Maja Langsdorff
Die heimliche Sucht, unheimlich zu essen
Bulimie – Verstehen und heilen
Fischer e-books
Maja Langsdorff, geboren 1956 in Heidenheim/Brenz, ausgebildete Balletttänzerin, Fotografin und Journalistin. Seit 1981 freiberuflich tätig als Journalistin und Sachbuchautorin, Schwerpunkte: Medizin, Psychologie, frauenspezifische Themen. Kuratoriumsmitglied des Bundesfachverbands Essstörungen und Mitglied der Arbeitskreise Essstörungen Bremen und Stuttgart. Lebt mit ihrem Mann in einer Kleinstadt bei Bremen. Weitere
Bücher: »Die Geliebte. Was es heißt, die Andere zu sein«, »Kleiner Eingriff - großes Trauma? Schwangerschaftskonflikte, Abtreibungen und die seelischen Folgen«, »Ballett- und dann? Lebensbilder von Tänzern, die nicht mehr tanzen« (mehr unter http://www.maja-langsdorff.de).
Der »Bulimie«-Klassiker, aktualisiert und auf dem neusten Stand der Wissenschaft
Der kollektive Schlankheitswahn fordert seine Opfer. Abertausende von Frauen hängen an der Alltagsdroge Essen. Maja Langsdorff beschreibt Zusammenhänge und Hintergründe der Esstörung und zeigt: Ess-Brech-Sucht ist heilbar, aber eine Heilung ist beschwerlich, von Rückschlägen gekennzeichnet und fordert den ganzen Einsatz der Betroffenen.
Covergestaltung: bürosüd°, München
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2011
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ISBN 978-3-10-400769-4
Krauth/Buser/Vogel: How high are the costs of eating disorders – anorexia nervosa and bulimia nervosa – for German society? Eur. J. Health Econ, Berlin/Heidelberg 2002, 3, S.244–250
Susie Orbach, zitiert in »Berliner Gipfel gegen Diätwahn«, EMMA März/April 2008, S.76
Aus: Sina Reinarz: »…denn reden kann ich nicht«, Hrsg. Suchtprävention Bremen, Referat für schulische und außerschulische Suchtprävention und -beratung im Landesinstitut für Schule, Bremen 1998
s.a. Susanne Balthasar: »Messer in der Seele«, Frankfurter Rundschau Magazin, 5.5.2001
Volker Pudel auf dem wissenschaftlichen Pressekolloquium »Sucht und Suchtbegriff«, Karlsruhe 1988
Philip G. Zimbardo: Psychologie, Springer Verlag, Berlin Heidelberg 1992, S.219
Irene Uhlmann, Dr.Günther Liebing (Hrsg.): Kleine Enzyklopädie Gesundheit, VEB Bibliographisches Institut, Leipzig 1972, S.531, 564
Susie Orbach: »Hungerstreik«, Econ Verlag, Düsseldorf, Wien, New York 1987, S.82
Ergebnis einer Studie der Psychologie-Professorin Jean Twenge von der San Diego State University, AP-Meldung von Martha Irvine 11.1.2010
Sven-David Müller zitiert in: »Das Auge hungert mit«, Frankfurter Rundschau, 26.5.2001
KIGGS-Studie des Robert-Koch-Instituts, 2003–2006
Quellen u.a.: KIGGS-Studie s.o., Nationale Verzehrstudie II, »Ess-Störungen – Eine Information für Ärztinnen und Ärzte«, DHS Hamm 1997; Dagmar Preis, Anja Wilser: »Nichts leichter als Essen?«, Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg, Stuttgart 2000; »Mal dick, mal dünn – Anregung für die Prävention«, Landesstelle Jugendschutz Niedersachsen, Hannover, kein Erscheinungsjahr [2001]
Wanke, Petruschke, Korsten-Reck in: Deutsche Zeitschrift für Sportmedizin, Jahrgang 55 Nr. 11 (2004), S.290
Lebenstedt, Bussmann, Platen: Ess-Störungen im Leistungssport, Sport und Buch Strauß GmbH 2004, S.12
Steven Bratman 2003, www.orthorexia.com/index.php?page=essay (frei übersetzt)
Monatsschrift Kinderheilkunde 156, 2008, 887; Ulrike Bandemer-Greulich et al.: Problematisches Ernährungs- und Purgingverhalten von Patientinnen mit Diabetes mellitus, Aktuelle Ernährungsmedizin 2006; 31 (5), S.243–248
»Diabetes mellitus und Essstörungen«, Flyer der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendheilkunde, AKH Wien (undatiert)
M. Teufel et al.: Von der Angst, den Zucker in die Zelle zu lassen, Deutsche Medizinische Wochenschrift 2009, 134 (30), S.1520
Untersuchung der Psychopathologischen Forschungsstelle der Georg-August-Universität in Göttingen, September 1983
Heinrich Wernze: »Überraschende Wirkungen von Spironolacton auf Essverhalten und Befindensbarometer bei Bulimie«, Psychopharmakotherapie, Band 7, Heft 1, S.33–37, 2000, zitiert nach einer Kurzfassung unter http://www.uni-leipzig.de/~anorexia/wernzel.htm
Unter www.ab-server.de/essstoerungen/therapieverfahren.html sind einzelne Therapieformen kurz erläutert
Studie Mexico 2002, zitiert von Monika Schwarze, Medizinische Hochschule Hannover
Hans-Jürgen Appelt in: »Die Anonymen Alkoholiker – die Sucht nach der Sucht«, Sozialmagazin, 8. Jahrgang, Heft 11/1983, S.8–9
Sabine Scheffler in: »Welche Therapie?«, Psychologie heute. Taschenbuch, Beltz Verlag, Weinheim 1987, S.151
Leitlinien des BFE (Beratung und ambulante Behandlung) unter www.bundesfachverbandessstoerungen.de; Leitlinien der DGKJP und der DGESS (Diagnostik und Behandlung) unter http://leitlinien.net/
Dagmar Preis, Anja Wilser: »Nichts leichter als essen? – Essstörungen im Jugendalter«, Hrsg. Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg, Stuttgart 2000, S.12
(N)onliner-Atlas 2009, www.initiatived21.de/category/nonliner-atlas/zentrale-ergebnisse-2009
Deutscher Philologenverband: Philologenverband fordert generelle Indizierung von »Pro-Ana«- und »Pro-Mia«-Seiten als jugendgefährdend!, Berlin, 5.6.2009
jugendschutz.net: Abschlussbericht der Recherche zu Pro-Anorexie-Angeboten 2006/2007, S.14, Mainz, April 2008 und Katja Rauchfuss: Verherrlichung von Essstörungen im Internet, S.14, Thema Jugend Heft 3/2009. Münster
http://news.scotsman.com/anorexia/Warning-of-web-risk-over.3335810.jp
http://thinderella.20six.de/ (inzwischen gelöscht)
http://anorexialovesme.wordpress.com/anas-brief-20/ (inzwischen gelöscht)
http://thindy.chapso.de/index-s373552.html
www.oa.org/pdfs/member_survey.pdf (2002); Kerri-Lynn Murphy Kriz: The Efficacy of Overeaters Anonymous in Fostering Abstience in Binge Eating Disorder and Bulimia Nervosa, Virginia Polytechnic Institut and State University, 2002
Shelly Russell-Mayhew u.a.: How Does Overeater Anonymous Help Its Members? Eur. Eat Disorders, Rev. 18 (2010), S.33–42
www.oa.org/pdfs/member_survey.pdf (2002)
»Essverhalten und Essstörungen in Ostdeutschland«, Bundeszentrale für Gesundheitliche Aufklärung, Köln 1991
Joanna Eger: Essstörungen und Suchterkrankungen, TU München 2004
Sims et al. Experimental obesity in man. (1968) Transcript of the American Physicians, 81, S.153–170
Verbraucher-Zentrale Hamburg, 12/92
Udo Pollmer, Susanne Warmuth: »Lexikon der populären Ernährungsirrtümer«, Eichborn Verlag Frankfurt am Main 2000, S.280
Wenn Lightprodukte schwer im Magen liegen, 23.1.2009, http://foodwatch.de
L. & L. Pearson: »Psychodiät. Abnehmen durch Lust am Essen«, Rowohlt Verlag, Reinbek 1990
Barbara Krebs in: »Selbstdarstellung und Evaluationsdaten«, Frankfurter Zentrum für Essstörungen, 1993, S.14
Studie von Anne Becker, Harvard Eating Disorders Center, Boston/Massachusetts, veröffentlicht im Journal of the American Medical Association (JAMA), Bd. 283, S.1409
EMMA März/April 2002
Besonders empfehlenswert Gudrun Görlitz: »Körper und Gefühl in der Psychotherapie – Erlebnisorientierte Basisübungen«, Klett-Cotta 2009
L. & L. Pearson: »Psychodiät. Abnehmen durch Lust am Essen«, Rowohlt Verlag, Reinbek 1990
Professor Dr.Volker Pudel†, Ernährungspsychologische Forschungsstelle der Georg-August-Universität Göttingen, 1984
Sylvia Baeck, Gründerin und Geschäftsführerin von Dick & Dünn e.V., Berlin
Sigrid Borse, Diplom-Pädagogin, Geschäftsführerin des Frankfurter Zentrums für Ess-Störungen gGmbH, Vorstandsmitglied des Bundesfachverbands Essstörungen (BFE)
Werner Gross, Diplom-Psychologe, Psychotherapeut, Supervisor (BDP) und Coach am Psychologischen Forum Offenbach
Margrit Hasselmann, Pädagogin und systemische Therapeutin, Landesinstitut für Schule, Gesundheit und Suchtprävention, Bremen
Prof. Dr.med. Thomas J. Huber, Arzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Ernährungsmedizin, Chefarzt der Klinik am Korso, Fachzentrum für gestörtes Essverhalten, Bad Oeynhausen
Prof. Dr.Gerald Hüther, Neurobiologe, Leiter der Zentralstelle für Neurobiologische Präventionsforschung der Universitäten Göttingen und Mannheim/Heidelberg
Dr.med. Ulrich Kemper, Facharzt für Psychiatrie, Psychotherapie; Chefarzt der Abteilung Suchtmedizin der LWL-Klinik und des LWL-Rehabilitationszentrums Ostwestfalen, Bernhard-Salzmann-Klinik, Gütersloh
Dr.med. Carl Leibl, Facharzt für Psychiatrie, Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, stellvertretender Ärztlicher Direktor der Medizinisch-Psychosomatischen Klinik Roseneck, Prien am Chiemsee
Dr.med. Lisa Pecho, Fachärztin für psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Ärztliche Leitung von ANAD® e.V., München
Udo Pollmer, Lebensmittelchemiker, Leiter des Europäischen Instituts für Lebensmittel- und Ernährungswissenschaften e.V. (EU.L.E.)
Elke Raatz, Diplom-Sozialpädagogin, Sozialarbeiterin, Berlin
Dr.med. Wally Wünsch-Leiteritz, Leitende Oberärztin der Klinik Lüneburger Heide in Bad Bevensen, Fachärztin für Innere Medizin/Psychotherapie/Ernährungsmedizin, Vorstandsmitglied des Bundesfachverbands Essstörungen (BFE)
ferner neun Beiträge und mehrere Zeichnungen von Betroffenen
für »Maxl«,
für meinen geliebten Mann
und alle, die mir
mit Rat und Tat
beim Schreiben
zur Seite standen
Ein Vierteljahrhundert ist vergangen, seit dieses Buch erstmals erschien. Es war ein vergleichsweise schmales, kleines Bändchen mit gerade mal 256 Seiten. Aber es war das erste Werk in Europa zu diesem speziellen Thema. Im Laufe der Jahre ist das Buch größer und dicker geworden, ganz im Gegensatz zu mir, seiner Autorin, und nun ist es ein Buch unter vielen. Zahllose Ratgeber zu Essstörungen ergänzen die vielfältigen Hilfsangebote, von denen Betroffene in den achtziger Jahren nur träumen konnten.
Aus einzelnen Initiativen hat sich ein relativ engmaschiges Netz von kompetenten Beratungsinstitutionen herausgebildet. Nach und nach haben sich zahlreiche Therapeuten, Kliniken und Behandlungszentren auf Essstörungen – vorrangig Magersucht und Ess-Brech-Sucht – spezialisiert. Zwei Jahrzehnte hat es gedauert, bis Essstörungen als Krankheit und als gesellschaftliche Herausforderung erkannt und allgemein ernst genommen wurden. Erst Mitte der neunziger Jahre begannen die Krankenkassen, sich mit Aufklärung und Prävention zu engagieren. Möglicherweise wurden sie auch durch die teuren Folgeschäden dazu motiviert: 319 Millionen Euro jährlich sollen die Behandlungs- und Folgekosten von Mager- und Ess-Brech-Sucht[1] kosten.
Kein Wunder, dass auch dann endlich die Politik die Thematik für sich entdecken konnte. Zu einem vielbeachteten Essstörungsgipfel luden Ende 2007 die deutschen Bundesministerinnen Ulla Schmidt, Ursula von der Leyen und Annette Schavan ein – drei prominente Damen also, die bis dato nicht unbedingt durch verstärktes Interesse an Essstörungen aufgefallen waren. Auf einer publikumswirksamen Medienveranstaltung wurde unter der Überschrift »Leben hat Gewicht – gemeinsam gegen den Schlankheitswahn« für Prävention geworben und angekündigt, den Dialog mit der Textil- und Modebranche aufzunehmen. Diese sehen Fachleute als Mitverursacher von Essstörungen, denn Jugendliche lassen sich auf der Suche nach einer unverwechselbaren Identität von Bildern leiten, und nirgendwo findet man so viele ausgemergelte, hohläugige Gestalten wie unter Mannequins. Die Faszination für Castingshows wie Heidi Klums »Germany’s Next Top Model« zeigt, dass zahllose Teenager im Modeln einen glamourösen Traumjob wähnen – und bereit sind, dafür ihre Gesundheit aufs Spiel zu setzen.
Tatsächlich unterzeichneten am 11. Juli 2008 in Berlin Verantwortliche der deutschen Textil- und Modebranche, anscheinend geläutert, eine Nationale Charta gegen Essstörungen, eine elf Punkte umfassende Selbstverpflichtung, in der es hieß: »Mit der Charta möchte die deutsche Modebranche ein klares Zeichen setzen. Ziel ist es, durch ein gemeinsames Engagement die Öffentlichkeit für ein gesundes Körperbild zu sensibilisieren und einen Bewusstseinswandel in Gang zu setzen.«
Keine drei Wochen später bildete ein Foto, das durch die Presse ging, vier hochgewachsene langbeinige Modells auf der Igedo Fashion Fair ab. Aufreizend präsentierten sie Dessous, oder vielmehr ihre ver- beziehungsweise enthüllte gertenschlanke Rückfront, Kleidergröße geschätzt: 36. Gut Ding will Weile haben.
Dennoch: Deutschland ist langsam aufgewacht. Andere europäische Länder hatten den Kampf gegen den Schlankheitswahn, minderjährige Magermodels auf dem Catwalk und die Un-Größe »Size Zero« längst aufgenommen, allen voran Spanien. Zwar hatte die britische Ministerin Tessa Jowell schon 2001 eine Kampagne gegen Mager- und Ess-Brech-Sucht im Königreich gestartet und Regierungsmitglieder, Modemacher, Chefredakteure von Frauenzeitschriften und Ernährungswissenschaftler zu einem Gipfeltreffen eingeladen. Nur blieb der Erfolg zunächst aus: Die Herausgeber der führenden Mode- und Frauenzeitschriften, u.a. »Vogue«, distanzierten sich umgehend von den Zielen der Kampagne. Acht Jahre später sprach sich Alexandra Shulman, die Chefin der britischen »Vogue«, öffentlich gegen »Größe-Null-Models« aus. Pikant dabei: Es soll ihre Kollegin Anna Wintour, Chefredakteurin der amerikanischen »Vogue«, gewesen sein, die ehedem diese Hungerleidergröße für Models erst durchgesetzt hatte. Im Handel sucht man »Size Zero« vergeblich – sie entspricht Kleidergröße 32.
Als 2006 Spaniens Behörden Magermodels mit einem Body-Mass-Index (BMI) von weniger als 18 Auftrittsverbot bei der Madrider Modewoche Pasarela Cibeles erteilten, applaudierte Jowell öffentlich und empfahl Ähnliches für die Londoner Modewoche. Anders als im spanischen Madrid und im italienischen Mailand, wo seit Ende 2006 der Laufsteg für Models unter 16 Jahren und solche mit einem BMI unter 18,5 tabu ist, wollten die britischen Veranstalter keine rigiden Vorgaben machen. Immerhin baten sie die Designer, nur »gesunde« Models auftreten zu lassen. Zur Jahreswende 2007/2008 veröffentlichte dann der British Fashion Council einen Aktionsplan gegen den Schlankheitswahn. Seine Kommission »Model Health Inquiry« legte 14 unverbindliche (!) Empfehlungen vor, um die Gesundheits- und Arbeitssituation von Models zu verbessern.
Die französische Modebranche dagegen verpflichtete sich 2008 freiwillig, keine extrem dürren Modells mehr zu engagieren, und unterzeichnete in Paris eine Charta gegen Magersucht. Auch Vertreter der Medien und aus der Werbung unterschrieben darin, keine Bilder mehr zu verbreiten, die den Schlankheitswahn fördern. Etwa gleichzeitig erließ Frankreich außerdem ein Gesetz, das die »Anstiftung zur Magersucht« mit bis zu zwei Jahren Haft und 45 000 Euro Geldbuße bestraft – eine beispielhafte Initiative, auch wenn es vermutlich schwer möglich sein dürfte, in der Praxis eine solche Anstiftung nachzuweisen und zu ahnden.
Und auch Deutschlands Nachbar Österreich gehört zu den Pionieren im Kampf gegen Essstörungen. Anfang 2007 startete die Stadt Wien »S-O-Ess« – sie wurde als erste europäische Stadt initiativ gegen krankmachende Vorbilder und für gesundheitsfördernde Maßnahmen. Das Kampagnen-Motto: »No BODY is perfect«. Und schon drei Monate später lief österreichweit das Projekt »Wenn die Seele hungert« an, mit dem die Bevölkerung für Essstörungen sensibilisiert und Lobbyarbeit geleistet werden soll. Beteiligt sind daran auch Österreichs Gesundheitsministerin und Wiens Frauengesundheitsbeauftragte.
Schließlich erreichte Ende 2009 die verblüffte deutsche Leser- und Anhängerschaft der Frauenzeitschrift »Brigitte« erstaunliche Kunde: »Wir werden ab 2010 nicht mehr mit Profimodels arbeiten«, verlautbarte aus der Chefredaktion jenes Magazins, das jahrzehntelang auf unnachahmliche Weise Widersprüchliches innerhalb eines Heftes vereinte: Kochrezepte und (Brigitte)Diäten zum Beispiel, Aufklärung über Essstörungen und ultimative Tipps zum Abnehmen … Skeptiker unkten, hinter der Kampagne gegen Magermodels stecke eine Marketing-Idee, denn Frauenzeitschriften kämpfen seit zwei Jahrzehnten gegen sinkende Auflagen – vielleicht auch eine Folge des Überdrusses an personifizierten weiblichen Kleiderständern, die sich fast zu Tode hungern, um dann in den Grafikabteilungen der Redaktionen per Bildbearbeitungssoftware wieder gesündere Rundungen verpasst zu bekommen.
Die gesamte Branche sei magersüchtig, ereiferte sich »Brigitte«-Chefredakteur Andreas Lebert, die meistgelesene deutsche Frauenzeitschrift wolle mit dieser Initiative ein Zeichen setzen gegen den Zwang zur Magersucht in der Modebranche. Ach ja, wie sagte doch Veronika Pelikan, langjährige Chefredakteurin und Herausgeberin des österreichischen Frauenmagazins »Die Wienerin« dereinst so richtig? »Mit der Auswahl unserer Models tragen wir dazu bei, dass Magerkeit nicht länger als ästhetisches Ideal propagiert wird – und junge Mädchen zum gefährlichen Experiment mit dem eigenen Körper nicht auch noch von Medien animiert werden.« Übrigens: Wer die »Brigitte« abonniert, kann sich als Werbeprämie eine Waage aussuchen!
Manches hat sich nicht, doch vieles hat sich geändert in diesen 25 Jahren; besonders in der letzten Dekade ist Entscheidendes in Gang gekommen. Am Anfang standen ein paar Handvoll Einzelkämpferinnen (weiblich), die sich persönlich für Menschen mit Essstörungen und die Aufklärung über deren »typisch weibliche Krankheit« einsetzten. Sie steckten viel Energie in den Aufbau von Beratungseinrichtungen und Netzwerken, und sie putzten fleißig Klinken, um eine Mindestfinanzierung ihrer wichtigen Projekte sicherzustellen.
Mit dem Öffentlichwerden von Essstörungen verschob sich manches Gewicht. Die Pionierinnen auf diesem Gebiet traten nach und nach ab, manche von ihnen sind inzwischen in Vergessenheit geraten. Wer nachrückte, waren nicht selten titelgeschmückte Experten (männlich). Und: Essstörungen wurden zu einem beliebten Forschungsgegenstand.
2006 konstituierte sich eine wissenschaftliche Institution, die Deutsche Gesellschaft für Essstörungen (DGESS), um »in unterschiedlichen Fachdisziplinen ausgewiesene wissenschaftliche und klinische Kompetenz« zu bündeln – und vermutlich auch leichter an Forschungsgelder heranzukommen. Die bisherige Fachkompetenz – erfahrene und geschulte Kräfte aus der Praxis, vorrangig damals aus Beratungsstellen – hatte seit 1994 im nun vorübergehend doch leicht irritierten Bundesfachverband Essstörungen (BFE) gewirkt und sich mit Fragen der Prävention, der Therapie und Rehabilitation, aber auch der Forschung befasst. Nicht zuletzt die forcierte Anwerbung psychosomatischer Fachkliniken als Verbandsmitglieder festigte wohl das Selbstverständnis des BFE als einer Institution, die nicht abgedrängt wurde, sondern eine ihrer Hauptaufgaben darin sieht, wissenschaftliche Erkenntnisse in die Praxis umzusetzen und professionelle Öffentlichkeitsarbeit zu leisten.
Essstörungen sind nach und nach als gesellschaftliches Problem begriffen worden, das inzwischen eine kleine Lobby hat. Aus »Betroffenen« sind »Patienten« geworden. Das signalisiert zum einen die gewandelte Einstellung zu dieser schwerwiegenden Störung – sie ist eine anerkannte Krankheit. Zum anderen ist die Beziehung zu den Erkrankten klar definiert. Nicht (nur) Mitfühlen ist angesagt, sondern fundierte Behandlung. Essstörungen werden ernst genommen und haben aus schwer erklärlichen Gründen sogar das Stigma der typischen Frauenkrankheit verloren. Denn wie vor zweieinhalb Jahrzehnten beträgt der geschätzte Frauenanteil 90 bis 95 Prozent. Nach wie vor hat das Risiko, an einer Essstörung zu erkranken, sehr viel mit weiblicher Sozialisation zu tun. Wenn Jungen und Männer an dieser Störung erkranken, benötigen sie selbstverständlich ebenso Hilfe wie Mädchen und Frauen. Aber es erscheint schon beunruhigend, wenn sich der Fokus verstärkt auf eine Minderheit richtet und so womöglich aus dem Blick verloren geht, dass Frauwerden und Frausein noch immer nicht die selben Chancen und Möglichkeiten eröffnet wie das Leben als Junge und Mann.
Es war keine Geringere als die Therapeutin Susie Orbach, die Pionierin der Anti-Diät-Bewegung, die in den Achtzigern analysierte: »Das hyperdünne Schönheitsideal fällt so präzise mit dem Erstarken der feministischen Bewegung zusammen, dass Misstrauen geboten ist. Es fällt schwer, in dieser ›Ästhetik der Dürre‹ nicht einen bewussten oder vielleicht auch unbewussten Versuch zu sehen, auf die Forderung von Frauen nach mehr Raum in der Welt zu kontern.«[2]
Dieses Buch ist das Resultat einer mehrjährigen intensiven journalistischen Recherche über das Phänomen süchtigen Essens und Erbrechens, das in der Wissenschaft als »Bulimia nervosa« bezeichnet wird und für das sich die Bezeichnung »Bulimie« eingebürgert hat. Gelegentlich wird in Analogie zur Anorexie (Magersucht) auch der Begriff »Bulimarexie« verwendet.
Durch Gespräche mit vielen hundert Frauen gewann ich den Grundstock der Erkenntnisse, die hier wiedergegeben sind. Bewusst habe ich mich Anfang der achtziger Jahre, als ich das Buch verfasste, zum Sprachrohr für die Betroffenen gemacht und auf die Praxis verzichtet, durch zahlreiche Quellen mein Wissen zu untermauern. Erste Priorität hatte für mich die Authentizität – das, was ich persönlich über das Leid der Ess-Brech-Süchtigen von ihnen selbst erfahren konnte. Darüber hinaus war es seinerzeit mit dem Wissen über Essstörungen im Allgemeinen und die Ess-Brech-Sucht im Besonderen nicht weit her. Die Erkenntnisse, die seither gewonnen wurden, sind selbstverständlich mit in den Text eingeflossen. Mit den Jahren sind auch viele neue Aspekte hinzugekommen, die ich berücksichtigt habe.
Ich habe versucht, das Phänomen Ess-Brech-Sucht aus möglichst vielen Perspektiven zu beleuchten, und habe deshalb zu einzelnen Themenkomplexen Experten um Beiträge gebeten. Natürlich kommen auch die Betroffenen mit Aufsätzen und Erfahrungsberichten selbst zu Wort. Zusammenhänge tiefer zu hinterfragen, Verhaltensweisen zu analysieren und Therapieansätze darzustellen habe ich zum Teil den ausgewiesenen Fachleuten und Praktikerinnen und Praktikern überlassen. In der vorliegenden Ausgabe ist der aktuelle Wissensstand wiedergegeben, und es sind neue Beiträge eingefügt.
Mein Buch richtet sich in erster Linie an die Betroffenen selbst, daneben an all jene, die mit ihnen in irgendeiner Weise zu tun haben. Mein Buch kann, darf und soll Maßnahmen von psychologischer oder ärztlicher Seite für die Ess-Brech-Süchtigen keineswegs ersetzen. Es sollte ergänzend wirken und dazu beitragen, das gegenseitige Verständnis zu fördern.
Bulimarexie ist eine überaus ernste psychosomatische Erkrankung mit Suchtcharakter. Als die ersten schweren Fälle bekannt wurden, ging man davon aus, diese Krankheit sei nicht heilbar und könne nur zu einem Stillstand gebracht werden. Erfreulicherweise war diese Annahme ein Irrtum: Ess-Brech-Sucht ist heilbar, aber der Weg hinaus ist lang, beschwerlich, von Rückschlägen gekennzeichnet und fordert den ganzen Einsatz der Betroffenen. Der Heilungsprozess kann sich über ebenso viele Jahre erstrecken wie die Sucht selbst.
Mit meinem Buch möchte ich den Betroffenen Wege zur Hilfe und Selbsthilfe aufzeigen und zu einer ersten Orientierung beitragen. Jeder Ess-Brech-Süchtigen muss klar sein, dass ihre einzige Chance im Handeln liegt, nicht in der passiven Erwartungshaltung. Wo die Mitarbeitsbereitschaft fehlt, wo Passivität sich breitmacht, kann kein Arzt, kein Psychologe, kann niemand der Kranken helfen. Doch auch wenn die Betroffene aktiv und fordernd Hilfe sucht, können ihr Fachleute nur den Weg weisen. Gehen muss sie ihn schließlich allein.
In diesem Buch ist fast ausschließlich von Frauen die Rede; Männer treten nur ganz am Rand in Erscheinung. Das hat seinen Grund: Im Verlauf meiner Recherchen erkannte ich Bulimia nervosa nur bei einem halben Dutzend Männern. Meine Vermutung, dass diese psychische Erkrankung vorrangig bei Mädchen und Frauen auftritt, hat sich bestätigt. Wissenschaftler schätzen, dass nur fünf, maximal zehn Prozent der Betroffenen männlich sind. Wenn Medien berichten, dass »immer mehr« Männer an Essstörungen leiden, suggeriert dies eine Dynamik, die noch keine seriöse Studie nachweisen konnte.
Mein Erklärungsansatz ist ein anderer: Das Phänomen gestörten Essverhaltens ist längst als Krankheit erkannt und nicht mehr stigmatisiert. Deshalb bringen mehr Menschen den Mut auf, sich zu ihrem Problem zu bekennen. Nicht eine Epidemie, sondern das Öffentlichwerden bewirkt, dass auch essgestörte Jungen und Männer die Hemmschwelle überwinden und professionelle Hilfe suchen. Es ist also nicht der Anteil der männlichen Betroffenen drastisch gestiegen, wie oft suggeriert wird, sondern die Zahl derjenigen, die sich zu ihrer Essstörungen bekennen. Ein Großteil des Zuwachses erklärt sich mit dem Comingout-Effekt.
Dass fast ausschließlich Frauen vom Essen abhängig werden, liegt wohl in erster Linie an geschlechtsspezifischen Rollenzwängen, Rollenkonfusionen, einem unrealistischen und kaum erreichbaren Schönheitsideal und konventionellen Erziehungsmustern. Typisch weibliche »Qualitäten« wie Anpassungsfähigkeit, Einfühlsamkeit, Selbstlosigkeit, Weichheit begünstigen die Kompensation von innerpsychischen Konflikten durch Essen und Erbrechen. Trost bei der Nahrung zu suchen gilt als schwach und typisch weiblich. Solches Verhalten harmoniert nicht mit dem gängigen Männlichkeitsideal. Traditionell flüchten Männer eher in den Alkohol oder greifen zu Drogen.
Wovon Menschen, die für süchtiges Verhalten disponiert sind, abhängig werden, hängt u.a. mit familiären Faktoren, mit der Erziehung, der Sozialisation und der Verfügbarkeit der Droge zusammen. Mit einem sich wandelndem männlichen Rollenbild (weicher, sensibler, partnerschaftlicher), mit dem wachsenden Gesundheits-, Körper- und Schönheitsbewusstsein des Mannes wird aber auch Essstörungen wie Mager- und Ess-Brech-Sucht bei Männern der Boden bereitet. Und die Medien, die Werbebranche und die Modeindustrie arbeiten kräftig daran mit.
Der soziale Druck durch ein rigides Schlankheitsideal auf männliche Jugendliche und Männer ist zwar vergleichsweise gering. Aber beispielsweise dort, wo sportliche Leistung davon abhängt, wie wenig man(n) auf die Waage bringt, lauert die Gefahr. Sportler erleben ihren Körper als ein Instrument, das sie beherrschen und kontrollieren müssen, und sind zwangsläufig stark körperfixiert. Sie unterziehen sich, wie viele Frauen, Diäten. Das weibliche Schlankheits- und Schönheitsideal findet im Körperideal mancher Sportarten eine spezifische, männliche Entsprechung, etwa bei Jockeys, Boxern, Läufern, Skispringern und Schwimmern. Von hier ist der Weg nicht weit bis zur Fixierung auf Figur oder Gewicht und Essen – ein Leitsymptom jeder Essstörung. Bestimmte Persönlichkeitsmerkmale wie mangelndes Selbstbewusstsein, Perfektionismus, starke Leistungsorientierung, aber auch Rollenkonfusionen und Probleme mit der männlichen Identität erhöhen das Risiko, über dem Streben nach dem Ideal mager- oder ess-brech-süchtig zu werden.
In der Überflussgesellschaft prallen die Gegensätze hart aufeinander: Dem Ideal, schlank zu sein, steht ein Überangebot von Lebensmitteln gegenüber. Nie zuvor gab es so einen hohen Anteil von Menschen mit Übergewicht. Nur ein Drittel der männlichen und weniger als die Hälfte der weiblichen Bevölkerung hat Normalgewicht. Figur und Gewicht sind äußere Gradmesser für den Erfolg und die gesellschaftliche Attraktivität des Einzelnen. Auch wenn Sinn und Unsinn von Diäten öffentlich diskutiert werden, ist Schlanksein doch wichtiger denn je. Der kollektive Schlankheitswahn fordert seine Opfer. Mehr und mehr Menschen büßen die Lust am Essen ein und machen sich das Abnehmen zur Lebensaufgabe. Nur Aufklärung kann dazu beitragen, dass dieser Irrsinn nicht noch mehr Opfer fordert. Denn am Anfang jeder Ess-Brech-Sucht stand das zwanghafte Bemühen, abzunehmen.
Hunger, der aus dem Hirn kommt, ist stillbar – doch Essstörungen sind nicht nur ein individuelles Problem, sondern eine gesellschaftliche und politische Herausforderung. Es müssen weitere Hilfsangebote geschaffen und staatlich gefördert werden. Es kann nicht angehen, dass niederschwellige und bewährte Projekte wie etwa das Internetforum »Ess-stoerungen.net« um öffentliche Mittel ringen müssen und die Zahl spezialisierter Beratungsstellen in keinem Verhältnis zur Zahl der Betroffenen steht. Forschung, Aufklärungsarbeit und Prävention müssen intensiviert und finanziert werden. Prävention bedeutet unter anderem, die gesetzlich garantierte Gleichstellung von Frau und Mann gesellschaftlich umzusetzen und Frauen Autonomie zu ermöglichen.
Leider bildet sich nur sehr zäh ein politisches Bewusstsein für diese Probleme heraus, und der Umsetzung vieler positiver Ansätze stehen nicht zuletzt harte wirtschaftliche Interessen entgegen. Das Kreisen um Essen, Figur und Gewicht bindet enorme Energien und lässt an vielen Stellen den Rubel rollen. Wenn sich junge Mädchen und Frauen dieser Zusammenhänge nicht bewusst werden und kritiklos dem Schlankheits- und Schönheitskult anhängen, profitieren davon zahllose Interessensgruppen, Konzerne und Wirtschaftsunternehmen: Herausgeber von Mode- und Frauenzeitschriften, Diät- und Kochbüchern, Hersteller von Lightprodukten, Diätlebensmitteln und anderen »Schlankmachern«, die Süßwaren-, die pharmazeutische, die Mode- und die Kosmetikindustrie, Fitnessstudios, Schönheitschirurgen …
Die Fakten alarmieren:
50 Prozent aller Elfjährigen hat sich schon mit Diäten beschäftigt,
25 Prozent aller Mädchen unter zwölf haben Diäterfahrungen, die Jüngsten von ihnen sind gerade im Einschulungsalter,
56 Prozent der Dreizehn- und Vierzehnjährigen wollen dünner sein,
40 Prozent der normal- und untergewichtigen Mädchen zwischen 14 und 19 Jahren empfinden sich selbst als zu dick,
50 Prozent aller Jugendlichen bis 18 Jahre haben schon eine Diät gemacht,
95 Prozent aller Diäten funktionieren nicht,
90 Prozent aller Frauen möchten gern abnehmen,
70 bis 80 Prozent der Frauen essen sich aus Angst, zu dick zu werden, nie richtig satt,
77 Prozent aller Frauen haben nicht ihre Traumfigur,
25 Prozent aller Frauen leidet unter Ansprüchen, die andere an ihr Aussehen stellen,
10 Prozent aller Dünnen empfinden sich noch als zu dick,
gerade mal ein Prozent aller Frauen ist zufrieden mit ihrer Figur,
nur 16 Prozent aller Frauen sind medizinisch gesehen zu dick
22 Prozent der Jugendlichen zwischen 11 und 17 Jahren zeigen Symptome eines gestörten Essverhaltens,
bis zu fünf Prozent aller Zwölf- bis Fünfundreißigjährigen leiden an Ess-Brech-Sucht.
Diäten sind die Einstiegsdroge für Essstörungen. Wird Essen zur Droge, Erbrechen zum Zwang und die Figur zur Messskala des Selbstwertgefühls, dann braucht die Seele Balsam, der Mensch Verständnis. Wer eine Ess-Brech-Süchtige für ihre Symptome verurteilt, fördert ihren un(ter)bewussten Todeswunsch. Mit prallem Bauch und dem Kopf über der Kloschüssel sterben die Kinder des Wohlstands dem schizophrenen Ziel der Idealfigur entgegen. Wen sollte es wundern, dass eine Gesellschaft, die sich krankhaft normt, ihre Opfer, nicht aber sich selbst als gestört wahrnimmt?
Maja Langsdorff
Sie wissen nicht, was es ist. Sie wissen nicht, woher es kommt. Sie wissen nicht, was dagegen tun: Immer mehr Frauen essen süchtig. Sie unterliegen einem unkontrollierbaren Zwang, der sie dazu treibt, Nahrung in unglaublichen Mengen in sich hineinzuschaufeln und anschließend alles wieder über der Kloschüssel künstlich zu erbrechen. Diese Frauen verzweifeln an sich selbst. Sie leiden an einem unstillbaren Hunger und wollen doch im Grunde genommen gar nicht essen. Für sie ist der Satz aus Goethes Schauspiel »Faust« (1) grausame Realität und Drehpunkt ihres Lebens: »Zwei Seelen wohnen, ach!, in meiner Brust.«
Auf »Brust« reimt sich »Lust« und »Frust«. Die »Lust« der Esssüchtigen ist der ständige und unbeherrschbare Drang, essen zu müssen. Ihr Frust ist das Perverse ihres Handelns: die Sinn- und Verantwortungslosigkeit zu essen mit dem Vorhaben, danach zu erbrechen. Diese Frauen kranken an einer Sucht, die lange Jahre einfach als Unbeherrschtheit abgetan wurde. Laien tun sich schwer, hinter dem übersteigerten Essbedürfnis den eigentlichen Hunger wahrzunehmen und das Verhalten als Ausdruck seelischen Verhungerns zu verstehen. Fachleute diskutieren, was hinter dem unheimlichen Zwang steht: eine narzisstische oder ethische Störung, eine Borderline-Störung, eine Verhaltensstörung, eine tatsächliche, nicht stoffgebundene Sucht, eine erschreckende Modeerscheinung, die zur Nachahmung anregt …
Die Mädchen und Frauen mit den Idealfiguren und dem Hunger im Hirn leiden an der psychischen Erkrankung, der man den Namen »Bulimia nervosa« oder »Bulimarexie« gegeben hat. Für diese Erscheinung hat sich der Begriff »Bulimie« eingebürgert, der die Symptomatik unkorrekt beschreibt. »Bulimie« bedeutet eigentlich Heißhunger oder Essgier und ist nicht zwingend mit dem Symptom des Erbrechens gekoppelt. Daher wird in diesem Buch der Begriff »Bulimie« kaum und in Anführungszeichen verwendet.
So hilflos selbst die nächsten Angehörigen oft den Ess-Brech-Süchtigen gegenüberstehen, so aufschlussreich ist der Name ihrer Erkrankung, schlüsselt man ihn einmal auf. »Bulimia« leitet sich aus dem Griechischen von »bous« (Ochse) und »limos« (Hunger) ab. »Bulimie« bedeutet also »Stierhunger«, im übertragenen Sinn »verzehrender Hunger«. Es ist bezeichnend, dass schon hier die erste Fehlinformation auftaucht. Denn wenn jemand anfängt, »zu fressen wie eine Gehirnamputierte« (Ausspruch einer Mutter), dann hat dies mit Hunger nur noch im weitesten Sinn zu tun. Die Betreffende möchte in Wirklichkeit satt sein. Doch sie hungert nicht unbedingt nach Nahrung, sondern nach Inhalten, Aufgaben und Anerkennung. Sie sucht Liebe, Gefühle und einen tieferen Sinn in ihrem Leben. Es hungert nicht der Körper, sondern die Seele. Und hier greift die Erkrankte zum falschen Mittel: Sie füttert ihren Körper, um satt zu werden. Sie missdeutet die Signale ihrer Psyche und dämpft sie auf physische Weise. Das Essen wird zur Sucht, die Nahrungsaufnahme motorisch. Wenn die Gedanken einer Frau nur noch um das eine Thema »Essen« kreisen, dann darf man nicht mehr von Hunger sprechen.
Wer am »Stierhunger« leidet, erlebt Essen und Erbrechen fast immer als eine Einheit. Das Erbrechen, das mit dem Finger, einem Löffel oder durch einfaches Würgen provoziert wird, ist für die Ess-Brech-Süchtige ein unbedingtes Muss, die Konsequenz ihres Heißhunger-Anfalls. Was einmal am Krankheitsbeginn das einfachste Mittel war, zu essen und trotzdem schlank zu bleiben, wird im Verlauf der Suchterkrankung zum programmierten Symptom. Essen und Erbrechen, diese beiden Symptome, treten bei Bulimarexie vordergründig am deutlichsten in Erscheinung. Da Essen etwas Lebensnotwendiges und völlig normal ist, die Möglichkeit aber, künstlich zu erbrechen, als pervers angesehen wird, verheimlichen die Betroffenen aus Scham meist lange Zeit ihr Verhalten. Bis zum Beginn einer Therapie verstreichen oft vier bis sieben Jahre, und vier von fünf Betroffenen scheuen davor zurück, sich in Behandlung zu begeben. Die Sucht nach Essen und Erbrechen erzeugt einen enormen Leidensdruck. Welche Gefühle Ess-Brech-Süchtige bewegen, wird deutlich, wenn sie in eigenen Worten beschreiben, wie sie sich und ihre Symptome erleben.
Die zweiundzwanzigjährige Studentin Anneliese S. wiegt 53 Kilogramm bei einer Körpergröße von 1,64 Meter. Wie eine Verhungerte sieht sie also nicht aus. Ihre »Gedanken über meine Bulimarexie« lesen sich sehr viel anders:
»Ich denke den ganzen Tag ständig nur ans Essen. Es ist das Wichtigste in meinem Leben. Doch es sind keine schönen Gedanken. Das Essen macht mir Angst. Es bedroht mich. Abends überlege ich mir schon, was ich am nächsten Tag essen darf, um nicht zuzunehmen. Morgens gilt mein erster Blick dem Gewichtsanzeiger der Waage, ob ich mein Idealgewicht noch habe. Abends und manchmal sogar tagsüber kontrolliere ich zusätzlich das Gewicht. Ich habe Angst vor der Gewichtszunahme, als ob alles vom Schlanksein abhängen würde … Zurzeit überfällt mich jeden zweiten Tag ein Heißhungergefühl, und ich fresse alles in mich hinein. Ich verspüre dabei nie ein Sättigungsgefühl und futtere alles in mich hinein, bis mir schlecht ist. Ich durchstöbere alle Schränke, wo ich u.a. Süßes finden kann. Aber ich bin auch zur Not mit anderem zufrieden. Butterbrote, Käse, Nüsse, Müsli. Alles, was da ist, wird verschlungen. Kauen tue ich dann meistens nicht mehr richtig. Danach bekomme ich bald keine Luft mehr, so dass ich mich fast zwangsläufig übergeben muss, und breche fast alles wieder heraus.
Dann fühle ich mich im ersten Moment befreit. Aber bald mache ich mir die ersten Gewissensbisse und bekomme Schuldgefühle. Ich frage mich, warum hast du das getan, aber ich finde keine Antwort.«
Und, wie es den meisten Frauen geht, die solche Anfälle kennen und oft jahrelang durchleben, bleibt ihnen die Antwort erspart, wenn ein neuer Anfall, eine zweite, dritte, vierte Orgie stattfindet. Die Pausen zwischen den einzelnen Fressanfällen dauern zwischen wenigen Minuten und einigen Stunden. Das Essen selbst wird immer weniger als Genuss empfunden. Gegen Ende eines Tages gönnen sich Ess-Brech-Süchtige selbst kleinste Mengen »wertvoller« Nahrung nicht mehr, sie »wüten« immer bestialischer zwischen Kühlschrank und Toilette. Natürlich kann ein Mensch, der nie unter Essstörungen gelitten hat, kaum nachvollziehen, was eine Ess-Brech-Süchtige in diesen teuflischen Kreislauf von Essen und Erbrechen treibt, wenn sie doch nicht den Hunger im eigentlichen Sinn verspürt, und auf ein Mal »Sündigen« kommt es doch wirklich nicht an.
Das Gefühl, mit dem Essen nicht mehr aufhören zu können, hat fast jede/r schon erlebt, in der Regel dann, wenn etwas besonders gut geschmeckt hat. Solches Schwelgen in Genüssen aber ist nicht die Triebfeder der Essgestörten. Sie handeln unter einem inneren Zwang, der meistens dazu dient, etwas zu kompensieren oder eine unerträgliche Spannung abzubauen, und dieser Zwang tritt anfallsartig auf.
Generell kann man zwei Arten von »Fressorgien« unterscheiden. Die eine ist die ungewollte, die mit einem Kontrollverlust einhergeht, der während der Mahlzeit zu einem bestimmten Zeitpunkt auftritt. Die andere ist die geplante »Fressorgie«, wobei hier wieder unterschieden werden muss zwischen dem bewusst geplanten Fressen und einer Gelegenheit, die sich zufällig und günstig ergibt. Um diese Unterschiede zu verstehen, muss man wissen, was für Lebensmittel eine Esssüchtige vorzugsweise zu sich nimmt.
Die ess-brech-süchtige Frau fällt in jeder Hinsicht beim Essen in Extreme. Während sie in Phasen, in denen sie symptomfrei ist oder zumindest nicht mit Anfällen rechnet, auffallend darum bemüht ist, sich gesund zu ernähren, verschlingt sie in den schwachen Minuten fast ausschließlich Lebens- oder Genussmittel, die sie sonst nie auf ihren Speisezettel setzen würde, weil sie ungesund sind und/oder dickmachen.
Der Anfall, der mit einem Kontrollverlust einhergeht, setzt während einer gesunden und »erlaubten« Spatzenmahlzeit ein, bei der die Betreffende aus Versehen die Grenze dessen überschritten hat, was sie sich selbst zugestehen kann. Schon eine Nudel zu viel, ein halber Apfel oder ein Stückchen Schokolade können dazu führen, dass sie beginnt, alles Greifbare zu verschlingen, immer schneller und gieriger. Die Esssüchtige empfindet zu Beginn des Essens – wenn sie noch voller guter Vorsätze ist – echten Genuss. Sie kostet jeden Krümel, jedes Bröckelchen voll aus und gönnt sich etwas. Ohne es rechtzeitig zu registrieren, überschreitet sie beim Schlemmen irgendwann eine magische Grenze, die individuell schwankt. Ab diesem Punkt ist der Aspekt des Genusses vergessen. Was danach abläuft, ist das Ausleben der Sucht, die Gier nach immer mehr, ein plötzliches Schaufeln gegen das Verhungern.
Die 31 Jahre alte Karola F. leidet seit ihrem 18. Lebensjahr an derartigen Attacken, die sie voller Angst erlebt. Sie hat, wie sie selbst sagt, »bei Fressanfällen das Gefühl totaler Ohnmacht. Das Fressen ist begleitet von dem Gefühl, nie mehr aufhören zu können, nicht genug kriegen zu können. Geschmack wird nur oberflächlich wahrgenommen – bin in extremen Fällen schon zu Mülltonnen (!) gegangen.«
Der Aspekt des Nicht-genug-kriegen-Könnens wird besonders deutlich bei den ungewollten Fressanfällen. Im Grunde genommen wollte die essgestörte Frau eigentlich nur »ein bisschen was« zu sich nehmen. Da sie aber nun schon die Kontrolle über sich verloren hat, ist sie nur mehr von einem einzigen Gedanken beherrscht: die Besessenheit des »wenn schon – denn schon«. Es ist für sie ein unerträglicher Gedanke, sich allein wegen der »wertvollen« Nahrung den Finger in den Hals zu stecken, von der sie versehentlich ein paar Happen zu viel zu sich genommen hat. Also ist sie im Zugzwang. »Es muss sich doch auch gelohnt haben«, dröhnt es in ihrem Hirn. Und sie beginnt unter Zeitdruck zu handeln. Immer schneller und schneller, unter immer stärkerem Zwang schaufelt sie alles in sich hinein, was sie findet, unvorstellbare Mengen. Zunächst Essen, das sie wirklich mag, später (wie bei Karola) sogar das, was schon im Abfall gelandet war.
Die Suchtkranke »isst« oder »frisst« nicht während ihres Anfalls, sie füllt sich regelrecht ab, egal wie, und am Ende sogar egal womit. Was eintritt, ist kein Sättigungsgefühl, sondern Übelkeit. Je länger und je mehr die Süchtige sich vollstopft, desto größer wird ihr Verlangen auf immer noch mehr. Erst wenn ihr im wahrsten Sinne alles »bis zum Hals steht«, schleppt sie sich mit überfülltem Magen und letzter Kraft zur Toilette.
Nicht viel anders läuft eine geplante Fressorgie ab. Sie setzt direkt mit dem Kontrollverlust ein, und zwar entweder bereits beim Essen »minderwertiger« Nahrungsmittel, oder sie wird sehr bewusst vorausgeplant, um nicht in die unerträgliche Situation zu kommen, nicht genügend im Hause zu haben und schon vorzeitig – bevor es sich also »gelohnt« hat – mit dem Herauswürgen beginnen zu müssen.
Unter mehrmaligen Fress-Brech-Taumeln pro Tag leidet auch die einundzwanzigjährige Grafikerin Maria J. Seit fünf Jahren lebt sie damit mehr schlecht als recht. Die vorgeplanten Fressanfälle haben sich bei ihr erst unmerklich eingeschlichen, dann im Lauf der Zeit als einziges Mittel etabliert, ihren unzähmbaren »Hunger« zu stillen. Man sieht es ihr nicht an. Maria hat bei 1,76 Meter Körpergröße ein Gewicht von 63 Kilogramm, was dem Ideal entspricht. Symptomatisch ist es für Berufstätige wie Maria, dass der Fressanfall erst abends eintritt. Sie schildert einen x-beliebigen Abend, wie sie ihn fünfmal die Woche erlebt. Die Wochenenden sind noch schlimmer.
»Nach Arbeitsschluss bin ich einkaufen gegangen, ganz bewusst mit dem Gedanken, zu Hause alles in mich hineinzustopfen und hinterher wieder auszubrechen, was ich bis vor wenigen Minuten noch in meinem Magen hatte: 500 Gramm Toastbrot, 250 Gramm Kekse, 250 Gramm Margarine, 1 Dose Fisch, 2 Tafeln Schokolade, 100 Gramm Wurst und Schinken, ½ Glas Honig, 1 Liter Milch, 1 Liter Mineralwasser, ½ Flasche Cola, 150 Gramm Fleischsalat, je 150 Gramm Chips und Erdnüsse. Danach habe ich es gerade noch geschafft, zur Toilette zu kommen. Wie oft hatte ich schon gewünscht, unterwegs zusammenzubrechen und zu sterben, damit ja alles ein Ende hat.«
Zum körperlichen Unwohlsein und zur Erschöpfung, zum brennenden Hals, den tränenden Augen, dem rebellierenden Magen und dem Gefühl, ausgelaugt zu sein, kommen das heulende Elend, die tiefe Depression – und wieder das Allheilmittel Fressen: Wenn der Tag nun schon einmal kaputt ist, was soll’s, dann kann man das auch zwei Mal machen. Das Nicht-genug-kriegen-Können, das Bedürfnis, sich endlich zu sättigen, wandelt sich hier in ein »ist ja sowieso egal«. Statt über das Geschehene nachzudenken, weicht man so dem Konflikt aus. Das ungute Gefühl übertüncht ein neuer Anfall. Diese Haltung wird auch bei Anneliese S. deutlich. Sie sagt:
»Bei mir kommt es vor, dass ich mich mit Absicht vollesse mit dem Bewusstsein, dass ich Mist baue, aber das ist mir dann egal, und ich steigere mich hinein. Habe ich mich einmal entschieden zu erbrechen, esse ich noch weiter, damit es sich auch lohnt.«
Auch die durch einen Zufall heraufbeschworene Fressorgie weicht von diesem Schema nicht ab. Einziger Unterschied: Es hat sich eine Gelegenheit ergeben, die günstig war. Die Esssüchtige konnte in dieser Situation nicht widerstehen und hat die Gelegenheit beim Schopf ergriffen und genutzt. Beispiele dafür sind das Auswärts-Essengehen, ein gefüllter Kühlschrank, eine Dose voller Plätzchen oder eine Schachtel Pralinen, die sie unerwartet geschenkt bekommen hat.
In manchen Phasen ihrer Erkrankung erlebt die Ess-Brech-Süchtige häufig Zustände großer Verzweiflung und spürt tiefe Versagensgefühle in sich. In solchen Zeiten erbricht sie selbst dann schon, wenn sie kaum etwas zu sich genommen hat. Alles hängt ihr dermaßen »zum Hals heraus«, dass sie nicht imstande ist, auch nur geringste Nahrungsmengen in ihrem Körper zu spüren und von ihm verwerten zu lassen. Aus einem Gefühl des »mich kotzt alles an« steigern sich viele in einen regelrechten Brechzwang; Einzelne würgen bis zu 15 Mal am Tag das Gegessene wieder heraus. In solchen Momenten können sie nicht mehr klar und – wenn überhaupt – nur noch sehr eingeengt denken und empfinden den Zustand absoluter Erschöpfung nach dem Gang zur Kloschüssel oft sogar als angenehm. Einen leeren Magen zu spüren bedeutet Offenheit und Beruhigung: Sie können noch einmal von vorn (zu essen) anfangen. Dieser Neubeginn ist so etwas wie eine Flucht nach vorn. Weil die süchtige Frau nicht wirklich weiß, was mit ihr vorgeht, wie sie es beherrschen oder zumindest verarbeiten kann, versucht sie, das Geschehene zu vergessen und erst ab dem Moment alles zu registrieren, der sich an das Erbrechen anschließt.
Hinter diesen Exzessen steht das brennende Bedürfnis, emotional satt zu werden. Wie das Symptom des übermäßigen Essens eine symbolische Reaktion auf einen Hunger im übertragenen Sinn ist, banalisiert die Ess-Brech-Süchtige häufig auch ihren Drang, »sauber« und »rein« zu werden, um noch einmal oder wieder ganz neu anfangen zu können. Sie legt sich eine Reihe von Ritualen zu. Nach dem Erbrechen, das an sich schon als Akt der körperlichen Reinigung und Befreiung verstanden werden kann, reinigt sie die Kloschüssel, reinigt aber auch sich selbst. Um sich rein zu waschen, steigt die Esssüchtige unter die Dusche, spült sich den ganzen »Dreck« vom Körper, macht vielleicht eine Gesichtspackung, um sich wieder wie ein Mensch zu fühlen, und zieht sich noch einmal frisch an. Der Wille, noch einmal »rein« und »unbeschmutzt« von vorn zu beginnen, ist von keiner Tageszeit abhängig. Doch ist die Gefahr, dem Drang zu essen erneut zu erliegen, wieder an den Kühlschrank zu gehen und alles zu verschlingen, nach einigen Stunden oft größer als der Wille, dies nie im Leben wieder zu tun. Essen ist für die Ess-Brech-Süchtige die Droge, die sie als einzige Möglichkeit der Lebensbewältigung gefunden hat. Sämtliche Emotionen, sämtliche Probleme und Gefühle werden über das Ventil des Essens und des damit verbundenen künstlichen Erbrechens entladen. Die zweiundzwanzigjährige Anneliese S. schreibt:
»Mich überkommt das Heißhungergefühl, wenn ich glücklich bin, wenn ich mich freue, langweile, ärgere, bei Einsamkeit, wenn ich im Stress stehe. Oft überfuttere ich mich nach dem ersten Erbrechen aus Frust zum zweiten Mal und erbreche mich wieder. Ich weiß, dass es absoluter Mist ist, was ich mache. Ich weiß, dass davon auch mein schlechter Gesundheitszustand kommt, aber das ist mir in diesem Moment egal. In dem Moment gebe ich mich auf.«
Solche Ohnmachtsgefühle und Resignation verdeutlichen am ehesten den tiefen Zwang, dem Menschen unterliegen, die das unbelastete Verhältnis zum Essen als einer mit angenehmen Empfindungen verbundenen Lebensnotwendigkeit verlieren und in die Abhängigkeit von diesem lebenswichtigen Stoff geraten.