Titel
Impressum
Wer aus seiner gewohnten Bahn geworfen wird...
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Epilog
Über den Autor
Mehr von Norbert Schmitt bei DeBehr
Norbert Schmitt
Der Priester von
Dachau
Roman nach
wahren Begebenheiten
DeBehr
Copyright: Norbert Schmitt
Herausgeber: Verlag DeBehr, Radeberg
Erstauflage: 2022
ISBN: 9783957539502
Grafik Copyright by Adobe Stock by: kolonko, Beringfoto
Der Autor möchte anmerken, dass etwaige Ähnlichkeiten mit tatsächlichen oder lebenden oder verstorbenen Personen rein zufällig und nicht beabsichtigt sind.
„Wer aus seiner gewohnten Bahn geworfen wird, meint manchmal, dass alles verloren ist. Doch in Wirklichkeit fängt nur etwas Neues an.“
Gisela Rieger
Prolog
Ein Tag im Juli 1966
Es ist an einem sehr heißen Samstag im Juli 1966.
Wir quetschen uns zu fünft in das kleine Fahrzeug, einen Fiat 500. Das Fahrzeug ist schon ins Alter gekommen. Das sieht man dem Wagen auch an. Überall zeugen Roststellen und Beulen von einer langen Fahrtüchtigkeit des kleinen Flitzers. Links neben mir sitzt meine sieben Jahre ältere Schwester. Rechts neben mir mein Vater. Beide Mitfahrer sind extrem schlank. Ich sitze in der Mitte auf der Hinterbank und weiß nicht, wohin mit meinen Beinen.
Obwohl ich erst zwölf Jahre alt bin, habe ich schon eine Körpergröße von 1,74 m. Mit angezogenen Beinen ist Sitzen nur schwer möglich. Und wenn überhaupt, nur für eine kurze Strecke.
Ausstrecken kann ich meine Beine nicht. Mein linker Fuß liegt dann auf dem rechten Oberschenkel des Fahrers. Der rechte Fuß trifft das Hinterteil meiner Mutter. Meine Mutter, von fülliger Statur, hat vorne auf dem Beifahrersitz Platz genommen. Das Fahrzeug wird gelenkt vom Freund meiner Schwester. Meine Eltern besitzen kein Auto. Mutter und Vater haben nicht einmal einen Auto-Führerschein.
In dieser Formation wollen wir einen Abstecher zur Cousine meiner Mutter in den 16 km entfernten Ort Menden machen. Für mich ist dieser Ausflug sehr aufregend. So oft komme ich nicht aus meiner Heimatstadt Iserlohn heraus. Außerdem wurde das Fußballspiel meiner Mannschaft für den heutigen Nachmittag abgesagt. Die Cousine meiner Mutter, ich sage Tante Maria zu ihr, ist Haushälterin bei einem katholischen Pastor. Ich kenne bisher diesen Pastor nur aus Messen in der Kirche, die er in Vertretung gehalten hat. Unsere ganze Familie ist sehr katholisch gläubig. Ich bin seit meiner Erstkommunion Messdiener in unserer Gemeinde.
Meine Familie und ich sind zum Nachmittags-Kaffee eingeladen. Wir werden von Tante Maria schon an der Haustür herzlich begrüßt. Schnell sitzen wir an der im „guten Zimmer“ gedeckten Kaffeetafel. Mehrere Kuchen befinden sich auf dem Tisch. Der Pastor gesellt sich nun zu uns. Er findet es gut, dass ich mitgekommen bin. Immer wieder bezieht er mich in die Gespräche ein. Ich habe das Gefühl, dass wir direkt einen Draht zueinander haben. Der Pastor scheint ein übergewichtiger Gemütsmensch zu sein, der das leibliche Wohl nicht ablehnt. Nach dem Kaffeetrinken raucht er zusammen mit meinem Vater eine Zigarre. Er lädt mich dann zu einer Schachpartie in sein Arbeitszimmer ein. Beim ersten Blick in das Zimmer bin ich überwältigt von der Raumeinrichtung. Alle Möbel sind in Schwarz gehalten. Die Stirnwand ist mit einem zimmerhohen Bücherregal ausgestattet; natürlich auch in schwarzem Holz. Wir setzen uns an einen Schachtisch. Der Schachtisch und die Figuren hat mein Vater hergestellt. Der Pastor lässt das nicht unerwähnt. Leider habe ich keine Gewinnchance beim Spiel. Der Pastor lädt mich aber direkt zur Revanche ein.
So vergehen die Stunden, und nach dem Abendbrot quetschen wir uns wieder in das Auto und treten die Heimfahrt an. Ich habe es nicht bereut, mitgefahren zu sein.
Ein Tag im Oktober 1972
Wie so oft in den letzten Jahren sitze ich im Arbeitszimmer des Pastors beim Schachspiel. Meine Spielqualität hat sich kontinuierlich verbessert. Mittlerweile spielen der Pastor und ich Schach auf Augenhöhe.
Ich treffe mich regelmäßig zum Schachspiel mit dem Pastor. Es hat sich ein freundschaftliches Verhältnis gebildet. Wir spielen aber nicht nur Schach, sondern besprechen viele Dinge. Oftmals führen die Gespräche zu einer kontroversen Diskussion.
Am heutigen Tage ist ein Gesprächsthema mal wieder das Attentat in München im Rahmen der olympischen Spiele. Bei diesem Thema sind wir allerdings nicht unterschiedlicher Meinung.
Wir verurteilen beide das Attentat der palästinensischen Terrororganisation Schwarzer September auf die israelische Olympiamannschaft und bemängeln das dilettantische Eingreifen der deutschen Polizei. Automatisch kommen wir wieder einmal auf die Terrororganisation Baader Meinhof zu sprechen. „Die extrem linken Terroristen und die Mitläufer und die Befürworter dieser Gruppe sind auch nicht viel besser als der rechtsextreme Flügel in unserem Lande. Und Gewalt ist bei jeder Art politischer Einstellung nicht zu akzeptieren.
Leider gibt es heute, gerade auf entscheidenden Positionen, wie zum Beispiel in den juristischen Aufgaben, immer noch viele Menschen, die zu den Zeiten des Nationalsozialismus bis 1945 schon rechts aktiv waren; die sich menschenverachtend verhalten haben. Das ist ein großer Schwachpunkt unserer Demokratie“, sagt der Pastor. „Leider bin ich zu wenig informiert. In der Schule wurde über die Zeit des Nationalsozialismus eigentlich nicht gesprochen und wenn doch, dann nur sehr wenig“, antworte ich.
„Norbert, wenn du Lust hast, erzähle ich dir einiges darüber, wie ich den Nationalsozialismus erlebt habe“, fragt mich der Pastor.
Und ob ich darauf Lust habe. Mich hat schon immer irritiert, weshalb meine Lehrer in der Schulzeit, diese nicht so ehrenwerte Zeit in der deutschen Geschichte, immer ausgespart haben. Auch meine Eltern haben nicht oft über die Zeit des Nationalsozialismus gesprochen.
Tante Maria bringt uns neue Kaltgetränke. Der Pastor beginnt mit seiner Erzählung. „Ich nehme an, du weißt nicht viel darüber, wie sich die offizielle katholische Kirche in den Jahren 1933 bis 1945 gegenüber Hitler und seiner NSDAP aufgestellt hat. Papst Pius der Elfte hat bis zu seinem Tode Anfang 1939 den Nationalsozialismus in Deutschland zwar anerkannt, hat aber zwischendurch immer wieder den deutschen Staat getadelt. Dabei fielen auch schon einmal deutliche Worte. Nach seinem Tod ist im März 1939 Papst Pius der Zwölfte an die Spitze der katholischen Kirche gewählt worden.
Papst Pius der Zwölfte hat sich mit dem nationalsozialistischen Deutschland arrangiert; seine oberste Maxime war die Überparteilichkeit. Nur ganz selten hat er Kommentare zum Verhalten des nationalsozialistischen Deutschlands abgegeben. Laute Proteste hingegen waren von ihm nicht zu hören. Kritiker werfen ihm heute genau das vor. Er hätte zum Holocaust geschwiegen oder nicht laut genug protestiert. Hitler hatte im Gegenzug eine Unabhängigkeit der katholischen Kirche in Deutschland versprochen. Allerdings unter der Prämisse, dass die Landes-Kirche keine Kritik an der Politik und den Taten der NSDAP üben durfte; also sich ebenso verhalten sollte, wie der Papst.“
Der Pastor nimmt einen Schluck Saft zu sich. Dann spricht er weiter.
„Norbert, ich will dir aber nicht verschweigen, dass Papst Pius der Zwölfte im Verborgenen tausenden Juden das Leben gerettet hat. Dies kam aber erst nach Ende des NS-Regimes an die Öffentlichkeit. Wahrscheinlich wäre das nicht möglich gewesen, hätte er sich öffentlich gegen Hitler gestellt. Die katholischen Priester haben das in der Kriegszeit nicht gewusst. Ich selbst habe häufig an der Rolle des Papstes gezweifelt. Ich habe mir nicht erklären können, wie ein Papst gegenüber einem Mörder wie Hitler kuscht.“
Wieder legt der Pastor eine Pause ein. Dann fährt er fort: „Norbert, ich möchte dich mit meiner eigenen Geschichte konfrontieren. Meine Geschichte ist in den Jahren 1943 bis 1945 angesiedelt. Diese habe ich aufgeschrieben. Ich würde mich freuen, wenn du diese Geschichte lesen würdest. Du bist der Erste, dem ich meine Erlebnisse darlege. Persönlich erzählen fällt mir immer noch, auch nach den vielen Jahren, die zwischenzeitlich vergangen sind, sehr schwer. Deshalb habe ich die Geschichte auch in der Funktion als Beobachter geschrieben.“
Der Pastor reicht mir ein Manuskript. Ich bin erst einmal sprachlos. Nach einer Weile habe ich meine Fassung zurückbekommen.
Ich antworte dem Pastor mit einem klaren „Ja, das mache ich gerne.“
Wir besprechen anschließend noch dieses und jenes. Dann verabschiede ich mich von dem Pastor und von Tante Maria.
Noch am Abend beginne ich, im Manuskript zu lesen.
Kapitel 1
März 1943 in Dortmund
Die Sonntagsmesse ist gut besucht. Bei den Kirchenbesuchern handelt es sich überwiegend um Frauen und Kinder. Einige alte Männer, Soldaten auf Heimaturlaub und verwundete Soldaten sind auch darunter. Der Pastor betritt die Kanzel. Er stützt sich mit seinem linken Arm auf die Brüstung. Den rechten Arm hält er hoch. Die Hand mit dem Zeigefinger wedelt hin und her. Dann beginnt er seine Predigt in bedächtiger Sprache.
„Liebe Gemeindemitglieder! Jesus spricht: Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, der wird leben, auch wenn er stirbt. Johannes, 11, 25 und weiter spricht Jesus: Ich bin das Licht der Welt. Wer mir nachfolgt, der wird nicht wandeln in der Finsternis, sondern wird das Licht des Lebens haben. Johannes, 8, 12“.
Der Pastor macht eine Pause. Er fährt fort. Seine Stimme wird lauter: „Wenn wir an Jesus glauben und ausschließlich ihm nachfolgen, dann kann auch eine noch so schwierige Zeit uns nichts anhaben. Lasst euch nicht beirren von den Reden und Sprüchen der Parteianhänger der NSDAP. Sie führen euch in die Finsternis, aus der es kein Entkommen gibt. Macht endlich die Augen auf und seht, was gerade passiert. Eure Mitmenschen werden ohne Grund eingesperrt, gefoltert und getötet. Und ihr schaut zu.“
Beide Arme wedeln in der Luft. Der Pastor macht eine Pause.
Dann fährt er fort: „Christ sein verpflichtet uns, Menschen in Not beizustehen. Es reicht nicht, wenn wir zusammen die heilige Messe feiern, unsere Sünden bereuen und schon kurze Zeit nach dem Verlassen des Kirchenhauses an Menschen vorbeigehen, die dringend unsere Hilfe benötigen. Ich möchte euch ein Gedicht vorlesen.
Die Macht des Mundes
Hoch oben steht er.
Aufrecht.
Sein Gesichtsausdruck ernst,
eine Maske.
Sein Mund fest verschlossen.
Sein Mund geht auf.
Laut, kraftvoll ertönt seine Stimme.
Klar und deutlich ist seine Aussprache.
Er verschweigt nichts.
Die Macht seines Mundes ist ihm bewusst.
Die Massen vor ihm.
Ihre Blicke hängen an seinem Mund.
Im Bann erstarrt,
dann Arme hebend,
in Ekstase jubelnd.
Er weiß, was sie hören wollen.
Das gibt er ihnen – und mehr.
Er schreit seinen Willen hinaus,
seine grausamen Ziele,
genau wissend und wohl überlegt.
Und die Masse?
Sie jubelt ihm zu.
Als wäre er der erwartete Messias,
der ihnen ein neues Leben bringt.
Sie hoffen und glauben – an ihn.
Er öffnet wieder seinen Mund.
Schießt Worte heraus.
Er schweigt.
Beobachtet die Masse – und weiß: Sie folgen mir.
Und sein Mund bleibt verschlossen.“
Der Pastor legt eine kurze Pause ein. Er schaut in die Gesichter der Gläubigen. Einigen Gesichtern sind das Erschrecken und die Angst anzusehen.
Er fährt fort. „Seid ihr Mitglied der Masse, die ohne zu überlegen folgt. Bleibt standhaft. Versucht zu ergründen, was gut und was schlecht ist. Glaubt nicht alles, was man euch sagt. Legt Zeugnis ab für den Nächsten. Seid für den Nächsten da. Mit einem weiteren Spruch von Johannes möchte ich meine Predigt beenden.
Jesus spricht: Ein neues Gebot gebe ich euch, dass ihr einander liebet, damit, wie ich euch geliebt habe, auch ihr einander liebet. Daran werden alle erkennen, dass ihr meine Jünger seid, wenn ihr Liebe untereinander habt. Johannes 13, 34 – 35.“
Der Pastor legt eine weitere Pause ein. Dann spricht er: „Jesus will, dass wir Menschen einander lieben. Er macht keine Ausnahme bei den Personen. So lasst auch uns in unserer Liebe zu den Mitmenschen keine Ausnahme machen. Amen.“
Der Pastor verlässt die Kanzel und begibt sich zum Altar. Dann führt er die Messfeier zu Ende. Den Messdienern folgend, begibt er sich in die Sakristei.
Die Messdiener haben bereits die Sakristei verlassen, der Küster erledigt noch Handreichungen in der Kirche, als es an der Hintertür der Sakristei klopft.