Das Vorwort, «Der farbenblinde Maler», «Der letzte Hippie», «Sehen oder nicht sehen» und den Dank übersetzte Alexandre Métraux, «Das Leben eines Chirurgen», «Wunderkinder» und die Literaturempfehlungen Hainer Kober, «Die Landschaft seiner Träume» und «Eine Anthropologin auf dem Mars» Jutta Schust.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg bei Reinbek, April 2019
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Die Originalausgabe erschien 1995 im Verlag Alfred A. Knopf, New York/Toronto, unter dem Titel «An Anthropologist on Mars: Seven Paradoxical Tales»
«An Anthropologist on Mars: Seven Paradoxical Tales» Copyright © 1995 by Oliver Sacks
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Frühere Fassungen der Essays erschienen in «The New York Review of Books» («Der farbenblinde Maler» und «Der letzte Hippie») und «The New Yorker» («Eine Anthropologin auf dem Mars», «Die Landschaft seiner Träume», «Wunderkinder», «Sehen oder nicht sehen» und «Das Leben eines Chirurgen»)
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ISBN 978-3-644-00083-4
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Dies ist in der Tat die Kernfrage aller Neurowissenschaften, und sie läßt sich grundsätzlich nur im Rahmen einer globalen Theorie der Hirnfunktionen beantworten, die in der Lage sein müßte, die Interaktionen zwischen allen Ebenen zu beschreiben, von den Mikromustern einzelner neuronaler Reaktionen bis zu den Makromustern eines Menschenlebens. Eine solche Theorie, eine neurale Theorie der personalen Identität, hat in jüngster Zeit Gerald M. Edelman mit seinem «neuralen Darwinismus» vorgeschlagen, der Lehre von der Selektion neuronaler Gruppen.
Später fragte ich I., ob er griechische oder hebräische Sprachkenntnisse besitze. Er verneinte die Frage – was er wahrnahm, sah eben aus wie eine unverständliche fremde Sprache; vielleicht, bemerkte er ergänzend, sei die Bezeichnung «Keilschrift» angemessener. Er sah also bestimmte Formen, er wußte, daß sie irgendeine Bedeutung haben mußten, nur konnte er sich darauf keinen Reim machen.
Ein von Antonio Damasio untersuchter Patient mit einer tumorbedingten Achromatopsie empfand auf ähnliche Weise alles als «schmutzig» – selbst Neuschnee sah für ihn unangenehm verdreckt aus.
Robert Boyle beschreibt in seinem 1688 erschienenen Buch Some Uncommon Observations about Vitiated Sight eine junge Frau in den frühen Zwanzigern, deren Sehvermögen normal entwickelt gewesen war, bis sie mit achtzehn Jahren an einem Fieber erkrankte, am ganzen Körper «von Blasen geplagt» und, damit einhergehend, «in ihrer Sehkraft geschwächt» wurde. Als Boyle ihr einen roten Gegenstand zeigte, «betrachtete sie ihn aufmerksam und sagte mir sodann, daß er ihr nicht rot erscheine, sondern eine andere Farbe besitze, die ihr, aus ihren Angaben zu schließen, dunkel oder schmutzig vorkam». Als man ihr «fein gefärbte Seidentücher» zur Betrachtung gab, konnte sie nur feststellen, «daß sie von heller Farbe waren, aber von welcher, vermochte sie nicht anzugeben». Fragte man sie, ob «die Wiesen ihr in ein Grün gekleidet schienen», verneinte sie die Frage – sie seien vielmehr «von garstig dunkler Farbe » –, und sie wies darauf hin, daß sie beim Veilchenpflücken die Blumen «nicht an der Farbe, sondern nur aufgrund der Form oder durch Tasten vom Gras unterscheiden» könne. Boyle beobachtete zudem eine Veränderung ihres Verhaltens: Sie ging nur noch in den Abendstunden spazieren, und dies «tat sie mit großer Wonne».
Im neunzehnten Jahrhundert wurden einige interessante Fallgeschichten veröffentlicht – einige von ihnen hat Mary Collins in ihrem Buch Colour-Blindness zusammengestellt –, zu denen auch der sehr lebendige Bericht über einen Arzt gehört, der bei einem Sturz von seinem Pferd eine Kopfverletzung und eine Gehirnerschütterung davontrug. «Als er wieder zu sich kam und die Dinge um ihn herum wahrnehmen konnte», schreibt George Wilson 1853, stellte er fest, daß sein zuvor normales und fein ausgebildetes Farbwahrnehmungsvermögen geschwächt und verwandelt war … Alle farbigen Gegenstände … kamen ihm nunmehr fremdartig vor … Ehemals hatte er sich in Edinburgh als überaus begabter Anatomiestudent einen Namen gemacht; heute ist er nicht mehr in der Lage, eine Arterie aufgrund der Tönung von einer Vene zu unterscheiden … Blumen haben für ihn einen Großteil ihrer Schönheit verloren, und er erinnert sich an das Entsetzen, das ihm der Anblick einer jener von ihm so geliebten Damaszenerrosen beim ersten Gang durch seinen Garten nach der Rekonvaleszenz verursachte: Die Blüten, die Blätter, der Stengel – alle Teile waren von eintöniger, matter Farbe.
Es bestehen interessante Ähnlichkeiten, aber auch Unterschiede zwischen I.s visueller Wahrnehmung und der von farbenblind geborenen Menschen. So schreibt Knut Nordby, der farbenblind geboren wurde und trotzdem die visuelle Wahrnehmung erforscht:
Ich kann die Welt nur in Schattierungen sehen, die Normalsichtige als Schwarzup, Weiß und Grau bezeichnen. Meine subjektive Spektralsensitivität entspricht etwa der Empfindlichkeit eines orthochromatischen Schwarzweißfilms. Die als «Rot» bezeichnete Farbe erlebe ich selbst in gleißendem Licht als Dunkelgrau, beinahe Schwarz. Blau und Grün sehen aus wie die Entsprechung eines mittleren Graus auf meiner Skala – etwas dunkler, wenn sie satt, und etwas heller, wenn sie blaß sind. Gelb erscheint durchweg als ziemlich helles Grau, doch läßt es sich gewöhnlich von Weiß unterscheiden. Braun und ein sehr kräftiges Orange sehen normalerweise dunkelgrau aus.
Nur ein Sinnesbereich ermöglichte I. zu dieser Zeit wirklich lustvolle Erfahrungen, nämlich der Geruchssinn, der bei ihm auch früher schon äußerst fein entwickelt und erotisch besetzt gewesen war. Diese Neigung ging so weit, daß er nebenher ein kleines Parfumlabor betrieb, wo er die Duftstoffe selber mischte. Als ihm die Freuden des Sehens verwehrt waren, intensivierten sich (so schien es ihm jedenfalls) in den ersten düsteren Wochen nach dem Unfall die Freuden des Riechens.
«Kennen» von Farben ist ein sehr komplexes Thema mit vielen paradoxen Aspekten, die sich schwer aufgliedern lassen. I. war sich des mit der Veränderung seines Sehens einhergehenden Verlustes völlig bewußt, so daß er eine Art Vergleich mit früheren Erfahrungen anstellen konnte. Solche Vergleiche sind nicht mehr möglich, wenn die primäre Sehrinde beidseitig beispielsweise infolge eines Hirnschlags vollständig zerstört wird, wie dies beim Antonschen Zeichen der Fall ist. Patienten mit diesem Syndrom erblinden ganz, nehmen aber die Blindheit nicht wahr und klagen demzufolge auch über keinen Ausfall. Sie wissen nicht, daß sie blind sind. Die gesamte Bewußtseinsstruktur wird sofort nach dem Hirnschlag von Grund auf neu organisiert.
In ähnlicher Weise kann bei Patienten mit einem Hirnschlag im rechten Scheitellappen nicht nur die Empfindung für die linke Körperseite ausfallen, sondern auch das Wissen um sie und von allem, was sich links befindet, ja sogar die Vorstellung von Linksseitigkeit. Aber sie sind dabei «anosognosisch » – sie wissen nicht, was sie verloren haben. Wir können sagen, daß ihre Welt halbiert ist; für sie ist sie dagegen ein vollständiges Ganzes.
Beim Garnproben-Test fiel uns eine Anomalie auf: I. stufte satte Hellblautöne als «bleich» ein (wie er ja auch schon darüber geklagt hatte, daß für ihn der blaue Himmel beinahe weiß aussehe). Aber handelte es sich überhaupt um eine Anomalie? Konnten wir sicher sein, daß das blaue Garn unter seiner Blauheit nicht doch ausgewaschen oder bleich war? Wir mußten mit Farbreizen arbeiten, deren Intensität, Lichtabsorptions- und Brechungsvermögen identisch waren. Deshalb griffen wir auf eine Reihe sorgfältig gefertigter Farbknöpfe, bekannt als Farnsworth-Munsell-Test, zurück und legten sie I. vor. Er konnte keinerlei Ordnung in die Knöpfe bringen, sortierte jedoch die blauen mit der Begründung aus, sie seien «bleicher» als die anderen.
Weitere Untersuchungen mit Hilfe des Nagelschen Anomaloskops und der Sloanschen Achromatopsie-Tafeln bestätigten I.s totale Farbenblindheit. Mit Dr. Ralph Siegel prüften wir I.s Tiefen- und Bewegungswahrnehmung (dabei verwendeten wir Julesz-Stereogramme und ein Verfahren, bei dem ein Punkt auf einem Bildschirm Zufallsbewegungen ausführt). Hier wie auch in den Tests, die das Vermögen der Gestalt- und Tiefengenerierung aufgrund von Bewegungen prüfen, war I.s Leistung normal. Doch eine interessante Anomalie war zu beobachten: I. war nicht in der Lage, rote und grüne Stereogramme (zweifarbige Anaglyphen) «hinzukriegen», und dies lag vermutlich daran, daß die Farbwahrnehmung zur Unterscheidung der beiden Bilder notwendig ist. Die Elektroretinogramme waren auch normal – ein Anzeichen dafür, daß die drei Zapfenmechanismen in der Netzhaut intakt waren, daß also die Farbenblindheit tatsächlich zerebralen Ursprungs sein mußte.
In einem Aufsatz, 1877 unter dem Titel «On the Colour Sense of Homer» veröffentlicht, geht William E. Gladstone auf Homers Verwendung sprachlicher Ausdrücke wie «das weinfarbene Meer» ein. Handelt es sich dabei bloß um eine dichterische Konvention, oder sah Homer, sahen die Griechen seiner Zeit das Meer tatsächlich anders? Es gibt erhebliche interkulturelle Unterschiede in der Kategorisierung und Bezeichnung der Farben. Die Menschen können eine Farbe erst dann «sehen» (oder eine perzeptuelle Kategorisierung vornehmen), wenn eine kulturell vermittelte Farbkategorie oder -bezeichnung existiert. Man weiß jedoch nicht, ob solche Kategoriensysteme die elementare Farbwahrnehmung auch modifizieren können.
Young schreibt: «Da jeder sensitive Netzhautpunkt wohl kaum aus unendlich vielen Korpuskeln bestehen kann, von denen ein jedes im Einklang mit jeweils einer unter allen möglichen Wellenbewegungen schwingt, liegt es nahe, die Anzahl dieser Partikeln zu beschränken, zum Beispiel auf die drei Hauptfarben Rot, Gelb und Blau.»
Fünf Jahre früher hatte der berühmte Chemiker John Dalton eine heute als Klassiker geltende Beschreibung der Rot-Grün-Blindheit veröffentlicht – es handelt sich um eine Selbstbeschreibung. Dalton glaubte, die Farbenblindheit sei auf eine Verfärbung im durchsichtigen Medium des Auges zurückzuführen, und in seinem Testament verfügte er, daß diese Vermutung an einem seiner Augen überprüft werden möge. Aber Youngs Erklärung erwies sich als die richtige – daß einer der drei Farbrezeptoren fehlt. (Daltons Auge ruht noch immer konserviert in einem Regal in Cambridge.)
Lindsay T. Sharpe und Knut Nordby erörtern diesen und viele andere Aspekte der Erforschung der Farbenblindheit in ihrem Aufsatz «Total Colorblindness: An Introduction».
1816 schlug der junge Arthur Schopenhauer eine andere Theorie der Farbwahrnehmung vor, die nicht von einer passiven, mechanisch ablaufenden Resonanz erregter Partikeln wie in der Lehre Youngs ausgeht, sondern von deren aktiver Stimulation, Konkurrenz und gegenseitiger Hemmung. Schopenhauers Lehre ist wie das siebzig Jahre später von Ewald Hering entwickelte Modell eine Gegentheorie, die der von Young und Helmholtz vertretenen Auffassung widerspricht. Beide Gegentheorien wurden zu ihrer Zeit ignoriert; man nahm sie bis in die fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts hinein nicht ernst. Inzwischen arbeiten wir mit einer Kombination der Young-Helmholtzschen und der Schopenhauer-Heringschen Theorie: Die auf bestimmte Lichtwellen ansprechenden Rezeptoren interagieren miteinander und streben einen Gleichgewichtszustand an. Integration und Selektion beginnt also, wie Schopenhauer ahnte, bereits in der Netzhaut.
In der großen Ausgabe von Helmholtz' Physiologischer Optik von 1911 wird sie nicht ein einziges Mal erwähnt, obgleich der retinalen Farbenblindheit ein langer Abschnitt gewidmet ist.
Es gab in diesen fünfundsiebzig Jahren kurze Hinweise auf die Achromatopsie, doch zum größten Teil wurden sie entweder ignoriert oder schnell wieder vergessen. Selbst der berühmte Neurologe Kurt Goldstein, aus prinzipiellen Gründen ein Gegner jener Lehren, die von isolierten neurologischen Störungen ausgehen, bemerkt in seinem Buch Language and Language Disturbances (1948) en passant, er habe mehrere Fälle rein zerebraler Achromatopsie ohne Störungen des Gesichtsfeldes oder andere Ausfälle beobachtet, geht dann aber auf diese Fälle nicht weiter ein.
Ein vermutlich ähnliches Phänomen beschreibt Knut Nordby. In seinem ersten Schuljahr zeigte sein Lehrer der Klasse ein gedrucktes Alphabet. Die Vokale waren rot, die Konsonanten schwarz.
Ich konnte keinerlei Unterschied zwischen ihnen erkennen; auch verstand ich nicht, was der Lehrer eigentlich wollte, bis ich eines Morgens im Spätherbst, als das elektrische Licht im Klassenzimmer angeschaltet war, unverhofft feststellte, daß einige dieser Buchstaben, nämlich AEIOUYÅÄÖ, plötzlich dunkelgrau waren, während die übrigen weiterhin kohlrabenschwarz aussahen. Aus dieser Erfahrung lernte ich, daß Farben je nach Lichtverhältnissen anders aussehen und daß ein und dieselbe Farbe Entsprechungen in verschiedenen Grautönen besitzt, je nach den Eigenschaften des einfallenden Lichts.
Die von Maxwell vorgeführte «Zerlegung» und «Zusammensetzung» der Farben machte die Farbfotografie möglich. Anfangs wurden riesige «Farbkameras» verwendet, die das eintreffende Licht in drei Strahlen teilten und diese dann durch Filter in den drei Grundfarben lenkten (die «Umkehrung» einer solchen Kamera diente als Chromoskop oder Maxwell-Projektor). Ein integriertes Farbverfahren wurde in den sechziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts von Ducos de Hauron ersonnen, aber erst 1907 Von den Gebrüdern Lumière verwirklicht (Autochromverfahren). Sie mischten winzige rot, grün und violett gefärbte Stärkekörner in die lichtempfindliche Emulsion. Diese Körner dienten gleichsam als Maxwellsches Raster, durch das die drei Teilfarbauszüge, mosaikartig zusammengesetzt, betrachtet werden konnten. (Farbkameras, Lumièrecolor, Dufaycolor, Finlaycolor und viele andere additive Farbverfahren wurden bis in meine Jugendzeit, die vierziger Jahre, eingesetzt und weckten mein eigenes Interesse für die Geheimnisse der Farben.)
In der unmittelbar benachbarten Region entdeckte Zeki Zellen, die ausschließlich auf Bewegung zu reagieren scheinen. Eine aufsehenerregende Fallgeschichte und Analyse einer vollständig «bewegungsblinden» Patientin wurde 1983 Von J. Zihl, D. von Cramon und N. Mai vorgelegt, die die Behinderung dieser Patientin wie folgt beschreiben:
Die Wahrnehmungsstörung, über welche die Patientin klagte, war ein Ausfall der Bewegungswahrnehmung in den drei räumlichen Dimensionen. So hatte sie Probleme beim Eingießen von Tee oder Kaffee in eine Tasse, weil die Flüssigkeit ihr gefroren vorkam, wie Gletschereis. Zudem konnte sie nicht zum richtigen Zeitpunkt mit dem Eingießen innehalten, weil sie das Ansteigen der Flüssigkeit in der Tasse (oder in einem anderen Behälter) nicht wahrnahm. Ferner klagte die Patientin darüber, daß sie Gesprächen nicht mehr zu folgen vermochte, weil sie die Mimik und speziell Mundbewegungen sprechender Personen nicht sah. In Räumen, in denen mehr als zwei Personen umhergingen, fühlte sie sich äußerst unsicher und unwohl; und sie verließ solche Räume gewöhnlich sofort, weil «die Leute schlagartig mal hier, mal dort waren, aber ich sah nicht, wie sie sich bewegten». Dieses Phänomen machte sich auf belebten Straßen und Plätzen noch stärker bemerkbar, so daß die Patientin alles unternahm, um Menschenmengen aus dem Weg zu gehen. Auch konnte sie keine Straßen überqueren, weil sie die Geschwindigkeit von Fahrzeugen nicht richtig einzuschätzen vermochte, obwohl sie diese selbst mühelos erkannte. «Wenn ich zuerst ein Auto sehe, scheint es weit weg zu sein. Aber wenn ich dann über die Straße gehen will, ist es plötzlich ganz nahe.» Nach und nach lernte sie, die Distanz der auf sie zukommenden Fahrzeuge aufgrund der lauter werdenden Geräusche zu «schätzen».
Holmes' schädlichen Einfluß hat Damasio anschaulich beschrieben, der ferner hervorhebt, daß alle von Holmes untersuchten Fälle Verletzungen im dorsalen Teil des Hinterhauptlappens betrafen und daß somit dessen ventraler Bereich, in dem sich das Zentrum für Achromatopsie befindet, unberücksichtigt blieb.
Die von Antonio und Hanna Damasio in Zusammenarbeit mit anderen Forschern an der University of Iowa durchgeführten Untersuchungen sind in dieser Hinsicht einerseits wegen der Genauigkeit der Wahrnehmungstests, andererseits wegen der technischen Brillanz der neurologischen Aufnahmeverfahren besonders relevant.
Solche Chromatophene können bei visueller Migräne spontan entstehen, und I. hatte dieses Phänomen an sich selbst bei gelegentlich vor seinem Unfall auftretenden Migräneanfällen beobachtet. Man kann sich fragen, was wohl geschehen wäre, wenn man I.s Hirnrindenfeld V4 stimuliert hätte – doch die magnetische Reizung umschriebener Hirnbereiche war technisch damals noch nicht möglich. Man kann sich ferner fragen, ob man nicht heute Versuche mit solchen Stimulierungen bei angeborener (retinaler) Achromatopsie durchführen sollte (verschiedene Farbenblinde haben an einem derartigen Experiment Interesse gezeigt). Möglicherweise – ich kenne keine Studie zu diesem Thema – entwickelt sich V4 bei Personen mit angeborener Achromatopsie nicht, da keinerlei Zapfenzellen-Inputs ins Gehirn dringen. Ist aber V4 als funktionale (wenn auch nicht funktionierende) Einheit trotz des Fehlens von Zapfenzellen vorhanden, könnte seine Reizung ein erstaunliches Phänomen hervorbringen: den Ausbruch zuvor undenkbarer, völlig neuartiger Empfindungen in einem Gehirn und Bewußtsein, das derartige Empfindungen vorher nie hat erleben, geschweige denn kategorisieren können. David Hume warf die Frage auf, ob sich jemand eine Farbe vorstellen – sie vielleicht sogar wahrnehmen – könnte, die er noch nie zuvor gesehen hat. Vielleicht läßt sich die 1738 Von Hume formulierte Frage heute beantworten.
Die Macht der Erwartungen und Einstellungen beim Farbensehen läßt sich bei Personen mit partieller Rot-Grün-Blindheit deutlich beobachten. Sie sind nicht in der Lage, zum Beispiel rote Stechpalmenbeeren vor dem Hintergrund dunkelgrüner Blätter auszumachen, oder bemerken die zarte lachsfarbene Morgenröte nicht, solange man sie darauf nicht aufmerksam macht. «Unsere schwachen, verkümmerten Zapfenzellen», sagte einer meiner Bekannten, der an Dyschromatopsie leidet, «sind auf Unterstützung durch den Intellekt, das Wissen, die Erwartungen und die Aufmerksamkeit angewiesen, um die Farben zu ‹sehen›, für die wir sonst ‹blind› sind.»
Funktionsstörungen in V4 lassen sich mit Hilfe eines neueren Verfahrens, der Positronen-Emissions-Tomographie (PET), erfassen (sie macht die Stoffwechseltätigkeit in verschiedenen Hirnregionen sichtbar), und zwar auch dann, wenn die Computer- oder die Kernspintomographie keine Läsion des Gewebes anzeigt. Leider stand uns die PET-Technik damals nicht zur Verfügung.
I., der sich gern in Sportclubs und Bars aufhielt, führte zu diesem Aspekt eigene Untersuchungen durch. Er berichtete uns, er habe mit einigen Boxern gesprochen, die nach Kopfschlägen teils vorübergehend, teils unheilbar farbenblind geworden seien. Partielle oder totale Farbenblindheit – auch die vorübergehende Form – ist eine typische Folge von Ohnmachts- oder Schockzuständen, bedingt durch die Verminderung der Blutzufuhr zum hinteren und speziell zu dem für das Sehen zuständigen Teil des Gehirns. Achromatopsie tritt ferner bei vorübergehenden Ischämie-Anfällen infolge arterieller Insuffizienz auf; Zeki nimmt an, daß dabei die auf Wellenlänge ansprechenden Zellen in V4 und V2 angegriffen werden. Zu zeitweiligen Veränderungen der Farbwahrnehmung kommt es gelegentlich bei visueller Migräne und bei Epilepsie; wohlbekannt sind sie auch den Meskalinund anderen Drogenkonsumenten. Schließlich können sie als beunruhigende Nebenwirkung nach Einnahme von Ibuprofen auftreten.
Aus I.s Beschreibungen seines Alltagslebens ist nie mit letzter Klarheit hervorgegangen, ob seine Gestaltwahrnehmung geringfügig oder stark beeinträchtigt war. Interessanterweise lösten sich die Grenzen zwischen den Rechtecken auf den Mondrianen bei längerer Fixierung auf, traten aber schnell wieder hervor, sobald die Reizvorlage bewegt wurde. Außer dem Tropfen-System sind zwei weitere Systeme an der elementaren Verarbeitung visueller Informationen beteiligt: das System M, das auf Bewegungs- und Tiefenwahrnehmung spezialisiert, und das Zwischensystem P, das vermutlich für die hochauflösende Form- oder Gestaltwahrnehmung zuständig ist. Zeki meinte, das Verschwinden der Umrisse bei längerer Fixierung lasse auf eine Schädigung des Systems P, die rasche «Wiederkehr» der Ränder dagegen auf «ein intaktes und aktives System M» schließen.
Dieses Verlustgefühl wird natürlich von den Menschen, die von Geburt an total farbenblind sind, nicht durchlebt. Das geht unter anderem aus einem Brief hervor, den ich kürzlich von Frances Futterman, einer klugen, charmanten Frau mit angeborener Achromatopsie, erhalten habe. Darin vergleicht sie ihre Situation mit der I.s:
Mir wurde klar, wie sehr sich unsere Erfahrungen unterscheiden. Ich habe nie eine Farbe gesehen, habe also auch nie einen Farbwahrnehmungsverlust erlitten. So hat mich meine farbenlose Welt nie in Verzweiflung gestürzt. Die Art, wie ich sehe, deprimiert mich an sich nicht. Manchmal gerate ich sogar ins Schwärmen über die Schönheit der Natur … Die Leute sagen mir, ich müsse ja alles in Grautönen oder in «Schwarzweiß» sehen – aber das stimmt, glaube ich, nicht. Das Wort «Grau» hat wie die Wörter «Rosa» oder «Blau» für mich nie eine Bedeutung gehabt – es hat sogar noch weniger Bedeutung, weil ich für Farbennamen wie «Rosa» und «Blau» eigene Vorstellungen entwickelt habe –; von der Farbe Grau dagegen kann ich für mein Leben keinen Begriff machen.
Obwohl es mit Sicherheit erhebliche Unterschiede zwischen Frances Futtermans Erfahrung und der I.s gibt, heben beide die Bedeutungslosigkeit des Wortes «Grau» hervor – eines Wortes, das für Personen mit Achromatopsie genauso wenig bedeutet wie das Wort «Dunkelheit» für einen Blinden oder das Wort «Stille» für einen Gehörlosen. Und wie später auch I. beteuert Frances Futterman, wie schön ihre Welt ihr erscheine:
Ich würde darauf wetten, daß wir in einem Test bei schwachem Licht viel mehr Grautöne wahrnehmen als Normalsichtige. Schwarzweißaufnahmen sehen für mich viel zu grob aus. Die Welt, die ich sehe, ist erheblich reichhaltiger, als Schwarzweißfotos oder Fernsehsendungen sie zeigen … Mein Sehen ist weitaus vielfältiger, als es sich Normalsichtige vorstellen können.
Wir können dies, wie Zeki kürzlich gezeigt hat, beobachten, wenn wir mit einer hemmenden magnetischen Reizung auf V4 einwirken, die eine vorübergehende Achromatopsie auslöst.
Unsere Kenntnisse von den Interaktionen zwischen den drei Hauptsystemen der elementaren Verarbeitung visueller Information sind noch immer sehr mangelhaft. Crick wirft allerdings die Frage auf, ob nicht wenigstens einige der unangenehmen und abnormen Sehempfindungen, die «Bleifarbigkeit» etwa, über die I. klagte, auf die überschüssige Aktivität des unversehrten Systems M zurückzuführen seien, das, wie er betont, «kaum Grautöne wahrnimmt, [so daß] sein Weiß dem entsprechen müßte, was [für Normalsichtige] schmutzigweiß aussieht». Für diese Annahme spricht die Tatsache, daß Personen mit angeborener Achromatopsie, deren visuelles System auf höherer Ebene nie beschädigt worden ist, keine derartigen Wahrnehmungsanomalien kennen. So schreibt Knut Nordby: «Ich habe noch nie ‹schmutzige›, ‹unreine›, ‹bleiige› oder ‹verwaschene› Farben gesehen, über die der Maler Jonathan 1. berichtet.»
J.D. Mollon et al. beschreiben den Fall eines jungen Polizeikadetten, der nach einer von hohem Fieber begleiteten schweren Krankheit (vermutlich Zoster opthalmicus) Achromatopsie, Hemianopsie sowie agnostische und amnestische Störungen entwickelte. Bei einem Test fünf Jahre nach dem Vorfall konnte der Patient, wie die Autoren festhalten, «Farben benennen (wahrscheinlich mit Hilfe des Sprachgedächtnisses), zum Beispiel die des Grases, der Ampellichter und des Union Jack; bei anderen Alltagsgegenständen (zum Beispiel einer Banane oder einem Briefkasten) unterliefen ihm Fehler». Nach fünfjähriger totaler Farbenblindheit konnte er sich oft nicht mehr an die Farben selbst vertrautester Gegenstände erinnern. Bei retinaler Erblindung sind ähnliche Folgen zu beobachten: Nach einigen Jahren sind gewöhnlich alle visuellen Erinnerungen – auch die an Farben – weitgehend gelöscht.
Schopenhauer meint, daß ein hochintelligenter Blinder aufgrund von Aussagen, die andere Personen über Farben treffen, selbständig eine Farbenlehre konstruieren könne. Ebenso führt Denis Diderot in einer Passage über den berühmten, im achtzehnten Jahrhundert in Oxford lehrenden blinden Optikprofessor Nicholas Saunderson aus, dieser habe über ein profundes räumliches Wissen, über den Begriff des Raums verfügt, obwohl er Räumliches visuell nie direkt wahrgenommen hatte (vgl. Anmerkung 13, S. 43).
I.s Abscheu vor Farben und Helligkeit und seine Vorliebe für Dämmerlicht und nächtliche Dunkelheit erinnern an Kaspar Hauser, der fünfzehn Jahre lang in ein düsteres Kellergewölbe gesperrt worden war. In Anselm von Feuerbachs 1832 erschienenen Bericht über diesen Fall heißt es:
Was das Sehen betrifft, so gab es für ihn keine Dämmerung, keine Nacht, keine Finsternis. Man wurde hierauf zuerst aufmerksam, als man bemerkte, daß er bei Nacht überallhin mit der größten Sicherheit vorwärts schreite und daß er, so oft er an einen dunklen Ort ging, das ihm angebotene Licht ausschlug. Mit Verwunderung oder Lachen sah er öfters den Leuten zu, die an dunkeln Orten, zum Beispiel nachts beim Eintritt in das Haus und beim Treppensteigen, durch Tappen und Anhalten sich zu helfen suchten. Im Dämmerlicht sah er sogar bei weitem besser als am hellen Tage. So las er, nach Untergang der Sonne, auf der Straße eine Hausnummer, die er bei Tage wenigstens in solcher Ferne nicht würde erkannt haben, auf ungefähr 180 Schritte weit. Bei tiefer Dämmerung machte er einst seinen Lehrer auf eine Mücke aufmerksam, die in einem sehr entfernten Spinnengewebe hing.
Möglicherweise wird bei Personen mit angeborener Achromatopsie die Funktion des Systems M verstärkt, so daß sie ein außergewöhnliches Geschick entwickeln könnten, Bewegungen zu erkennen. Diese Hypothese wird derzeit von Ralph Siegel und Martin Gizzi untersucht.
Ich erfuhr kürzlich von einem farbenblinden Botaniker in England, von dem es heißt, er identifiziere Farne und andere Pflanzen in Wäldern, an Hecken und vor anderen weitgehend einfarbigen Hintergründen schneller als Normalsichtige. Im Zweiten Weltkrieg wurden Rot-Grün-Blinde bevorzugt bei der Artillerie wegen ihrer Fähigkeit eingesetzt, durch Farbtarnungen «hindurchzuschauen» und sich nicht durch das, was Normalsichtigen als verwirrende, trügerische Farbkonfiguration erschiene, ablenken zu lassen. Ein Veteran des Koreakriegs berichtet, daß farbenblinde Soldaten für das Ausspähen getarnter feindlicher Verbände im Dschungel unersetzlich waren. (All dies können allerdings Normalsichtige im Zwielicht auch besser erkennen als bei hellem Tageslicht.)
Die Entstehung neuer Empfindungen und Vorstellungen beschreibt H.G. Wells in seiner grandiosen Erzählung «Das Land der Blinden»: «Während vierzehn Generationen waren diese Leute blind gewesen und abgeschnitten von der Welt der Sehenden. Die Benennungen für alle die Dinge, die man mit dem Auge wahrnimmt, waren verblaßt und hatten sich geändert … Ein großer Teil ihrer Einbildungskraft war zusammen mit ihren Augen eingeschrumpft, und sie hatten sich neue Vorstellungen geschaffen mit ihren um so feineren Ohren und Fingerspitzen.»
Die recht ungewöhnliche Weltanschauung des Swami ist zusammengefaßt in Easy Journey to Other Planets von Tridandi Goswami A.C. Bhaktivedanta Swami, herausgegeben vom League of Devotees in Vrindaban (keine Jahresangabe; Preis: 1 Rupie). Dieses schmale Bändchen mit grünem Umschlag wurde von den safranfarben gekleideten Anhängern des Swami massenweise unter die Leute gebracht und war damals Gregs «Bibel».
Eine andere Patientin, Ruby G., ähnelte Greg in mancher Hinsicht. Auch bei ihr hatte sich ein großer Stirnhirntumor entwickelt, der, obwohl er 1973 entfernt wurde, zu Erblindung, Amnesie und einem Stirnlappensyndrom führte. Auch sie wußte nicht, daß sie blind war. Wenn ich eine Hand vor ihre Augen hielt und sie fragte: «Wie viele Finger?», antwortete sie: «Natürlich hat eine Hand fünf Finger.»
Eine enger umgrenzte Ausblendung der eigenen Blindheit kann durch die Zerstörung der Sehrinde verursacht werden, wie dies beim Antonschen Zeichen der Fall ist. Patienten mit diesem Syndrom wissen zwar mitunter nicht, daß sie erblindet sind, verhalten sich aber sonst normal. Dagegen ist die Ausblendung bei Stirnlappenläsionen umfassender: So waren Greg und Ruby nicht nur blind gegenüber der eigenen Blindheit, sondern auch – jedenfalls zum größten Teil – gegenüber der Tatsache, daß sie krank waren, unter schweren neurologischen und kognitiven Ausfällen litten und auf tragische Weise in eine äußerst eingeschränkte Lebenssituation geraten waren.
Edouard Claparède zeigte 1911 auf eine ziemlich rohe Weise, daß implizite Engramme (vor allem, wenn sie emotional besetzt sind) auch bei amnestischen Patienten dauerhaft bestehen können, indem er einem solchen Patienten, den er seinen Studenten vorführte, beim Händeschütteln mit einer zwischen seine Finger geklemmten Nadel in die Hand stach. Obgleich der Patient sich explizit an diesen Vorfall nicht erinnern konnte, weigerte er sich danach, Claparède die Hand zu geben.
Lurija hebt in seiner Arbeit über die Neuropsychologie des Gedächtnisses hervor, daß alle seine amnestischen Patienten ein «Gefühl der Vertrautheit» mit ihrer Umgebung erwarben, wenn sie längere Zeit hospitalisiert waren.
Lurija, der Stirnhirnsyndrome in seinem Buch Human Brain and Psychologkai Processes überaus detailliert, manchmal fast romanhaft beschreibt, sieht in dieser «Gleichbehandlung» den Kern solcher Syndrome.
Ähnlich undifferenzierte Reaktionen treten zuweilen auch bei Menschen mit Touretteschem Syndrom auf – manchmal in Form reflexhaften Imitierens von Äußerungen und Handlungen anderer Personen, manchmal in den komplexeren Formen der Mimikry, Parodie und Nachahmung, aber auch in Gestalt unbändiger verbaler Assoziationen (Reime, Wortspiele, Alliterationen usw.).
Aufgrund von Vergleichen der elektrophysiologischen Eigenschaften zwischen dem schlafenden und dem wachen Gehirn stellten Rodolfo Llinás und seine Mitarbeiter an der New York University die These auf, daß ein einziger Grundmechanismus für beide Zustände verantwortlich sei – ein fortwährendes inneres Zwiegespräch zwischen Hirnrinde und Thalamus, ein ununterbrochener Austausch von Bildern und Gefühlen, unabhängig davon, ob gerade ein sensorischer Input stattfindet oder nicht. Wenn Sinnesdaten eintreffen, integriert sie dieser Austauschprozeß, um waches Bewußtsein zu generieren. Liegt dagegen kein solcher Input vor, erzeugt er weiterhin zerebrale Zustände, die wir als Phantasiegebilde, Halluzination oder Traum bezeichnen. Aus dieser Sicht träumt das wache Bewußtsein – doch träumt es unter den Beschränkungen der Außenwelt.
Traumähnliche (oneiroide) Zustände infolge von Läsionen des Thalamus und des Zwischenhirns sind von Lurija und anderen Autoren beschrieben worden. J.-J. Moreau charakterisierte in seiner frühen Studie über Haschisch und Geisteskrankheit von 1845 sowohl das Irresein als auch die Haschischtrance als «Wachträume». Eine besondere Art von Wachtraum ist bei schweren Formen des Tourette-Syndroms zu beobachten: Die Außen- und die Innenwelt, das Wahrgenommene und das Instinktive verschmelzen gewissermaßen zu einer nach außen gekehrten Phantasmagorie, zu einem «öffentlichen» Traum.
Robert Louis Stevenson schrieb seine Erzählung Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde im Jahre 1886. Es ist nicht erwiesen, ob er den Fall Gage kannte, doch war dieser mittlerweile so berühmt geworden, daß er seit den frühen achtziger Jahren zum Allgemeinwissen gehörte. Mit Sicherheit aber wurde Stevenson von John Hughlings Jacksons Unterscheidung zwischen höheren und niedereren Hirnebenen inspiriert, der Auffassung, daß die animalischen Triebkräfte der «niedereren» Ebenen nur durch die «höheren» (und eher anfälligen) intellektuellen Zentren im Zaum gehalten werden.
Der ungeheuerliche Leukotomie- und Lobotomieskandal endete in den frühen fünfziger Jahren, nicht etwa aufgrund ärztlicher Zurückhaltung oder Ablehnung, sondern weil nun ein neues Mittel – Tranquilizer – zur Verfügung stand, dem man (wie zuvor der Neurochirurgie) hohe Wirksamkeit ohne unerwünschte Nebenwirkungen bescheinigte. Ob allerdings zwischen Neurochirurgie und Tranquilizern in neurologischer wie moralischer Hinsicht tatsächlich ein so großer Unterschied besteht, ist eine unbequeme Frage, mit der man sich bisher nie wirklich konfrontiert hat. Gewiß können in hohen Dosen verabreichte Tranquilizer wie ein chirurgischer Eingriff «Beruhigung» erzeugen und die Halluzinationen und Wahnvorstellungen psychotischer Kranker zum Stillstand bringen, aber die Ruhe, die sie schaffen, könnte die Ruhe des Todes sein – sie könnte die Patienten in einem grausamen Paradox an einer natürlichen Auflösung der Psychose hindern und sie statt dessen ihr Leben lang in eine iatrogene Krankheit einmauern.
Die medizinische Fachliteratur befaßte sich erstmals mit Stirnlappenläsionen anläßlich des Falls Phineas Gage, doch finden sich in früheren Quellen Beschreibungen veränderter psychischer Zustände, die damals nicht identifiziert wurden, heute jedoch im Rückblick als Stirnhirnsyndrome betrachtet werden können. Einen solchen Fall aus dem achtzehnten Jahrhundert schildert Lytton Strachey in seinem Porträt «The Life, Illness, and Death of Dr. North». Dr. North, ein Lehrer am Trinity College in Cambridge, der unter schweren Angstanfällen und quälenden Zwängen litt, wurde wegen seiner Pedanterie, rigiden Moral und erbarmungslosen Strenge von seinen Kollegen gehaßt. Eines Tages erlitt er einen Hirnschlag:
Er genas nicht vollständig. Sein Körper war linksseitig gelähmt; vor allem aber sein Geist hatte sich tiefgreifend verändert. Seine Ängste hatten ihn verlassen. Seine Gewissenhaftigkeit, seine Zurückhaltung, sein ernstes Wesen, ja sogar sein moralisches Empfinden waren verschwunden. Er lag in anzüglicher Manier auf dem Bett und stieß Schwalle derber Bemerkungen, zotiger Geschichten und anrüchiger Witze aus. Während seine Freunde kaum wußten, wohin sie schauen sollten, lachte er hemmungslos oder verzog sein halbgelähmtes Gesicht zu einem abstrus entstellten Grinsen … Nach einigen epileptischen Anfällen erklärte er, sein Leiden sei nur durch ständigen Weinrausch zu lindern. Dieser Mann, einst berüchtigt wegen seiner Strenge, goß nun in maßlosem Überschwang ein Glas Sherry nach dem anderen in sich hinein.
Strachey zeichnet hier mit großer Präzision das Bild eines Schlaganfalls im Stirnhirn, der die Persönlichkeit dieses Kranken grundlegend und gewissermaßen «therapeutisch» veränderte.
Das dynamische wie semantische Wesen dieser «organischen Einheit», die eine so wichtige Rolle in der Musik, beim Gesang, in der Rezitation, in allen metrischen Strukturen spielt, hat Victor Zuckerkandl in seinem bemerkenswerten Buch Sound and Symbol umfassend analysiert. Es ist charakteristisch für solche dynamisch-semantischen Strukturen, daß jedes Element zum nächsten führt und daß jeder Teil in Beziehung zu den anderen steht. Solche Strukturen können gewöhnlich nicht in Teilen, sondern – wenn überhaupt – nur als Ganzes wahrgenommen und erinnert werden.
Über diesen Patienten hat Jonathan Miller den BBC-Film Prisoner of Consciousness gedreht (gesendet im November 1988).
Ein anderer Patient in Williamsbridge, Harry S., früher ein begabter Ingenieur, erlitt eine Hirnblutung infolge eines geplatzten Aneurismas, durch die beide Stirnlappen massiv geschädigt wurden. In der Zeit nachdem er aus dem Koma erwacht war, besserte sich sein Zustand zusehends, und auch viele seiner früheren geistigen Fähigkeiten stellten sich wieder ein, doch blieb er, wie Greg, dennoch schwer gestört – ausdruckslos, flach, emotional indifferent. Doch all dies ändert sich schlagartig, sobald er singt. Er hat eine gute Tenorstimme und liebt irische Lieder. Er singt gefühlvoll, zart und lyrisch, was um so überraschender ist, als sonst keine Spur davon in seinem Verhalten zu entdecken ist, so daß der Eindruck entsteht, seine Emotionalität sei restlos zerstört. Er drückt jedes Gefühl gemäß dem Inhalt des Gesungenen aus – Frivoles, Fröhliches, Tragisches, Sublimes – und scheint sich in einen anderen Menschen zu verwandeln, während er singt.
Mr. Thompson (aus der Fallgeschichte «Eine Frage der Identität»), der ebenfalls an Amnesie und einem Stirnhirnsyndrom litt, schien dagegen oft «entseelt» zu sein. Seine Witzeleien waren manisch, wild, frenetisch, unbändig; sie brachen wie ein Schwall aus ihm hervor, ohne Rücksicht auf Takt, Anstand, Schicklichkeit, auf alles, einschließlich der Gefühle der Menschen um ihn her. Ob die Tatsache, daß das Ich und die Identität Gregs wenigstens zum Teil erhalten geblieben waren, auf ein weniger gravierendes Syndrom oder auf tieferliegende Persönlichkeitsunterschiede zurückzuführen sind, bleibt ungeklärt. Mr. Thompsons prämorbide Persönlichkeit war die eines New Yorker Taxifahrers, und in mancher Hinsicht wurde sie durch das Stirnhirnsyndrom verstärkt. Gregs Persönlichkeit war von Anfang an sanfter, kindlicher – und dies färbte, wie mir schien, auch sein Stirnhirnsyndrom.
Hierin unterschied er sich von Mr. Thompson, der wegen des schlimmeren Stirnhirnsyndroms zu einer Art unaufhörlich laufenden, frotzelnden Sprechmaschine geworden war. Als man ihm sagte, sein Bruder sei gestorben, witzelte er: «Dieser alte Spaßvogel!» und ging zu anderen, belanglosen Dingen über.
Der amnestische Musikwissenschaftler aus dem BBC-Film Prisoner of Consciousness zeigte ein ähnliches und doch ganz anderes Verhalten. Wann immer seine Frau den Raum verließ, überwältigte ihn das Gefühl eines schrecklichen und unwiderruflichen Verlustes. Kehrte sie fünf Minuten später zurück, seufzte er stets erleichtert: «Und ich glaubte, du seist tot.»
Jean Cocteau hat dasselbe einmal über Opium gesagt. Ob Greg ihn, bewußt oder unbewußt, zitierte, weiß ich nicht. Düfte wecken manchmal noch intensivere Assoziationen als Musik. Geruchswahrnehmungen, die in einer sehr primitiven Hirnregion – dem «Riechhirn» oder Rhinenzephalon – erzeugt werden, brauchen nicht den Weg über die komplexen vielstufigen Gedächtnissysteme der medialen Schläfenlappen zu nehmen. Olfaktorische Gedächtnisspuren sind, neural betrachtet, fast unauslöschlich, so daß sie trotz amnestischer Ausfälle erinnert werden können. Es wäre ein faszinierender Versuch, Greg heiße Brezel oder Haschisch vorzusetzen, um zu sehen, ob ihre Gerüche Erinnerungen an das Konzert wecken. Er selbst erwähnte am nächsten Tag spontan den «großartigen» Brezelduft – er war ihm sehr gegenwärtig –, und doch konnte er ihn weder räumlich noch zeitlich lokalisieren.
Greg hat keine Erinnerung an das Konzert, jedenfalls scheinbar – doch als ich eine Tonbandaufnahme des Konzerts erhielt, erkannte Greg beim Hören sofort einige der «neuen» Stücke und war sogar in der Lage, sie mitzusingen. «Woher kennen Sie das?» fragte ich ihn, als «Picasso Moon» erklang.
Er zuckte unsicher mit den Achseln, doch besteht kein Zweifel, daß er den Song gelernt hat. Ich besuche Greg weiterhin regelmäßig, um ihm Aufnahmen «unseres» Konzerts und der letzten Auftritte der Grateful Dead vorzuspielen. Er scheint die Besuche zu mögen und hat viele der neuen Stücke auswendig gelernt. Wenn ich komme und er meine Stimme hört, hellt sich sein Gesicht auf – und er begrüßt mich als einen seiner Deadhead-Freunde.
Weitere vier (darunter ein Augenchirurg) meldeten sich nach der Erstveröffentlichung dieser Untersuchung. Neben den touretteschen Chirurgen weiß ich heute von drei touretteschen Internisten, zwei touretteschen Neurologen, aber nur einem touretteschen Psychiater.
Tics können auf halbem Weg zwischen bedeutungslosen Zuckungen oder Geräuschen und bedeutungsvollen Handlungen angesiedelt sein. Obwohl die Ticneigung untrennbar zum Touretteschen Syndrom gehört, hat die besondere Form des Tics häufig einen persönlichen oder historischen Ursprung. So kann ein Name, ein Laut, ein Bild, eine Geste, die man vielleicht Jahre zuvor gesehen und inzwischen längst vergessen hat, zunächst unbewußt wiederholt oder nachgeahmt und dann in der stereotypen Form eines Tics konserviert werden. Solche Tics sind wie Hieroglyphen, versteinerte Überreste der Vergangenheit und unter Umständen im Laufe der Zeit so verkürzt und enigmatisch geworden, daß man sie nicht mehr versteht (so wie «God be with you» im Laufe von Jahrhunderten zusammengezogen und zu dem phonetisch ähnlichen, aber bedeutungslosen «goodbye» verstümmelt wurde). Ein Patient, der mich vor langer Zeit aufsuchte, stieß ständig einen gutturalen Explosionslaut aus, der drei Silben hatte und sich bei näherer Untersuchung als eine sehr hastige, verstümmelte Artikulation des Wortes «Verboten!» [im Original deutsch] erwies – eine konvulsive Parodie der ständig Verbote verhängenden deutschsprechenden Stimme seines Vaters.
Vor kurzem erhielt ich einen Brief von einer Frau mit Touretteschem Syndrom, die nach der Lektüre einer früheren Fassung dieses Textes schrieb: «(Einschließung› … trifft das Zusammenspiel zwischen Leben und Tics genau – den Prozeß, in dessen Verlauf sich letztere ersteres einverleiben. Es ist fast so, als werde der tourettesche Körper zu einem expressiven – wenn auch durcheinandergewürfelten – Archiv der eigenen Lebenserfahrung.»
Manche Menschen mit Touretteschem Syndrom haben einen Schleudertic – den plötzlichen Drang oder Zwang, mit Gegenständen zu werfen –, der von ganz anderer Art ist als Bennetts wütendes Werfen. Manchmal gibt es eine sehr kurze Vorwarnung – in einem Fall ein kurzes «Duck dich!» –, bevor ein Teller, eine Flasche Wein oder was auch immer, konvulsiv geschleudert, durch das Zimmer fliegt. Die gleichen Wurftics traten bei einigen meiner postenzephalitischen Patienten auf, wenn sie mit L-Dopa überreizt wurden. (Und ich beobachte ein ähnliches Wurfverhalten – wenn auch keinen Tic – bei meinem zweijährigen Patensohn, der sich gegenwärtig in einem Stadium urtümlicher Widerborstigkeit und Anarchie befindet.)
Was sich in komischer Weise äußerte, als ich mich einmal mit drei touretteschen Freunden zum Essen in einem Restaurant in Los Angeles traf. Alle drei stürzten gleichzeitig auf den Stuhl in der Ecke zu – nicht im Wettkampf, wie ich glaube, sondern weil er für jeden eine existentiell-neurale Notwendigkeit bedeutete. Der Glückliche konnte dann ruhig an seinem Platz sitzen, während die beiden anderen ständig ruckartige Bewegungen in Richtung der anderen Gäste hinter ihnen ausführten.
Das Tourettesche Syndrom sollte nicht als eine psychiatrische, sondern als eine neurobiologische Störung hyperphysiologischer Art betrachtet werden, bei der es zu subkortikaler Erregung und einer spontanen Reizung vieler in phylogenetischem Sinne primitiver Zentren im Gehirn kommen kann. Eine ähnliche Stimulation oder Freisetzung «primitiver» Verhaltensweisen ist bei exzitatorischen Läsionen durch die Europäische Schlafkrankheit (Encephalitis lethargica) zu beobachten, wie ich sie in Awakenings – Zeit des Erwachens geschildert habe. Häufig treten sie in den ersten Tagen der Erkrankung auf und prägen sich dann wieder bei der Verabreichung von L-Dopa aus.
Solche beim Touretteschen Syndrom häufig auftretenden Neigungen sind auch bei Patienten mit postenzephalitischen Syndromen zu beobachten. So verspürte meine Patientin Miriam H. den Zwang, die E auf jeder Seite, die sie las, zu zählen, Sätze rückwärts aufzusagen, zu schreiben oder zu buchstabieren, Gesichter von Menschen zu Konstellationen von geometrischen Figuren aufzulösen und alles, was sie sah, visuell ins Gleichgewicht, in eine symmetrische Form zu bringen.
Fast diagnostischen Wert hat der Name eines renommierten Spezialisten für das Tourettesche Syndrom – Dr. Abuzzahab –, denn er veranlaßt Betroffene zu grotesken, iterativen Abwandlungen (Abuzzahuzzahab usw.). Natürlich sind nicht nur Touretter für die anregende, sich einprägende Wirkung des Ungewöhnlichen empfänglich. Der unbekannte Verfasser des antiken mnemotechnischen Textes Ad Herennium beschrieb sie schon vor zweitausend Jahren als eine natürliche Inklination des Bewußtseins, die es zu nutzen gelte, wenn man bestimmte Bilder im Gedächtnis fixieren wolle:
Wenn wir im täglichen Leben unwichtige, gewöhnliche und banale Dinge sehen, können wir uns im allgemeinen nicht an sie erinnern, weil der Verstand nicht durch etwas Neues oder Verwunderliches aufgestört wird. Doch wenn wir etwas außergewöhnlich Niedriges, Ehrloses, Ungewöhnliches, Erhabenes, Unglaubliches oder Lächerliches sehen oder hören, werden wir es wahrscheinlich lange Zeit im Gedächtnis behalten … Möge die Kunst deshalb die Natur nachahmen.
Es handelt sich um das Leiden, das in besonders schwerer Form den berühmten Elefantenmenschen John Merrick heimgesucht hat.
Bewegungen, die die meisten von uns als verblüffend oder «abnorm» schnell empfinden, erscheinen Touretter völlig normal, wenn sie sie ausführen. Sehr deutlich zeigte sich dies kürzlich bei einem psychomotorischen Genauigkeitstest mit Shane F., einem Maler mit Touretteschem Syndrom, der erheblich verkürzte Reaktionszeiten erreichte, Werte, die fast sechsmal niedriger als normal waren, verbunden mit sehr zügigen Bewegungsabläufen und großer Zielgenauigkeit. Diese Leistungen vollbrachte er mühelos, während sie normalen Versuchspersonen, wenn überhaupt, nur durch heftigste Anstrengung und auf Kosten von Genauigkeit und Koordination gelangen.
Wenn man Shane dagegen aufforderte, sich an (unsere) normale Geschwindigkeit zu halten, wurden seine Bewegungen gehemmt, ungeschickt, ungenau und von Tics unterbrochen. Offenbar unterschied sich das, was für ihnwir
Awakenings – Zeit des Erwachensbehinderteschnellste