Die Reise ins Reich

Inhaltsübersicht

Fußnoten

  1. Diesen Absatz habe ich schon 2018 geschrieben. Ich hätte genauso gut schreiben können, dass ein einzelner Stephan aus Kassel reichen würde. Oder ein anderer Stephan, einer aus Halle. Vielleicht ein Tobias aus Hanau … Oder irgendwer in Christchurch oder Pittsburgh oder El Paso oder, oder, oder. Es ist so viel Blut geflossen, seitdem ich diesen Absatz geschrieben habe. Man könnte weinen. Man sollte es auch tun.

Alfred Kubin, Die andere Seite

Das Reich reist mir hinterher.

Zweieinhalb Jahre sind vergangen, seit ich meine monatelange Undercover-Recherche in die Welt rechter Verschwörungsideologie beendet habe, seit ich Hass, Wahn und all die traurigen Geschichten hinter mir ließ und aus dem Reich wieder heimkehrte. Aber das Reich lässt mich nicht los. Es reist mir hinterher, rumort und expandiert. Es scheint mir näher und näher zu kommen. Uns allen.

Während ich diese Sätze schreibe, spült die Pandemie regelmäßig Zehntausende Menschen auf die deutschen Straßen und Plätze: Die Corona-Leugner demonstrieren. Sie demonstrieren gegen die Sicherheitsmaßnahmen und den Lockdown, sicher, aber genauso demonstrieren sie gegen das große Komplott, das sie hinter der Krankheit vermuten. Gruselgeschichten von Zwangsimpfungen, Mikrochips und Kinderhandel machen die Runde, und die Verschwörungstheorien verbreiten sich beinahe so schnell wie das Virus selbst. Rechtsextremisten, Reichsideologen, Verschwörungssüchtige und Verzweifelte stehen wieder schreiend Seite an Seite.

Dass in Krisen und nach Katastrophen der Glaube an große Verschwörungen und üble Machenschaften blüht, die Suche nach leicht verständlichen und verdaulichen «alternativen Wahrheiten» wächst, das ist keine Neuigkeit. Die Demonstrationen sind keine Überraschung. Aber das macht sie nicht

Allein in den letzten zwei Jahren ist so unfassbar viel Blut vergossen worden …

Am 1. Juni 2019 wird der hessische Regierungspräsident Walter Lübcke vor seinem Haus bei Kassel mit einem Kopfschuss aus nächster Nähe ermordet. Sterben musste er, weil er sich für die Aufnahme von Geflüchteten starkmachte, denn sein Mörder ist Rechtsextremist und glaubt an Verschwörungstheorien. Der Täter war den Behörden bekannt, war früher mit seinem Spitznamen NPD-Stephan in der Neonaziszene unterwegs. Von der wandte er sich zwar zwischenzeitlich ab, versuchte wohl, sich eine bürgerliche Existenz aufzubauen, aber er kam nicht von seinen nazistischen Überzeugungen los. Nach seiner Verhaftung erklärte der geständige Mörder, dass ihm neben der «Ausländerkriminalität» besonders ein Thema keine Ruhe ließe: die Souveränität Deutschlands, der Glaube also, Deutschland sei kein souveränes Land, werde fremdbestimmt oder ferngesteuert. Dagegen wollte er vorgehen. Und auch deshalb griff er zur Waffe.

Am 9. Oktober 2019 werden zwei Menschen in Halle ermordet. Sterben müssen sie, weil sie sich zufällig in der Nähe der Synagoge aufhalten, denn ihr Mörder ist Antisemit und glaubt an Verschwörungstheorien. Der achtundzwanzigjährige Täter wollte in die Synagoge eindringen, an Jom Kippur, dem höchsten jüdischen Feiertag. Er schafft es nicht, eine Holztür verhindert das große Massaker. Stattdessen tötete der frustrierte Mörder eine Passantin und einen Gast in einem Döner-Laden. Zuvor hatte sich der Mörder überlegt, ein Blutbad in einer

Am 19. Februar 2020 werden neun Menschen in der Innenstadt von Hanau ermordet. Zwischen 22 und 37 Jahre waren sie alt. Sie mussten sterben, weil sie einen Migrationshintergrund hatten, wie man so hässlich auf Deutsch sagt, denn ihr Mörder war Rassist und glaubte an Verschwörungstheorien. Er glaubte an unendlich böse und unendlich mächtige Eliten, die aus der Finsternis heraus die Weltgeschicke lenken und das deutsche Volk vernichten wollen – dagegen wollte er ankämpfen. Und deshalb erschoss er neun Menschen, fuhr anschließend nach Hause, tötete dort zuerst seine Mutter und danach sich selbst.

Das sind nur drei abscheuliche Taten mit tödlichem Ausgang, Taten, die das Land seit der Erstveröffentlichung dieses Buches erschütterten.

Und dann war da ja noch das Attentat auf eine Synagoge in Pittsburgh, Pennsylvania, am 27. Oktober 2018, bei dem elf Menschen ermordet werden.

Das Attentat auf zwei Moscheen im neuseeländischen Christchurch am 15. März 2019, bei dem 52 Menschen ermordet werden.

Das Attentat in der texanischen Grenzstadt El Paso am 3. August 2019, bei dem 23 Menschen ermordet werden.

Kaum fassbare Verbrechen, allesamt getrieben vom rechtsextremen Verschwörungsglauben: dem Glauben an den «großen Austausch», an geheime Regierungen und finstere Eliten, das Aussterben der «weißen Rasse» und an mächtige Juden … Und viel zu häufig werden verschwörungsideologische

Seit einiger Zeit reise ich als Referent zu Rechtsextremismus und Antisemitismus durch Deutschland. Und egal wo ich bin – in der Hauptschule oder im Uni-Hörsaal, im entlegensten Dörfchen oder im hippen Großstadtviertel –, die Grundlagen rechtsextremen Denkens sind den meisten Zuhörern völlig fremd.

Wie sollte es auch anders sein? In der Schule liest man «Die Welle», schaut einen kitschig-schaurigen KZ-Film, lernt Jahreszahlen – und beschwert sich hinterher, dass dieses doofe Dritte Reich und die lästige Ermordung der europäischen Juden viel zu viel durchgekaut wurde. Aber wie ein Rassist seinen Rassismus begründet, wie der Antisemit seinen Judenhass legitimiert, wo die Attraktivität solcher Vorstellungen liegt, damit beschäftigt man sich nicht.

Und Verschwörungstheorien findet man kurios und ein bisschen putzig. Die kennt man aus Fernsehbeiträgen, bei denen man sich vor armen Irren und wirren Esoterikern gruseln kann. Dass genau diese Verschwörungstheorien in Deutschland mal Konsens waren, dass sie in der rechtsextremen Szene mit religiösem Eifer geglaubt werden, dass sie Terroristen zu ihren Anschlägen verleiten – das weiß man dagegen nicht.

Na gut, vielleicht lernen wir das jetzt. Nach all dem Morden und dem in der Pandemie stetig lauter werdenden Verschwörungswahn. Ein wenig spät, aber immerhin.

Tatsächlich dürfte manches von dem, was ich während meiner Reise 2017 erlebt habe, was mich damals noch schockierte oder verblüffte, einigen Lesern mittlerweile bekannt sein: Phänomene, die man noch vor ein paar Jahren an den Rändern der Gesellschaft suchen musste, und Ideen, die nur in klebrigen

 

Bis auf den neuen Teil «Die Rückkehr ins Reich» habe ich den Text größtenteils unverändert gelassen. Hier und da ein paar Aktualisierungen, in erster Linie von Zahlen und Statistiken, einige Ergänzungen und ein neues Kapitel am Ende des zweiten Teils. Aber dieses Buch ist und bleibt eine literarische Reportage von einem, der etwas blauäugig in eine seltsame Welt hineinstolpert und dort in erster Linie Menschen kennenlernt – mögen sie auch bemitleidens- oder verachtenswert sein, darum ging und geht es mir.

Von den neuen Entwicklungen und dem einstweiligen Höhepunkt der Verbreitung rechten Verschwörungsglaubens, der grassierenden Pandemie aus Viren und Paranoia, erzähle ich im neuen letzten Teil. Denn natürlich musste ich mir die Corona-Demonstrationen und den «Sturm auf Berlin» aus nächster Nähe anschauen, selbstverständlich hatte ich das große Verlangen, zumindest einige meiner alten Reichsbekanntschaften wiederzusehen. Meine Neugierde war größer als jedes Infektionsrisiko und die Sorge um meine psychische Hygiene.

Das Reich lässt mich eben nicht los.

Und es lässt mich nicht in Ruhe.

Uns alle nicht.

 

Neuschwabenland, im Sommer 2021

Gute acht Monate war ich auf Reisen. In dieser Zeit schloss ich Freundschaften, studierte Verschwörungstheorien und lernte so richtig gut hassen, nahm eine neue Identität an, trank Mondwasser, ließ meine Chakren einrenken, schmiedete einen Komplott zum Sturz der Regierung, griff nach der Macht, tanzte mit Hippies, soff mit Nazis, aß viele Schnitzel, soff mit dezidierten Nicht-Nazis, aß viele Würste und plante eine neue Heimstätte für das unterjochte deutsche Volk. Und weil ich nie wusste, ob ich schon viel zu viel oder noch viel zu wenig gesehen hatte – das weiß ich übrigens bis heute nicht –, zog es mich immer wieder zurück in das schier grenzenlose Reich rechter Verschwörungsideologie. Es ist auch wirklich nicht einfach, sich zielstrebig durch eine formlose Sumpflandschaft voller Irrlichter zu navigieren.

Als ich mich aufmachte, glaubte ich noch, die Recherche nach maximal ein paar Wochen abschließen zu können. Ich wollte dem Phänomen der Reichsbürger und Staatsleugner hinterherrecherchieren, wollte diese Bewegung kennen- und verstehen lernen. Ein Phänomen, das lange Zeit als kuriose Randnotiz im Katalog des politischen Extremismus abgetan wurde. Das änderte sich schlagartig mit dem 19. Oktober 2016, als im mittelfränkischen Georgensgmünd Schüsse fielen. Die Polizei stürmte ein Haus, das vom Besitzer zum autonomen «Regierungsbezirk» erklärt worden war. Massenhaft Waffen

Aber auch wenn der Staat sich nun mit diesen erklärten Feinden der Bundesrepublik auseinandersetzte und gegen sie vorging, und auch wenn die Presse nun voll war mit allzu oft sensationalistischen Berichten: Das Bild der Reichsbürger als Gruppe skurriler Außenseiter, kruder Verschwörungstheoretiker und verzweifelter Irrer blieb bestehen. Gefährlich waren sie, das hatte der Polizistenmord eindrücklich bewiesen, aber wie sollte man sie ernst nehmen? Man sah doch die Bilder gescheiterter Existenzen, die Bilder wirrer Typen, die sich zum König, Kaiser oder Kanzler aller Deutschen erklärten, oder die als Selbstverwalter ihre Wohnung zum Zwei-Zimmer-Küche-Bad-Staat erklärten.

Aber solche Darstellungen kratzen bloß müde an der Oberfläche.

Als ich mich im Frühjahr 2017 aufmachte, traf ich nicht nur auf eine immens vielfältige und breite Bewegung ganz unterschiedlicher Menschen aus fast allen Gesellschaftsschichten. Ich stolperte naiv in eine Welt rechten Verschwörungsdenkens und rechtsradikaler Verschwörungsideologie.

Wo habe ich mich also rumgetrieben?

Ich war in einem Reich, das es nicht gibt und niemals gab und in dessen Zentrum eine zentrale Verschwörungstheorie steht: Das deutsche Volk ist Opfer einer weltweiten Verschwörung, und die Bundesrepublik ist ein Teil dieses üblen Komplotts – und darum eben kein souveräner, legitimer oder echter Staat.

Oder so: Deutschland hat weder Friedensvertrag noch Grundgesetz! Die Alliierten haben uns in der Hand!

Gerne auch: Die deutschen Politiker sind nur Agenten und Marionetten im Kampf gegen das eigene Volk, dahinter steckt eine gefährliche Schattenregierung!

Oder: Die BRD ist bloß eine Firma mit Sitz in Frankfurt am Main!

Oder ganz simpel: Wir leben in einer kriminellen Diktatur!

Oder, oder, oder.

Wer hinter dieser großen Verschwörung stecken soll? Meistens sind es graue Eminenzen der Hochfinanz. Oder mächtige Logen. Manchmal Illuminaten, überraschend häufig Satanisten. Manchmal gar Echsenmenschen, die im Fleischkostüm die menschliche Zivilisation unterwandern. Oder es sind die Juden.

Als ich mich auf meine Reise begab, war mir nicht klar, dass die Wahnvorstellung von der jüdischen Weltverschwörung wieder in so einem Ausmaß grassiert. Ich bin Jude – nach einer Weile nimmt man so was persönlich. Ich bin trotzdem eifrig weitergereist. Vielleicht, weil mich die Menschen, denen ich begegnete, einfach interessierten. Weil mir ein paar sogar was bedeuten. Ganz sicher aber auch, weil ihr seltsames Reich unserer scheinbar normalen Welt oft erschreckend ähnelt – und sich die Gebiete bereits großräumig überlappen.

Es war der große, halbwache Wahlsommer 2017, und viel wurde debattiert über das Erstarken der Rechten. Die ständigen Provokationen der AfD wurden analysiert, ihr Erfolg erklärt, wieder erklärt, ihre Strategien offengelegt: wie sie sich in Opferpose schmeißen. Wie sie ihre Gegner pauschal als Volksverräter oder Faschisten beschimpfen. Wie sie ein Bild zeichnen

Und mir Reichsreisenden kam das alles so verflucht bekannt vor.

Da raunt die Rechte etwa von einem Bevölkerungsaustausch: Sie phantasiert, die illegitime oder kriminelle Regierung wolle das deutsche Volk mit muslimischen Migranten nach und nach ersetzen. Ein furchterregender Prozess mit der unheimlichen Bezeichnung «Umvolkung». Einen «Genozid am deutschen Volk» nennen das manche oder gleich einen Plan zur «Vernichtung der weißen Rasse». So klingt die Verschwörungstheorie der Stunde. Sie wird uns in diesem Buch immer wieder über den Weg laufen.

19000 Reichsbürger und Selbstverwalter soll es laut Verfassungsschutz in Deutschland geben, aber diese konservative Schätzung ist mit Vorsicht zu genießen. Denn gezählt werden können natürlich nur diejenigen, die sich auch entsprechend in der Öffentlichkeit verhalten, ihr Leben nach ihren Überzeugungen ausrichten – die wenigstens einer Gruppe angehören, sich mit den Behörden anlegen oder die Reichskriegsflagge im Schrebergarten hissen. Und die meisten, die etwas zu verlieren haben, einen intakten Lebensentwurf, eine Karriere, oder einfach etwas cleverer sind, die werden den Teufel tun und sich als Reichsbürger, Verschwörungsfundamentalist, Rassist oder Antisemit zu erkennen geben. Die meisten meiner Bekanntschaften würden sich viel eher als Systemkritiker, Querdenker oder Widerstandskämpfer bezeichnen. Das klingt auch einfach besser.

Die Verschwörungstheorien sind aus dem ideologischen Sumpfgebiet längst ausgebrochen, vom rechtsradikalen und verwirrten Rand rein in die Gesellschaft. Wo hört das Reich

Im ersten Teil berichte ich vor allem über meine Zeit in den Kreisen und Gruppierungen, die am ehesten dem geläufigen Bild von Reichsbürgern, Selbstverwaltern und Verschwörungsgläubigen entsprechen. Es war vor allem meine Zeit im «Königreich Deutschland», einer sektenhaften Kommune, die mir diese exotisch und befremdlich wirkende Welt nahebrachte, bewohnt von Verschwörungsfundamentalisten und Esoterikern, die sich mitunter auf dem Gerippe einer hohlen Erde im Kampf gegen finstere Eliten glauben.

Wie weit das Netz dieser Denke allerdings reicht, wie anschlussfähig es ist, das beschreibt der zweite Teil des Buchs: Hier konnte ich Querfrontbestrebungen aus nächster Nähe erleben, sehen, wie qua Verschwörungsideologie gefährliche Allianzen versucht wurden, die von harten Neonazis über Ökos und hippiesken Aussteigern bis hin zu einem weißen mittelständischen Bürgertum reichten.

Und schließlich sind da eben die organisierten und institutionalisierten Rechten, um die soll es im dritten Teil gehen: nicht nur Neonazis, bei denen die Reichsideologie und Vorstellung der illegitimen Bundesrepublik ihren Anfang genommen hat, sondern auch Neu-Rechte, rechtspopulistische Spitzenpolitiker und normale «besorgte» Deutsche, die auf demselben ideologischen Boden wandeln.

Meine Reisen führten mich so vom äußersten Rand der Gesellschaft immer mehr in ihre Mitte – auch wenn die Grenzen oft verschwimmen. Und ständig trifft man Verirrte, die nicht begreifen, durch was für eine Ideenlandschaft sie da tappen. Ich tappte eine ganze Weile mit ihnen mit. Ich versuchte die

In diesem Buch beschreibe ich all diese Menschen und ihre Gedanken, ich gebe den ganzen Mist wieder, reproduziere ihre Überzeugungen, wie man so sagt. Ich kann nur hoffen, dass es hilft: im Kampf gegen ihre Ideologien, hoffentlich auch im Umgang mit diesen Menschen. Vielleicht hilft der Blick in ihre bizarre Spiegelwelt aber auch, etwas über die unsrige zu verstehen.

An den Begebenheiten habe ich nur etwas abgeändert, wenn es mir unbedingt notwendig erschien: Mal wurde ein dreistündiges Telefonat aus dramaturgischen Gründen zu drei Sätzen, mal wurde aus drei Gesprächen eines. Generell habe ich die Namen aller Personen verändert, solange sie nicht selbst in der Öffentlichkeit stehen oder sie aktiv suchen, gelegentlich auch Umstände und Lebensläufe leicht umgeformt, um einzelne Identitäten unkenntlich zu machen. Na gut, und zwei-, dreimal habe ich Personen auch verunklart, weil ich mir Sorgen mache, sie sonst irgendwann vor meiner Haustür wiederzutreffen. Das muss auch nicht sein.