausruf oder irgendein anderes Reagieren in die Beleuchtung des Bewusstseins zu ziehen. Aber genau dort, in dieser unlesbar geschwärzten Spanne, müssen sich irgendwelche mentalen Instanzen rasant kooperativ darauf geeinigt haben, den jungen Mann nicht einfach so mit seiner Beute entkommen zu lassen.

Mein Erinnern setzt erst wieder damit ein, dass ich den Dieb durch den breiten, niedrigen Unterführungsschlund Richtung Hauptausgang flüchten sehe und mein damaliger Körper den Rennenden in zehn, eher zwölf, allenfalls fünfzehn Metern Entfernung, ebenfalls rennend, verfolgt.

Glauben Sie mir, ich rannte damals in Essen, wie ich eine halbe Ewigkeit nicht mehr gerannt war und höchstwahrscheinlich, so Gott will, nie wieder in meinem Leben rennen werde. Wenig später, als alles vorbei war, wunderte es mich, dass ich überhaupt noch auf diese Weise, mit extrem kurzgetakteten Schritten, mit hochgerissenen Knien, hatte dahinsausen können. Seit über zweieinhalb Jahrzehnten, seit ich in den späten 80er Jahren mein letztes Paar Fußballschuhe an den metaphorischen Nagel gehängt hatte, war es nicht mehr zu einem vergleichbaren Sprint gekommen. Natürlich war ich ab und an in ein flottes Traben gefallen, etwa um beim Umsteigen auf irgendeinem Bahnhof noch rechtzeitig an ein bestimmtes Geleis zu gelangen. Ein derart exzessives Rennen jedoch, nach dem man japsend und mit brennenden Lungen abwarten muss, bis sich die kreiselnden Schlieren auf den Augen allmählich wieder klären, war in meinem an vergleichbar spektakulären Vorfällen glücklicherweise kargen Leben kein einziges Mal nötig gewesen.